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(Aus der Chirurgischen Klinik des Medizinischen Instituts [Direktor: Prof. A. P. Krymow] und aus der II. Neurochirurgischen Abteilung [Leiter: Prof. P.S. Babitzky] des Psychoneurologischen Instituts zu Kiew.) Extravertebrale Entfernung eines Riiekenmarktumors. Von Prof. P. S. Babitzky. (Eingegangen am 3. Mai 1933.) Das sonst bei Rfickenmarktumoren nicht fibliche operative Ver- fahren und auch einige Besonderheiten so seitens der Diagnose als auch die ungewShnlich rasche Wiederherstellung der Funktion nach der Operation, veranlassen uns den unten angeffihrten Fall zu bringen. Der 30j~hrige N., ehemals A_rbeiter, jetzt Angestellter, kam in unsere Kliaik am 28. 2.32. Ist 6 Jahre krank. Zuerst traten Schmerzen im Ful~e auf, zu Beginn nur morgens, am Tage konnte Patient arbeiten; die Schmerzen nahmen allm~hlieh zu. Nach etwa 3 Monaten -- ein Anfall von heftigen Sehmerzen am Halse, sehmerzhafte Kr~mpfe an den H~nden und den Fiissen, Patient atmete schwer -- der Anfall w~hrte etwa 1 Stunde. Nach 2 Woehen abermals ein An/all; die Anfi~lle kamen immer 6fter und wi~hrten 2--3 Stunden. Patient wurde in der Klinik und im Sana- torium behandelt. 2 Jahre verliefen ertraglich, ohne qui~lende Anfalle. Sie stellten sieh dann wiederum ein, etwa einmal im ~onat; ihr Charakter hatte sieh etwas ge~ndert -- lanzinierende Schmerzen irradiierten aus dem Halse in den Kopf und die Wirbelsgule, sic halten bisher an. Besonders intensiv sind die seit 3 Jahren, als Patient hinten am Halse, in der Tiefe, eine Geschwulst bemerkte. Sie wuchs zwar recht langsam, ist jetzt jedoch beinahe hiihnereigroB. Schwache in den H~nden, Schwgehe und zeitweilig Krampfe in den Fiil3en, erschwerter Gang. Patient mui~te seine Arbeit in der Fabrik aufgeben, stand die ganze Zeit ambu- latorisch oder stationer in i~rztlicher Behand]ung; ist durcb die progressierende Krankheit sehr ersch6pft. In der Jugend alle Arten yon Typhus, alle gut iiberstanden. Erblich nieht belastet. Lues wird negiert. Und gerade dieser Patient -- ein gesunder hoeh- gewachsener Mann, ehemals Matrose, mit T~towierungen am K6rper -- lieB stets und iiberall, wo er behandelt wurde, an erster Stelle an Lues denken, aber die Wa.R. im Blute und in der cerebrospinalen Flfissigkeit war stets -- auch bei wiederholten Untersuchungen -- negativ. Die Diagnosen waren verschieden -- Meningomyelitis, disseminierte Sklerose usw. Am Halse, hinten links vonder Mittellinie, l~ngs den oberen 4 Wirbeln, fiihlt man in der Tiefe, unter den Muskeln eine hiihnereigroBe Geschwulst; sic ist unbe- weglieh, hart, nicht nod(is, schmerzhaft, die I-[aut an dieser Stelle nicht ver~ndert. Neurologischer Be/und (Dr. Minz) : Pupillen normaler Form, reagieren lebhaft auf Lieht. Bei Linksschauen Nystagmus. Hirnnerven Norm; nach der Atrophie

Extravertebrale Entfernung eines Rückenmarktumors

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Page 1: Extravertebrale Entfernung eines Rückenmarktumors

(Aus der Chirurgischen Klinik des Medizinischen Instituts [Direktor: Prof. A. P. Krymow] und aus der II . Neurochirurgischen Abteilung [Leiter: Prof. P . S .

Babitzky] des Psychoneurologischen Instituts zu Kiew.)

Extravertebrale Entfernung eines Riiekenmarktumors.

Von

Prof . P . S. Babi tzky .

(Eingegangen am 3. Mai 1933.)

