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anton Magazin für Kultur wissenschaften 15 / April 2009

GRASSI Museum für Angewandte Kunst Johannisplatz 5 – 11 ... · 15 KuWi News 16 KuWi - Tag Studentenfutter | studentische Angelegenheiten 16 Die dritte Generation – BA-Härtefälle

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  • antonMagazin für Kulturwissenschaften

    15 / April 2009

    Joe Colombo

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    Joe Colombo

    Designund die Designund die Designund die Designund die DesignErfi ndung der Erfi ndung der Zukunft

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    GRASSI Museum für Angewandte KunstJohannisplatz 5�–�11, 04103 Leipzig Telefon 0341 222 91 00www.grassimuseum.deÖffnungszeiten: Di�–�So, Feiertage 10�–�18 UhrEine Ausstellung des Vitra Design Museums und La Triennale di Milano in Zusammenarbeit mit dem Studio Joe Colombo, Mailand

  • Titelthema Der Herrgott hat einen großen Tiergarten2 Von Zwergen in Liegestühlen 3 Das Land der Tierfreunde 5 Interview mit Miss Mandy Cleenex 8 Bevor das Kino kam … 9 Digital Darwin

    Real World | Praktisches aus dem wahren Leben10 Galeriepraktikum bei ›Eigen + Art‹

    Elfenbeinturm | Neues aus dem Institut11 Interview mit Thomas Schmidt -Lux 15 KuWi News 16 KuWi - Tag

    Studentenfutter | studentische Angelegenheiten16 Die dritte Generation – BA - Härtefälle 19 Rezension Peter Gentzel 21 Permanenz des Ästhetischen

    Eigensinn | Sinniges und Unsinniges von der Redaktion24 (Ein)gebildeter Weltschmerz eines Hobbyliteraten26 Wüstes Gekrabbel27 Abstecher – Kurzgeschichte 28 Das hab ich in 5 Minuten gemacht 29 Komödie der Irrungen30 Rätsel 32 Impressum

    »Der Herrgott hat einen großen Tiergarten« pfl egte so manche Großmutter zu sagen.Welche Tiere wir in diesem Garten sehen und was man sich sonst noch so dar-unter vorstellen kann, haben wir in einer neuen Ausgabe dieses fabulösen Maga-zins zusammengefasst. Passend zur Jahreszeit und zu seinem fünfzehnten Geburtstag erstrahlt auch unser ANTON in neuem Gewand und beschert euch noch mehr Freude beim le-sen und blättern. Im Rückblick kann man schon sagen, der ANTON hat sich ganz schön gemacht. Vom schwarz bedruckten Papier mit wildem Layout, nun mit schi-ckem Umschlag, klarem Layout, live und in Farbe. Wer hätte es gedacht? Nach fünfzehn Ausgaben bietet der ANTON immer noch allen Kuwi’s und denen die es gerne wären, die Möglichkeit sich auszuprobieren, Ideen weiterzuentwickeln und dazu zu lernen. Und wenn es so weiter geht folgen noch viele schöne Ausgaben unseres ANTON-Magazins. Wer weiß, heute ein neues Layout, morgen die Welt! Ideen, Vorschläge, Kritik und Mitmach-Wünsche bitte wie immer an:[email protected].

    Euer ANTON

  • 2

    Kleine und große Geschmacklosigkeitenoder Von Zwergen in Liegestühlen

    von Henriette Fleischer

    Na, was halten Sie davon?Es wehte ein laues Frühsommerlüftchen, gerade richtig, um es auch in der ersten ernstzunehmenden Mittagssonne aushal- ten zu können. Mit etwas Waldmeister- brause und Lektüre hatte ich es mir im hin- teren Teil des Gartens unter den sanft wo- genden Baumwipfeln gemütlich gemacht. Diese ideale Kombination von Wärme, Erfrischung und Unterhaltung versetzte mich in einen lang ersehnten Zustand von Glückseligkeit.Und dann das! Von dem angrenzenden Grundstück schwappten plötzlich wüste Schlagermelodien über den Zaun – beglei- tet von der Frage nach meinem Stand- punkt. Ich stellte mich schlafend.Die Frage wurde wiederholt. Der Nachbar wollte jetzt nicht wirklich für seine neueste Baumarktexkursionsbeute, einen unsägli- chen Zwerg im Liegestuhl, gelobt werden. Oder etwa doch? Oh ja, er wollte!!!Welche Neuerwerbung?, fragte ich ganz arglos, während es in meinem Kopf arbei-tete: Jetzt bloß nichts Falsches sagen! Schließlich haben Meinungsverschieden-heiten erst kürzlich einen nachbarschaft-lichen Skandal provoziert. Aber eine Fra-ge drängte sich mir so ebenso auf wie der Nachbar: Wie konnte jemand für derarti-ge Geschöpfe Sympathiegefühle hegen? Diese Zwerge waren zum einen völlig un-nütz, zum anderen unbestreitbar unäs-thetisch. Sollte mein Nachbar einer der Menschen sein, die nach Broch das Fal-sche, Verkommene und Verlogene lieben und dieses mit der Berufung auf die Frei-heit des Geschmacks auch noch verteidi-gen?1 Ich wagte zu bezweifeln, dass mein Nachbar sich dessen bewusst war. Ver-mutlich wollte er einfach den Wettbe- werb um die vermeintlich schönste Gar-tendekoration gewinnen; oder er mochte das Glücksversprechen, das Kitschge-genständen nun einmal anhaftet. Ich hob ja auch meine Laune mit quietschgrünem Sprudel, dem man eine gewisse kitschi-ge Verschrobenheit nachsagen kann …Liessmann schreibt hierzu: Wer sich zum Kitsch bekennt, hat einen Weg gefunden, das zu genießen, was die radikale Moder-ne und die politische Aufklärung ihm ver-weigern wollte: Gegenständlichkeit, pla- kative Gefälligkeit, sinnliche Religiosität,

    sentimentale Stimmungen.2 Aber – und das ist das eigentlich Gefährliche daran

    – Kitsch funktioniert wie eine Droge: Er betäubt zuverlässig und stellt schnell zufrieden. Gleichzeitig strapaziert er die Sinne, schläfert sie ein und man läuft Gefahr, größere Dosen zuführen zu müs-sen. Ein sehr schönes Studienbeispiel für die langsam einsetzende und dann knallhart zuschlagende Kitschsucht ist der nach wie vor am Zaun ausharrende Nachbar: Er hat- te mir tatsächlich einmal erzählt, dass er glaube, sein erster Gartenzwerg hege Ein- samkeitsgefühle und bräuchte deshalb

    einen Gefährten. Wie zu erwarten, blieb es nicht bei einem weiteren Exemplar. In- zwischen tümmeln sich wahre Nippes- figurenarmeen in dem säuberlich gestutz- ten Gras des angrenzenden Gartens. Und das in sächsischen Gefilden! Man stelle sich ganz vorsichtig vor, was eine sich durch mehrere Generationen ziehende Sammel- wut im thüringischen Gräfenroda, dem Ge- burtsort der damals noch tönernen Zwer-ge, seit den 1870er Jahren zu leisten im-stande gewesen wäre!Ob nun Philipp Griebel oder August Heis-sner der erste Modelleur eines Zwerges war, die Entstehungszeit spielt eine nicht unwesentliche Rolle für die Gartenzwerg- philosophie. So ist bei Liessmann zu le- sen, dass Kitsch als Sonderfall des Trivia- len, von einem ganz bestimmten Status der ökonomischen, produktionstechnolo- gischen und ästhetischen Entwicklung ab- hängig ist.3 Und wenn es auch zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften Kitsch- menschen gab, so häuft sich dieser Men-schenschlag doch im Zusammenhang mit der Industrialisierung, so Moles4. Als Prin- zipien des Kitsches benennt er Verwei- gerung jeglicher Funktion, Synästhesie, Massenhaftigkeit und Zugänglichkeit als typische Charakteristika.5 Kitsch sollte der Entfremdung durch veränderte Um- weltbedingungen entgegenwirken und der kürzlich entzauberten Welt auf unkompli-

    Abb.: Jeff Koons: ›Cherubs‹ 1991

    1 Vgl. Liessmann: Kitsch! oder Warum

    der schlechte Ge- schmack der

    eigentlich gute ist. Wien 2002, S. 12.

    2 a.a.O., S. 74.3 a.a.O., S. 67.

    4 Vgl. Moles: Psychologie des

    Kitsches. München 1972, S. 82.

    Vgl. dazu: Putz: Kitsch – Phänome-nologie eines dyna-

    mischen Kultur- prinzips.

    Bochum 1994, S. 21.

    5 a.a.O., S. 65ff.

    6 Kotík Zit. nach: Illing: Kitsch, Kom-

    merz und Kult. Soziologie des

    schlechten Geschmacks.

    Konstanz 2006, S. 221.

    7 Adorno Zit. nach: Liessmann: Kitsch

    oder Warum der schlechte Ge-

    schmack der eigent-lich gute ist.

    Wien 2002, S. 8f.

    Titelthema

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    zierte Weise einen neuen Zauber ein-hauchen …Besagtes Harmonisierungsstreben sieht man dem Kitsch nach. Der eigentliche Streit entzündet sich an seinem lügenhaf- ten Charakter, daran dass der Konsument durch Vorspiegelung von Kunst betrogen

    wird. So schreibt Kotík: Es ist nicht der schlechte Geschmack, der ein Objekt zum Kitsch macht, sondern die Tatsache, dass es vortäuscht, etwas zu sein, was es nicht ist.6 Bei Adorno ist hierzu zu lesen: Kitsch ist die Kunst, die nicht ernst genommen werden kann – oder will – und die den- noch durch ihr Erscheinen ästhetischen Ernst postuliert.7 Und Eco: Kitsch ist das Werk, das sich zum Zwecke der Reizsti-mulierung mit dem Gehalt fremder Erfah-rungen brüstet und sich gleichwohl vor-behaltlos als Kunstwerk ausgibt.8

    Eben diese Gegensätzlichkeit von wieder- holendem Kitsch und innovativer Kunst wird in der Postmoderne aufgehoben: Kitsch kann zur Kunst werden – und um-gekehrt. Auch der Glaube Kunst sei Sache der Ratio, Kitsch Sache des Gefühls wird damit hinfällig. Künstler wie Jeff Koons geben sich ohne Gewissensbisse der Lust nach Farbe und Fülle hin, wodurch Normen des Geschmacks durch den ironischen Bruch gesprengt werden. Fürderhin ist es möglich, etwas kitschig zu finden, aber dennoch zu mögen – oder mehr noch: et-was zu mögen, eben weil es kitschig ist. Und Hand auf’s Herz, Schmidt hat ja recht, wenn er sagt, dass in jedem von uns ein Stück Kitschmensch steckt, weil dies der kürzeste Weg der Versöhnung mit den Lebensumständen ist.9 Und da saßen wir nun, der Herr Nachbar mit seinen schrillen Plastikfreunden und ich mit meiner schreiendgrünen Brause

    … Das Idyll schlechthin!?

