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Kapitel 1 Grundlagen: Newtonsche Mechanik 1.1 Einleitung Mit der Entwicklung der klassischen Mechanik begann die moderne Physik. Die klassische Mechanik befasst sich mit der Vorhersage der Bewegung materieller K¨ orper. Die wesentlichen Grundlagen wur- den von Isaak Newton im 17. Jahrhundert gelegt und haben bis heute ihre G¨ ultigkeit. Allerdings muss man sich dabei auch bewusst machen, dass die G¨ ultigkeit der Newtonschen Mechanik nicht universell ist. Wenn die Geschwindigkeiten sehr groß werden, wird die Newtonsche Mechanik durch die speziel- le Relativit¨ atstheorie ersetzt. Wenn die Entfernungen kosmische Ausmaße annehmen, ben¨ otigt man die allgemeine Relativit¨ atstheorie. Wenn umgekehrt die Entfernungen auf atomare Skalen kommen, muss man die Quantenmechanik anwenden. Und wenn die Teilchenzahlen von der Gr¨ oßenordnung 10 23 sind und die Teilchen sich chaotisch bewegen, ben¨ otigt man zur Beschreibung makroskopischer Variablen die statistische Mechanik. In diesem ersten Kapitel wiederholen wir nach einem historischen R¨ uckblick die wesentlichen Ele- mente der Newtonschen Mechanik, die schon von der Experimentalphysik I und der Einf¨ uhrung in die Theoretische Physik vertraut sind. Da viele Aufgaben in der Newtonschen Mechanik, insbesondere wenn Zwangsbedingungen vorliegen, recht aufw¨ andig zu l¨ osen sind, hat man schon recht bald nach Newton andere Formulierungen der klassischen Mechanik entwickelt, in denen sich diese Probleme leichter l¨ osen lassen. Gleichzeitig gew¨ ahren diese Formulierungen tiefere Einblicke in die Eigenschaften der klassischen Mechanik, und sie enthalten wichtige Konzepte und Prinzipien, die auch in anderen Gebieten der Theo- retischen Physik eine zentrale Rolle spielen. Mit diesen anderen Formulierungen der Mechanik, mit allge- meinen Prinzipien, und mit speziellen Themen werden wir uns in den weiteren Kapiteln dieser Vorlesung befassen. 1.2 Kleiner historischer ¨ Uberblick Einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der klassischen Mechanik leistete die Astronomie und das Be- streben, die Planetenbahnen zu verstehen. Schon in der Antike wurde vereinzelt ein heliozentrisches Weltbild vertreten, so z.B. von Aristarch von Samos (ca 310-230 v. Chr.), der auch beeindruckende ¨ Uber- legungen zur Berechnung von Gr¨ oße und Abstand von Sonne und Mond anstellte. Das heliozentrische Weltbild konnte sich aber nicht gegen das von Ptolem¨ aus (85-165 n.Chr.) vertretene geozentrische Welt- bild behaupten. Ein wichtiger Grund hierf¨ ur war die fehlende Fixsternparallaxe (das ist eine scheinbare Ver¨ anderung der Position der Fixsterne am Himmel im Jahresverlauf). Ptolem¨ aus beschrieb die Pla- netenbahnen durch Epizyklen (Kreisbahnen auf Kreisbahnen) und konnte unter Verwendung von mehr als 80 solcher Kreise eine beeindruckend große Genauigkeit in der Vorhersage der Planetenbewegung er- zielen. Das Ptolem¨ aische Weltbild war fester Bestandteil der mittelalterlichen Weltsicht und war durch viele plausible Argumente untermauert. Als Kopernikus (1473-1543) das heliozentrische Weltbild vor- 3

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Page 1: Grundlagen: Newtonsche Mechanik · Kapitel 1 Grundlagen: Newtonsche Mechanik 1.1 Einleitung Mit der Entwicklung der klassischen Mechanik begann die moderne Physik. Die klassische

Kapitel 1

Grundlagen: Newtonsche Mechanik

1.1 Einleitung

Mit der Entwicklung der klassischen Mechanik begann die moderne Physik. Die klassische Mechanikbefasst sich mit der Vorhersage der Bewegung materieller Korper. Die wesentlichen Grundlagen wur-den von Isaak Newton im 17. Jahrhundert gelegt und haben bis heute ihre Gultigkeit. Allerdings mussman sich dabei auch bewusst machen, dass die Gultigkeit der Newtonschen Mechanik nicht universellist. Wenn die Geschwindigkeiten sehr groß werden, wird die Newtonsche Mechanik durch die speziel-le Relativitatstheorie ersetzt. Wenn die Entfernungen kosmische Ausmaße annehmen, benotigt man dieallgemeine Relativitatstheorie. Wenn umgekehrt die Entfernungen auf atomare Skalen kommen, mussman die Quantenmechanik anwenden. Und wenn die Teilchenzahlen von der Großenordnung 1023 sindund die Teilchen sich chaotisch bewegen, benotigt man zur Beschreibung makroskopischer Variablen diestatistische Mechanik.

In diesem ersten Kapitel wiederholen wir nach einem historischen Ruckblick die wesentlichen Ele-mente der Newtonschen Mechanik, die schon von der Experimentalphysik I und der Einfuhrung in dieTheoretische Physik vertraut sind. Da viele Aufgaben in der Newtonschen Mechanik, insbesondere wennZwangsbedingungen vorliegen, recht aufwandig zu losen sind, hat man schon recht bald nach Newtonandere Formulierungen der klassischen Mechanik entwickelt, in denen sich diese Probleme leichter losenlassen. Gleichzeitig gewahren diese Formulierungen tiefere Einblicke in die Eigenschaften der klassischenMechanik, und sie enthalten wichtige Konzepte und Prinzipien, die auch in anderen Gebieten der Theo-retischen Physik eine zentrale Rolle spielen. Mit diesen anderen Formulierungen der Mechanik, mit allge-meinen Prinzipien, und mit speziellen Themen werden wir uns in den weiteren Kapiteln dieser Vorlesungbefassen.

1.2 Kleiner historischer Uberblick

Einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der klassischen Mechanik leistete die Astronomie und das Be-streben, die Planetenbahnen zu verstehen. Schon in der Antike wurde vereinzelt ein heliozentrischesWeltbild vertreten, so z.B. von Aristarch von Samos (ca 310-230 v. Chr.), der auch beeindruckende Uber-legungen zur Berechnung von Große und Abstand von Sonne und Mond anstellte. Das heliozentrischeWeltbild konnte sich aber nicht gegen das von Ptolemaus (85-165 n.Chr.) vertretene geozentrische Welt-bild behaupten. Ein wichtiger Grund hierfur war die fehlende Fixsternparallaxe (das ist eine scheinbareVeranderung der Position der Fixsterne am Himmel im Jahresverlauf). Ptolemaus beschrieb die Pla-netenbahnen durch Epizyklen (Kreisbahnen auf Kreisbahnen) und konnte unter Verwendung von mehrals 80 solcher Kreise eine beeindruckend große Genauigkeit in der Vorhersage der Planetenbewegung er-zielen. Das Ptolemaische Weltbild war fester Bestandteil der mittelalterlichen Weltsicht und war durchviele plausible Argumente untermauert. Als Kopernikus (1473-1543) das heliozentrische Weltbild vor-

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schlug, gab es daher lange anhaltenden Widerstand. Es dauerte deutlich langer als 100 Jahre, bis dasheliozentrische Weltbild anfing sich durchzusetzen. Kopernikus und andere Vertreter dieses Weltbildsargumentierten mit der großeren Einfachheit (man benotigte nur noch 34 Kreise) und dem grosseren Er-klarungspotenzial (mehrere unabhangige Fakten, wie z.B. die scheinbare Umlaufdauer der Planeten umdie Erde und die generelle Gestalt der Bahnen, konnten nun durch eine gemeinsame Erklarung begrundetwerden). Die Gegner argumentierten wie schon in der Antike mit der fehlenden Fixsternparallaxe, demRuhen der Atmosphare und mit der Beobachtung, dass senkrecht nach oben geworfene Steine wiederam Ausgangsort landen. Durch die Berechnungen von Johannes Kepler (1571-1630) und die Beobach-tungen von Galileo Galilei (1564-1642) wurden die Argumente fur das heliozentrische Weltbild immerstarker. Als schließlich Issac Newton (1642-1727) die Planetenbahnen aus der Gravitationskraft zwischender Sonne und den Planeten, verbunden mit dem Newtonschen Bewegungsgesetz, ableiten konnte, warkein Widerstand gegen das heliozentrische Weltbild mehr moglich. Interessant an all diesen historischenEntwicklungen ist auch, dass sowohl die Vertreter des ptolemaischen Weltbildes, als auch die des helio-zentrischen Weltbildes ihre Uberzeugungen mit religiosen Argumenten untermauerten. Meist weiß mannur um den Widerstand der katholischen Kirche gegen Galilei. Doch dies gibt einen falschen Eindruckvon dem sehr komplexen Verhaltnis zwischen Christentum und Wissenschaft. Als positives Beispiel kannman Johannes Kepler anfuhren. Seine Suche nach den Gesetzen der Planetenbewegung war durch seinenGlauben motiviert. Er war namlich davon uberzeugt, dass Gott ein großer Mathematiker ist und die Weltdeshalb nach mathematischen Gesetzen geschaffen hat, und dass der Mensch, weil er Gottes Ebenbild ist,diese Gesetze herausfinden kann.

1.3 Grundlegende Begriffe der Newtonschen Mechanik

Die grundlegenden Variablen in der Newtonschen Mechanik sind Raum ~r und Zeit t, Masse m und Kraft~F .

Der Raum ist bei Newton dreidimensional, unbegrenzt und euklidisch. Korper konnen in diesem Raumruhen oder sich in ihm bewegen. Die Zeit ist bei Newton eine absolute Zeit, die fur jeden Beobachtergleich schnell dahinstromt.

Wie wir heute wissen, ist die Vorstellung eines absoluten Raums und einer absoluten Zeit nichtzutreffend. Dies lehrt uns, dass die Vorstellungen uber das Wesen der Welt, die man sich aufgrund einerTheorie macht, falsch sein konnen, auch wenn die mit dieser Theorie durchgefuhrten Berechnungen richtigsind.

1.4 Mechanik eines Teilchens

In vielen Fallen ist es ausreichend, die Bewegung eines Korpers als Bahn eines Massepunktes zu beschrei-ben. Wenn allerdings Rotationen oder Deformationen wichtig werden, muss der Korper als ausgedehntesObjekt beschrieben werden.

Eine Bahnkurve wird durch einen Vektor ~r(t) beschrieben.

Der entsprechende Geschwindigkeitsvektor ~v = ~r ≡ d~rdt ist tangential zur Bahnkurve und berechnet sich

als

~v(t) = lim∆t→0

~r(t)− ~r(t−∆t)

∆t

4

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Der Beschleunigungsvektor ist ~a = ~v = ~r ≡ d2~rdt2

Das Newtonsche Bewegungsgesetz besagt: Es gibt Bezugssysteme (Inertialsysteme), in denen die Be-wegung eines Teilchens der Masse m beschrieben wird durch

~F =d~p

dt=

d

dt(m~v) (1.1)

Hierbei ist ~p ≡ m~v der Linearimpuls. Seine zeitliche Anderung ist

d

dt(m~v) = m~v +m~a ,

woraus ~F = m~a folgt, wenn m konstant ist (was wir in der nichtrelativistischen Mechanik immer anneh-men). In einem Intertialsystem bewegt sich folglich ein kraftefreies Teilchen geradlinig und mit konstanterGeschwindigkeit:

m~r = 0⇒ ~r(t) = ~r(0) + ~v(0)t

Anmerkung: Uber Kraftefreiheit zu entscheiden, ist oft nicht trivial.

