3
936 KINDER- UND JUGENDARZT 34. Jg. (2003) Nr. 12 FORTBILDUNG In der Einschätzung von Hal- tungsschäden gibt es große Unter- schiede. Dafür verantwortlich ist die Tatsache, dass die Übergänge zwischen physiologischen und pathologischen Befunden fließend und nicht exakt definier- bar sind (Abb. 1). Klinische Untersuchung Die Wirbelsäule sollte bei der kli- nischen Untersuchung nach ver- schiedenen Aspekten beurteilt werden. Häufig wird nur in der Ansicht von hinten die frontale Haltungsschäden bei Kindern und Jugendlichen – Untersuchung und Bewertung Ralf Stücker Haltungsschäden werden in Zukunft eine zunehmende Bedeutung erhalten. Dazu werden nicht allein die Wirbelsäulenschäden beitragen. Bereits heute gehen 20% aller Krankschreibungen und 50% aller frühzeitigen Berentungen auf Wirbelsäulen- schäden zurück. Auch die Auswirkungen von Muskelverkürzungen, Übergewicht und zunehmende sitzende Tätigkeiten in unserer Gesellschaft werden sich sicher ungünstig auf den Bewegungsapparat auswirken. Maßnahmen zur Prophylaxe in der Kindheit und Jugend sind nach wie vor unzu- reichend. KINDER- UND JUGENDARZT FORTBILDUNG Abb. 1: Die Übergänge zwischen normaler Haltung und Hal- tungsschwäche oder Haltungs- schäden sind fließend und nicht exakt definierbar. Ebene untersucht, wozu auch der sogenannte Adam-Bending-Test gehört, um eine Skoliose auszu- schließen (Abb. 2). Auch die Ein- schätzung von Asymmetrien oder Beinlängendifferenzen über den Stand der Beckenkämme oder die Beurteilung der Tailliendreiecke gehört sicherlich überall zum Standardrepertoire. Alle diese Untersuchungen wer- den standardmäßig in der fronta- len Ebene durchgeführt. Das sagittale Profil wird meistens vernachlässigt, obwohl es vielfach Hinweise auf das Vorliegen ver- schiedener Erkrankungen liefern kann. Der häufig durchgeführte Haltungstest nach Matthiaß ist nicht ausreichend spezifisch und sollte bei der Beurteilung nicht überbewertet werden. Sagittales Profil Bei der Überprüfung des sagitta- len Profils kann man sich zu- nächst daran orientieren, dass die Schwerelinie vom Mastoid durch das Zentrum des Schultergelen- kes und durch die Zentren von Hüft-, Knie- und Sprunggelenk Abb. 2: Im Adam-Bending-Test kommen Lendenwulst oder Rip- penbuckel gut zur Darstellung. verläuft. Bei Vorliegen einer Hy- perkyphose der Brustwirbelsäule muss man an das Vorliegen eines Morbus Scheuermann denken. Dabei gilt es zu klären, ob es sich um eine flexible Deformität oder um eine kontrakte Kyphose han-

FORTBILDUNG Haltungsschäden bei Kindern und … · das Zentrum des Schultergelen-kes und durch die Zentren von Hüft-, Knie- und Sprunggelenk Abb. 2: Im Adam-Bending-Test kommen

  • Upload
    dangnga

  • View
    214

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: FORTBILDUNG Haltungsschäden bei Kindern und … · das Zentrum des Schultergelen-kes und durch die Zentren von Hüft-, Knie- und Sprunggelenk Abb. 2: Im Adam-Bending-Test kommen

936 KINDER- UND JUGENDARZT 34. Jg. (2003) Nr. 12

FORTBIL

DUNG

In der Einschätzung von Hal-tungsschäden gibt es große Unter-schiede. Dafür verantwortlich istdie Tatsache, dass die Übergängezwischen physiologischen undpathologischen Befundenfließend und nicht exakt definier-bar sind (Abb. 1).

Klinische Untersuchung

Die Wirbelsäule sollte bei der kli-nischen Untersuchung nach ver-schiedenen Aspekten beurteiltwerden. Häufig wird nur in derAnsicht von hinten die frontale

Haltungsschäden bei Kindernund Jugendlichen– Untersuchung und BewertungRalf Stücker

Haltungsschäden werden in Zukunft eine zunehmende Bedeutung erhalten. Dazuwerden nicht allein die Wirbelsäulenschäden beitragen. Bereits heute gehen 20%aller Krankschreibungen und 50% aller frühzeitigen Berentungen auf Wirbelsäulen-schäden zurück. Auch die Auswirkungen von Muskelverkürzungen, Übergewichtund zunehmende sitzende Tätigkeiten in unserer Gesellschaft werden sich sicherungünstig auf den Bewegungsapparat auswirken.

Maßnahmen zur Prophylaxe in der Kindheit und Jugend sind nach wie vor unzu-reichend.