    Das Land der Tierfreunde

    von Juliane Scholz

    Über die zwei Hauptausprägungen der Haustierhaltung, ihre Rückschlüsse auf das menschliche Dasein und ihre Unver-einbarkeiten.Irgendwann im Leben eines Adoleszenten, vorzugsweise eines Pärchens, welches in beinahe monogamer Beziehung lebt, kommt dieses an den Punkt der Entschei- dung. Der geneigte Leser wird da sofort an die eigene Leibesfrucht denken, jedoch soll diese im Folgendem keine Rolle spie- len, sondern auf das Phänomen der Haus- tierhaltung hingewiesen werden und – viel wichtiger – auf der den Entscheidungspro- zess für ein bestimmtes Tier, der nicht min- der psychologisch, sondern auch soziolo- gisch Auswirkungen wie auch spezielle Ur- sachen hat, welche durchaus Rückschlüs- se auf Charakter, Beziehung und psycholo- gische Disposition eben jener Menschen offen legen kann.Der Einfachheit halber sollen hier von den zwei Hauptströmungen der Haustier- haltung und mit ihr die angeschlossenen Herrchen im Mittelpunkt stehen. Tierhaar-allergiker und Kaninchen-, Meerschwein-, Vogel- oder gar Hamsterbesitzer werden somit absichtlich sträflich vernachlässigt und in eine Kategorie drei der ›Kleinsttier- freunde‹ gezwungen: Ein Mittel der Verein- fachung zur Kürzung des Textes, welches aber nicht darüber hinwegtäuschen soll- te, dass es zwischen diesen Kleinsttier- freunden auch durchaus diffizile und ›fei- ne Unterschiede‹ (vgl. Pierre Bourdieu) so- wie äußerst arglistige Trennlinien gibt. So würde der Sittichhalter nie mit dem Ham- sterfreund ein Bier trinken, denn die Le- ben der beiden Hausgenossen wie auch deren Ansprüche liegen sprichwörtlich Ebenen, wenn nicht Welten auseinander. Der Sittich zwitschert und verwildert ger- ne in einer Gang, erfriert sofort bei Zugluft, währenddessen der ruhige Zeitgenosse Hamster nur nachts Laufradterror verbrei- tet und einfach das Essen vor dem Herun- terschlucken tagelang mit sich herum- trägt. Im Prinzip wäre der einfachste Wider- spruch, der die Tiere wie auch deren Herr- chen entzweit, wohl der, dass der Hamster in der Luft nicht so gut zu Fuß ist. Dass sich, ob dieser Differenzen, ein Stamm- tischgespräch somit nie auf Grundlage ähnlicher Haustierliebe und ähnlicher Füt- terungs- sowie Kuschelpraxis entfalten kann, ist natürlich offensichtlich. Beide eint jedoch folgender Tatbestand: Die

    8 Eco Zit. nach: Putz: Kitsch – Phänomenologie eines dynamischen Kulturprinzips. Bochum 1994, S. 53.

    9 Vgl. Schmidt Zit. nach: Thuller: Kitsch: Balsam für Herz und Seele. Stuttgart 2007, S. 7.

    Ein interessanter Versuch den Hund zu huldigen, wel-cher Katzen » auf ei-ne Stufe mit Tau-ben oder Ratten, also Wildtieren, die Mensch für gewöhn-lich meidet und nicht schätzt« stellt und besonders durch den Hass ge-gen Katzenbesitzer, vornehmlich Frau-en, auffällt, welche für den geneigten Katzenhasser asozi-al und pathologisch sind, da sie ohne den täglichen Aus-gang mit Wauwau emotional verküm-mern würden, fin-det sich unter: www.katzenhasser.comDabei gibt es viel mehr Hundehas-ser -Threads. Goo-gelt man diesen Begriff, erscheint zugleich www.hun-dehasser.hatepa-ge.com. Die Ma-cher erwägen sogar Hundefleisch zum Verzehr freizuge-ben. Beide Extreme sind absolut unnö-tig und wahnwitzig, dennoch aber kurz-weilig, weil skurril.

    Titelthema

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    Besitzer von Hamstern sowie von Vögeln jeglicher Art sind Voyeure durch und durch. Lieber beobachten als anfassen, absolut unkuschelige Zeitgenossen, die entweder schlafen oder auf der Stange zirpen. Man kann also annehmen dass eben jene Be- sitzer schon genug zu kuscheln daheim haben, oder im Gegenteil sie jede Art der Nähe scheuen. Dies würde aber bedeuten, man pathologisiere Kleintierfreunde die- ser Art, was mir nicht in den Sinn kommen will, denkt man an die sehr groteske Spe- zies der Exotenfreunde oder der Totalglot- zer: Die Aquarianer.Nachdem wir uns mühsam mit Dritten auseinandersetzen mussten: nun der in Deutschland vorherrschende Hauptkon-flikt. Die Welt teilt sich somit hinterm Gar- tenzaun in Hundemenschen und in Kat-zenmenschen.Komisch, dass immer wieder, wenn Ge-spräche zwischen neuen Bekannten auf dieses Thema kommen, sich diese zwei Fraktionen schnell herausbilden. Meist wird die Diskussion um den Vorzug des ei- nen oder anderen Haustieres vom Hun-debesitzer abrupt beendet, da dieser an- führt, wie viele Katzen Bello in seinem Le-ben schon gerissen hat. Katzenbesitzer sind nicht minder dekadent und erzählen süffisant, dass ein Hundebesitzer wohl jemanden brauche, der ihm hechelnd an den Beinen hänge und der bestenfalls aufs Wort »tot stellen« beherrscht. Diese zwei kommen also nicht wirklich zusam-men. Die menschliche Ebene mag stim- men, die tierische ist jedoch verkorkst, in- sofern die Stereotype natürlich medial ge- schürt werden, aber doch mitunter in die- sem Lande der Tierfreunde (vgl. Dietmar Wischmeyer »Der kleine Tierfreund«) auch zutreffen. Der Hund als bester Freund des Menschen, als ewig bedeppert drein gu-ckendes unterwürfiges Tier für Autoritäts-fanatiker, die dann auch die Kinder im Tiefschnee vor der Autofahrt zu Oma an-weisen: »Schuhe abklopfen! Wehe es ist Schnee im Auto« (wobei nach 10 Minuten,

    das weiß jedes Kind, Schnee in der war- men Fahrgastzelle wohl nicht mehr nach- zuweisen sein wird!). Der Hundemann ist meist ein kränkelnder Zeitgenosse, der sich den Vierbeiner anschafft, um mal »raus zu kommen« in die Natur, was meist heißt, er geht zu nächsten Ecke und kauft Bier, währenddessen der Hund vorm Aldi friert oder auf Grünstreifen der Stadt kackt. Wohl dem, der auf dem Lande die anarchis- tische Hundeerziehung nutzt und ihn ein- fach machen lässt. Schafe reißen, Katzen jagen, bellen bis der Nachbar kommt und garantiert nicht an der Leine gehen bzw. Kommandos erhören. Aber auch der trau- rige Käfig- bzw. Zwingerhund fristet gerne auf dem Lande sein Dasein. Angeschafft als Wachhund, bellt er eh immer, und meist gibt es für Einbrecher dort im Hause eh nicht viel zu holen. Beliebt ist auch das Motiv den Hund anzuschaffen, weil man gefährlich wirken will (man lese dazu nur Clemens Meyers: ›Als wir träumten‹) oder weil eine Frau sich so sicherer fühlt.

    Ein Hund ist prinzipiell treu, will Gassige- hen und hängt dem Herrchen an den Lip- pen. Diesen Zustand können Katzenlieb- haber nun überhaupt nicht ertragen. Sie schafften sich Felidae an, um in Ruhe ge- lassen zu werden, putzige neurotische An- gewohnheiten am kleinen Fellklops anzu- sehen und die sagenumwobene Selbst- ständigkeit der Samtpfoten zu Bewundern. Für Katzen sind Menschen ohnehin nur Dosenöffner oder Tütenaufreißer. Sie fres- sen und schlafen den ganzen Tag, unter-brochen von zwei Stunden terroristischen Anfalls und Möbelkratzens. Ansonsten starren sie abwechselnd aus dem Fens-ter, nagen statt beigestelltem Katzengras an giftigen Zimmerpflanzen und lecken sich aus Langeweile gefühlte fünfzig Mal am Tage. Die Katze als Königin der deka- denten Haustiere wohnt bevorzugt bei Stu- denten als Kinderersatz, denn im Grunde ist das Zusammenleben mit ihr genauso aufreibend wie ein eigenes Kind: Katzen schlafen im Bett zwischen dem Pärchen,

    Sehr witzig: Simon Tofields Katze ver-

    sucht das Herrchen zu wecken: Mehr

    »Cat Man Do« unter www.youtube.com.

    Titelthema

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    sie wollen immer nur fressen (vgl. Helge Schneider) und schreien am Morgen, wenn die Eltern zu lange liegen bleiben. Natürlich ist dies ein Idealfall, geschildert werden nicht: Alte Frauen, die »Animal Horting« be- treiben, eine neue psychische Krankheit, die besonders allein lebende Pensionäre betrifft und die sich ihr Haus mit 500 Kat- zen »teilen« bzw. verwahrlosen, da kein sozialer Kontakt mehr zur Außenwelt be-steht. Katzen sind somit prinzipiell und aus-nahmslos Anarchisten, die einem jede Hö-rigkeit verweigern, die schon bei Umstel- len einer Stehlampe aufgrund labiler Psy-che anfangen können, alle Gegenstände zu bepinkeln. Gibt man ihnen Wärme, Strei- cheleinheiten und regelmäßig Futter dan- ken sie es einem meistens! Mit wenig Krat- zern oder Bissen in den Fuß und schnur-ren auch ab und an mal. Katzen bemerken auch immer wenn es dem Herrchen bei-spielsweise im Magen kneift und man krank wird, prompt legen sie sich zu einem und wärmen sich am wohligen Fieber des Menschen. Die diversen Arten von Tierfreunden wer-den immer wieder Dispute durchzustehen haben und sich streiten und den Kopf über die Tierauswahl des jeweils Anderen führen, doch haben sie eine Gemeinsam- keit: Sie besitzen einen tierischen Zeitge- nossen. Was die andere Hälfte Deutsch-lands verneint, eint sie nun wieder. Denn über der Spezies der ›Nichttierhalter‹ und ihre Eigenarten könnte man Bücher füllen.

    Stark und reißfest, wie eine Packung Cleenex

    Ein Interview mit der Travestiekünstlerin Miss Mandy Cleenex – tagsüber Friseur und Nachts auf Leipzigs Partys unter-wegs.

    Das Interviewführte Maria Kaduk

    ›Meistens sind es Männer, die sich als Frauen verkleiden und dann irgendwo auf- treten und irgendetwas machen.‹

    Travestiekünstler, zumeist kennt man das Klischee, aber viel mehr über sie dürfte den wenigsten bekannt sein. Miss Mandy Cleenex ist Travestiekünst-lerin in Leipzig und im alltäglichen Leben Friseur.

    ANTON sprach mit Robert dem Mann hin- ter Miss Cleenex um zu erfahren, was es heißt dieser Kunstform nachzugehen, mehr über seine Intention und Inspiration, die Kunstfigur Mandy Cleenex und das Le- ben als Travestiekünstlerin zu erfahren.

    Was war für dich der Anlass Miss Mandy Cleenex zu werden?

    Meine Miss Cleenex entstand Ende Sep-tember 2003 aus einer Wette mit der Ber-liner Draqueen Gloria Viagra. Der Wett- einsatz war, das ich bei ihrer nächsten Veranstaltung mit auf die Bühne komme. Danach hat sich das Ganze irgendwie ver- selbstständigt.*

    Und woher kommt der Name Mandy?

    Mandy ist eine typisch ostdeutsche Fri-seurin für mich. Miss Cleenex ist auf den ersten Blick eine relativ toughe Frau, aber wenn sie den Mund aufmacht, dann merkt man richtig, dass sie eine Friseurin ist.

    Gibt es da einen Bezug zu deinem Beruf?

    Nein, ich versuche auch gar nicht die Fri-seurin in dem Sinne raus zu lassen. Der Charakter von Miss Cleenex entspricht eher der Idee von einer dummen Friseurin. Das ist ja auch eine übliche Vorstellung von einer Friseurin. Das heißt aber nicht, dass ich da jetzt meinen eigenen Beruf mit reinbringe. Ich werde niemals irgend-welche Kolleginnen von mir nieder-met-zeln.Es ist halt die Vorstellung die man von ei- ner Friseurin hat aber es ist nicht wirklich auf den Beruf bezogen, davor habe ich wirk- lich viel zu großen Respekt! Und woher kommt das Cleenex?

    Oh Gott, das Cleenex hat sich entwickelt, weil neben mir als ich mir den Namen aus- gesucht habe eine Packung Cleenex lag (lacht).

    Du saßt also da und dachtest ›Jetzt brauch ich einen Namen!‹?

    Ja, ich brauch jetzt sofort einen Namen und da hab ich mich umgeguckt und dann

    *In den folgenden zwei bis drei Jahren tritt Miss Cleenex immer auf der selben Veranstal-tung, der ›Leipziger Gay Night‹ auf, in Folge derer sie im-mer bekannter wird. Es folgt ein Projekt mit Christoph Graebel in derMoritz Bastei, ein Jahr lang gibt es das ›Stelldichein‹ zum Film. Im Rahmen dessen entsteht auch der Film ›Man-dy, eine Frau geht ihren Weg‹. Zur Zeit ist sie regel-mäßig im ›Ponyclub‹ in der alten Haupt-post zu erleben.

    Titelthema

  • 6

    fiel mir auf, dass alle irgendwie Viagra, Blond oder so heißen.Ich dachte mir eine Packung Taschentü-cher find ich viel geiler, ich benenne mich nach einer Packung Taschentücher, ›stark und reißfest‹.

    Wie lange dauert es Mandy zu werden?

    Es gibt eine ›Schnelle Mandy‹, die dauert zehn Minuten. Das ist eine Studentin früh morgens, kurz vor der Uni, verpennt, kurz übers Gesicht gefahren etwas in die Au-gen geschmiert, etwas auf die Lippen, Son- nenbrille auf und los. Die ›Große Mandy‹ das ist eine Studentin, die eine Verabre-dung hat. Die Vorbereitung dauert dann aber mindestens anderthalb Stunden.

    Wie häufig trittst du denn auf?

    Genau einmal im Monat. Dazu kommen un- regelmäßige Auftritte wie Geburtstage, Aktionen die mir selber so einfallen und auch Veranstaltern, die sich dann kurz-fristig überlegen, sie bräuchten auch mal jemanden der ein bisschen durchdreht.