Das 1. Newtonsche Axiom besagt,”Jeder Korper verharrt im Zustand der Ruhe oder gleichformig

geradlinigen Bewegung, solange keine Kraft auf ihn einwirkt“. Damit postuliert Newton die Existenz vonIntertialsystemen. Das Bewegungsgesetz ~F = d~p

dt wird als 2. Axiom bezeichnet. Dieses gilt ebenso wie daserste Gesetz nur in Inertialsystemen.

Das Newtonsche Bewegungsgesetz legt fur eine gemessene Beschleunigung nur das Verhaltnis von|~F | zu m fest, definiert also weder ~F noch m. Die Bestimmung von m und damit ~F wird durch das 3.Axiom (

”actio = reactio“) moglich:

”Die Wirkungen zweier Korper aufeinander sind stets gleich und von

entgegengesetzter Richtung“.

Ubt Teilchen 1 auf Teilchen 2 die Kraft ~F21 aus, so gilt dann:

m1~r1 = ~F12 = −~F21 = −m2~r2 ⇒ m2 =

∣∣∣∣∣ ~r1

~r2

∣∣∣∣∣m1

Dies erlaubt die Bestimmung einer Masse m2 als Vielfaches einer bekannten (oder als Norm verwendeten)Masse m1.

Weitere Basisgroßen sind die Langeneinheit Meter (m) und die Zeiteinheit Sekunde (s). Außerdemgibt es eine Reihe von aus den Basisgroßen abgeleiteten Großen, wie zum Beispiel die Krafteinheit Newton(N = kgms2 ).

Aus den Newtonschen Gesetzen lassen sich mehrere Erhaltungssatze ableiten:

1. Linearimpuls ~p: Wenn die Gesamtkraft Null ist, bleibt der lineare Impuls erhalten:

d~p

dt= ~F = 0⇒ ~p = const

2. Drehimpuls ~L eines Teilchens um einen Punkt 0: Der Drehimpuls ist definiert als

~L ≡ ~r × ~p . (1.2)

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Der Drehimpuls andert sich, wenn ein Drehmoment

~N ≡ ~r × ~F (1.3)

angreift:

d~L

dt=

d

dt(~r × ~p) =

d~r

dt× ~p+ ~r × d~p

dt= ~v × ~p︸ ︷︷ ︸

=0

+~r × ~F = ~N .

Also ist d~Ldt = 0, wenn ~N = 0 ist.

3. Gesamtenergie T+V:Zunachst berechnen wir die an einem Teilchen geleistete Arbeit langs einer Kurve C

W12 =

∫C

~F · d~r (1.4)

Das Kurvenintegral geht in ein gewohnliches Integral uber, falls die im Zeitintervall [t1, t2] durch-laufene Kurve durch ~r(t) mit

d~r(t) =d~r(t)

dtdt = ~v(t)dt

beschrieben wird (v ≡ |~v|):

W12 =

~r2∫~r1

~F (~r(t), ~v(t), t) · d~r ≡t2∫t1

~F (~r(t), ~v(t), t) · ~v(t)dt = m

t2∫t1

d~v

dt· ~v(t)dt =

m

2

t2∫t1

d

dt(v2(t))dt .

Damit ist

W12 =m

2(v2

2 − v21) ≡ T2 − T1 (1.5)

gleich der Anderung der kinetischen Energie

T ≡ m

2v2 . (1.6)

Wir betrachten im Folgenden Kraftfelder ~F (~r), die nicht von der Geschwindigkeit abhangen. Einsolches Kraftfeld ist konservativ, wenn ∮

C

~F (~r) · d~r = 0 (1.7)

ist fur jede geschlossene Kurve C. Fur konservative Krafte hangt die Arbeit nicht vom Weg ab, wiefolgende Rechnung zeigt:

∫C1

~F · d~r =∫C1−C2

~F · d~r +∫C2

~F · d~r =

∮~F · d~r︸ ︷︷ ︸=0

+∫C2

~F · d~r

Mit Hilfe des Stokesschen Satzes kann die Bedingung (1.7) geschrieben werden als ~∇× ~F = 0. Dadie Rotation von Gradienten verschwindet, gilt

~F (~r) = −~∇V (~r) . (1.8)

Das skalare Feld V (~r) heißt Potenzial oder potenzielle Energie.

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Wer lieber zu Fuß rechnet mit explizit ausgeschriebenen Vektorkomponenten, kann folgende Be-ziehungen benutzen: Wir verwenden zeitlich konstante orthogonale Einheitsvektoren ~ex, ~ey, ~ez bzgl.eines Ursprungs. Damit ist

~r = x~ex + y~ey + z~ez =

xyz

und

~∇× ~F =

∂∂x∂∂y∂∂z

×FxFyFz

=

∂Fz∂y −

∂Fy∂z

∂Fx∂z −

∂Fz∂x

∂Fy∂x −

∂Fx∂y

und

~∇V (~r) =(∂V (~r)∂x ~ex + ∂V (~r)

∂y ~ey + ∂V (~r)∂z ~ez

)=

∂V∂x∂V∂y∂V∂z

.

Wir drucken schließlich die oben berechnete Arbeit fur konservative Kraftfelder durch das Potenzialaus:

W12 =

t2∫t1

~F · ~v(t)dt = −t2∫t1

~∇V · ~v(t)dt = −t2∫t1

(d

dtV )dt = −(V (~r2)− V (~r1)) .

Den vorletzten Schritt konnen wir mit Hilfe der Kettenregel nachvollziehen:

d

dtV (~r(t)) =

∂V

∂x

dx

dt+∂V

∂y

dy

dt+∂V

∂z

dz

dt≡ ~∇V · d~r

dt.

Also folgt schließlich

W12 = V1 − V2 (1.9)

Daraus folgt mit (1.5) der Energieerhaltungssatz:

W12 = T2 − T1 = V1 − V2 ⇔ T1 + V1 = T2 + V2 (1.10)

Fur konservative Krafte ist die Summe aus kinetischer und potenzieller Energie konstant!

Beispiel 1:

Die Kraft ~F = (y, x2

2m , x + z)Nm bewege ein Teilchen zwischen den Punkten ~r1 = (2m, 0, 0) und~r2 = (2m, 0, 4m).

a) Berechne die geleistete Arbeit auf einer Geraden parallel zur z-Achse.b) Hangt die Arbeit von der Wahl des Weges zwischen den beiden Punkten ab?

Losung:a) Mit dem Einheitsvektor ~ez in z-Richtung gilt d~r = ~ezdz und

W =

~r2∫~r1

~F · d~r =

4m∫0

~F (2m, 0, z) · ~ezdz =

4m∫0

(2m+ z)N

mdz = (2mz +

1

2z2)

N

m

∣∣∣∣4m0

= 16Nm

b) Die Arbeit hangt genau dann nicht vom Weg ab, wenn das Kraftfeld konservativ ist. Dazu muss dieRotation des Kraftfeldes verschwinden, d. h. es mussen die Integrabilitatsbedingungen ∂Fi/∂rk = ∂Fk/∂~ri(i, k = 1, 2, 3) erfullt sein. Wir testen dies fur i = x und k = y:

∂Fx∂y

=N

m6= ∂Fy

∂x=xN

m2.

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Also existiert kein Potenzial, und das Linienintegral ist wegabhangig.

Beispiel 2: Skifahrer

Die Anfangsgeschwindigkeit sei ~v(t = 0) = ~v0 = 0. Was ist die Endgeschwindigkeit (ohne Reibung)?

Losung:

Wir losen diese Aufgabe mit Hilfe der Energieerhaltung. Wir haben namlich mit ~F = m~g ein konservativesKraftfeld. Bei z = h gilt:

E1 = T1 + V1 = V1 = mgh .

Bei z = 0 gilt:

E2 = T2 + V2 = T2 =1

2mv2 .

Also folgt aus der Energieerhaltung:

mgh =1

2mv2 ⇒ v =

√2gh .

Die Fallbeschleunigung betragt im Mittel uber die Erdoberflache

g = 9, 81m

s2.

1.5 Mechanik eines Systems von Teilchen

Wir betrachten ein System aus N Teilchen, deren Orte und Massen wir mit ~ri und mi bezeichnen, miti = 1, 2, . . . , N . Eine Kraft auf das Teilchen i heißt innere Kraft, wenn sie von einem anderen Teilchenj ausgeht, sonst heißt sie außere Kraft (~F (ex)). Hangt die innere Kraft, die zwei Teilchen aufeinan-der ausuben, nicht von der Anwesenheit eines dritten Teilchens ab, so heißt sie Zweikorperkraft, sonstMehrkorperkraft.

Fur zentrale Zweikorperkrafte gilt fur die vom Teilchen j auf Teilchen i ausgeubte Kraft (r = |~r|):

~Fij(~rij) = fij(rij)~rijrij, ~rij ≡ ~ri − ~rj . (1.11)

Beispiele fur zentrale Zweikorperkrafte sind die Coulombkraft zwischen zwei Ladungen e1 und e2

~F12 =e1e2

r212

~r12

r12(1.12)

und die Gravitationskraft zwischen zwei Massen m1 und m2

~F12 = −Gm1m2

r212

~r12

r12. (1.13)

Hierbei ist G die Newtonsche Gravitationskonstante G ' 6, 673 · 10−11Nm2kg−2.

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Das Potenzial der Gravitationskraft ist

V12 = −Gm1m2

r12. (1.14)

Allgemein hangen die Potenziale Vij zu konservativen zentralen Zweikorperkraften ~Fij(~r) = −~∇Vij(r)nur vom Abstandsbetrag r = |~r| ab. Dies zeigen wir folgendermaßen:

−~∇Vij(r) = −(∂

∂xVij(r)~ex +

∂yVij(r)~ey +

∂zVij(r)~ez

)= −dVij(r)

dr

(∂r

∂x~ex +

∂r

∂y~ey +

∂r

∂z~ez

)= fij(r)

~r

r≡ ~Fij(~r)

mit

fij(r) = −dVij(r)dr

,∂r

∂x=

∂x

√x2 + y2 + z2 =

x

retc.

Fur Mehrteilchensysteme gilt der Schwerpunktsatz, der Drehimpulssatz, und der Energiesatz, die wirim Folgenden herleiten.

1.5.1 Schwerpunktsatz

Den Schwerpunktsatz erhalten wir ausgehend von den Bewegungsgleichungen

d~pidt

= ~F(ex)i +

∑j mit j 6=i

~Fij fur i = 1, ..., N .

Fur innere Krafte gilt ~Fij = −~Fji (actio = reactio). Es ist ~Fii = 0. Also ist

N∑i=1

d~pidt

=N∑i=1

~F(ex)i +

N∑i,j=1

~Fij︸ ︷︷ ︸=0

(1.15)

Wir definieren den Gesamtimpuls

~P =N∑i=1

~pi ,

die gesamte außere Kraft (z.B. die Gewichtskraft)

~F (ex) =N∑i=1

~F(ex)i ,

die Gesamtmasse

M =N∑i=1

mi

und den Ortsvektor des Schwerpunkts

~R =1

M

N∑i=1

mi~ri .

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Damit erhalten wir

~P =N∑i=1

mi~ri = Md

dt

(1

M

N∑i=1

mi~ri

)︸ ︷︷ ︸

~R

also

~P = M ~R . (1.16)

Der Gesamtimpuls ist identisch mit dem Schwerpunktimpuls.Mit (1.15) folgt der Schwerpunktsatz

~P = M ~R = ~F (ex) . (1.17)

Der Schwerpunkt bewegt sich so, als ob die gesamte Masse in ihm vereint ware und alle außeren Kraftean ihm wirken wurden.