Das sons t bei R f i c k e n m a r k t u m o r e n n i ch t f ibl iche o p e r a t i v e Ver-

f a h r e n u n d a u c h e inige B e s o n d e r h e i t e n so se i tens der D i a g n o s e als a u c h die

ungewShn l i ch r a sche W i e d e r h e r s t e l l u n g der F u n k t i o n n a c h der Ope ra t i on ,

v e r a n l a s s e n uns den u n t e n ange f f ih r t en F a l l zu b r ingen .

Der 30j~hrige N., ehemals A_rbeiter, jetzt Angestellter, kam in unsere Kliaik am 28. 2.32. Ist 6 Jahre krank. Zuerst traten Schmerzen im Ful~e auf, zu Beginn nur morgens, am Tage konnte Patient arbeiten; die Schmerzen nahmen allm~hlieh zu. Nach etwa 3 Monaten -- ein Anfall von heftigen Sehmerzen am Halse, sehmerzhafte Kr~mpfe an den H~nden und den Fiissen, Patient atmete schwer -- der Anfall w~hrte etwa 1 Stunde. Nach 2 Woehen abermals ein An/all; die Anfi~lle kamen immer 6fter und wi~hrten 2--3 Stunden. Patient wurde in der Klinik und im Sana- torium behandelt. 2 Jahre verliefen ertraglich, ohne qui~lende Anfalle. Sie stellten sieh dann wiederum ein, etwa einmal im ~ona t ; ihr Charakter hatte sieh etwas ge~ndert -- lanzinierende Schmerzen irradiierten aus dem Halse in den Kopf und die Wirbelsgule, sic halten bisher an. Besonders intensiv sind die seit 3 Jahren, als Patient hinten am Halse, in der Tiefe, eine Geschwulst bemerkte. Sie wuchs zwar recht langsam, ist jetzt jedoch beinahe hiihnereigroB. Schwache in den H~nden, Schwgehe und zeitweilig Krampfe in den Fiil3en, erschwerter Gang.

Patient mui~te seine Arbeit in der Fabrik aufgeben, stand die ganze Zeit ambu- latorisch oder stationer in i~rztlicher Behand]ung; ist durcb die progressierende Krankheit sehr ersch6pft.

In der Jugend alle Arten yon Typhus, alle gut iiberstanden. Erblich nieht belastet. Lues wird negiert. Und gerade dieser Patient -- ein gesunder hoeh- gewachsener Mann, ehemals Matrose, mit T~towierungen am K6rper -- lieB stets und iiberall, wo er behandelt wurde, an erster Stelle an Lues denken, aber die Wa.R. im Blute und in der cerebrospinalen Flfissigkeit war stets -- auch bei wiederholten Untersuchungen -- negativ. Die Diagnosen waren verschieden -- Meningomyelitis, disseminierte Sklerose usw.

Am Halse, hinten links v o n d e r Mittellinie, l~ngs den oberen 4 Wirbeln, fiihlt man in der Tiefe, unter den Muskeln eine hiihnereigroBe Geschwulst; sic ist unbe- weglieh, hart, nicht nod(is, schmerzhaft, die I-[aut an dieser Stelle nicht ver~ndert.

Neurologischer Be/und (Dr. Minz) : Pupillen normaler Form, reagieren lebhaft auf Lieht. Bei Linksschauen Nystagmus. Hirnnerven Norm; nach der Atrophie

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der Muskeln der linken hinteren H/ilfte des Halses und des Musculus supraspinatus sinus zu urteilen, ist blog der Nervus accessorius betroffen.

Beim Gehen wird der linke Fug nachgeschleppt, im Knie nicht geniigend gebeugt. Bei geschlossenen Augen neigt Parient beim Gehen nach links ab.

Finger-Nase-Symptom Norm; mit der Fcrse wird das Knie riehtig getroffen. Die Arme - - der linke, besonders der Vorderarm, ist diinner als der rechte. Reflexe gleichm/iBig, bedeutend gesteigert. An den F4flen sind die Patellar- und die Achilles- sehnenreflexe ganz ungew61mlich gesteigert; Knie- und Fugklonus werden, be- sonders rechts, schon bei Beriihren mit dem Finger ausgel6st. Alle pathologischen Reflexe Babinsky, Oppenheim usw. deutlich ausgesprochen. Bauchdecken- und Cremasterreflex fehlen. Tiefes Muskelgefiihl nicht gest6rt.