    Wenn du für eine Veranstaltung ge-bucht bist, was machst du dann da?

    Na das ist immer unterschiedlich. Beim Ponyclub zum Beispiel, da lege ich dann auf und mache irgendwelche kleinen Shows die dann zum dem Motto passen. Also zum Beispiel irgendwelchen Play-backrotz oder was extraspeziell Gebau-tes; also mal singen oder so, je nach dem wie es passt.Ich könnte wahlweise auch aus einer Torte springen und nebenbei noch einen Pudel jonglieren.

    Du kannst Pudel jonglieren?

    Das kann ich bestimmt. Man kann alles, wenn man nur an sich glaubt. Tolles Motto oder?

    Was fasziniert dich denn daran in fremde Rollen zu schlüpfen?

    Die Faszination daran? Einfach mal ohne Scheu zu sagen was man denkt, denn es kann einem ja keiner übel nehmen. Die wenigsten wissen wer dahinter steckt. Die reden ja immer mit Mandy, beziehungs-weise Mandy sagt irgendwas. Das bin ja nicht ich im eigentlichen Sinne. Deswe-gen ist die Faszination, dass man einfach freier sein kann in seiner Meinungsäuße-rung, was natürlich jetzt nicht bei allen positiv ankommt.

    Langweilt dich das nicht auch irgendwann?

    Langweilen? Ja manchmal schon! Es gibt ja so Leute, die haben immer dieses Kli-scheebild eines Travestiekünstler vor sich und erwarten dann, dass man sich auf die Bühne stellt, einen Seelenstriptease hin- legt und am Ende singt ›I am what I am‹. Das kotzt mich so an, das will keiner mehr wissen, das ist durch das Thema.Allerdings hat die Mandy ja auch immer irgendwelche Unterpersönlichkeiten.

    Mandy hat verschiedene Unter- persönlichkeiten?

    Ja, also es gibt Miss Cleenex, Mandy Clee- nex, Peggy Cleenex, Jackie TrabTrab, Do-rothea Cleenex, und jetzt als nächstes die ganz Neue, noch eine weitere Unterper-sönlichkeit. Das sind sechs Persönlich- keiten und dazu es hat es jedes Jahr im-mer noch Weitere eine Andere gegeben. Und klar, die eigentliche Miss Cleenex die entwickelt sich dadurch natürlich auch im- mer weiter.Man lernt daraus, dass man zum Beispiel nach 4 Stunden auf Pumps sich auch mal hinsetzen sollte. Man lernt auch, dass Strumpfhosen, gerade für euch Mädchen, eigentlich immer doppelt angezogen wer-den müssen, weil Laufmaschen bei 3.99 Euro eigentlich ständig da sind und das Perücken am besten mit Haargel halten und nicht mit Haarspray. Und Lipgloss ist beschissen, läuft immer aus, egal ob du da Konturenstift Drumherum machst oder nicht. Egal ob’s funkelt oder nicht, lieber Lippenstift nehmen, das sind meine In-sider.

    Woher kommen die Unter- persönlichkeiten?

    Als Entschuldigung, weil ich die Urpersön- lichkeit von Mandy an sich nie kaputt ma-chen wollte. Deswegen gibt es auch im- mer Unterpersönlichkeiten, um auszu- checken wie weit man noch gehen kann.

    Titelthema

  • 7

    Das fließt dann wiederum in Mandy zu-rück. Deswegen sterben sie auch min-destens einmal im Jahr. Die Jackie zum Beispiel ist ein Miststück und wird es auch deswegen nicht überleben. Irgend-wann ist halt auch mal Schluss mit Mist-stück sein, dann ist das Thema durch und du brauchst wieder was Neues. Aber die Erfahrung, die du als Jackie sammelst, die kann die Mandy ganz gut gebrauchen für den ganz großem Final Countdown.

    Ist dir schon einmal etwas richtig Negatives bei deinen Auftritten passiert?

    Nein, zu negativen Seiten kann ich jetzt nichts sagen.Nur einmal wurde ich für eine Veranstal-tung mit 400 Rockern gebucht, weil die das wohl witzig fanden. Ich bin da rein gelaufen und fand das ir-gendwie alles lustig, bis ich dann irgend-wann gemerkt habe – okay, die Musik, die Haare, die Leute irgendwas stimmt hier noch nicht so ganz. Das war so eine ty-pische Situation, die passiert einem auf einmal. Du trittst aus dem Fahrstuhl raus und auf einmal stehst du inmitten von Leuten, die zwar nichts mit dir zu tun ha-ben aber irgendwie musst du dich da auch zu Recht finden.Ich habe mich dann mit denen an die Bar gesetzt und mit getrunken. Das war dann auch okay. Ich war also nur da um mich am Ende hemmungslos zu betrinken.

    Und wie sieht’s aus mit der Aufregung?

    Ich bin gar nicht mehr aufgeregt davor, es macht einfach nur noch Spaß.Wo ich wiederum aufgeregt bin sind Si-tuationen wie die bei meinen besagten Rockern, weil du die nicht so richtig ein-schätzen kannst. Da weißt du nie was auf dich zukommt.

    Ist für dich selbst schon ein Ende absehbar, wird Mandy irgendwann auch ›sterben‹?

    Nein. ich glaube es gibt noch kein sicht-bares Ende. Die einzelnen Personen ster- ben immer weg. Also Peggy gibt es zum Beispiel gar nicht mehr und Jackie stirbt jetzt auch am 28.. Das werde ich so lange machen wie ich da noch Spaß dran habe, egal ob es die Leute wollen oder nicht. Das ist mir egal. Es geht um meinen Spaß und wenn ich alt und grau bin und mir immer noch eine Perücke aufsetze!

    Was hat Miss Cleenex denn in Zukunft noch so vor?

    Es gibt einen ganz neuen Plan für die Zu- kunft. Miss Cleenex wird es natürlich noch geben aber diesmal jetzt als Chefin für eine Partyreihe und da hat sich jetzt ei- ne ganz neue Unterpersönlichkeit heraus- kristallisiert. Ich werde jetzt nicht so viel erzählen, aber im Mai wird ein neuer Star geboren, ein Geheimobjekt, ganz gehei-me Sache, demnächst wird das durch die Medien geistern!

    Und gibt es etwas das du schon verraten kannst?

    Ich freue mich auf den Sommer, weil es dann nämlich ein Sommerfest im Duke gibt. Da erlebt ihr dann endlich mal wieder schönen ›Handtaschenhouse‹ mit der Frau Cleenex.

    Was ist Handtaschenhouse?

    Naja, ›I wear my Sunglasses at night‹ und so heißer Scheiß. So richtig schöne Bäh- Musik, die heute keiner mehr hören kann gibt es dann wieder im Sommer, finally pre- sented by Miss Cleenex. Da freu ich mich drauf. Leider gibt es noch keinen feststeh- enden Termin.

    Vielen Dank für dieses informative Interview und viel Erfolg für deine zukünftigen Projekte!

    Titelthema

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    Bevor das Kino kam …Völkerschauenim 19. und 20. Jh.

    von Johanna Puchta

    Wer heute durch den Clara-Zetkin-Park spaziert, wird sich wohl kaum vorstellen können, dass an der Stelle, wo sich heute der Glaspavillon befindet, vor rund 100 Jahren ein afrikanisches Dorf stand.1897 beherbergte das riesige Gebiet des heutigen Clara -Zetkin-Parks die Säch-sisch - Thüringische Industrie- und Gewer- beausstellung, an der 3027 Firmen teil-nahmen. Auf Grund dieser enormen Grö-ße wurde das Ausstellungsgelände sogar mit einem eigenem Bahnhof und Kraft-werk für die Stromerzeugung ausgestat-tet. Nach der Sächsisch-Thüringischen In- dustrie- und Gewerbeausstellung sollte das Gelände als König - Albert-Park und später als Clara -Zetkin-Park den Leipzi-gern zur Erholung dienen.Zusätzlich zur gewerblichen Ausstellung gab es eine Kunstausstellung, ethnogra-fische und historische Ausstellungen, ein Kneipen- und Vergnügungsviertel sowie eine Kolonialausstellung mit Völkerschau.

    Die ›Deutsch-Ostafrikanische Ausstel- lung‹ umfasste ein Areal von ungefähr 20.000 Quadratmetern. Sie war als freie GmbH organisiert, wurde jedoch von Staatsinstitutionen wie dem Deutschen Auswärtigen Amt unterstützt. Neben eth- nographischen Sammlungen und Koloni-alprodukten konnten Besucher hier auch das sogenannte ›Negerdorf‹ mit Nachbil-dungen afrikanischer Gebäude besichti-gen. Reproduktionen gab es unter ande-rem vom Leuchtturm von Sansibar, der Militärstation ›Mpuampua‹, dem Wiss-man-Lager in Deutsch-Ostafrika und der Plantagenstation ›Usungula‹, die mit zahl- reichen exotischen Pflanzen wie Bananen-stauden, Rizinuspalmen, Tabak- und Kaf-feepflanzen, Gummibäumen sowie Zuk- kerrohr ausgestattet war. An der Völker-schau nahmen 47 Angehörige von 4 ver-schiedenen ostafrikanischen Stämmen

    teil. Im nachgebauten Dorf konnten die Be- sucher unmittelbar am Leben der Afrika- ner teilhaben. Die Schutz- und Privatsphä-re der Teilnehmer der Völkerschau wurde dabei jedoch nicht berücksichtigt. Aus nächster Nähe bestaunten sie die An-fertigung handwerklicher Produkte wie Schmuck, Waffen oder Schnitzarbeiten. Auch Hüttenbau, Fischfang, Schaukämp-fe und Kriegs- und Freudentänze wurden demonstriert.

    Obwohl die Presse immer wieder auf die gute medizinische Versorgung und die spezielle Verpflegung der Eingeborenen hinwies, sollen die ungewohnten klima-tischen Bedingungen zum Tod eines Afri-kaners geführt haben.Völkerschauen wie diejenige im Clara-Zet- kin-Park von 1897* waren an der Schwel-le zum 20. Jahrhundert in Europa weit ver- breitet. Besonders seit den Übersee-Ent-deckungen der frühen Neuzeit wurden Angehörige fremder Kulturen, ähnlich wie körperlich missgebildete Menschen, als Kuriosum auf Jahrmärkten, Volksfesten, in Zoos, Zirkussen und Variétés ausge- stellt. Bei Hofe symbolisierten sogenann- te ›Menschenmenagerien‹ Weltoffenheit, Reichtum und Besitzansprüche der je-weiligen Fürsten. Bisweilen wurden die-se Menschen auf Grund ihres exotischen Aussehens nach ihrem Tod ausgestopft und in Museen ausgestellt.Mit ihrem Aussehen und ihrer bloßen Existenz faszinierten diese Fremden ein großes Publikum. Der immense Erfolg der Menschenausstellungen jener Zeit erklärt sich aus dieser einzigartigen Mög- lichkeit der einfachen Bevölkerung, mit außereuropäischen Kulturen in Kontakt zu kommen, ihre Sensationslust zu stil-len, sich zu bilden und zu amüsieren. An-hänger exotischer Kulturen stellten ein Faszinosum dar, um das sich nicht selten ein wahrer Starkult bildete.Die meisten Völkerschauen, die im 18. und 19. Jahrhundert durch Europa tour-ten, wurden von privaten Unternehmen or- ganisiert, wie zum Beispiel die berühm- ten Hagenbeck’schen Völkerschauen des Hamburger Unternehmers Carl Hagen-beck. Es handelte sich dabei um kommer-

    *Als die Sächsisch-Thüringische In-dustrie- und Ge-

    werbeausstellung in Leipzig am 19. Oktober 1897 ih-

    re Pforten schloss, hatte jeder vier-

    te der insgesamt 2 300 000 Ausstel-lungsbesucher die

    Kolonialausstellung besucht. Im Ver-gleich zu den an-deren Zusatzaus-

    stellungen war sie der absolute Pu-blikumsmagnet.

    1906 weilte wieder ein afrikanisches

    Dorf in Leipzig. Nach der Teilnahme an der Landesaus-

    stellung in Olden-burg 1905 tourtenAngehörige der So-

    mali durch dasdeutsche Kaiser-

    reich. Ab April 1906 stand das abessi-

    nische Dorf auf der Völkerwiese des

    Zoologischen Gar-tens in Leipzig.

    Doch auch den So-mali brachte Leip-zig kein Glück. Am

    10. Mai 1906 starb der Schuhmacher Hassan Essahas an einer Lungen-entzündung. Sei-

    ner Beisetzung auf dem Südfriedhof,

    einem ›ungewohn-ten Zeremoniell‹,

    wie sich ein Augen-zeuge ausdrückte,

    wohnten zahlreiche Schaulustige bei.