1.5.2 Drehimpulssatz

Den Drehimpulssatz leiten wir ausgehend von der Formel fur den Gesamtdrehimpuls ~L der N Teilchenher. Unter Verwendung von (1.2) ergibt sich

~L =

N∑i=1

~Li =

N∑i=1

~ri × ~pi . (1.18)

Das außere Gesamtdrehmoment ~N (ex) ist die Summe der einzelnen Momente (1.3):

~N (ex) =N∑i=1

~ri × ~F(ex)i . (1.19)

Damit ist die Zeitableitung des Drehimpulses

d~L

dt=

N∑i=1

d

dt(~ri × ~pi) =

N∑i=1

d

dt

(~ri ×mi~ri

)

=

N∑i=1

(mi~ri × ~ri︸ ︷︷ ︸

=0

+mi~ri × ~ri)

=

N∑i=1

~ri ×

~F(ex)i +

N∑j=1

~Fij

=

N∑i=1

~ri × ~F(ex)i +

N∑i<j

(~ri − ~rj)× ~Fij . (1.20)

Der letzte Term verschwindet fur Zentralkrafte ~Fij , da ~Fij ∝ (~ri − ~rj) und da ~Fij = −~Fji. Also ist

d~L

dt= ~N (ex) =

N∑i=1

~Ni , ~Ni = ~ri × ~F(ex)i , (1.21)

d.h. die zeitliche Anderung des Gesamtdrehimpulses ist gleich dem Drehmoment aller außeren Krafte.Bisher bezogen sich alle Drehimpulse auf den Ursprung des Koordinatensystems. Man kann jedoch

auch ein anderes Koordinatensystem K ′ einfuhren, dessen Ursprung im Massenschwerpunkt verankertist. Dann gilt folgende Koordinatentransformation:

~ri = ~R+ ~ri′, (1.22)

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wobei ~ri′ die Darstellung des Ortsvektors in K ′ ist:

~ri′ =

∑i

ri′~ei′. (1.23)

Die Geschwindigkeiten transformieren sich gemaß

~vi = ~V + ~vi′, ~V = ~R (1.24)

und wir erhalten den Gesamtdrehimpuls

~L =N∑i=1

~ri × ~pi =N∑i=1

(~R+ ~ri

′)×(~V + ~vi

′)mi

= ~R× ~VM +( N∑i=1

mi~ri′)

︸ ︷︷ ︸=0

×~V +N∑i=1

mi (~ri′ × ~vi ′)

+~R× d

dt

(N∑i=1

mi~ri′

︸ ︷︷ ︸=0

). (1.25)

Da sich alle Vektoren ~ri′ auf den Schwerpunkt beziehen, verschwindet

∑Ni=1mi~ri

′ (wegen∑Ni=1mi~ri =

M ~R+∑Ni=1mi~ri

′ = M ~R), und wir erhalten

~L = ~L(Bahn) + ~L(Eigen) = ~R× ~P +

N∑i=1

~ri′ × ~pi ′ (1.26)

Der Gesamtdrehimpuls setzt sich also zusammen aus dem Drehimpuls des im Schwerpunkt konzentrier-ten Systems (Bahndrehimpuls) und dem Drehimpuls der Bewegung bezuglich des Massenzentrums(innerer oder Eigendrehimpuls). Wir schließen daraus, dass der Gesamtdrehimpuls vom Koordina-tenursprung abhangt.

1.5.3 Energiesatz

Fur zentrale Zweiteilchenkrafte konnen wir die Bewegungsgleichung des i-ten Teilchens schreiben als

mi~ri = −~∇i∑

j mit j 6=i

Vij + ~F(ex)i . (1.27)

Das Symbol ~∇i bedeutet hierbei den Gradienten bzgl. des Ortsvektors von Teilchen i. Multipliziert mandie Gleichung skalar mit ~ri, so erhalt man nach Summation uber i

N∑i=1

mi~ri · ~ri =1

2

d

dt

N∑i=1

mi

(~ri

)2

= −N∑

i,j=1,i6=j

~ri · ~∇iVij +N∑i=1

~ri · ~F (ex)i

= −N∑

i<j=1

(~ri · ~∇i + ~rj · ~∇j

)Vij +

N∑i=1

~ri · ~F (ex)i . (1.28)

Mit ddtV (~r(t)) = ~∇V · ~r ergibt sich

1

2

d

dt

N∑i=1

mi

(~ri

)2

= − d

dt

N∑i,j=1,i<j

Vij +N∑i=1

~ri · ~F (ex) (1.29)

11

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oder

d

dt

N∑i=1

1

2mi (~vi)

2+

N∑i,j=1,i<j

Vij

=N∑i=1

~vi · ~F (ex)i . (1.30)

Wir definieren als innere Energie des Systems die Summe aller kinetischer Energien der Massenpunkte

T =N∑i=1

1

2mi~vi

2 (1.31)

und potentieller Wechselwirkungsenergien der Zweiteilchenkrafte

V =N∑

i,j=1,i<j

Vij (1.32)

und erhalten den Energiesatz

d

dt(T + V ) =

N∑i=1

~vi · ~F (ex)i . (1.33)

Dieser besagt, dass die Anderung der inneren Energie eines N -Teilchensystems gleich der Gesamtleistungder außeren Krafte ist.

1.5.4 Die 10 Erhaltungsgroßen eines abgeschlossenen Systems

Per definitionem verschwinden in einem abgeschlossenen System alle außeren Krafte. In diesem Fallergeben sich folgende Erhaltungsgroßen:

• Gesamtimpuls:

d~P

dt= 0 (1.34)

Der Schwerpunkt bewegt sich gleichformig: ~R = 1M~Pt+ ~R0.

• Gesamtdrehimpuls:

d~L

dt= 0, ~L = ~R× ~P + ~L′ (1.35)

• (innere) Energie:dE

dt= 0, E = T + V (1.36)

Die innere Energie ist jetzt identisch mit der Gesamtenergie.

Die Großen ~R − 1M~Pt, ~P , ~L,E bilden die zehn klassischen Erhaltungsgroßen eines abgeschlossenen

Systems. Wir werden spater sehen, dass diese Erhaltungssatze allgemein fur abgeschlossene Systemegelten und letztlich allein aus den Raum-Zeit Postulaten der Newtonschen Mechanik herleitbar sind.

Aufgaben

1. Gegeben ist ein Kraftfeld in zwei Dimensionen, ~F = axe−x2−y2

~ex + bye−x2−y2

~ey mit a, b ∈ R.

(a) Welche Bedingung mussen a und b erfullen, damit das Kraftfeld konservativ ist?

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(b) Berechnen Sie fur allgemeine a und b die Arbeit, die das Feld leistet, wenn ein Teilchen sichgeradlinig von (x, y) = (0, 0) uber (0, 1) nach (1, 1) bewegt.

(c) Geben Sie (ohne Rechnung) die Arbeit an, die das Feld leistet, wenn das Teilchen sich geradlinigvon (0, 0) uber (1, 0) nach (1, 1) bewegt. Welche Bedingung mussen a und b erfullen, damit dieArbeit in beiden Fallen gleich ist?

2. Ein Pendel der Masse m hangt an einer masselosen Stange der Lange l und ist so gelagert, dass essich reibungsfrei um 360 Grad bzw 2π in der x− y-Ebene drehen kann. Die Gravitationskraft wirktin −y-Richtung. Die Auslenkung aus der stabilen Ruhelage wird durch den Winkel ϕ beschrieben.

(a) Drucken Sie den Drehimpuls ~L des Pendels um den Aufhangepunkt durch m, l und ϕ aus.

(b) Das Pendel wird anfangs in die instabile Gleichgewichtslage ϕ = π gebracht und aus derRuhe losgelassen. Berechnen Sie mit dem Energieerhaltungssatz die Geschwindigkeit ~v undden Drehimpuls ~L beim Durchgang durch den Punkt ϕ = 0.

(c) Nun wird das Pendel bei einer beliebigen Anfangsauslenkung ϕ0 losgelassen (mit Anfangsim-puls 0). Drucken Sie unter Verwendung der Energieerhaltung die Schwingungsperiode T alsIntegral aus. Dieses Integral lasst sich naherungsweise berechnen, indem man kleine ϕ0 be-trachtet und den Integranden bis zur vierten Ordnung in ϕ0 bzw ϕ entwickelt. Was ergibt sichdaraus fur die Schwingungsperiode T?

(d) Zeichnen Sie in der ϕ − Lz-Ebene alle qualitativ verschiedenen Trajektorien, die das Pendelnehmen kann. Man nennt ein solches Bild ein Phasenraumportrait.

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Kapitel 2

Zwangsbedingungen und dasd’Alembert-Prinzip

2.1 Zwangsbedingungen

Oft treten in der Mechanik Zwangsbedingungen auf, die den Newtonschen Bewegungsgleichungen

mi~ri = ~Fi, i = 1, . . . , N

geometrische Einschrankungen auferlegen. Dadurch wird die Zahl der Freiheitsgrade verringert, und siebetragt nicht mehr 3N .

Es erweist sich als zweckmaßig, die Koordinaten so zu wahlen, dass sie moglichst gut zu den Zwangs-bedingungen passen. Kartesische Koordinaten sind langst nicht immer die beste Wahl. Wir fuhren so-genannte verallgemeinerte (“generalisierte”) Koordinaten ein. Dies durfen beliebige Großen sein, die dieKonfigurationen eines mechanischen Systems kennzeichnen konnen. Sie mussen nicht die Dimension einerLange haben. Wir kennen von den Zylinder- und Polarkoordinaten schon die Winkel als verallgemei-nerte Koordinaten. Allgemein notieren wir verallgemeinerte Koordinaten mit qj , j = 1, . . . , 3N . Diekartesischen Koordinaten lassen sich als Funktionen der qj und der Zeit schreiben:

xi = xi(q1, . . . , q3N ; t), yi = yi(q1, . . . , q3N ; t), zi = zi(q1, . . . , q3N ; t) .

2.1.1 Klassifizierung von Zwangsbedingungen

Holonome Zwangsbedingungen

Holonome Zwangsbedingungen haben fur ein System, das durch 3N verallgemeinerte Koordinaten fest-gelegt ist, die Form

fi(q1, . . . , q3N ; t) = 0 , i = 1, . . . , k mit k ≤ 3N . (2.1)

In differenzieller Form wird dies zu

dfi =∑j

aijdqj + bidt = 0 , j = 1, . . . , 3N (2.2)

mit

aij ≡∂fi∂qj

, bi ≡∂fi∂t

.

Wenn Zwangsbedingungen nur in differenzieller Form gegeben sind, kann man erkennen, dass sie holonomsind, indem man die Integrabilitatsbedingungen uberpruft. Es muss namlich gelten

∂2fi∂ql∂qj

≡ ∂aij∂ql

=∂ail∂qj≡ ∂2fi∂qj∂ql

und∂aij∂t

=∂bi∂qj

. (2.3)

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Wenn es k holonome Zwangsbedingungen gibt, wird die Zahl der Freiheitsgrade auf 3N − k erniedrigt.Wir betrachten drei Beispiele:

1. Starrer Korper: In einem starren Korper konnen sich die Abstande zwischen den Punkten nichtandern. Seine Lage wird durch drei korperfeste Punkte, die nicht auf einer Geraden liegen, eindeutigbestimmt. Diese drei Punkte haben feste Abstande |~ri − ~rj | (mit i, j = 1, 2, 3) voneinander, sodass sie zusammen nicht 9 sondern nur 6 Freiheitsgrade haben. Dies ist somit auch die Zahl derFreiheitsgrade des starren Korpers.

2. Zylinder mit Radius r, der auf einer Ebene rollt: Da der Zylinder die Richtung seiner Achse nichtandern kann, betrachten wir einen zweidimensionalen Querschnitt, also eine Kreisscheibe, die aufeiner Geraden rollt, die mit der x-Achse den Winkel α bildet. In einer zweidimensionalen Welt hatein starrer Korper nur noch 3 Freiheitsgrade, fur unsere Kreisschreibe sind dies z.B. die Koordinatendes Auflagepunkts (xA, yA) und der Rollwinkel ϕ. Die Zwangsbedingungen sind

xA − rϕ cosα = 0 und yA − rϕ sinα = 0 . (2.4)

Es bleibt also ein Freiheitsgrad ubrig.