KINDER- UND JUGENDARZT

FORTBILDUNG

Abb. 1: Die Übergänge zwischennormaler Haltung und Hal-tungsschwäche oder Haltungs-schäden sind fließend und nichtexakt definierbar.

Ebene untersucht, wozu auch dersogenannte Adam-Bending-Testgehört, um eine Skoliose auszu-schließen (Abb. 2). Auch die Ein-schätzung von Asymmetrien oderBeinlängendifferenzen über denStand der Beckenkämme oder dieBeurteilung der Tailliendreieckegehört sicherlich überall zumStandardrepertoire.

Alle diese Untersuchungen wer-den standardmäßig in der fronta-len Ebene durchgeführt.

Das sagittale Profil wird meistensvernachlässigt, obwohl es vielfachHinweise auf das Vorliegen ver-schiedener Erkrankungen liefernkann. Der häufig durchgeführteHaltungstest nach Matthiaß istnicht ausreichend spezifisch undsollte bei der Beurteilung nichtüberbewertet werden.

Sagittales Profil

Bei der Überprüfung des sagitta-len Profils kann man sich zu-nächst daran orientieren, dass dieSchwerelinie vom Mastoid durchdas Zentrum des Schultergelen-kes und durch die Zentren vonHüft-, Knie- und Sprunggelenk

Abb. 2: Im Adam-Bending-Testkommen Lendenwulst oder Rip-penbuckel gut zur Darstellung.

verläuft. Bei Vorliegen einer Hy-perkyphose der Brustwirbelsäulemuss man an das Vorliegen einesMorbus Scheuermann denken.Dabei gilt es zu klären, ob es sichum eine flexible Deformität oderum eine kontrakte Kyphose han-

Page 2: FORTBILDUNG Haltungsschäden bei Kindern und … · das Zentrum des Schultergelen-kes und durch die Zentren von Hüft-, Knie- und Sprunggelenk Abb. 2: Im Adam-Bending-Test kommen

KINDER- UND JUGENDARZT 34. Jg. (2003) Nr. 12 937

FORTBIL

DUNG

delt. Die Differentialdiagnose ge-lingt durch Überprüfung der Fle-xibilität in Knie-Ellenbogen-Lage.Bei Verdacht auf das Vorliegen ei-nes Morbus Scheuermann ist dieDurchführung eines Röntgenbil-des obligat, welches dann in derRegel die typischen Grund- undDeckplattenveränderungen zeigt.

Auch eine Hypokyphose derBrustwirbelsäule hat eine progno-stische Relevanz. So ist es nichtdurchgängig bekannt, dass dieidiopathische Skoliose jungerMädchen auf dem Boden einerHypokyphose der Brustwirbel-säule entsteht. Ist also das sagitta-le Profil der Wirbelsäule im be-schriebenen Sinne verändert, be-steht ein erhöhtes Risiko der Ent-wicklung einer Skoliose. Auch dassagittale Profil der Lendenwirbel-säule hat prognostische Relevanz.So ist eine Hyperlordose der Len-denwirbelsäule mit dem Risikoder Entwicklung einer Spondylo-lyse bzw. Spondylolisthesis ver-bunden. Begünstigende Faktorenfür die Entwicklung einer Hyper-lordose der Lendenwirbelsäulesind Muskelschwäche, Adiposi-tas, Muskelverkürzungen der un-

teren Extremitäten und auch gele-gentlich genetische Faktoren(Abb. 3). Eine Hypolordose prä-disponiert andererseits zu einerÜberlastung der vorderen Säule

des Wirbelsäulenabschnittes unddamit zur Entwicklung eines lum-balen Morbus Scheuermann(Abb. 4). Anomalien des sagittalenProfils sind besonders häufig mitRückenschmerzen assoziiert.Auch psychologische Einflüssehaben signifikante Auswirkungenauf das sagittale Profil der Wirbel-säule.

Frontales Profil

Natürlich spielt die Überprüfungder Wirbelsäule in frontaler Pro-jektion nach wie vor eine sehrgroße Rolle. Im Stehen kann dieSymmetrie der Schulterkulisse,des Beckens (Beckengeradstand)und der Taillien beurteilt werden(Abb. 5). Der Adam-Bending-Testist zur Beurteilung der Wirbelsäu-le unverzichtbar. Häufig ist einebeginnende Skoliose nur in dieserUntersuchungstechnik nachweis-bar. Die Rotation der Wirbelkör-per im Rahmen der Entwicklungeiner Skoliose führt zur Ausbil-dung eines Rippenbuckels odereines Lendenwulstes. Hilfreich istdie Verwendung eines Skoliome-ters. Bei der Beurteilung einer De-formität in der Frontalebene ist

Abb. 3a und b: 12-jähriger Patient mit Rückenschmerzen. DeutlicheAdipositas und knickförmige Hyperlordose des lumbosakralenÜbergangs. Der Befund ist pathognomonisch für eine Spondylo-listhesis. So sind die deutlichen Fettfalten unterhalb des ThoraxZeichen einer Vorwärtsverlagerung des Rumpfes gegenüber demSakrum.