    Titelthema

  • 9

    zielle Veranstaltungen, die vor allem weit-verbreitete Klischees aktivierten. Die Frem- den wurden als stolze Krieger, verführeri-sche Südseeschönheiten und ›edle Wilde‹ vor Bühnenbildern präsentiert, die der To- pographie ihrer jeweiligen Heimat ähnel-ten. Dem gegenüber wurden Völkerschauen in Verbindung mit Industrie- und Kolonial-ausstellungen meist von staatlicher Sei-te unterstützt. Ein afrikanisches Eingebor- enendorf begleitete bereits die erste Pariser Weltausstellung von 1889. Der mittels der Vorführung ›primitiver‹ Lebens-weisen dargestellte Kontrast sollte das Nationalbewusstsein stärken, den tech-nischen Fortschritt und die europäische Zivilisation umso wirkungsvoller in Sze-ne setzen und so Kolonialpolitik und Im-perialismus des jeweiligen Landes legiti- mieren. Zudem sollten die Völkerschauen das En- gagement der Privatwirtschaft in den Ko-lonien fördern, direkte Geschäftskontak-te ermöglichen und für Kolonialprodukte werben. Museen erwarben auf den Hand- werkermärkten völkerkundliche Objekte für ihre Sammlungen und übernahmen Inszenierungsmethoden. Ärzten und For-schern wie Rudolf Virchow boten sie die Möglichkeit zur Feldforschung: Oft wurden die Angehörigen fremder Kulturen genau vermessen und anatomische Skizzen von ihnen angefertigt. Die Körper verstorbe-ner Völkerschauteilnehmer wurden meist von europäischen Ärzten seziert. Viele der Ausländer, die an einer Völker-schau in Europa teilnahmen, sahen ihre Heimat nie wieder. Ungewohnte klimati-sche Bedingungen, mangelnde Impfung und Heimweh führten nicht selten den Tod herbei. Kaum einer der Teilnehmer der Völkerschauen konnte sich vorstellen, auf was für eine lange Reise er sich da über-haupt einließ. Zudem waren die Metho-den der Anwerbung in vielen Fällen äu-ßerst fragwürdig. Vereinzelt wurde auch damals schon Kri- tik an den Völkerschauen geübt. Beson- ders Satirezeitschriften wie der ›Simpli- cissimus‹ kritisierten die Menschenun-würdigkeit und den Inszenierungscharak- ter der Ausstellungen. Andere sorgten sich, der schlechte Einfluss der Zivilisati-on könne den unberührten ›Naturzustand‹ der Eingeborenen verderben. Anlässlich der ›Amazonen‹ - Ausstellung in München 1892 wurde sogar zur Gründung von ›Men- schenschutzvereinen‹ aufgerufen.Immer wieder sahen sich die Organisato-ren von Völkerschauen mit dem Vorwurf des Menschenhandels konfrontiert.

    Mit der zunehmenden Verbreitung des Films in den 1920er Jahren ebbte das Interesse der europäischen Bevölkerung an den Völkerschauen langsam ab und erlosch in den 1930er Jahren endgültig. Das neue Medium bot eine interessante-re Möglichkeit der Zerstreuung und konn-te exotische Plätze wesentlich authenti-scher darstellen als die Völkerschauen. Geblieben von den zahlreichen Völker-schauen und Wild -West -Shows sind nur die Stereotypen. Die halten sich jedoch hartnäckig bis heute.

    Digital Darwin von Danny Walther

    Also, das war so. Erst haben wir die Ne-ger ausgestellt, dann die Tiere und jetzt die Menschen. Das ist die Höherentwick- lung der Arten. Purer Fortschritt. Der geht nach vorne. Und nach oben. Und zwar schnell zack – kaum hast Du Dich ver-sehen, liegt das Himmelreicht vor Dei-nen Füßen. Hier, schau mal, was der da kann – A, B, C, D, E, F, G, H, J – Super, Superlativ, Superlativer. Von wegen es gibt kein Außen mehr … diese elfenbei-nernen Theoretiker … es gibt nur noch Außen! Los, alles ausschwitzen! Na, da haben unsere großen Dichter und Denker aber jetzt ein Problem. Obwohl, können doch mitmachen. Waren ja im Grunde auch immer schon mit dabei. Also los, weiter geht’s. Heute wieder große Innenausstellung im Menschenzoo. Der Eintritt ist kostenlos. Der Austritt unmög- lich. Do I contradict myself? Very well then, I contradict myself. Das steigert die Auflage. Ansonsten hab ich’s nicht gesagt. Oh ja, das macht die Größe. Ich vereine ein Vielfaches. Tausend Arten, ein Preis. Alle Käfige sind geöffnet. Die Schubladen auch. Und die bleiben offen! Die Subjekte kon- vergieren im freien Raum. Alles weitet sich, weidet sich, weidet sich aus. Ja, auch un-sere Gewinnspiele. Also los, mitmachen! Bei uns kann diesmal der Auferstandene erstanden werden. Und das Beste: Du musst nicht mal anstehen. Keiner muss anstehen. Losentscheid. Jeder hat ’ne Nummer. Genau eine. Und zwar seine. Von

    Titelthema

    Fotos und Informa-tionen über die Völ-kerschau in Leip-zig stammen aus: Hochmuth, Enrico: ›Von der Dschungel-hütte zum Glashaus – Was die Park-gaststätte im Cla-ra-Zetkin-Park mit einer Kolonialaus-stellung verbindet‹, in: Leipziger Blät-ter, Heft 39, 2001

    Abb.: Blick über Flutbecken (vorn) und Industrieaus-stellung zur Stadt. Die heutige Anton- Bruckner-Allee mit dem großen Bassin bildete die Hauptachse.

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    Anfang an. Hat jeder die gleiche Chance. Von Anfang an. Do I repeat myself? Kann nicht sein. Die Geschichte schreitet voran. Es geht aufwärts. Kreuzigung so gut wie ausgeschlossen. Aber vorher: präsentie- ren! Also los, weg mit den Vorhängen, den Spiegeln und Masken. Alles offen, alles frei. Und alles spielt mit. Gibt nur noch Hauptrollen. Sogar für die Kulturkritiker. Diese sauberen Schweine. Übrigens, mor- gen Klassikerseminar. – Jetzt lach doch mal. – Tu quoque. – Haha. Do I … mys-elf? Partizipation ist alles. Aber eins will ich Dir noch sagen: Wir sind ein Volk ohne Innenraum. Die Grenzen sind alle weg. Ge-fallen. Weggefallen. Wirklich, wirklich, wirk- lich. Aber keine Angst, wir strömen nur noch digital aus. I do … Uns’re Technik ist eure Rettung. Oder der Untergang – für die Kulturkritiker. Myself. Hoho. Kleine Rettungsaktion für eine vom Aussterben bedrohte Spezies. Wenn’s schief geht, stimmen wir einfach unseren Kanon an. Eins, zwei, drei. Eins, zwei, drei, ... Das Ich ist die Grenze. … Philosophengeschwätz. Die Toten ehren die Toten. Hast’e gut ge-sagt. Aber ich hätt’s vielleicht nicht … ach was, jetzt is’ es draußen. Genug. Ich geh und kauf mir ’nen Neger. Dann lass ich ihn frei. Im Menschenzoo. Befreie ihn von seiner Unterdrückung, befreie mich von meinem Gewissen. Ende und Anfang. Alles auf neu.

    Glamour, G(K)unst und Galeristen – Praktikum bei der Galerie EIGEN+ ART.

    Das Interviewführte Johanna Puchta

    Mira Bürger, Jahrgang 1988, studiert im 3. Fachsemester Sozialwissenschaften und Philosophie mit Kernfach Kulturwis- senschaften. Im Juni und Juli 2008 absol- vierte sie ein zweimonatiges, unvergüte- tes Praktikum bei der Leipziger Galerie EIGEN+ ART. ANTON hat sie zu diesem Praktikum befragt.

    Wie bist du an das Praktikum gekom- men?

    Ich habe das Seminar ›Galeriemanage-ment‹ bei Elke Hannemann, der Leipziger Art -Directorin von EIGEN+ ART, besucht und bekam so die Idee, mich bei EIGEN+ ART um ein Praktikum zu bewerben. Das

    hat dann auch ziemlich schnell geklappt, so etwa nach zwei Monaten hatte ich die Zusage.

    Was waren deine Aufgaben und wie sah dein Arbeitstag aus?

    Meine Arbeitswoche ging von Dienstag bis Samstag. Gearbeitet habe ich von 10–18 Uhr, außer am Samstag, da fing ich erst um 11 Uhr an. Neben Küchendienst und Mittagessen holen übernahm ich auch ver- antwortungsvollere Jobs. So schrieb ich zum Beispiel Absagen an Künstler, die nicht in das Programm von EIGEN+ ART aufgenommen werden konnten. Außer- dem war ich für eingehende Anrufe und die Betreuung der Galeriebesucher zustän- dig. Ein paar Mal habe ich auch Führun- gen für größere Gruppen auf Deutsch und Englisch gehalten. Außerdem gab es wäh- rend meiner Zeit bei EIGEN+ ART einen Ausstellungswechsel. Für die neue Aus- stellung, eine Videoinstallation von Nina Fischer und Maroan el Sani, half ich bei der Technik und dem Versand des Ausstel- lungskatalogs. Bei einer neuen Hängung im Schaulager half ich ebenfalls. Dort wer- den Werke anderer Künstler von EIGEN+ ART gezeigt.

    Gab es besondere Projekte während dei- ner Zeit bei EIGEN+ART?

    Eigentlich fiel mein Praktikum genau in das Sommerloch. Aber ich habe den Rund- gang im Sommer mitgestaltet, das war schon eine tolle Erfahrung. Da herrschte eine ganz andere Atmosphäre als sonst.

    Abb. unten rechts:Nina Fischer und Maroan el Sani:

    Objekt: ›Klub der Republik‹,Sound:

    ›Rhythm 76‹, 2002, Ausstellungsansicht

    Hamburger Bahn-hof, Berlin 2006

    Titelthema | Real World

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    Die Galerie war das ganze Wochenende über geöffnet und brechend voll. Es kamen viele Familien, wichtige Sammler und Kauf- interessenten aus der internationalen Kunstszene. Ich durfte ihnen die Ausstel- lung erklären, führte sie herum und küm- merte mich um das Catering. Abends fand auch eine Party statt, das war schon eine tolle Stimmung.

    Wie war das Verhältnis zu den Galerie-mitarbeitern? Wurdest du gut betreut?

    Die Atmosphäre in der Galerie war gut, das Team besteht ja auch nur aus fünf festan- gestellten Mitarbeitern. Praktikanten wer- den dort gut eingebunden und die Mittags- pause haben wir immer alle zusammen verbracht. Aber an sich hat schon jeder für sich gearbeitet. Eine der beiden Volon- tärinnen arbeitete mich ein und die Arbei- ten konnte ich schnell selbstständig erle-digen. Praktisch ist, dass die Arbeitsplät-ze in Sichtkontakt liegen, so dass schnel- le Nachfragen immer möglich sind. War das Praktikum nützlich für dein Studium?

    Ja, absolut. Die Aufgaben der Praktikanten sind zwar zum großen Teil Hilfs- und Zuar-beiten, aber man erhält einen guten Ein-blick in den Galeriealltag. Ich habe den kompletten Arbeitsablauf von der Vorbe- reitung einer Ausstellung bis hin zur Aus-stellungseröffnung mitbekommen. Außer- dem habe ich Einblicke in die Regelung von Leihverträgen und in den Transport von Kunstwerken erhalten, weil damals gerade eine Ausstellung von Matthias Weischer in Malaga vorbereitet wurde. Die Werke der Künstler von EIGEN+ ART kenne ich jetzt natürlich auch viel besser, einige Künstler habe ich auch persönlich getroffen. Und durch die vielen Führungen hat sich mei-ne Vortragsweise sehr verbessert, was für zukünftige Referate ja nur von Vorteil sein kann.

    Gab es auch etwas, das dir nicht so gut gefallen hat?

    Manchmal hat die interne Kommunikation nicht so gut funktioniert, da war die Arbeit dann teilweise nicht so gut koordiniert.

    Stehst du noch in Kontakt mit der Ga-lerie?

    Ja, der Kontakt ist auch heute noch gut, wenn man in der Galerie vorbeischaut. Das ist wirklich schön. Außerdem konnte ich über die Galerie Kontakte zum Leipziger International Art Programme herstellen. Das ist ein Programm für internationale Künstler auf dem Gelände der Baumwoll- spinnerei. Dort absolviere ich momentan ein kleines Praktikum.

    Vielen Dank für das interessante Inter-view und alles Gute für dein weiteres Studium!