3. Rutschende Perle auf rotierendem parabelformigem Draht: Ein parabelformiger Draht rotiere mitder Winkelgeschwindigkeit ω um die z-Achse. In Zylinderkoordinaten r, ϕ, z gelten fur die Perle diefolgenden Zwangsbedingungen:

ϕ = ωt( oder ωt− π) und z − ar2 = 0 . (2.5)

Hierbei ist a die (positive) Krummung der Parabel am Ursprung. Es bleibt also ein Freiheitsgradubrig.

2.1.2 Nicht-holonome Zwangsbedingungen

Nicht-holonome Zwangsbedingungen sind geometrische Einschrankungen, die sich nicht durch Gleichun-gen zwischen den generalisierten Koordinaten und der Zeit darstellen lassen. Sie konnen die Form vonUngleichungen haben, oder sie konnen eine differenzielle Form haben, die nicht die Integrabilitatsbedin-gungen (2.3) erfullt. Beispiele sind

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1. Teilchen im wurfelformigen Kasten: hier gelten die Einschrankungen 0 ≤ x ≤ L , 0 ≤ y ≤ L , 0 ≤z ≤ L .

2. Rollende Kreisschreibe: Eine Kreisschreibe ist ein starrer Korper und hat ohne Berucksichtigungder Zwangsbedingungen 6 Freiheitsgrade. Wenn man die Bedingung auferlegt, dass ein Punkt desUmfangs die Auflageebene beruhren soll, bleiben 5 Freiheitsgrade. Wir wahlen als verallgemeinerteKoordinaten die Koordinaten des Auflagepunktes (xA, yA), die “Rollrichtung” ϕ (Winkel zwischender x-Achse und der Schnittlinie von Scheibenebene und Boden), den Neigungswinkel ϑ der Scheibeund den Rollwinkel ψ. Die Rollbedingung (vgl. (2.4)) sorgt dafur, dass die Scheibe sich zu jedemZeitpunkt in Richtung der momentanen Scheibenebene bewegt:

dxA = −r dψ cosϕ und dyA = −r dψ sinϕ . (2.6)

Da die Scheibenebene ihre Orientierung andern kann, ist dies aber keine holonome Zwangsbedin-gung. Die Scheibe kann sich zwar immer nur in der Richtung bewegen, in der ihre Ebene zeigt, abersie kann im Laufe der Zeit trotzdem jede durch die 5 Freiheitsgrade beschriebene Konfigurationeinnehmen. Das ist wie bei einem Fahrrad: Man kann zwar immer nur in Richtung des Vorderradesfahren, aber indem man das Vorderrad geeignet dreht, kann man letztlich uberall hinkommen, mitjeder gewunschten Fahrradorientierung und -neigung (naja....) und jedem gewunschten Drehwinkelder Rader. (Die Analogie zwischen Fahrrad und Kreisscheibe ist offensichtlicher, wenn man einEinrad statt eines normalen Fahrrads betrachtet....).

Division durch dt fuhrt die Zwangsbedingungen (2.6) uber in

xA + rψ cosϕ = 0 , yA + rψ sinϕ = 0 . (2.7)

Da es fur ϕ keine Zwangsbedingung gibt (im Gegensatz zu obigem Beispiel mit dem rollendenZylinder), lasst sich die Bedingung (2.6) bzw. (2.7) nicht integrieren.

Nichtholonome Zwangsbedingungen, die eine differenzielle Form haben, haben allgemein die Gestalt∑j

aijdqj + bidt = 0 , (2.8)

bzw. ∑j

aij qj + bi = 0 . (2.9)

Die aij und bi erfullen nicht die Bedingung (2.3). Sie haben die allgemeine Form

aij = aij(q1, . . . , q3N ; t) bi = bi(q1, . . . , q3N ; t) . (2.10)

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Sie hangen von den verallgemeinerten Koordinaten und der Zeit ab, aber nicht von den Geschwindigkeiten.Zwangsbedingungen, die die Zeit explizit enthalten, heißen “rheonom” (d.h. “fließend”), zeitunabhangi-

ge Zwangsbedingungen heißen skleronom (“starr”). Von den bisher genannten Beispielen ist nur dasBeispiel mit der Perle auf dem rotierenden Draht (2.5) rheonom.

2.1.3 Zwangskrafte

Aufgrund von Zwangsbedingungen gibt es neben den “inneren” (zwischen den Teilen des Systems wirken-den) und “außeren” (von außen angreifenden) Kraften noch die sogenannten “Zwangskrafte”, die durchdiejenigen Vorrichtungen ausgeubt werden, die fur die Zwangsbedingungen verantwortlich sind. Wennz.B. ein Buch auf einem Tisch liegt, ubt die Tischflache auf das Buch eine Zwangskraft aus, die derGravitationskraft entgegengerichtet und ebenso groß wie diese ist, so dass das Buch auf dem Tisch ruht.Wenn es Zwangsbedingungen gibt, mussen diese Zwangskrafte in den Newtonschen Bewegungsgleichungenberucksichtigt werden:

mi~ri = ~Fi + ~Zi , (2.11)

wobei ~Fi die Summe aus den außeren und inneren Kraften darstellt und ~Zi die Zwangskraft auf dasi-te Teilchen. Allgemeine Regeln zur Bestimmung der Zwangskrafte werden wir spater formulieren. Furden Fall, dass wir es mit zeitunabhangigen Zwangsbedingungen zu tun haben (wie Berandungen, Verbin-dungsstangen, etc.), gilt die Regel, dass die Zwangskrafte insgesamt keine Arbeit verrichten durfen. Wennsie es taten, ware der Energieerhaltungssatz verletzt und man konnte ein Perpetuum mobile bauen. Daden Berandungen und Stangen etc. keine Energie zugefuhrt wird, konnen sie auch keine abgeben.

Um diese Bewegungsgleichungen zu losen, muss man die Zwangskrafte entweder berechnen oder eli-minieren. Dies kann man durch ein systematisches Vorgehen wie im Folgenden gezeigt durchfuhren. MitHilfe der k Zwangsbedingungen kann man die generalisierten Koordinaten auf 3N−k unabhangige Koor-dinaten reduzieren und die k Zwangskrafte eliminieren. Allerdings werden die Rechnungen recht schnellaufwendig, und wir werden im weiteren Verlauf der Vorlesung elegantere Methoden zum Losen von me-chanischen Aufgaben mit Zwangbedingungen kennenlernen.

Beispiel 1: Teilchen im Kreiskegel Eine Punktmasse m gleitet reibungsfrei auf der Innenseite einesKreiskegels. Die Gravitationskraft wirkt in negative z-Richtung.

x

y

z

ϕr

g

(Bild stammt von http://www.semibyte.de/dokuwiki/nat/graphiken/physik/teilchen auf kreiskegel)Die Bewegungsgleichungen (2.11) sind

mx = Zx ; my = Zy ; mz = Zz −mg .

Wir wahlen Zylinderkoordinaten (r, z, ϕ) als generalisierte Koordinaten. Die Zwangsbedingung ist

r − z tanα = 0 ,

wobei α den Winkel der Zylinderwand mit der z-Achse darstellt (nicht im Bild eingezeichnet). Wir wahlenr und ϕ als unabhangige Koordinaten. Dann gilt

(x, y, z) = r(cosϕ, sinϕ, cotα) .

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Also ist

x = r cosϕ− 2rϕ sinϕ− rϕ sinϕ− rϕ2 cosϕ

y = r sinϕ+ 2rϕ cosϕ+ rϕ cosϕ− rϕ2 sinϕ

z = r cotα .

Eingesetzt in die Bewegungsgleichungen gibt das

Zx = m(r cosϕ− 2rϕ sinϕ− rϕ sinϕ− rϕ2 cosϕ) (2.12)

Zy = m(r sinϕ+ 2rϕ cosϕ+ rϕ cosϕ− rϕ2 sinϕ) (2.13)

Zz = m(r cotα+ g) . (2.14)

Diese drei Gleichungen enthalten funf Unbekannte: r(t), ϕ(t), Zx, Zy, Zz. Wir mussen also zum Losen derGleichungen noch weitere Informationen verwenden. Diese stecken in der Bedingung, dass die Zwangs-krafte senkrecht auf den Wanden stehen (weil sie keine Arbeit verrichten). Also gilt

Zy cosϕ = Zx sinϕ und Zz =√Z2x + Z2

y tanα

bzw. Zz cosϕ = −Zx tanα. Wir subtrahieren die mit sinϕ multiplizierte Gleichung (2.12) von der mitcosϕ multiplizierten Gleichung (2.13) und erhalten

2rϕ+ rϕ = 0 . (2.15)

Addition der mit tanα multiplizierten Gleichung (2.12) und der mit cosϕ multiplizierten Gleichung (2.14)ergibt

(tanα+ cotα)r − rϕ2 tanα+ g = 0 . (2.16)

Wir haben also zwei gekoppelte Differenzialgleichungen fur die beiden unabhangigen Variablen r und ϕ.(Bemerkung: Dieses Problem ist nur dann wohl definiert, wenn man davon ausgeht, dass die Ge-

schwindigkeit des Teilchens eine von Null verschiedene Komponente in ϕ-Richtung hat. Sonst wurde dasTeilchen in der Kegelspitze landen, wo die Zwangsbedingung nicht mehr differenzierbar ist. Wir gehenalso hier und bei allen spater im Skript vorkommenden Rechnungen zu diesem Problem davon aus, dasses eine Geschwindigkeitskomponente in ϕ-Richtung gibt.)

Beispiel 2: Rollpendel ohne Reibung:

Der Aufhangepunkt eines Pendels sei in der x-Achse angebracht und mit einer Masse m1 versehen,die langs der x-Achse reibungsfrei gleiten kann. Die Pendelmasse m2 hangt an einem masselosen Fadender Lange l. Die 4 Koordinaten x1, y1, x2, y2, die die Position der Massen m1 und m2 beschreiben, unter-liegen zwei Zwangsbedingungen, so dass nur zwei unabhangige Koordinaten ubrigbleiben. Wir wahlen alsunabhangige generalisierte Koordinaten den Auslenkwinkel ϕ und die Position x1 der Masse m1. Nach(2.11) lauten die Bewegungsgleichungen

m1x1 = Z1x , m1y1 = −m1g + Z1y

m2x2 = Z2x , m2y2 = −m2g + Z2y .

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Die Zwangsbedingungen sind y1 = 0 und (x2 − x1)2 + (y2 − y1)2 = l2. Wir eliminieren nun x2 und y2

viax2 = x1 + l sinϕ , y2 = −l cosϕ

und

x2 = x1 +d

dt(lϕ cosϕ) = x1 + lϕ cosϕ− lϕ2 sinϕ

und

y2 =d

dt(lϕ sinϕ) = lϕ sinϕ+ lϕ2 cosϕ .

Die Bewegungsgleichungen fur die unabhangigen Koordinaten x1 und ϕ sind dann

m1g = Z1y

m1x1 = Z1x

m2(x1 + lϕ cosϕ− lϕ2 sinϕ) = Z2x

m2(lϕ sinϕ+ lϕ2 cosϕ+ g) = Z2y . (2.17)

Die erste Gleichung ist keine Bewegungsgleichung und wird zur Bestimmung der Bahn nicht benotigt.Wir haben also 3 Gleichungen fur die 5 Großen x1, ϕ, Z1x, Z2x, Z2y. Allerdings sind die drei Zwangs-kraftkomponenten nicht unabhangig voneinander. Es ist namlich

Z1x = −Z2x

undZ2x cosϕ = −Z2y sinϕ .