Abb. 4a und b: 13-jähriger Jun-ge mit Rückenschmerzen. Dassagittale Profil ist im Sinne ei-nes Flachrückens mit aufgeho-bener Lendenlordose verändert. Röntgenologisch fand sich ein lumbaler Morbus Scheuermann.

Page 3: FORTBILDUNG Haltungsschäden bei Kindern und … · das Zentrum des Schultergelen-kes und durch die Zentren von Hüft-, Knie- und Sprunggelenk Abb. 2: Im Adam-Bending-Test kommen

938 KINDER- UND JUGENDARZT 34. Jg. (2003) Nr. 12

FORTBIL

DUNG

wiederum zu berücksichtigen,dass verschiedene Erkrankungenim Bereich der unteren Extre-mitäten eine Skoliose imitierenkönnen. So sollten Beinlängendif-ferenzen, Erkrankungen der Hüft-gelenke (Morbus Perthes, Beuge-kontrakturen) oder auch einseiti-ge Achsendeformitäten ausge-schlossen werden.

Muskelverkürzungen

Bei Verdacht auf Haltungsstörun-gen sollte die Untersuchung nichtauf die Beurteilung der Wirbel-säule beschränkt werden, denn esgibt einen direkten Zusammen-hang von Haltungsproblemen mitder Entwicklung von Muskelver-kürzungen im Bereich der unte-ren Extremitäten.

Die Inzidenz von entsprechendenMuskelverkürzungen ist im Kin-des- und Jugendalter sehr hoch.Reimers untersuchte 600 Kinderaus seiner kinderorthopädischenSprechstunde und fand bei 50%Verkürzungen der Wadenmusku-latur oder der ischiokruralenMuskeln. In etwa 20% aller Fällewaren die Muskelverkürzungenfür die geklagten Beschwerdenverantwortlich. Brodersen undMitarbeiter fanden bei Jungenvon mehr als 10 Jahren in immer-hin 75% Verkürzungen der ischio-kruralen Muskeln, während beiMädchen im gleichen Alter ledig-lich eine Inzidenz von 35% zu be-obachten war.

Es gibt verschiedene Folgen vonMuskelverkürzungen. Verkür-zungen der ischiokruralen Mus-keln führen bevorzugt zu Hal-tungsstörungen, da die verkürz-ten Muskeln eine Beckenkippungnach vorne bewirken und dasharmonische sagittale Profil derWirbelsäule meist im Sinne einer

Abb. 5: Die Überprüfung desfrontalen Profils zeigt eineAsymmetrie der Schulterkulisseund der Tailliendreiecke.

Haltungskyphose negativ beein-flussen.

Verkürzungen der Wadenmus-keln haben einen negativen Ein-fluss auf das Gangbild. Durch dieunzureichende Dorsalextensionim oberen Sprunggelenk kann einregelrechter Abrollvorgang nichtmehr vorgenommen werden. So-mit wird der Fuß häufig durch ei-ne Auswärtsdrehung der Hüftennach außen gedreht, wodurch dasGangbild schaukelnd und unhar-monisch wird.

Verkürzungen der Oberschenkel-Streckmuskulatur in Kombination

mit Verkürzungen der ischiokrur-alen Muskeln findet man häufigbei peripatellaren Schmerzsyn-dromen.

Bei fraglichen Befunden in der Be-urteilung von Wirbelsäulendefor-mitäten kann die photooptische 3-dimensionale Vermessung wert-volle Hilfe leisten. Neben derÜberprüfung der Beckensymme-trie erlaubt die Methode eine Ein-schätzung des sagittalen undfrontalen Profils und ist auch zurVerlaufsbeurteilung sehr gut ge-eignet. Leider ist diese Methodenoch nicht anerkannte Kassen-leistung und deshalb nicht routi-nemäßig anzuwenden.

Zusammenfassend sind bei derFrage nach Vorliegen von Hal-tungsstörungen zunächst Störun-gen des sagittalen und frontalenProfils der Wirbelsäule auszu-schließen. Diese können flexibeloder fixiert und somit Ausdruckstruktureller Formveränderun-gen der Wirbelsäule sein. In Kom-bination mit Haltungsstörungenoder auch allein finden sich häu-fig Verkürzungen von Muskel-gruppen im Bereich der unterenExtremitäten. Dabei sind M. ga-strocnemius, ischiokrurale Mus-keln, Rektus femoris und die pel-vitrochanteren Muskeln beson-ders häufig betroffen. Therapieund Prophylaxe progredienterStörungen bestehen zunächst ineiner krankengymnastischen Be-handlung und einer ausgewoge-nen sportlichen Freizeitgestal-tung.

Literatur beim Verfasser

PD Dr. Ralf StückerAltonaer Kinderkrankenhaus,OrthopädieBleickenallee 3822763 Hamburg Red.: Riedel