    Interview mitDr. Thomas Schmidt Lux*

    Das Interview führtenFrank Henschel und Maja Neumann

    Es ist ein schneeregnerischer Tag, man möchte nicht länger als zwei Minuten im Freien stehen, und zum Glück lässt Tho-mas Schmidt -Lux den ANTON auch nicht lange warten, sondern radelt pünktlich um kurz vor eins vor dem Kowalski nahe des GZW heran, stöpselt seinen iPod aus den Ohren und wir machen uns schnell auf ins Innere. Obwohl Herr Schmidt-Lux ge-sundheitlich sehr angeschlagen ist, füh-ren wir in der folgende Stunde ein ange- nehm heiteres Gespräch über seine For-schung, Seminare und Studenten, Fuß-ball, Leipzig und Fitnessstudios.

    Herr Schmidt-Lux, sind sie Frühaufste-her von Natur aus, oder haben sie mit ihren Kollegen Herrn Henze und Frau Frank gewürfelt, wer das Einführungs-seminar um 7:30 Uhr anbietet?

    Real World | Elfenbeinturm

    Abb. unten links: Nina Fischer und Maroan el Sani:›A space formerly known as a muse-um, No. 10‹, Farbfotografie, 124 x 154 cm, Auflage: 3, 2007

    * 1974 in Leipzig geboren; 1995 bis 2001 Studium der Soziologie und Ge-schichte in Leip-zig und Zürich;2002 bis 2005 Promotionssti-pendium der Stu-dienstiftung des Deutschen Volkes;2004 Forschungs-aufenthalt an der University of Bir-mingham bei Prof. Hugh McLeod.Seit 2006 Mitarbei-ter im Bereich Kul-tursoziologie am Institut für Kultur-wissenschaften der Universität Leipzig

    Im Sommer-semester: Donnerstags 7.30 – 9 Uhr, Seminar ›Ausge-wählte Problem-stellungen der Kul-tur der Moderne‹Donnerstags 13 – 15 Uhr, Seminar ›Zur Sozi-ologie des Rechts‹

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    Na sagen wir mal so, seit ich und meine Frau ein Kind haben, ist das frühe Auf-stehen nicht mehr so brutal wie früher (lacht). Es gibt nun einmal diese Zeitfens- ter und auch die Tutorien finden so früh statt, während die Vorlesungen auf den Tag verteilt sind. Aber ich habe es natür-lich gemacht, auch im Winter, und werde es auch im Sommer so weiter machen. Zu- mal es sehr gut lief. Die Studenten waren immer pünktlich und motiviert, womit ich gar nicht gerechnet hatte, weil ich dachte, die trudeln erst langsam nacheinander ein.

    Dann sind sie sicher froh über die Semes- terferien. Wie unterscheidet sich ein Ar- beitstag während der Vorlesungszeit von einem in den nächsten Wochen? Sind sie jetzt sehr viel freier in ihrer Zeit- einteilung oder müssen sie mehr arbei-ten, weil auch einiges liegen geblieben ist?

    Also ich habe auf jeden Fall mehr Zeit und auch den Kopf frei, um eigene Sachen zu machen, die ich während des Semes-ters nicht so stringent verfolgen kann. Ich kann mich jetzt auch einfach mal ei-ne Woche dem Schreiben eines Textes widmen oder mich mit Kollegen treffen und austauschen, neue Projekte planen.

    Woran arbeiten sie momentan?

    Ich beende gerade noch ein Projekt mit Frau Wohlrab -Sahr über ostdeutsche Fa-milienbiographien, welches dann hoffent-lich bald publiziert wird. Es beschreibt Ent- wicklungen über drei politische Systeme hinweg und hat seinen Schwerpunkt in der Untersuchung religiöser Aspekte. Außer-dem arbeite ich mit zwei Berliner Kollegen an einem Band über Fankulturen. Wir stel- len gerade noch die eigenen Texte fertig und redigieren die eingegangenen Auf-sätze anderer Wissenschaftler. In dem Band geht es aber nicht nur um Fußball-fans, sondern auch um Musikfans, The-aterfans, Gewaltfans und weitere.

    Wie viel Zeit beansprucht die Koordinati-on des Erasmus-Austauschprogrammes, für das jetzt ein ziemlicher Haufen Bewer- bungen eingegangen sein dürfte? Was genau ist ihre Aufgabe? Entscheiden Sie allein über die Vergabe der Plätze?

    Ja! Ich nehme die Bewerbungen entge-gen und entscheide auch über die Verga- be. Das ist zwar nicht immer leicht, aber ich mache das doch gern. Da man immer

    irgendeine administrative Aufgabe über-nehmen muss, bin ich mit dieser sehr zu- frieden. Die Leute sind sehr motiviert und ich kann auch neue Kooperationen ein-gehen, also bei Universitäten anfragen, mit denen bisher keine Vereinbarungen bestehen. Wenn mich ein Student auf ei- nen Studienort aufmerksam macht oder ich feststelle, dass die Nachfrage allge- mein groß ist, klemme ich mich gerne da- hinter. So konnte ich neue Verträge mit Granada, Barcelona, Gent, Istanbul und Tallin abschließen. Ein Problem ist aber die fehlende PR des Instituts, besonders für England. Da wollen immer viele Stu-denten hin, aber in die umgekehrte Rich-tung wollen oft zu wenige.

    Sie selbst haben einige Auslandsauf- enthalte als Student respektive Wissen-schaftler hinter sich. Wie sind sie dann wieder an die Universität Leipzig zurück- gekommen? Haben sie sich gezielt be-worben, oder war das mehr eine glück-liche Fügung?

    Ich bin sehr froh, dass ich hier in Leipzig und bei Frau Wohlrab -Sahr bleiben konn-te, da die Zusammenarbeit wirklich sehr gut funktioniert. Es war natürlich auch Glück dabei, dass ich nach meinem Sti-pendium und der Promotion bei Ihr direkt auch eine Stelle antreten konnte, als sie die Professur übernommen hat. Aber hät- te das nicht geklappt, wäre ich auch wo-anders hingegangen. In Zürich und Eng-land fühlte ich mich sehr wohl, aber auch Berlin, Hamburg oder ein anderer Ort wäre okay gewesen.

    Werden sie auch weiterhin hier leben und lehren, oder gibt es in der näheren Zukunft andere Pläne? Gerade im Wis-senschaftsbetrieb muss man ja mitun-ter flexibel sein.

    Wie gesagt, da bin ich offen. Wenn es am Institut nicht mehr weiter laufen würde, oder auch meine Frau woanders ein gu-tes Angebot hätte, wäre ich da flexibel. Aber momentan ist alles optimal, auch wenn ich mal gern ein halbes Jahr woan-ders wäre, weil der Austausch mit ande-ren Wissenschaftlern wichtig, spannend und bereichernd ist.

    So sind sie der Stadt Leipzig treu geblie- ben, also hier geboren, aufgewachsen, ha-ben hier hauptsächlich studiert und lehr- en nun schon seit fast drei Jahren am Institut. Sind sie dann doch ein sesshaf- ter Mensch, ist Leipzig einfach so attrak-

    Forschungsinteres- sen:Religionssoziologie, Historische Sozio- logie, Architekturso-ziologie, Sportso- ziologie, Geschichte und Soziologie der DDR

    Publikationen (Auszug)

    * Soziologie der Fans. Herausgege- ben zusammen mit Jochen Roose und Mike S. Schäfer, Opladen, erscheint 2009* Wissenschaft als Religion. Szientis-mus im ostdeut-schen Säkularisier- ungsprozess. Würzburg 2008

    Elfenbeinturm

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    tiv oder sind es eben andere Städte nicht?

    Ja, die Stadt und der Wissenschaftsbe-trieb hier sind schon sehr attraktiv. Hätte ich die Möglichkeit, würde ich aber eher ganz ins Ausland gehen, als in eine andere deutsche Stadt. Schon allein um es wär-mer zu haben und ein wenig besser zu essen (lacht). Hamburg und Berlin haben zwar ihren Reiz und Jena hat eine sehr gute Forschung aufgebaut, aber Leipzig bietet mir im Moment doch die besten Möglichkeiten.

    Wie haben sie die ›friedliche Revolution‹ und die Zeit danach in Leipzig erlebt?Der Schriftsteller Clemens Meyer, der ungefähr in ihrem Alter ist, hat in sei-nem Roman ›Als wir träumten‹ ja ein eher trost- und illusionsloses Bild die-ser Zeit gezeichnet.

    Die Wende traf bei mir ja auf eine wich-tige Zeit im Leben. 1990 bin ich auf ein Gymnasium gewechselt, habe viele neue Leute kennen gelernt, nach dem Abitur dann Zivildienst gemacht und das war eben eine Zeit der Umbrüche. Für mich war das aber ein sehr positiver, sehr inten- siver Lebensabschnitt. Vieles war neu und der Horizont wurde erweitert. Damals habe ich im Süden gewohnt und die gan-zen kleinen Politik-, Kultur- und Umweltin-itiativen mitbekommen, die sich damals bildeten. Ich war kein Hausbesetzer und diese Szene war mir auch oft zu rabiat, aber das Klima insgesamt war ein span-nendes und angenehmes. Ich selbst ha-be mich lieber für den Umweltschutz en-gagiert.

    Wie bewerten sie die gegenwärtige Aus- einandersetzung mit Leipzigs Rolle in dieser Zeit? Würdigung oder Stilisie-rung? Es erscheint einem ja, dass jeder Einwohner ein Held war.

    Das ist schwierig zu sagen. Natürlich war Leipzig in dieser Zeit äußerst wichtig und ich finde gut, dass daran erinnert wird. Mit den Formen kann ich allerdings wenig anfangen, wie es jetzt beispielsweise mit der Denkmalsdiskussion losgetreten wur- de. Ich fände eine differenzierte Beschäf- tigung mittels Diskussionen und öffent-lichen Veranstaltungen besser, so dass alle Seiten Beachtung finden.

    Wie hat sich Leipzig seitdem verändert, oder gibt es in seiner Grundmentalität, seiner ›Ausstrahlung‹ für sie bestimmte

    Konstanten? Sind Leipziger anders als Chemnitzer oder Dresdner?

    Chemnitz kenne ich nicht so gut, aber zwi-schen Leipzig und Dresden gibt es einen gewaltigen Unterschied. Ich würde Dres-den als langweiliger bezeichnen (lacht), auch wenn es schöne Ecken gibt. Leben möchte ich da aber nicht. Als geborener Leip-ziger fehlt mir jetzt aber auch die Distanz.

    Die obligatorische Frage an Kulturwis-senschaftler: Privat Kulturmuffel, oder- freak?

    Weder noch. Ich gehe sehr gerne ins Kino, wobei ich sowohl das Programmkino als auch das Cine-Star mag. Ich mag es ger-ne bequem (lacht). Außerdem geh ich gern zum Fußball, habe aber nie aktiv ge- spielt. Im neuen Centraltheater war ich noch nicht, auch wenn mich die Bericht-erstattung neugierig gemacht hat. Da scheint wieder ein wenig Provokation und Irritation zu herrschen, was mich prinzi-piell freut. Außerdem mag ich zeitgenös-sische Kunst, gehe da aber eher in an-deren Städten in Ausstellungen, weniger in Leipzig. In Hamburg hat mir im Som-mer die Fischli & Weiß Ausstellung sehr gut gefallen.

    Im Fußball ist die Stadt ja sehr gespalten. Haben sie eine Fanbeziehung zu einem der polarisierenden Vereine der Stadt? Lokomotive und Chemie?

    Eindeutig Lok, mit schönen Grüßen an Herrn Dr. Lachmann [bekennender Che-miker, Anm. ANTON]. Ich bin schon lange Fan, und Politik hat für mich persönlich mit Fußball nichts zu tun, auch wenn das immer wieder von Gruppierungen hinein- getragen wird und die Vereine das oft un-terschätzen oder ignorieren. Wäre Lok nur noch von der Rechten Szene dominiert, wür- de ich mich da sicherlich zurückziehen, aber die Mannschaft an sich dennoch unterstützen wollen.

    Was sind die Anknüpfungspunkte zu ihrer wissenschaftlichen Beschäftigung ge- wesen?

    Es fing mit einem Seminar zum Thema ›Fußball und Religion‹ an, weil das ja oft eher populärwissenschaftlich miteinan-der identifiziert wird. Aber mit der Zeit fiel mir auf, wie lohnenswert eine wissen-schaftliche Betrachtung wäre, auch weil sie von anderen noch nicht betrieben wur-

    Elfenbeinturm

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    de. Letztendlich entsteht nun der Band zur Fankultur, der über den Fußball noch hinausgeht und vergleichende Perspekti-ven aufzeigt. Warum tun Leute das, was sie tun und in welche Strukturen begeben sie sich hinein? So lassen sich Typologi-en erstellen, von Leuten, die sich ganz dem jeweiligen Fanobjekt widmen, bis hin zu passiveren Typen, dabei noch nach Ge- schlecht und Alter differenziert. Ähnlich-keiten, unabhängig vom Objekt, sind dabei die Symboliken die sich herausbilden und der Umgang der Leute in diesem Fan- kreis miteinander. Aber gewisse Fankul-turen, gerade die im Fußball sind auch anfälliger für politische Instrumentalisie-rungen, als es der verbindende private Musikgeschmack ist.