Mit (2.17) folgtm1x1 = −m2(x1 + lϕ cosϕ− lϕ2 sinϕ)

und daraus(m1 +m2)x1 = m2l(ϕ

2 sinϕ− ϕ cosϕ) . (2.18)

Analog erhalten wir auch

m2(x1 + lϕ cosϕ− lϕ2 sinϕ) cosϕ = −m2(lϕ sinϕ+ lϕ2 cosϕ+ g) sinϕ

und darausx1 cosϕ+ lϕ+ g sinϕ = 0 . (2.19)

Also haben wir zwei gekoppelte Differenzialgleichungen fur die beiden Variablen x1 und ϕ.

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2.2 Das d’Alembert-Prinzip

Um die Schwierigkeiten zu beseitigen, dass Zwangskrafte i.A. unbekannt sind, soll hier die Mechanikso formuliert werden, dass in ihr Zwangskrafte nicht auftreten. Diese neue Formulierung beruht auf derschon gemachten Feststellung, dass Zwangsflachen, Achsen, Stangen usw. nicht den Energieerhaltungssatzverletzen. Dies bedeutet, dass Zwangsbedingungen keine Arbeit leisten, es sei denn, sie werden durchAntriebe bewegt. Dann liegen aber rheonome Zwangsbedingungen vor. Durch einen Trick konnen wirerreichen, dass wir die von ihnen verrichtete Arbeit nicht berucksichtigen mussen: Wir betrachten namlichsogenannte “virtuelle Verruckungen”, das sind mit den Zwangsbedingungen vertragliche Verschiebungenbei festgehaltener Zeit:

Definition: Eine virtuelle Verruckung δ~ri des i-ten Teilchens ist eine Verschiebung mit den Eigenschaf-ten

• δ~ri ist infinitesimal

• δ~ri ist mit den Zwangsbedingungen vertraglich

• δ~ri erfolgt instantan, d.h. dt = 0 (daher “virtuell”)

Ein einfaches Beispiel ist eine Perle auf einem bewegten Draht:

Der Draht sei parallel zu x-Achse und bewege sich mit Geschwindigkeit v in y-Richtung. Fur re-elle Verschiebungen d~r der Perle ist dt 6= 0, und bei einer reellen Verschiebung hat d~r eine von Nullverschiedene y-Komponente. Eine virtuelle Verschiebung δr dagegen ist parallel zur x-Achse.

Mit den Bewegungsgleichungen (2.11)

mi~ri − ~Fi = ~Zi

folgtN∑i=1

(mi~ri − ~Fi) · δ~ri =

N∑i=1

~Zi · δ~ri (2.20)

Wir postulieren nun: Zwangskrafte verrichten in ihrer Gesamtheit keine virtuelle Zwangsarbeit, d.h.

N∑i=1

~Zi · δ~ri = 0 . (2.21)

Das bedeutet, dass zeitunabhangige Zwangsbedingungen und festgehaltene zeitabhangige Zwangsbedin-gungen keine Arbeit verrichten. Zwangsbedingungen konnen nur dann Arbeit verrichten, wenn diese aktivin das System hineingesteckt wird, indem Stangen, Berandungen etc. verschoben werden.

Das d’Alembert-Prinzip (2.21) fuhrt mit (2.20) auf die d’Alembert-Gleichung

N∑i=1

(mi~ri − ~Fi) · δ~ri = 0 . (2.22)

Sie enthalt keine Zwangskrafte und ist zur Losung von Problemen mit Zwangsbedingungen geeignet.

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Beachte: Die Summanden in (2.22) durfen nicht einzeln gleich Null gesetzt werden!Fur k holonome Zwangsbedingungen mit unabhangigen Koordinaten qj , j = 1, . . . , 3N − k und der

Transformation~ri = ~ri(q1, . . . , q3N−k; t) , , i = 1, . . . N

gilt

δ~ri =3N−k∑j=1

∂~ri∂qj

δqj . (2.23)

In (2.23) tritt ∂~ri/∂t nicht auf, da δ~ri instantan ist. Einsetzen von (2.23) in (2.22) ergibt

3N−k∑j=1

[N∑i=1

(mi~ri − ~Fi) ·∂~ri∂qj

]δqj = 0 .

Die ersten 3N − k Werte von δqj konnen unabhangig gewahlt werden. (Die ubrigen k Werte liegen danneindeutig fest, weil die Zwangsbedingungen erfullt sein mussen.) Insbesondere kann man auch alle bis aufeinen der ersten 3N − k Werte von δqj zu Null setzen. Damit ergeben sich die d’Alembert-Gleichungenfur holonome Zwangsbedigungen:

N∑i=1

(mi~ri − ~Fi) ·∂~ri∂qj

= 0 , j = 1, . . . 3N − k . (2.24)

Anhand des Rollpendels konnen wir sowohl sehen, dass die Summanden in (2.21) der virtuellen Zwangs-arbeit ungleich null sind, als auch dass sich die Bewegungsgleichungen der unabhangigen Freiheitsgrademit den d’Alembert-Gleichungen sehr schnell herleiten lassen.

Die virtuellen Verruckungen sind δ~r1 und δ~r2 = δ~r1 + δ~rrot2 . Die Zwangskrafte sind ~Z1 = ~ZSchiene1 +~ZFaden1 und ~Z2 = −~ZFaden1 . Damit ergibt sich

~Z1 · δ~r1 = (~ZSchiene1 + ~ZFaden1 ) · δ~r1 = ~ZFaden1 · δ~r1

Und~Z2 · δ~r2 = −~ZFaden1 · (δ~r1 + δ~rrot2 ) = −~ZFaden1 · δ~r1 .

Die Summe dieser beiden Terme ist Null, wie es sein muss, aber die einzelnen Terme sind von Nullverschieden (außer wenn ϕ = 0 ist).

Die d’Alembert-Gleichungen fur das Rollpendel sind

(m1~r1 − ~F1) · δ~r1 + (m2~r2 − ~F2) · δ~r2 = 0

mit den außeren Kraften~F1

m1=

~F2

m2= −g~ey .

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Damit ergibt sichm1x1δx1 +m2 [x2δx2 + (y2 + g)δy2] = 0 .

Transformation auf die unabhangigen Koordinaten x1 und ϕ fuhrt zu den Ersetzungen

x2 = x1 + l sinϕ , y2 = −l cosϕ

und damit aufδx2 = δx1 + lδϕ cosϕ , δy2 = lδϕ sinϕ .

Einsetzen ergibt wegen der Unabhangigkeit von δx1 und δϕ

m1x1 +m2x2 = 0

undm2 [x2l cosϕ+ (y2 + g)l sinϕ] = 0 .

Wenn wir jetzt noch x2 und y2 durch die unabhangigen Variablen ausdrucken, erhalten wir die Bewe-gungsgleichungen

m1x1 +m2(x1 + lϕ cosϕ− lϕ2 sinϕ) = 0

undx1 cosϕ+ lϕ+ g sinϕ = 0 .

Dies sind die Gleichungen, die wir schon direkt aus den Newtonschen Gleichungen hergeleitet haben (siehe(2.18) und (2.19)), aber das war viel umstandlicher.

Auch das Beispiel mit dem Teilchen im Kreiskegel rechnen wir nun mit dem d’Alembert-Prinzip:Es ist

(m~r −m~g) · δ~r = m[xδx+ yδy + (z + g)δz] = 0 .

Wegen der Zwangsbedingung r − tanα = 0 sind nur zwei der drei Variablen unabhangig. In Zylinderko-ordinaten

(x, y, z) = r(cosϕ, sinϕ, cotα)

sind die virtuellen Verschiebungen

δx = δr cosϕ− r sinϕδϕ , δy = δr sinϕ+ r cosϕδϕ δz = δr cotα .

Damit lautet die d’Alembert-Gleichung

[2rϕ+ rϕ]rδϕ+ [(tanα+ cotα)r − rϕ2 tanα+ g] cotαδr = 0 . (2.25)

Wegen der Unabhangigkeit von δϕ und δr mussen beide eckige Klammern verschwinden, und wir erhaltendie schon bekannten Bewegungsgleichungen (2.15) und (2.16).

Wir erhalten also folgende Gebrauchsanweisung fur Probleme mit holonomen Zwangsbedingungen:

• Bestimmen der holonomen Zwangsbedingungen

• Aufstellen der d’Alembert-Gleichungen

• Einsetzen der unabhangigen virtuellen Verruckungen

Fur Systeme, die sich im Gleichgewicht befinden, verschwindet die Gesamtkraft ~Fi + ~Zi fur jedesTeilchen, also gilt

∑Ni=1(~Fi + ~Zi) · δ~ri = 0. Mit dem d’Alembert-Prinzip (2.21) folgt

N∑i=1

~Fi · δ~ri = 0 , (2.26)

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d.h. im Gleichgewicht verschwindet die virtuelle Arbeit aller eingepragten Krafte.Diese Bedingung kann benutzt werden, um Gleichgewichtsprobleme zu losen. Als Beispiel betrachten

wir eine Leiter an der Wand: (das Bild habe ich vonhttp://www.matheplanet.com/matheplanet/nuke/html/uploads/8/23028 leiter2.gif geklaut.)

Eine Leiter der Lange L und Masse M steht an der Wand und wird von einer Frau der Masse m biszur Lange l bestiegen. Die Leiter hat an beiden Enden Rollen, so dass keine Reibung gegen Wand undBoden auftritt. An ihrem unteren Ende ist ein Seil befestigt, um das Wegrutschen zu verhindern. Wiegroß ist die Kraft F , mit der das Seil die Leiter halt?

Es existieren 4 Zwangsbedingungen:

xB = (L− l) cosµ , yB = l sinµ , xS =L

2cosµ , yS =

L

2sinµ .

Von den 5 Variablen xS , yS , xB , yB , µ ist also nur eine unabhangig. Wir wahlen µ, das uber dieBeziehung xA = L cosµ mit dem Auflagepunkt xA zusammenhangt.

Es gibt drei Krafte, namlich die Gravitationskraft der Frau, die am Punkt B angreift, die Gravitations-kraft der Leiter, die am Schwerpunkt S angreift, und die Kraft, die die Leiter halt und am AuflagepunktA angreift. Die Bedingung (2.26) lautet also

M~g · δ~rS +m~g · δ~rB + ~F · δ~rA = 0 bzw. −MgδyS −mgδyB − FδxA = 0 .

Ausgedruckt durch die unabhangige Variable µ sind die virtuellen Verruckungen

δxA = −L sinµδµ , δyB = l cosµδµ , δyS =L

2cosµδµ ,

so dass wir [−Mg

L

2cosµ−mgl cosµ+ FL sinµ

]δµ = 0

erhalten. Also ist

F = g cotµ

[M

2+m

l

L

].

Aufgaben

1. Nennen Sie mehrere Beispiele fur holonome und nicht holonome Zwangsbedingungen.

2. Leiten Sie das Hebelgesetz F1r1 = F2r2 aus der Gleichgewichtsbedingung (2.26) her.

(Bild ist von http://wapedia.mobi/de/Hebelgesetz?t=2.)

3. (Diese Aufgabe entspricht Aufgaben 3-5 und 4-1 im Kuypers.) Betrachten Sie die Perle auf dem ge-bogenen rotierenden Draht (Abschnitt 2.1.1. aus dem Skript). Stellen Sie die Bewegungsgleichungenauf zwei Wegen auf:

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(a) Gehen Sie wie in Abschnitt 2.1.3. vor und formulieren Sie zunachst die Newtonschen Gleichun-gen samt Zwangskraften. Eliminieren Sie dann die Zwangskrafte und gehen Sie zu unabhangi-gen Koordinaten uber.

(b) Gehen Sie wie in 2.2. vor. Starten Sie also mit den d’Alembert-Gleichungen.