Subjektiv: Parasthesie l~ngs dem Riicken links; der Kopf wird nach hinten gezogen.

Von einer Punktion, die die Blockade feststellen sollte, was ja im gegebenen Falle durchaus notwendig und auch interessant gewesen w/ire, wollte Patient nichts wissen.

Am 10. 3.32 Operation. Der Plan der Operation war hier ein etwas ungew6tm- licher. Da die Geschwulst zum gr6gten Teil auger der Wirbels/iule lag, wollten wir zuerst unmitte|bar hierher gelangen, das Weitere wfirde sich schon bei der Operation ersehen lassen.

Lokale An~sthesie --1/4% Novocain (150,0) -~ Adrenalin. Am Halse, links hinten, wurde um den Tumor ein viereekiger 14 • 10 cm groger Hautlappen aus- gesetmitten und fiber die Mittellinie nach reehts umgebogen. M. trapezius 11/2 cm unterhalb seiner Befestigung an das Os occipitale durehschnitten; unter den zum Vorsehein gekommenen tiefen Muskeln tritt eine taubeneigroge Gesehwulst hervor. Die guskeln wurden 1/ings den Fasern durchtrermt und es wurde an die Entfernung des Tumors gegangen. Derselbe ragte mit einem sehnurartigen, etwa bleifeder- breiten ,,Stiel" aus dem Wirbelkanal, in seinem oberen Abschnitt aus einer 0ffnung hervor, die so grog war, dag man 1/ings diesem Stiel mit dem Finger bis an dessen Ursprung an die Dura -- gelangen und denselben dort abtrennen konnte. Der Tumor wurde in toto entfernt.

Die Geschwulst kam also yon einer der oberen linken Wurzeln, sie lag selmur- f6rmig extradural noeh im Wirbelkanal, der gr6gte Teil jedoch wuehs auger dem Wirbelkanal und lag auf demselben, unter den tiefen Halsmuskeln. Die Wunde wurde fest vern~ht. Allgemeiner Zustand befriedigend, Nachoperationsperiode glatt. Die Funktion wurde/mgerst rasch wieder hergestellt. Naeh etwa 2 Woehen wurde Patient entlassen, ftihlte sieh vollkommen gesund, die Sehmerzen im Halse und im Kopfe waren versehwunden, Patient geht gut, keine Klonuserschcinungen.

Histologische Untersuehung des Tumors; B e f u n d - Neurinom, das aus den Elementen der Schwannschen Hfille ausgeht (,,Sehwannom").

24. 4. Patient zeigte sich im Psyehoneurologischen Institut. Klonus, patho- logisehe Reflexe nicht vorhanden. Geht mit gesehlossenen Augen ohne zu schwanken. Keine Ataxie. Von den ehemaligen Symptomen blog nnbedeutender Nystagmoid; Reflexe an den Extremit/~ten reehts gesteigert. Bauchdecken- und Cremasterreflex fehlen.

Patient zeigte sieh abermals im Dezember; er geht seinem Dienste naeh, fiihlt sieh vollkommen wohl.

Vor der Operat ion hot die Diagnose bei diesem Kranken , dessen Leiden 6 Jahre anhielt , ein verwirrtes Bild, mi t vers t reuter Lokalisat ion im g i i ekenmark u n d vielleieht aueh im Hirn, nach den Kle inhi rnsym- p tomen zu urtei len (Nystagmus, Gang) im Laufe einer langen Zeit recht bedeutende Sehwierigkeiten. Der bereits vor 3 Jah ren festgestellte

Z. f. d. g. Neut. u. Psych. 146. 47

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722 1 ). S. Babitzky:

Tumor am Halse wurde in keinen Zusammenhang mit dem Rfickenmark gebracht; ja, als Patient, kurz vor der Operation, selbst darum bat, ihm den Tumor zu entfernen, der ihm die Ursaehe aller seiner Beschwerden sehien (lanzinierende Sehmerzen aus dem Halse in den Kopf und die Wirbels/~ule), da wurde ihm yon einer Operation abgeraten; der Tumor wurde als eine tuberkul6se Driise betrachtet und Patient in ein Sanatorium an den Strand geschickt.