    Was für Musikrichtungen wurden denn untersucht?

    Damit beschäftigen sich eher meine Ber-liner Kollegen. Die haben Fragebögen und Interviews erstmal unabhängig vom Mu-sikgeschmack entworfen und ausgewer- tet. Es gibt aber Studien über Neil Dia-mond-Fans oder Jeanette Biedermann-Fans. Auch über Heavy-Metal wurde schon gearbeitet. Dort gibt es aber ganz furcht-bare, populäre, von Fans publizierte Bü-cher, die zwar äußerst akribisch zusam-mengestellt, vom Forschungsdesign aber beinahe wertlos sind, auch weil sie kei-nerlei Distanz aufbauen können.

    Außerdem haben sie Kleingärten und Fitnessstudios soziologisch untersucht. Was war hier der persönliche und/oder wissenschaftliche Anreiz? Und warum gerade diese Bereiche?

    Das kam aus einem Forschungsseminar. Ich suchte Themen, die die Studenten selbstständig erschließen und bearbei-ten konnten und kam bei einem Spazier-gang an einer Kleingartensiedlung vorbei und fand dass sehr spannend, da es da-zu natürlich etliche Vorurteile gibt, die zu widerlegen oder auch teilweise zu bestäti-gen reizvoll erschien. Das Spannungsver- hältnis zwischen gemeinschaftlicher Ein-bindung und Vorgaben einerseits und den individuellen Wünschen und Tätigkeiten andererseits brachte viele Forschungs-fragen hervor. Dann suchte ich nach ähn- lich gelagerten Untersuchungsfeldern und fand sie in Fitnessstudios, auch ein po-pulärkultureller Bereich, mit einer noch-mals verstärkten Betonung des Körper-lichen. In dem Seminar ist sehr viel Gutes her-

    ausgekommen, die Studenten haben toll mitgearbeitet, konnten sich ausprobieren und förderten viele Einsichten zutage. Kleingärten wandeln sich auch. Viele jun- ge Menschen nutzen sie zu ökologischem Anbau oder Ort der Erholung, wollen aber natürlich ganz anders sein als die älteren Nutzer, sind es aber nicht. Beiden Unter- suchungsbereiche gingen dann aber doch weiter auseinander. Die Kleingarten- Forscher gingen etwa Generationskonf-likten nach, während die Fitnessstudio-Gruppen Motivationen und Körperbilder untersuchten.

    Werden sie solche Forschungsseminare fortsetzen?

    Im Masterstudiengang auf jeden Fall. Es muss aber über zwei Semester gehen, sonst wird das zu viel Arbeit auf einmal. Für die Bachelor-Studenten ist das da-her schwierig, da dort nur ein Semester für ein Methoden- und Forschungsmodul genutzt werden kann. Themenideen gibt es aber genug, Tanzschulen, oder Sau-nagänger (lacht).

    Wo steht die Leipziger Kultursoziologie im Uni-Vergleich?

    Also der Fokus auf Alltagssoziologie, auch wenn wir das nicht in jedem Semester machen können, ist schon ziemlich be-sonders, das machen andere Unis weni-ger. Magisterarbeiten dazu sind immer willkommen. Aber wir bilden ja nicht nur Soziologen aus, sondern sind ein interdis- ziplinäres Institut. Manchmal stört mich das, also ich wünschte, die soziologische Vorbildung wäre stärker. Dann aber sehe ich die oft fruchtbaren Ansätze und Per-

    Elfenbeinturm

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    spektiven, die sich aus den unterschied-lichen Schwerpunkten der Studenten er-geben und bin froh über den Aufbau des Instituts und des Studiums.

    Wo liegen ihre Forschungsschwerpunk- te in der Zukunft?

    Also diese alltags- und fansoziologischen Themen würde ich jetzt gern erstmal ab-schließen und mich stärker dem Komplex ›Recht und Gewalt‹ widmen. Besonders die gesellschaftlichen Bedingungen der Selbstjustiz interessieren mich, aber die genaue Fragestellung muss ich erst noch formulieren, da fallen ja viele Aspekte aus Geschichte, Soziologie und Rechts-wissenschaften zusammen. Da geht es mir wie jedem Studenten der eine Haus- oder Abschlussarbeit schreibt.

    KuWi NewsFazit und Ausblick 2008 / 2009

    Auch am Ende des Wintersemesters 08 / 09 kann der FSR KuWi einerseits durch-aus zufrieden auf harte und erfolgreiche Ar- beit zurück schauen, andererseits ist der Blick aber auch schon auf die anstehen-den Aufgaben des Sommersemesters ge- richtet.

    Neben den bekannten und mittlerweile institutionalisierten Veranstaltungen wie Praktikums- und Erasmusabend, der gran- diosen Erstifahrt zusammen mit unseren LieblingskollegInnen vom FSR Powi, den wöchentlichen Sprechstunden und der le- gendären Weihnachtsfeier war euer Fach- schaftsrat auch dieses Semester an vie-len Brennpunkten präsent.Der FSR Kuwi hat im Wintersemester das Fakultätsfrühstück mit dem Thema stu- dentische Proteste organisiert und dort mit den anderen Fachschaftsräten darü- ber informiert, wie man sich am besten ge- gen widrige Studienbedingungen und die schier unendlichen Probleme des Bache-lor wehrt. Zur ersten praktischen Umset- zung kam es kurz darauf in Dresden, auf der Demonstration gegen das neue säch-sische Hochschulgesetz. Auch im Som- mersemester wird es, so munkelt man, wohl einige Protestveranstaltungen ge- ben – der FSR wird euch rechtzeitig infor- mieren. Nutzt jede Möglichkeit eure Auffassung von Studium und Studieren und eure Kritik an den Zuständen zu ar-tikulieren!Der FSR ist auf allen Ebenen und in vielen

    Gremien aktiv um für bessere Bedingun- gen bei den Studiengängen zu sorgen. Kri-tisch begleiteten wir die Anpassung des Bachelors an das neue Hochschulgesetz, skeptisch die Anfänge des Masters und auch in der Vorbereitung des Institutes auf die Organisation der ersten BA-Ab- schlussarbeiten brachten wir unsere und eure Forderungen ein.In diversen Gremien setzten wir uns dar-über hinaus für Verbesserungen und Um- strukturierung des Wahlbereiches ein, der symptomatisch, aber bei weitem nicht um- fassend die durch die sogenannte Stu-dienreform erzeugten Missstände reprä- sentiert. Beinahe schon Tradition ist in diesem Zusammenhang die Befragung der Bachelor - Studierenden durch die Fachschaftsräte, um eure Probleme und Wünsche empirisch aufzubereiten. Die Ergebnisse überraschen nicht: Der Wahl-bereich in seiner momentanen Form ist nicht tragbar. Der FSR Kuwi fordert und fördert eine schnelle aber überdachte Re-form des aktuellen Systems. Zusammen mit den Lehrenden wurde im Fakultäts-rat – der seit dem 1.1.2009 übrigens öf-fentlich tagt – ein Antrag auf Abkehr vom laufenden Bachelor-Modell unterstützt um eine erneute, grundlegende Debatte über die Studienreform zu erwirken. Ergeb- nisse und mögliche Änderungen werden wir schnellstmöglich bekannt geben.Zum Ende noch ein Aufruf: Die Arbeit des Fachschaftsrates lebt von der Partizipa-tion der Studierenden. Kommt niemand zu unseren Feiern, gibt es sie nicht, wenn keiner das Fußballteam unterstützt, wer- den wir nicht gewinnen, wenn niemand ge- gen offensichtliche Missstände protes- tiert, dann wird alles noch viel schlimmer. Kurz gesagt, der Fachschaftsrat braucht eure Unterstützung. Sei es durch rege Teil- nahme an den Veranstaltungen, dem stän- digen Meinungsaustausch zu aktuellen Umständen und Positionen und vor allem auch durch Beteiligung an unserer Arbeit. Im Mai finden die nächsten Fachschafts-ratswahlen statt und wir suchen Kandi- datInnen, die sich für unsere Arbeit be- geistern können und Studium und Univer- sität aktiv und kritisch Mit- bzw. Umgestal- ten wollen. In diesem Sinne wünschen wir ein spannendes, aktives und schönes Sommersemester 09! Habt ihr Fragen, Probleme, Anregungen? Wollt ihr mitmachen, mitorganisieren, et- was bewegen? Meldet euch bei:[email protected] neuesten Informationen zu den Termi-nen unserer öffentlichen Sitzungen, Prak- tika, Hochschulpolitik und den Entwick-

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    lungen rund um Studiums und Institut fin- det ihr unter: www.kulturmeter.de.

    KuWi -Tag am 6. Juni 2009 im ›Kultiviert Anders‹

    von Matthias Rosendahl und Andreas Möllenkamp

    Der Absolventen- und Förderverein der Leipziger Kulturwissenschaften Cultura e.V. veranstaltet im Rahmen des Uni-Alum-ni-Treffens am 6. Juni 2009 einen Tag der Leipziger Kulturwissenschaften. Alle Stu- dierenden, Alumni und Institutsmitarbei-ter sind herzlich eingeladen, in geselligem Rahmen zusammenkommen, sich auszu- tauschen, zu diskutieren und zu feiern. Die Veranstaltung findet in Kooperation mit dem Fachschaftsrat Kulturwissenschaf- ten und Kultiviert Anders e.V. in deren Räumen (Zschochersche Straße 61) statt. Geplant sind unter anderem: • ein Forum, bei dem KuWi-Alumni über ihren Weg in die Arbeitswelt und ihre beruflichen Tätig- keitsfelder berichten sowie Fragen der Studierenden beantworten und ihnen prak- tische Tipps zum Berufseinstieg und zu möglichen Karrierechancen geben • eine Diskussionsrunde zur Vergangenheit, Ge- genwart und Zukunft des Instituts für Kulturwissenschaften und des Studien- ganges sowie zum Selbstverständnis der Leipziger Kulturwissenschaftler • die feier- liche Verabschiedung der aktuellen Absol-ventInnen • Open Stage für »Kreative Ku-Wis« • Party … • Weitere Informationen zur Veranstaltung gibt es auf unserer Homepage. Sowohl für die Programmpunk- te, als auch für die Organisation suchen wir noch aktive Mitstreiter aus den Reihen der Studierenden und Alumni. Wir freuen uns, alle KuWis am 6. Juni im ›Kultiviert An- ders‹ begrüßen zu dürfen!

    Herzliche Grüße Matthias Rosendahlund Andreas MöllenkampCultura – Leipziger Absolventen- und Förderverein e.V. [email protected]

    Die dritte GenerationDer Bachelor und seine Härtefälle – ein Rückblick …

    von Jenny Schönherr

    Freude, Studienplatz gekriegt! Bei einem NC von 1,6 für den beliebten und darum überrannten Studiengang Kommunika-

    tion- und Medienwissenschaften, nicht schlecht. Nach drei Jahren Berufsausbil- dung und anschließend einem Jahr ar-beiten, hab ich mir das auch wirklich ver-dient. So ging es sicher vielen, die Freude über die Zusage zum erwünschten Studien-gang war groß, verflüchtigte sich jedoch spätestens zur Einschreibung für die Wahl- module. Dass Prozdere der Einschreibung für Wahl- und Kernfachmodule, ging zum Wintersemester 08/09 in die dritte Run- de und erreichte in diesem seinen bishe-rigen Höhepunkt. Die erste und zweite Generation hatten zwar auch schon Kapa- zitätsprobleme im Zuge der Einschrei-bung. Doch mit Hinzukommen des drit-ten Jahrgangs nahmen die Härtefallzah-len an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten überdimensionale Ausmaße an. Unter 1700 Studenten (erstes bis fünftes Semester) gab es achthundert Härtefälle. Fast jeder zweite durfte also nicht sein gewünschtes Wahlmodul be-legen, sondern war gezwungen ein an-deres, meist zugeteiltes »Wahlmodul« zu nehmen.Dabei ging für mich alles so viel versprech- end los, aus einer Wahlbereichsbroschü-re konnte man sich aus dem Modulange-bot für den geisteswissenschaftlichen Be- reich Wahlmodule aussuchen, welche man zu seinem Kernfach hinzu wählt. Am Ende sollte man auf 30 Leistungspunkte pro Semester kommen. Ein Platz im vorgeseh- enen Kernfachmodul und damit schon mal zehn Leistungspunkte sind mir durch ei-ne Reservierung bereits sicher. Leider ist es nicht möglich ein Modul der Juristen oder Wirtschaftswissenschaftlichen Fa-kultät zu wählen, obwohl ich diese Kombi-nation mit meinem Studiengang für sinn- voller halte. Ich finde mich damit ab, nicht nach einem Sinn zu fragen, sondern nach meinem Interesse zu entscheiden. Was bleibt mir auch anderes übrig. Ein Modul aus der Theaterwissenschaft oder Sozi-ologie ist ja auch ganz interessant. Nach ausführlichem Studium der Broschüre stellte ich allerdings fest, dass an viele Module eine Voraussetzung, sprich der Abschluss eines vorangegangen Moduls, geknüpft ist, was meine Auswahl als Erst- semester erheblich einschränkt. Daraus ergab sich mir auch die Erkenntnis, dass der Bachelor dem Magister vielleicht doch nicht so entfernt ist. Denn auch hier könn- te man jedes Jahr zum Beispiel Module der Soziologie oder Kulturwissenschaften wählen. Somit hätte ich dann auch meine zwei Nebenfächer oder ein zweites Haupt- fach wie beim Magister. Meine naive Vor-