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Kapitel 3

Lagrange-Gleichungen zweiter Art

3.1 Herleitung

Der folgende Lagrange-Formalismus zweiter Art ist zu d’Alembert mit holonomen Zwangsbedingungenaquivalent, jedoch bei der Aufstellung von Bewegungsgleichungen in der Praxis uberlegen.

Wir gehen aus von der d’Alembert-Gleichung (2.22),

N∑i=1

(mi~ri − ~Fi) · δ~ri = 0, ~ri = ~ri(q1, . . . , qn; t), i = 1, . . . , N

wobei die verallgemeinerten Koordinaten qj , j = 1, . . . , n voneinander abhangen durfen. Mit der Ersetzung

δ~ri =∑j

∂~ri∂qj

δqj

erhalten wirN∑i=1

~Fi · δ~ri =∑j

[N∑i=1

~Fi ·∂~ri∂qj

]δqj ≡

∑j

Qjδqj . (3.1)

Wir definieren also die verallgemeinerte Kraft

Qj =

N∑i=1

~Fi ·∂~ri∂qj

. (3.2)

Wir machen weiterhin in der d’Alembert-Gleichung die folgende Umformung:

N∑i=1

mi~ri · δ~ri =

n∑j=1

[N∑i=1

mi~ri ·∂~ri∂qj

]δqj

=

n∑j=1

N∑i=1

[d

dt

(mi~ri ·

∂~ri∂qj

)−mi~ri ·

d

dt

∂~ri∂qj

]δqj

=

n∑j=1

N∑i=1

[d

dt

(mi~ri ·

∂~ri∂qj

)−mi~ri ·

∂~ri∂qj

]δqj ,

wobei fur die letzte Umformung

~ri =∑j

∂~ri∂qj

qj +∂~ri∂t⇒ ∂~ri

∂qj=∂~ri∂qj

(3.3)

25

Page 24: Grundlagen: Newtonsche Mechanik · Kapitel 1 Grundlagen: Newtonsche Mechanik 1.1 Einleitung Mit der Entwicklung der klassischen Mechanik begann die moderne Physik. Die klassische

undd

dt

∂~ri∂qj

=∑l

∂2~ri∂ql∂qj

ql +∂2~ri∂t∂qj

=∂

∂qj

d~ridt≡ ∂~ri∂qj

(3.4)

benutzt wurde.Mit der Notation ~vi = ~ri und vi = |~vi| ist demnach

N∑i=1

mi~ri · δ~ri =∑j

[d

dt

(∂

∂qj

N∑i=1

1

2miv

2i

)− ∂

∂qj

N∑i=1

1

2miv

2i

]δqj

=∑j

[d

dt

∂T

∂qj− ∂T

∂qj

]δqj (3.5)

mit der kinetischen Energie T = 12

∑imiv

2i . Mit (3.1) und (3.5) folgt

N∑i=1

(mi~ri − ~Fi) · δ~ri =∑j

(d

dt

∂T

∂qj− ∂T

∂qj−Qj

)δqj = 0 . (3.6)

Wenn wir k holonome Zwangsbedingungen haben, also n = 3N − k unabhangige qj und daher auch nunabhangige δqj , dann folgt

d

dt

∂T

∂qj− ∂T

∂qj−Qj = 0 j = 1, . . . , 3N − k . (3.7)

Gleichung (3.7) gilt fur beliebige verallgemeinerte Krafte Qj . Mit der weiteren Annahme, dass Krafte

konservativ sind (d.h. ~Fi = −~∇iV ), gilt

Qj =

N∑i=1

~Fi∂~ri∂qj

= −N∑i=1

~∇iV ·∂~ri∂qj

, j = 1, . . . , 3N − k .

Letztes ist wegen ~ri = ~ri(q1, . . . , q3N−k; t) die partielle Ableitung der Potenzialfunktion V (~r1, . . . , ~rN ):

∂V

∂qj=

N∑i=1

~∇iV ·∂~ri∂qj

,

also

Qj = −∂V∂qj

. (3.8)

Damit kann (3.7) geschrieben werden als

d

dt

∂T

∂qj− ∂(T − V )

∂qj= 0 .

Da das Potenzial V unabhangig von den generalisierten Geschwindigkeiten ist, d.h. ∂V/∂qj = 0,konnen wir auch schreiben

d

dt

∂(T − V )

∂qj− ∂(T − V )

∂qj= 0 .

Wir definieren nun die Lagrange-Funktion

L = T − V (3.9)

26

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und erhalten damit die Lagrange-Gleichungen zweiter Art

d

dt

∂L

∂qj− ∂L

∂qj= 0 , j = 1, . . . , 3N − k . (3.10)

Die Lagrange-Gleichungen zweiter Art gelten auch fur manche geschwindigkeitsabhangige, “generali-sierte” Potenziale

V = V (q1, . . . , q3N−k, q1, . . . , q3N−k; t) , (3.11)

und zwar dann, wenn die Krafte sich in der Form

Qj = −∂V∂qj

+d

dt

∂V

∂qj(3.12)

schreiben lassen. Ein wichtiges Beispiel hierfur ist die elektromagnetische Kraft auf eine bewegte Ladunge, die Lorentzkraft, die sich aus dem generalisierten Potenzial

V = e(φ− ~v · ~A) (3.13)

ableiten lasst, wobei φ(~r, t) das skalare Potenzial und ~A(~r, t) das Vektorpotenzial des Elektrodynamik ist.(siehe Ubungen.)

3.2 Gebrauchsanweisung

Mit den Lagrange-Gleichungen zweiter Art lassen sich viele Mechanik-Aufgaben elegant losen. Die Ge-brauchsanweisung zur Aufstellung dieser Gleichungen ist folgende:

(i) Schreibe L = T − V als Funktion der 3N kartesischen Koordinaten oder als Funktion von 3Ngeeigneten generalisierten Koordinaten q1, . . . , q3N und der 3N Geschwindigkeiten q1, . . . , q3N .

(ii) Drucke die 3N Koordinaten durch 3N − k unabhangige generalisierte Koordinaten aus, bei k ho-lonomen Zwangsbedingungen. (Bemerkung: Mit etwas Ubung kann man oft die Lagrange-FunktionL direkt als Funktion der q1, . . . , q3N−k schreiben. Dann kann man Schritt 1 uberspringen.)

(iii) Bestimme L als Funktion der unabhangigen Koordinaten, Geschwindigkeiten und evtl. der Zeit.

(iv) Stelle die Lagrange-Gleichungen zweiter Art auf.

3.3 Beispiele

Als Beispiel nehmen wir wieder das Teilchen im Kreiskegel und das Rollpendel. Die vier Schritte derGebrauchsanweisung sind fur das Teilchen im Kreiskegel die folgenden:

x

y

z

ϕr

g

27

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(i)

T − V =m

2(r2 + z2 + r2ϕ2)−mgz

(ii)z = r cotα

(iii)

L =m

2

[(1 + cot2 α)r2 + r2ϕ2

]−mgr cotα

(iv)

d

dt

∂L

∂r− ∂L

∂r=

[(1 + cot2 α)r − rϕ2 + g cotα

]= 0 , (2.16)

d

dt

∂L

∂ϕ− ∂L

∂ϕ= mr(2rϕ+ rϕ) = 0 . (2.15)

Fur das Rollpendel sind die 4 Schritte:

(i)

T =m1

2x2

1 +m2

2(x2

2 + y22)

V = m2gy2 + const

L = T − V

(ii)x2 = x1 + l sinϕ , y2 = −l cosϕ

(iii)x2 = x1 + lϕ cosϕ , y2 = lϕ sinϕ

L =m1

2x2

1 +m2

2(x2

1 + l2ϕ2 + 2lx1ϕ cosϕ) +m2gl cosϕ = const

(iv)

d

dt

∂L

∂x1− ∂L

∂x1=

d

dt[m1x1 +m2(x1 + lϕ cosϕ)] = (m1 +m2)x1 +m2l(ϕ cosϕ− ϕ2 sinϕ) = 0

d

dt

∂L

∂ϕ− ∂L

∂ϕ= m2l(lϕ+ x1 cosϕ+ g sinϕ) = 0

28

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3.4 Lagrange-Formalismus mit Reibung

Reibungskrafte sind wegabhangig und konnen nicht aus einem Potenzial V abgeleitet werden. Zu ihrerBeschreibung gehen wir von (3.7) fur beliebige eingepragte generalisierte Krafte Qj aus (k holonomeZwangsbedingungen). Diejenigen Krafte, die sich aus einem Potenzial ableiten lassen, berucksichtigen wirwieder in der Funktion L, und die Nicht-Potenzial-Krafte bezeichnen wir mit Rj (diese mussen nichtnotwendig Reibungskrafte sein). Wir erhalten dann eine erweiterte Gleichung (3.10):

d

dt

∂L

∂qj− ∂L

∂qj−Rj = 0 , j = 1, . . . , 3N − k . (3.14)

Fur Reibungskrafte ~F(R)i , i = 1, . . . , N , ist nach (3.2)

Rj ≡N∑i=1

~F(R)i · ∂~ri

∂qj. (3.15)

3.4.1 Einschub: Reibungstypen

1. Haftreibung: Die Haftreibungskraft hat einen maximalen Wert, bei dessen Uberschreiten die Haf-tung endet und Gleiten beginnt.

F(R)Haft ≤ f0N

mit einer dimensionslose Haftreibungszahl f0 und der Normalkraft N , die z.B. die ZwangskraftN = |~Z| sein kann.

2. Gleitreibung: Der Betrag der Reibungskraft ist nahezu geschwindigkeitsunabhangig

~F (R) = −fN ~v

v

3. Reibung in Fluiden (also Gasen und Flussigkeiten):

~F (R) = −cwA%

2v2~v

v

mit der Querschnittsflache A des bewegten Objekts und der Dichte % des Fluids. Der Widerstands-beiwert cw ist fur große Geschwindigkeiten konstant, so dass die Reibungskraft proportional zuv2 ist, und diese Reibung tritt in Form von Wirbeln und Turbulenzen auf. Fur kleine v ist cwproportional zu 1/v, so dass die Reibungskraft proportional zu v wird.

3.4.2 Dissipationsfunktion

Oft lassen sich Reibungskrafte auf das i-te Teilchen schreiben als

~F(R)i = −hi(vi)

~vivi, vi ≡ |~vi| i = 1, . . . , N . (3.16)

Mit (3.15) folgt:

Rj = −N∑i=1

hi(vi)~vivi· ∂~ri∂qj

(3.3)= −

N∑i=1

hi(vi)~vivi· ∂~vi∂qj

= −N∑i=1

hi(vi)∂vi∂qj

. (3.17)

29

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Fur die letzte Gleichung wurde benutzt:

~vi ·∂~vi∂qj

=1

2

∂(~vi · ~vi)∂qj

=1

2

∂v2i

∂qj= vi

∂vi∂qj

.

Die sogenannte Dissipationsfunktion P erfullt die Beziehung

∂P

∂qj≡

N∑i=1

hi(vi)∂vi∂qj

j = 1, . . . , 3N − k , (3.18)

d.h. mit (3.17):

Rj = − ∂P∂qj

. (3.19)

Nach (3.14) lautet die “Lagrange-Gleichung mit Reibung” dann

d

dt

∂L

∂qj− ∂L

∂qj+∂P

∂qj= 0 . (3.20)

Die Dissipationsfunktion P kann gemaß (3.18) geschrieben werden als

P =

N∑i=1

∫ vi

0

hi(vi)dvi , (3.21)

d.h. mit (3.21) gilt

∂P

∂vi= hi(vi) ⇒

∂qjP =

N∑i=1

∂P

∂vi

∂vi∂qj

=

N∑i=1

hi(vi)∂vi∂qj

und daher (3.18).

Wir betrachten ein Beispiel:Eine Masse m gleite mit Gleitreibung auf der (x, y)-Ebene.