Als Patient unsere Klinik aufsuchte, da dachten wit, als wit an die Diagnose gingen: warum sollten wir 2 gleichzeitig bestehende Prozesse, das deutlieh ausgesprochene Neoplasma auf der HShe der oberen Hals- wirbeln und die Kompression des Rtickenmarks im oberen Halsabschnitt, d .h . ebenfalls auf der HShe dieses Tumors - - wenn auch auSerhalb des Wirbelkanals - - als gesonderte Erscheinungen betrachten ? Die Logik spraeh dafiir, dab beide Erkrankungen in Zusammenhang gedeutet werden mfissen und dab die Rfiekenmarkkompression eben dureh den Tumor bedingt ist. Wir stellten daher die Diagnose: Riickenmarktumor.

Die Kleinhirnsymptome konnten uns nicht besonders irreffihren, da solche bei Rttekenmarktumoren, besonders im oberen Abschnitt des Rfiekenmarks, ffir nns nichts Neues waren.

Jetzt , naeh der Operation, als an einem Zusammenhang zwisehen dem Tumor am Halse und dem Rfickenmark schon kein Zweifel sein konnte, da war ja alles schon ganz klar und alle Erseheinungen nnd Symptome konnten ohne weiteres erldi~rt werden. Das Wachstum des Tumors, vorwiegend auBerhalb des Wirbelkanals, erkl/~rt auch die lang- andauernde Kompression des Riickenmarks im Halsabschnitt im Laufe yon 6 Jahren und trotzdem die ungewShnlich rasehe Wiederherstellung tier Funktion. Es ist klar, dab mittels einer Lumbalpunktion das Bestehen einer Blockade - - Druck, Queckenstedtsches Symptom, EiweiSzellen- dissoziation usw. - - aueh vor der Operation naehgewiesen werden konnte ; oder am besten kSnnte dieses durch ~yelographie erreieht werden, da wir hierbei die Jodipinretention fiber dem Riickenmarktumor gesehen h/~tten.

Patient wollte aber von einer Punktion ja nichts wissen - - die Erinnerungen an friihere Punktionen waren ihm noch so sehr im Ge- d/~chtnis . . . .

Da nun an eine ~yelographie nicht zu denken war, so mul3te der Plan unserer Operation anders gebaut werden. Wer weil3, ob wir naeh einer Myelographie, die uns ja eine Jodipinretention ergeben h~tte, nieht in iiblicher Weise vorgegangen w/~ren - - wir h/s vielleicht laminektomiert und w/~ren darauf aus dem Wirbels~ulekanal dem Tumor welter, aul3erhalb des Kanals - - gefolgt. W/~re es besser gewesen ? Ich glaube kaum. GewiB, was das radikale Vorgehen betrifft, hat die Lamin- ektomie ganz bestimmt bedeutende Vorteile, da man dabei sicher ist, den ganzen im Kanal liegenden Teil des (extraduralen) Tumors zu entfernen.

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Nach unserer Ansicht steht sie vor unserem Verfahren zuriick - - direkt an den auBerhalb des Kanals liegenden Tumor zu dringen. Und dieses gelang uns bei unserer Operation recht einfach und ohne Mtihe. Es ist hSchstwahrscheinlich, dab wfl" in toto auch den im Kanal liegenden Teil des Tumors entfernt hat ten - - cter schnurartige Stiel machte es uns leicht, ihn zu verfolgen und ihn, wenn auch nicht ad oculos, so jeden- falls mit dem Finger bis an die Stelle, wo er an tier Dura begann, von allen Seiten zu erfassen. Wi~re der Tumor unverhofft nicht radikal entfernt worden nnd wfirden nach einiger Zeit Erseheinungen von Rficken- markkompression aufgetreten sein, so wfirde die dann erforderliehe Laminektomie als ein natiirlieher zweiter Moment der Operation be- t rachtet werden kSnnen; im gegebenen Falle ws der Vorteil gewesen, dab naeh dem ersten Moment ein l~ngerer Zeitraum verlaufen war, w~thrend dem Patient sieh sehr wohl ffihlte.

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