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    Titelthema

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    stellung der »Wahl« wird durch die zuver- sichtliche Erklärung des Einschreibevor- gangs noch verstärkt. Modulplatz aus- wählen, online oder im Institut einschrei- ben und bestätigen. Klingt doch alles ganz simpel. Ich legte also für mich fest, dass Kulturwissenschaften mein zweites »Hauptfach« wird und ich daher nur Modu-le des Instituts für Kulturwissenschaften wählen werde. Außerdem stand es mir frei, noch drei Wünsche für eine fakultäts- übergreifende Schlüsselqualifikation an-zugeben. Diese ist zwar erst für das drit-te Fachsemester vorgesehen, es wurde aber empfohlen, sich bereits im ersten Semester dafür einzuschreiben. Kein Pro- blem, ich suchte drei Schlüsselqualifika-tionen heraus. So schien es sicher, dass mindestens eines der Wahlmodule, so-wie eine Schlüsselqualifikation bestätigt werden. Dann komme ich auf meine 30 Leistungspunkte. Ich überflog den Termin für die Registrierung der Härtefälle nur flüchtig. Dieser würde ja nur in Frage kom- men, wenn man kein Modul erhält. Der Ge-danke, dass es eine Wahrscheinlichkeit gibt, kein einziges der gewählten Module zu erhalten, erschien mir unrealistisch. Das kommt sicher nur ganz selten vor. Am besagten Tag begab ich mich nun zur Einschreibung in mein Institut. Ich wurde für mein Kernfachmodul angemeldet und gab die vier Wahlmodule und die drei Schlüsselqualifikationen an. Die freund-liche Mitarbeiterin vom Einschreibeteam empfahl mir noch, mich in ein zweites Kern- fachmodul einzuschreiben, welches erst für das dritte Fachsemester vorgesehen ist. Klar, warum nicht. Drei Tage später konnte ich mir online die Vergabe der Wahlfächer und Schlüsselqualifikationen ansehen. Gespannt saß ich vorm Rech-ner … bis zwölf Uhr sollten alle Ergeb-nisse online sichtbar sein. Halb eins sah ich dann endlich, wenn auch entsetzt, dass vier Wahlbereichsmodule und zwei Schlüsselqualifikationen nicht bestätigt wurden. Ich bangte um die 3. Schlüssel-qualifikation. Dreizehn Uhr stand bei die-ser immer noch »in Bearbeitung«. Tolles System. Ich suchte nach dem Termin für die Härtefallregistrierung. Der mir unrea-listisch erscheinende Fall war nun einge-treten. Ab dreizehn Uhr begann die Re-gistrierung der Härtefälle im Institut. Hier mussten sich also alle melden, die nicht auf 30 Leistungspunkte kamen. Werden nicht so viele sein, die so ein Pech ge-habt haben wie ich. Ich radelte los und als ich kurze Zeit später ankam, standen bereits 30 Leute vor mir. Ich reihte mich ein. Innerhalb einer halben Stunde wur-

    den es über 100 Wartende. Die Regist-rierung war bis 18 Uhr vorgesehen und sollte am nächsten Tag weiter gehen. Ich zweifelte am System. Als ich mich nach zwei Stunden anstehen registrieren ließ, durfte ich vier weitere Wünsche für Wahl- module abgeben. Bei der dritten Schlüs-selqualifikation stand dann ebenfalls ein »nicht bestätigt«. Mein einziges Glück, das zweite Kernfachmodul wurde mir zuge-sagt. Okay, schon mal 20 Leistungspunk- te. Wir kamen der Sache näher. Am Mon- tag war Restplatzvergabe, da könnte man ja gegebenenfalls auch noch mal hin. Ich hatte jedoch schon nach dem ewigen Anstehen in der Härtefallschlange kei-ne richtige Lust mehr auf weiters An-stellen und hoffte auf die Härtefallverga-be. Sonntagabend erhielt ich eine Email vom Einschreibeteam. Es hätten wohl nur noch zwei Module freie Kapazitäten: ›Einführung in die Philosophie‹ und ›So-ziologie‹ für das 3. Fachsemester mit dem Zusatz das dieses auch ohne Vor-kenntnisse zu schaffen wäre. Ich durfte wählen. Ich checkte noch mal die Online- Restplatzbörse, bei den meisten Modu-

    len, außer für Niedersorbisch und andere schöne oder ähnlich exotische Sprachen, waren keine Plätze frei. Da Philosophie für mich nicht in Frage kam, war die Ent-scheidung klar. Um das »gewählte« Sozi-ologiemodul zu belegen, fuhr ich Montag ins Soziologieinstitut und durfte dieses dort nach dreistündigem Anstehen schrift- lich bestätigen.Auch anderen Ersties erging es ähnlich. Anna, zum Beispiel, Studentin der Kom-munikations- und Medienwissenschaft, wählte drei Module aus dem politikwis-

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    senschaftlichen Bereich und ein Anglis-tikmodul. Letzteres wurde auch bestä-tigt. Bei der Härtefallregistrierung durfte sie zwar vier weitere Wünsche abgeben, auf welche bei der letztendlichen Modul- vergabe jedoch keine Rücksicht genom-men wurde. Schließlich musste sie So-ziologie belegen. Lea studiert Kulturwis-senschaften und ihr wurde das gewählte Wahlmodul ›Einführung in die Kommuni- kations- und Medienwissenschaften‹ be- stätigt. In den anderen drei Wahlmodu-len der Philologischen Fakultät erhielt sie keinen Platz. Da ihr jedoch noch zehn Leitungspunkte fehlten, bekam sie durch die Härtefallvergabe Philosophie zuge- teilt. Daniel, Studiengang American Stu- dies, hatte Glück, er wählte für den Wahl- bereich ›Einführung in die Kommunikati-ons- und Medienwissenschaft‹ und Mo-dule aus der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften. Da er bereits durch zwei ihm vorgegebene Kern- fachmodule auf 20 Leistungspunkte kam, benötigte er nur ein Wahlmodul. Bestä-tigt wurde online zwar keines, als er sich jedoch direkt ins KMW-Institut begab (ob- wohl die Online-Restplatzvergabenüber- sicht keine freien Plätze anzeigte) um noch mal nach Kapazitäten zu fragen, wur- de im erklärt, dass diese Onlinedaten-bank größtenteils nicht aktualisiert wird und daher noch 30 Plätze frei wären. So konnte er doch noch seinen Wahlmodul-favoriten belegen. Bisher habe ich noch niemanden aus dem ersten Semester kennen gelernt, der kein Härtefall war. Aus Gesprächen mit Dritt- und Fünftsemestern erfährt man, das die Härtefallzahlen in den letzten Jahren wohl um einiges niedriger waren, sprich anfangs wirklich nur einige wenige das Pech hat-ten, nicht das belegen zu können, was sie wählten. Im Wintersemester 08/09 wa-ren aber auch sie gezwungen, das zu nehmen, was »übrig blieb«. Nach dem Semester kann ich zwar sagen, dass ich mit meinem Soziologiemodul eigentlich Glück hatte, da es sogar ganz interessant war. Die Chance, weitere So-ziologiemodule zu erhalten, um einen ein- heitlichen Wahlbereich zu belegen, gibt es jedoch nicht. Wer weiß, welches Mo-dul ich nächstes Semester zugeteilt be-komme und ob ich wieder »Glück« ha-ben werde. Der Gedanke, dass ich am Ende meines Studiums sagen kann, ich habe neben Kommunikations- und Medi-enwissenschaft noch Soziologie, Hindi, Geschichte, Philosophie und Arabistik belegt, stört mich etwas. Doch dass sich diese Situation der zugeteilten »Wahl«-

    Module noch verbessert, ist eher nicht zu vermuten. Am Ende haben die Studenten und Professoren unter der nicht vollstän-dig durchdachten Umstellung auf Bache-lor und Master zu leiden und die ›Fehler im System‹ auszubaden. Da bleibt nur zu hoffen, dass die Baustelle in und an der Uni Leipzig schnellstmöglich zu einem ak- zeptablen und beständigem Ergebnis ge-bracht wird.

    RezensionAuthentische Einsichten in den NS - Alltag Victor Klemperers

    rezensiert von Juliane Scholz

    Rezensierte Monografie:Peter Gentzel: Ausgrenzung – Kommuni- kation – Identität. Gesellschaftliche und subjektive Wirklichkeit in den Tagebü-chern Victor Klemperers. Reihe Kommuni- kationsgeschichte Band 27, Lit - Verlag, Berlin 2008.

    Peter Gentzels Monografie bearbeitet ein recht stiefmütterlich behandeltes For-schungsfeld an der Schnittstelle von Sozio- logie und Kommunikationswissenschaft: Die interpersonelle Kommunikation, wel-che anhand der Tagebücher Victor Klem-perers Konstrukte wie Ausgrenzung und Identität und mithin den »Alltag der NS-Diktatur, den Alltag der Judenverfolgung […] mit einem Höchstmaß an Authentizi-tät und von innen.« betrachtet. Interessant ist nicht nur Gentzels metho- dologisch gut strukturierte Einleitung zu seinem Versuchsdesign, sondern auch die tatsächliche empirische Operationali-sierung der zuvor herausgearbeiteten Ka- tegorien in den Tagebüchern Klemperers, welche von 1930 bis 1945 verfasst wur-den. Die damit verbundene These, die Tagebücher als »Dokument der Ausgren-zung« zu sehen und diese Ausgrenzung als Veränderung von Interaktion in der Tradi-tion des symbolischen Interaktionismus in Anlehnung George H. Mead weiter zu fundieren, ist in der stark durch System-theorie, Funktionalismus oder Behavioris- mus geprägten Kommunikationswissen-schaft ein Novum.Zuerst erfolgt die begriffliche Klärung des inflationär gebrauchten Begriffes Kommu-nikation, als Bedeutungsvermittlung zwi- schen Menschen, in der Kommunikation immer als soziales Handeln und Interak-tion in Anschluss an Theorien Max We-bers gesehen wird. Die Grundannahme,

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    dass Kommunikation nun nicht mehr auf bloßer Informationsübertragung beruht, sondern symbolische Bedeutungen durch eine stetige Interaktion zwischen Men-schen entstehen, sich ständig modifizie- ren und aktualisieren und sich Gesell-schaften auf diese Weise in Handlungs-kategorien erfassen lassen, war dann Herbert Blumers Weiterentwicklung der Meadschen Vorlage.Gentzel richtet den Fokus im Hauptteil auf den Begriff Identität und beleuchtet die Ausgrenzungserfahrungen des Juden Vic- tor Klemperers im Dresden des National- sozialismus, welche sich innerlich durch bestimmte äußerliche Kommunikations- erfahrungen aufbauen. Die Frage lautet also, wie sich soziale Kontexte und Räume durch verständigungsorientierte Kommu- nikation verändern? Wie wird also durch interpersonale Kommunikation, die in Klemperers Tagebüchern minutiös an-hand von mannigfaltigen Alltagserlebnis- sen geschildert wird, soziale Realität kon- struiert?Ausgrenzung wird als Stigmatisierung der Identität begriffen. Jede stigmatisierte, asymmetrische Kommunikation bedeu-tet zugleich eine Beschädigung der Iden-tität und führt zur Ausgrenzung der Men-schen in der Gesellschaft. Die Identität eines Menschen entwickelt sich folglich immer dynamisch, jedoch keinesfalls als eine finale, in sich geschlossene Entität. Insofern wird die soziale Rolle auch immer als soziale Identität gesehen. Zudem be- tont die Arbeit die Bedeutung signifikanter Anderer und die alltägliche Anerkennung des Jedermann nach Berger/Luckmann, die für Ausbildung einer nicht gestörten