Es ist also ~F (R) = −fmg ~vv und damit h(v) = fmg. Also ist

P =

∫ v

0

h(v)dv = fmgv = fmg√x2 + y2

Es istL = T − V = T =

m

2(x2 + y2) .

Wir uberprufen noch die Gultigkeit von (3.20):

d

dt

∂L

∂x− ∂L

∂x+∂P

∂x= mx+ fmg

x√x2 + y2

= 0

d

dt

∂L

∂y− ∂L

∂y+∂P

∂y= my + fmg

y√x2 + y2

= 0

30

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Wir wahlen die x-Achse in ~v-Richtung, d.h. y = y = y = 0. Dann ist

mx+ fmg = 0 bzw. x = −fg .

Mit den Anfangsbedingungen x(0) = x0 und x(0) = v0 ergibt sich

x(t) = x0 + v0t−1

2fgt2 ,

wobei der maximale Wert von t, bei dem die Masse zur Ruhe kommt, durch die Bedingung x(t) =v0 − fgt = 0 festgelegt ist, also tmax = v0

fg .

Aufgaben

1. Betrachten Sie die Perle auf dem gebogenen rotierenden Draht (Abschnitt 2.1.1. aus dem Skript),die auch auf dem vorigen Ubungsblatt behandelt wurde. Stellen Sie die Bewegungsgleichungen auf,indem Sie die 4 Schritte der Gebrauchsanweisung fur den Lagrange-Formalismus durchgehen. Siehaben nun diese Aufgabe auf drei verschiedene Arten gelost. Welche fanden Sie am einfachsten?

2. Betrachten Sie ein Teilchen der Ladung e in einem homogenen ~E-Feld und ~B-Feld.

(a) Drucken Sie die Kraft auf das Teilchen durch ~E und ~B und die Geschwindigkeit ~v des Teilchensaus.

(b) Geben Sie die zugehorigen Potenziale φ und ~A der Elektrodynamik an, aus denen sich ~E und~B ermitteln lassen. (Zur Erinnerung: Es ist ~E = −~∇φ− ∂ ~A/dt und ~B = ~∇× ~A.

(c) Zeigen Sie, dass die drei Komponenten der Kraft auf das Teilchen sich schreiben lassen als

Qj = −∂V/∂qj + (d/dt)(∂V/∂qj) mit V = e(φ−~v · ~A). (Es reicht, wenn Sie das in kartesischenKoordinaten zeigen.)

3. (= Aufgabe 2 Blatt 6 Berges-Uebungen) Eine Kugel mit Radius r und Masse m ist an einer Federmit Federkonstante k befestigt und bewegt sich nur in z-Richtung. Die Kugel befinde sich in einerFlussigkeit mit Viskositat η. Auf die Kugel wirkt die Stokessche Reibungskraft

F (R) = −6πηrz ,

wobei z die Geschwindigkeit der Kugel ist (der Auftrieb kann vernachlassigt werden). Auf die Kugelwirkt die Gewichtskraft in negativer z-Richtung.

(a) Bestimmen Sie die Bewegungsgleichung der Kugel mit Hilfe des Lagrange-Formalismus mitReibung.

(b) Zum Zeitpunkt t = 0 befinde sich die Kugel im Abstand b von der Gleichgewichtslage in Ruhe.Losen Sie die Bewegungsgleichung unter der Annahme

k >(3πηr)2

m.

31

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Kapitel 4

Symmetrien und Erhaltungssatze;Noether-Theorem

4.1 Forminvarianz der Lagrange-Gleichungen

Die Lagrange-Gleichungen haben den großen Vorteil, dass sie fur holonome Zwangsbedingungen wie ge-schaffen sind, und dass ihre Form immer dieselbe ist, egal welche Koordinaten und Bezugssysteme manverwendet. Dies ist bei den Newtonschen Gleichungen nicht so. Fur die Bewegung in einem Zentralpoten-zial lauten die Gleichungen in Polarkoordinaten namlich nicht mr = −∂V/∂r und mr2ϕ = −∂V/∂ϕ = 0,wie man bei Forminvarianz erwarten wurde, sondern

m(r − rϕ2) = −∂V/∂r und mr(rϕ+ 2rϕ) = 0 .

(Herleitung geht am schnellsten uber Lagrange, mit T = m(r2 + r2ϕ2)/2 und V = V (r).) Auch beimd’Alembert-Prinzip mussen Beschleunigungen und Verruckungen umstandlich auf die generalisierten Va-riablen umgerechnet werden.

Wir zeigen jetzt explizit, dass die Lagrange-Gleichungen unter Punkttransformationen invariant sind,also dass sie in allen Koordinaten- und Bezugssystemen die gleiche Form haben: Wir betrachten die“alten” Koordinaten qi, fur die die Lagrange-Gleichungen gelten sollen, und wir wechseln zu neuenKoordinaten Qj, die mit den alten Koordinaten uber die Beziehungen qi = qi(Q, t) zusammenhangen.Wir verwenden im folgenden ofter die vereinfachte Schreibweise q bzw. Q fur qi bzw. Qj. Es gilt

qi =3N−k∑j=1

∂qi∂Qj

Qj +∂qi∂t

.

Daraus folgt die fur das Folgende wichtige Beziehung

∂qi

∂Qj=

∂qi∂Qj

. (4.1)

Die Lagrange-Funktion in den neuen Koordinaten nennen wir L′(Q, Q, t), und sie hangt mit der “alten”Lagrange-Funktion zusammen uber

L′(Q, Q, t) = L[q(Q, t), q(Q, Q, t), t

]. (4.2)

Wir mussen jetzt noch zeigen, dass auch mit der neuen Lagrange-Funktion und den neuen Koordinatendie Lagrange-Gleichungen gelten. Dazu berechnen wir

∂L′

∂Qj=

3N−k∑i=1

[∂L

∂qi

∂qi∂Qj

+∂L

∂qi

∂qi∂Qj

]

32

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und

∂L′

∂Qj=

3N−k∑i=1

∂L

∂qi

∂qi

∂Qj

(4.1)=

3N−k∑i=1

∂L

∂qi

∂qi∂Qj

und folglich

d

dt

∂L′

∂Qj=

3N−k∑i=1

[(d

dt

∂L

∂qi

)∂qi∂Qj

+∂L

∂qi

∂qi∂Qj

],

woraus die Lagrange-Gleichungen in den neuen Koordinaten folgen:

d

dt

∂L′

∂Qj− ∂L′

∂Qj= 0 , j = 1, . . . , 3N − k . (4.3)

Die Forminvarianz der Lagrange-Gleichungen ist sehr nutzlich. Dadurch kann man leicht und schnelldie Bewegungsgleichungen in allen Koordinatensystemen und auch in beschleunigten Bezugssystemenaufstellen.

Auch zur Konstruktion von Erhaltungsgroßen ist der Lagrange-Formalismus wie geschaffen. Kontinu-ierliche Transformationen, die die Lagrange-Funktion invariant lassen, deuten auf Erhaltungsgroßen hin,wie wir im nachsten Teilkapitel sehen werden.

Daruber hinaus ist der Lagrange-Formalismus fur die klassische Feldtheorie von großer Bedeutung.

4.2 Zyklische Koordinaten und Erhaltungssatze

Die Losung der aufgestellten Bewegungsgleichungen erfordert fur jede Gleichung, die zweiter Ordnung inder Zeit ist, zwei Integrationen. Bei vielen Problemen kann man mehrere erste Integrale der Bewegungs-gleichungen sofort erhalten, d.h. Beziehungen der Form

f(q1, q2, . . . ; q1, q2, . . . ; t) = konst

fur alle Losungen qj(t) von (3.10). Dazu gehoren die in Kapitel 1 abgeleiteten Erhaltungssatze.Ist L = T − V von einer bestimmten Koordinate nicht explizit abhangig, so findet man mit den

Lagrange-Gleichungen zweiter Art sofort eine Erhaltungsgroße:

d

dt

∂L

∂qj− ∂L

∂qj=

d

dt

∂L

∂qj= 0 ⇒ ∂L

∂qj= konst . (4.4)

Eine Koordinate qj heißt zyklisch, wenn qj in L = T − V auftritt, nicht jedoch qj . Nach (4.4) ist alsoder sogenannte konjugierte Impuls (oder kanonische Impuls)

pj ≡∂L

∂qj(4.5)

eine Erhaltungsgroße, wenn qj eine zyklische Variable ist.Wir betrachten zwei Beispiele, eines mit und eines ohne zyklische Variablen:

• Wurf: Es ist

L = T − V =1

2m(x2 + y2 + z2)−mgz ,

d.h. x und y sind zyklisch. Die entsprechenden Erhaltungsgroßen sind

px =∂L

∂x= mx , py =

∂L

∂y= my .

33

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• Pendel:

Es ist

T =1

2m(x2 + y2) =

1

2ml2ϕ2

undV = mgy + konst = −mgl cosϕ+ konst

und damit

L =1

2ml2ϕ2 +mgl cosϕ+ konst .

Die einzige unabhangige Variable, ϕ, ist nicht zyklisch, und folglich ist der Drehimpuls pϕ =∂L/∂ϕ = ml2ϕ nicht erhalten.

Bemerkungen:

(i) Ist qj keine kartesische Koordinate, so hat pj nicht notwendig die Dimension eines Impulses. DasProdukt pjqj hat aber immer dieselbe Dimension, namlich die einer Wirkung, also kgm2 s−1.

(ii) Fur geschwindigkeitsabhangige Potenziale wird der konjugierte Impuls nicht mit dem ublichen me-chanischen Impuls identisch sein. Fur das Teilchen im elektromagnetischen Feld (3.13) gilt

L =1

2m~r2 − eφ(~r) + e ~A(~r) · ~r (4.6)

und damit

px =∂L

∂x= mx+ eAx . (4.7)

Der letzte Term ist ein Zusatzterm, der den mechanischen Impuls vom kanonischen Impuls verschie-den macht. Wenn φ und ~A unabhangig von ~r sind, so ist ~r zyklisch und (4.7) eine Erhaltungsgroße.

(iii) Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Erhaltungsgroßen und Symmetrien. Ist ein physi-kalisches System invariant unter einer Verschiebung qj → q′j = qj + α, so hangt L nicht explizitvon qj ab, und pj ist eine Erhaltungsgroße. So impliziert zum Beispiel eine Invarianz des Systemsunter Translationen ~r → ~r′ = ~r + α~a die Impulserhaltung. (Siehe den Abschnitt 4.5 zum Noether-Theorem.)

(iv) Zu L(q, q, t) kann die totale zeitliche Ableitung einer Funktion addiert werden, ohne die Lagrange-Gleichungen zu andern:

L′(q, q, t) = L(q, q, t) +d

dtf(q, t) . (4.8)

Wir zeigen dies, indem wir nachrechnen, dass

d

dt

∂qj

df

dt− ∂

∂qj

df

dt= 0

ist. Es ist namlichd

dtf(q, t) =

∑j

∂f

∂qjqj +

∂f

∂t

34

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und damit∂

∂qj

df

dt=

∂f

∂qjund

d

dt

∂qj

df

dt=∑l

∂2f

∂ql∂qjql +

∂2f

∂t∂qj

und∂

∂qj

df

dt=∑l

∂2f

∂qj∂qlql +

∂2f

∂t∂qj,

was derselbe Ausdruck wie in der Zeile daruber ist. Koordinatentransformationen, die L bis aufeine totale Zeitableitung einer Funktion invariant lassen, heißen Symmetrietransformationen.

4.3 Hamiltonfunktion

Hangt L nicht explizit von der Zeit ab, ∂L/∂t = 0, dann gilt

dL

dt=∑j

(∂L

∂qjqj +

∂L

∂qjqj

)=∑j

((d

dt

∂L

∂qj

)qj +

∂L

∂qjqj

)=∑j

d

dt

(∂L

∂qjqj

).