    Identität essentiell sind. Die Erfahrungen Klemperers in zwölf Jahren NS-Diktatur und das Ausmaß der Ausgrenzung durch mangelnde Akzeptanz und Stigmatisie-rung Anderer und die damit einhergehen- de Pathologisierung der Identität, müssen somit durch interpersonale Ausgrenzung erfahrbar geworden sein.Im zweiten Teil der Arbeit werden die um- fangreichen, jedoch teilweise gekürzten Tagebucheditionen von 1930 bis 1945 auf Basis eines mehrstufigen Kategorien- systems ausgewertet. Diese multidimen-sionale Alltagsanalyse beinhaltet Stigma- respektive Einstellungsforschung sowie Quellenkritik der Tagebücher. In einem mehrstufigen Verfahren werden so sozi-ale Netzwerke (Bindungen, Freundschaf-ten, signifikante Andere) betrachtet. Da- neben spielt Kommensialität insbeson-dere in Form der vom Ehepaar Klemperer ausgerichteten Tischgesellschaften eine Rolle. Gentzel untersucht zudem die Ka-tegorien der Stigmasymbole (Uniformen, NS-Symbole, Grußformeln, Orden), die Anerkennung Klemperers in seiner Rolle als Professor, Interaktionsveränderungen (z.B. Abbruch der Kommunikation unter vormals engen Freunden bzw. Konfronta-tionen mit Fremden auf der Straße), Be-lastungen sowie objektiv bedeutsame gesellschaftspolitische Prozesse. Diese Verfahren sind innerhalb der Rekon- struktiven Sozialforschung bzw. dieser »objektiven Hermeneutik« ein Mittel, um aus konkreter interpersonaler Kommu-nikation Orientierungsräume und Erfah- rungsräume herauszufiltern und um Aus-grenzung zu operationalisieren. Die Aus-wertung der Fragebögen nimmt im Ver-gleich zum langen methodischen ersten Teil des Werkes relativ wenig Raum ein und zeigt, dass der Höhepunkt gesell-schaftlicher Ausgrenzung die Pflicht des Tragens des Judensterns seit September 1941 darstellt. Die Interaktion mit ande-ren Menschen ist von da an nicht mehr mit der vor 1933 vergleichbar und wird durch Verweigerung bestimmt. Ab 1942 gibt es nur noch die Ehefrau als signifi-kanten Anderen. Die Verengung des so-zialen Netzwerkes vollzog sich seit 1933 bis 1936 stetig, direkte Kommunikation wurde zunehmend durch Kommunikati-onsabbruch und Verweigerung der Ge-sprächspartner abgelöst, wenn man sich als Jude zu erkennen gab oder weltan-schauliche Symbole wie die Grußformel nicht benutzte. Seit 1936 expandiert die so genannte verbotene Sphäre der Le-benswelt zu Ungunsten des geheimen und bürgerlichen Bereichs, letzterer gekenn-

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    zeichnet durch direkte Kommunikation. Die Struktur des Alltags verändert sich seit den 1940er Jahren völlig. Seit 1942 muss die Struktur direkter Kommunika-tion und Interaktion als völlig verändert angesehen werden und wurde auch durch Klemperer selbst als »typisch jüdisch«, was Sprachcodes, Wortwahl oder Themen der Gespräche angeht, bezeichnet. Seit 1936 dominiert das gesetzte Stigma »Jude« zu sein das Leben Klemperers, mithin führt dies zu Isolation sowie zu Verheimlichung ohne jegliche Kompen- sationsmöglichkeit in der Freizeit. Gesetz-liche Rahmenbedingungen erreichten Klemperer (zeit)versetzt, jedoch meist auch früher, wie sich anhand von Vermei- dungsstrategien der Kollegen und Studen- ten an der Hochschule und seiner beruf- lichen Ausgrenzung ablesen lässt. Die Veränderungen nach Ende des Zweiten Weltkrieges zeigen wiederum die schnelle Umstrukturierung des Alltags auf die Form vor 1933. Gerade diese asynchronen Pro- zesse, die sich aus einem Vergleich der Mikro- und Mesoebene ergeben, wie auch detailgenaue Alltagsbetrachtungen führ-ten zu einem differenzierten Blick auf die Ausgrenzungserfahrungen Klemperers in Dresden. Dementsprechend kann die Fo- kussierung auf den oft übergangenen Bereich der interpersonalen Kommunika-tion, welche gesellschaftliche Teilöffent- lichkeiten konstruiert, als positiver Bei-trag zur Kultur- und Kommunikationsge-schichte gewertete werden. Gentzels veröffentlichte Magisterarbeit zeigt, dass »Oral History« vermittels Tage-buchanalyse oder die Untersuchung der »Primärerfahrungen« nicht nur auf dem Feld medialer, populärer Geschichtsver-mittlung verbleiben müssen, sondern sich durch eine gut durchdachte Kategorisie-rung und Operationalisierung auch empi-risch aufschlussreiche Ergebnisse erzie-len lassen. Die Grenzen der Arbeit liegen in der fehlenden Rückkopplung an sozia-le Prozesse und in der recht kurz gehal-ten Auswertung der empirischen Tage- buchanalyse, welche zugunsten des recht langen Theoriekapitels zum Begriff Kom-munikation etwas untergeht. Für die Her-leitung und Fundierung des Symbolischen Interaktionismus wäre zudem die Differen- zierung zwischen Meads Symbolischen Pragmatismus und Blumers darauf auf- bauenden Symbolischen Interaktionis-mus und die damit einhergehenden be- griffliche Unschärfe, gerade in der jünge-ren Kommunikationswissenschaft, wün- schenswert gewesen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass diese sehr

    gute Arbeit in der derzeitigen Schwemme der Verarbeitung von »Egodokumenten« in theoretischer Fundierung wegen des angewandten intersiziplinären Methoden- mix heraus sticht.

    … und hinter’m Horizont geht’s weiter …Die sich wandelnde Per-manenz des Ästhetischen

    von Danny Walther

    Was tun, wenn einem ein gutes Stück der eigenen (wissenschaftlichen) Identität und Geschichte genommen wird? Mit der Lücke weiterleben? Sie anderweitig fül-len? Sie so gut als möglich zu schließen versuchen, und sei es auch nur vorüber-gehend? Was die Ästhetik am Institut für Kulturwissenschaften betrifft, welche vor einigen Jahren dem hochschulpolitischen Opportunismus diverser Pragmaten zum Opfer fiel, so verfolgten einige Studieren- de den dritten Weg und verwirklichten im Wintersemester 2007/08 mit Hilfe von Lehrenden innerhalb wie außerhalb des Instituts eine Vorlesungsreihe, mit der dem »Ende der Ästhetik« in Leipzig zumin- dest temporär widersprochen und über-dies die »Vielfalt ästhetischer Perspekti-ven und Fragestellungen« (S. 11) dokumen- tiert werden sollte. Ein Jahr später nun hat sich das Ansinnen zu einem veritablen Sam- melband ausgewachsen, der in zwölf Vor- trägen die »Permanenz des Ästhetischen« zur Sprache bringt – »gegensätzliche Po-sitionen und einander reibende Thesen« zum Glück mit eingeschlossen, und zwar sowohl innerhalb der drei Teile (Kunst / Schönheit / Begriffe, Theorien, Konzepte), als auch zwischen ihnen. Dass es bei alle- dem nicht nur um den »kulturell vermittel- ten Sinn« (12) ästhetischen Denkens geht, wie in der Einleitung dargetan, sondern auch – wieder mal – oder immer noch – nach dem Wesen des Ästhetischen ge-sucht wird, kann vor diesem Hintergrund durchaus als gewinnbringend angesehen werden, auch wenn die ontologischen An-sätze (wie selbst ihre Vertreter zugeben müssen) einige »Zumutungen für das mo-derne Denken« mit sich bringen, sei es nun der Glaube – wahrhaft: ein Glaube, wie mir scheint – an irgendeine »objek-tive Schönheit« oder die – nicht minder unbestimmte – »natürliche Vollkommen-heit«. (Dazu der Beitrag von Henning Tegt- meyer: Die Idee des Schönen, die Zita-te hier S. 91). Gleichwohl, auch dem Philosophen Wolf-

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    gang Welsch ist der locker-leichte Kultur-relativismus fremd, oder besser wohl: fremd geworden – und zwar so sehr, dass beim Lesen seines Beitrages »Von der universalen Schätzung des Schönen« unweigerlich die Frage aufkommt, ob wir denn jemals »postmodern« gewesen sind. Vielleicht sind wir’s aber auch einfach nur nicht mehr, schließlich feiert die mo-derne Evolutionstheorie, der Welsch hier folgt, in der Ästhetik seit ein paar Jah-ren fröhliche Urstände, auch wenn das ein Großteil der Ästhetik-Gelehrten noch nicht bemerkt haben mag. Aber wie dem auch sei, Welsch jedenfalls glaubt qua (ausgewählter) evolutionsbiologischer An- sätze drei Typen von »universale[n] For-men des Schönheitsempfindens« (93) aus- machen zu können. Der erste und wenn man so will einfachste Typ ist dabei aus- schließlich auf Landschaften und mensch- liche Körper bezogen. Alle Menschen, so Welsch, schätz(t)en savannenartige Land- schaften, und zwar ganz unabhängig da-von, ob sie in solchen leben oder nicht. »Die Einhelligkeit der Savannenpräferenz ist kulturen- und sozialschichtenübergrei-fend.« (94) Die entsprechende Erklärung muss naturgemäß früh ansetzen. Sie lau- tet: derjenige [Mann], welcher zu Urzeiten »darauf programmiert war« auf die über- lebensgünstigen Savannen „positiv zu rea- gieren, der war, wenn es darum ging, ei-nen neuen Lebensraum zu erschließen, ein guter Anführer. Das hat auf lange Sicht zur Selektion dieser Präferenz im menschlichen Genom geführt.« (98) Mit anderen Worten: Was heute allen gefällt, war einst das für die Reproduktion Nütz-liche. Ein weiteres, wiewohl nicht weni-ger evolutionär geprägtes universelles Schönheitsmuster will Welsch dann bei der Taille-Hüft-Proportion ausgemacht ha- ben, wie sie Männer bei Frauen schätzen. 7:10 lautet hier die magische Formel, in Fachkreisen auch »Sanduhr-Ideal« ge-nannt. Was Welsch nicht weiß – zumin-dest nicht nennt – ist die empirisch gut be- legte Tatsache, dass es einige, nun ja, sagen wir »entlegene« Gegenden auf die-sem Planeten gibt, in denen der gemei-ne Mann eher den Typ »Walze« bevorzugt und bei 9:10 bis 10:10 so richtig schön glücklich ist, zumindest glücklich scheint. Problematisch auch Welschs zweiter Ty-pus: Die universale Schätzung atembe-raubend schöner Kunstwerke. Mag es dem Philosophen zufolge »im Einzelnen auch Alters-, Gewohnheits- und Sozialbar- rieren geben« (95f.), so gibt es dennoch Objekte – bei Welsch ausnahmslos »gro-ße Kunstwerke« –, die eine universale

    Schätzung erfahren. Und damit auch der letzten Adorno-Jünger be(un)ruhigt ist: »Nicht schafft die kulturindustrielle Zuwen-dung die universale Faszinationskraft der Werke, sondern das den Werken immanen- te universale Potential macht sie zu Er- folgskandidaten für ihre kultur- und touris- musindustrielle Ausbeutung.« (97) Nun ja. Bei mindestens einem von Welschs Bei- spielen – Leonardo da Vincis Mona Lisa – scheint die vorgebliche Faszinationskraft allerdings weniger der konkreten Betrach- tung Einzelner als den glänzeden Pros- pekten und Versprechungen der »Kultur- industrie« zu entspringen, schließlich fül- len die Enttäuschungen über dieses »kleine, verdunkelte Werk« – nein, keine ästhetisch-philosophischen Werke, son-dern Dutzende Suchmaschinenseiten, und analog dazu die der Zeit des Jahres 1975, wo es titelgebend heißt: »Mona Lisa – eine Enttäuschung!« Um nun bei aller Kritik nicht missverstanden zu wer- den: Welschs evolutionsbiologisch fun- dierter Ansatz birgt nichtsdestotrotz reich- lich analytisches Potential für aktuelle wie zukünftige Ästhetik(en). Vor allem sei- ne Ausführungen zum dritten Typ univer- salen ästhetischen Empfindens, der als schön empfundenen Selbstähnlichkeit (Symmetrien und Formen des »Goldenen Schnitts«) sollten umfassend diskutiert und mit neuen empirischen Befunden überprüft werden. Ob dabei das Funda-ment der »transkulturellen Tiefendimen-sion des Ästhetischen« (113) weiter wächst oder die Kulturalisten die Ober-hand behalten, ist und bleibt eine offe-ne Frage.An einem ganz anderen »Schönheits-problem« samt entsprechender (wissen-schaftlicher) Auseinander-Setzungen ist dagegen Knut Ebeling interessiert. In sei- nem überaus lesenswerten Essay »Jen-seits der Schönheit« zieht er – auf ange- nehm normative Art und Weise – eine Tr