Also ist die sogenannte Hamiltonfunktion

H ≡∑j

∂L

∂qjqj − L (4.9)

eine Erhaltungsgroße, d.h. dH/dt = 0, wenn ∂L/∂t = 0 ist.

Als Beispiel betrachten wir eine gleitende Perle auf einem rotierenden, geraden Draht.

Die Zwangsbedigung ϕ − ωt = 0 mit ω = konst ist rheonom. Wegen V = 0 gilt L = T = E. DieLagrange-Funktion ist

L =m

2(x2 + y2) =

m

2

([d

dt(r cosϕ)

]2

+

[d

dt(r sinϕ)

]2)

=m

2(r2 + r2ω2) = E 6= konst ,

und die Hamiltonfunktion ist

H =∂L

∂rr − L =

m

2(r2 − r2ω2) = konst ,

da ∂L/∂t = 0 ist.Wir konnen dies auch explizit nachrechnen: Aus den Lagrange-Gleichungen zweiter Art erhalten wir

mit den Anfangsbedingungen r(0) = a und r(0) = 0 die Losung r(t) = a cosh(ωt) und r(t) = aω sinh(ωt).Also ist

E =m

2a2ω2(sinh2(ωt) + cosh2(ωt)) = E(t)

undH =

m

2a2ω2(sinh2(ωt)− cosh2(ωt)︸ ︷︷ ︸

=−1

) = konst .

35

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4.4 Energieerhaltung

Da Zwangskrafte in der Lagrangeschen Mechanik eliminiert sind, kann die reale Zwangsarbeit rheonomerZwangsbedingungen nicht berucksichtigt werden. Folglich lasst sich fur rheonome Zwangsbedingungenaus L nicht E = konst ableiten, wie das vorige Beispiel zeigt.

Es gilt der folgende Satz: Wenn L nicht explizit zeitabangig ist, ist H konstant und entspricht furskleronome, holonome Zwangsbedingungen und konservative Krafte der Gesamtenergie, d.h.,

H = E = T + V . (4.10)

Wir wir gesehen haben, sind aber im Allgemeinen die Bedingungen H = konst und H = E zweiverschiedene Sachverhalte.

Wir zeigen, dass fur konservative Krafte und zeitunabhangiges L die Hamiltonfunktion H = T + Vist, indem wir benutzen, dass ∂V/∂qj = 0 ist (woraus ∂L/∂qj = ∂T/∂qj folgt), und indem wir T durchdie unabhangigen Koordinaten qj ausdrucken:

T =N∑i=1

mi

2~r2i =

N∑i=1

mi

2

∑j

∂~ri∂qj

qj

2

=1

2

∑j

( N∑i=1

mi

∑l

∂~ri∂ql

ql∂~ri∂qj︸ ︷︷ ︸

∂T/∂qj

)qj =

1

2

∑j

∂T

∂qjqj . (4.11)

Damit ist

H =∑j

∂L

∂qjqj − L =

∑j

∂T

∂qjqj − L = 2T − L = T + V = E .

Nun haben wir genugend Werkzeuge erarbeitet, um mit Hilfe der Erhaltungsgroßen das Losen derBewegungsgleichungen zu vereinfachen. Wir nehmen wieder das Beispiel des Teilchens im Kreiskegel:

Die Lagrange-Funktion hatten wir schon hergeleitet:

L = T − V =m

2

[(1 + cot2 α)r2 + r2ϕ2

]−mgr cotα .

Sie hangt nicht explizit von ϕ ab, also ist ϕ eine zyklische Variable und

pϕ =∂L

∂ϕ= mr2ϕ = konst (4.12)

eine Erhaltungsgroße. Dies sieht man auch anhand der Bewegungsgleichung (2.15), die ja mr(2rϕ+rϕ) =ddtmr

2ϕ = 0 lautet.Es gibt noch eine zweite Erhaltungsgroße, namlich die Energie, deren Ausdruck sich von demjenigen

fur L nur durch das Vorzeichen des Potenzialterms unterscheidet:

E = T + V =m

2

[(1 + cot2 α)r2 + r2ϕ2

]+mgr cotα = konst . (4.13)

36

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Auch diese Gleichung konnen wir aus den Bewegungsgleichungen herleiten, doch das ist umstandlicher:Wir setzen (4.12) in (2.16) ein und multiplizieren mit rm cotα und erhalten

m

[(1 + cot2 α)rr −

p2ϕr

m2r3+ gr cotα

]=

d

dt

[m

2(1 + cot2 α)r2 +

p2ϕ

2mr2+ gmr cotα

]= 0 .

Die zwei Gleichungen (4.12) und (4.13) sind Differenzialgleichungen erster Ordnung fur die beidenunabhangigen Variablen r(t) und ϕ(t). Auflosen der Gleichung (4.13) nach dt und Integration ergibt

t = ± 1

sinα

∫dr

2m

√E − p2ϕ

2mr2 −mgr cotα

. (4.14)

Fur Bahnbereiche, in denen r(t) wachst (fallt), ist das positive (negative) Vorzeichen zu nehmen. DieseGleichung liefert r(t). Nach ihrer Berechnung kann ϕ(t) mit Hilfe der Gleichung (4.12) ermittelt werden:

ϕ(t) =pϕm

∫dt

r2(t). (4.15)

Wir haben also gesehen, dass aufgrund der beiden Erhaltungsgroßen nur noch zwei Integrationen zurBerechnung des Bahnverlaufs notig sind.

Wir werden insbesondere im Zusammenhang mit der Planetenbewegung den Vorteil dieser Methodean weiteren Beispielen schatzen lernen.

In dem betrachteten Beispiel gab es genauso viele Erhaltungsgroßen wie Freiheitsgrade, namlich zwei,und dies ermoglichte es uns, explizite Ausdrucke fur die Teilchenbahn zu ermitteln. Wir werden spatersehen, dass ganz allgemein ein mechanisches System dann integrabel (also im Prinzip losbar) ist, wenndie Zahl der unabhangigen Erhaltungsgroßen genauso groß ist wie die Zahl der Freiheitsgrade. Wenn dieZahl der Erhaltungsgroßen kleiner ist, ist das System nicht integrabel, sondern es fuhrt auf chaotischeBewegung. Chaotische Systeme haben die Eigenschaft, dass sich ihr Zeitverlauf aus den Anfangsbedin-gungen nur begrenzt vorhersagen lasst, da winzige Veranderungen der Anfangsbedingungen schon nachkurzer Zeit zu einem vollig anderen Verhalten fuhren konnen.

Leider gibt es fur das Auffinden von Erhaltungsgroßen kein Patentrezept. Nur wenn Symmetrien vor-liegen, konnen wir Erhaltungsgroßen auf einfach Weise finden, indem wir die generalisierten Koordinatenso wahlen, dass mit der Symmetrie eine zyklische Variable verbunden ist. Im folgenden Teilkapitel sehenwir, dass ganz allgemein Symmetrien mit Erhaltungsgroßen verbunden sind.

4.5 Das Noether-Theorem

Wir haben gesehen, dass Koordinaten, deren Verschiebung

qi → qi′ = qi + α

die Lagrange-Funktion nicht andert, zyklisch sind, und dass die entsprechenden Impulse Erhaltungsgroßensind.

Wir wollen dieses Ergebnis jetzt verallgemeinern und zeigen, dass ein genereller Zusammenhang be-steht zwischen dem Auftreten von Erhaltungsgroßen und Transformationen, die die Lagrange-Funktionnicht andern, also invariant lassen. Zu diesem Zweck untersuchen wir die Koordinatentransformationen

qi → qi′ = qi

′(q1, . . . , q3N−k, t, α) , i = 1, . . . , 3N − k , (4.16)

die invertierbar seien,qi = qi(q

′1, . . . , q

′3N−k, t, α) , i = 1, . . . , 3N − k , (4.17)

37

Page 36: Grundlagen: Newtonsche Mechanik · Kapitel 1 Grundlagen: Newtonsche Mechanik 1.1 Einleitung Mit der Entwicklung der klassischen Mechanik begann die moderne Physik. Die klassische

und in den kontinuierlichen Parametern α stetig differenzierbar sein mussen. Ferner soll fur α = 0 dieidentische Transformation vorliegen,

qi′(q1, . . . , q3N−k, t, α = 0) = qi , i = 1, . . . , 3N − k .

Wir schreiben verkurztqi′ = qi

′(q, t, α) und qi = qi(q′, t, α) .

Wichtige Beispiele fur solche Koordinatentransformationen sind Translationen

~r → ~r ′ = ~r + α~a

und Rotationen um die z-Achse xyz

→ x′

y′

z′

=

cosα − sinα 0sinα cosα 0

0 0 1

· x

yz

=

x cosα− y sinαx sinα+ y cosα

z

.

Die neue Lagrange-Funktion L′ erhalten wir, indem wir in der alten Lagrange-Funktion die Ersetzung(4.17) machen:

L′(q′, q′, t, α) = L

[q(q′, t, α),

d

dtq(q′, t, α), t

]. (4.18)

Wir berechnen im Folgenden, wie L′ sich mit α andert und betrachten dann den Fall, dass L nichtvon α abhangt. Dies wird uns einen Erhaltungssatz liefern.

Es ist

∂L′(q′, q′, t, α)

∂α=

3N−k∑i=1

[∂L

∂qi

∂qi(q′, t, α)

∂α+∂L

∂qi

∂(ddtqi(q

′, t, α))

∂α

]

=

3N−k∑i=1

[(d

dt

∂L

∂qi

)∂qi(q

′, t, α)

∂α+∂L

∂qi

(d

dt

∂qi(q′, t, α)

∂α

)]

=d

dt

[3N−k∑i=1

∂L

∂qi

∂qi(q′, t, α)

∂α

].

Diese Gleichung gilt fur alle α. Wenn wir α = 0 setzen, gehen die qi′ in die qi uber. Es ist

∂L′(q′, q′, t, α)

∂α

∣∣∣∣α=0

=d

dt

[3N−k∑i=1

∂L

∂qi

∂qi(q′, t, α)

∂α

]α=0

. (4.19)

Bemerkung: Die partielle Ableitung bzgl. α ist bei festgehaltenen ubrigen Argumenten der FunktionL′, also bei festen q′ und q′ und t zu nehmen. Den Unterschied zwischen einer partiellen und einertotalen Ableitung wird deutlich, wenn man Gleichung (4.18) nach α ableitet: Wahrend die Funktion L′

die Argumente q′, q′, t, α hat, hat die Funktion L die Argumente q, q, t. Weil q und q widerum von αabhangen, konnen wir also schreiben

∂L′(q′, q′, t, α)

∂α=dL(q, q, t)

wobei die Abhangigkeit von α auf der rechten Seite in den q und q versteckt ist. Die Auswertung derrechten Seite erfolgt wie in der oben an (4.18) anschließenden Rechnung.

Wir betrachten nun den Fall, dass die Koordinatentransformation (4.16) die Lagrange-Funktion inva-riant lasst:

L(q, q, t)(4.18)

= L′(q′, q′, t, α)Invarianz

= L(q′, q′, t) . (4.20)

38

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Dann haben die neuen Koordinaten qi′ dieselbe Lagrange-Funktion und dieselben Bewegungsgleichungen

wie die alten Koordinaten qi. Die neue Lagrange-Funktion hangt nicht vom Parameter α ab, also

∂L′

∂α

∣∣∣∣α=0

= 0 .

Zusammen mit Gleichung (4.19) folgt damit das fur die moderne Physik bedeutende Noether-Theorem:Die Funktion

I(q, q, t) =3N−k∑i=1

∂L

∂qi

∂qi(q′, t, α)

∂α

∣∣∣∣α=0

(4.21)

ist eine Erhaltungsgroße, wenn die Lagrange-Funktion unter der kontinuierlichen, stetig differenzierba-ren Koordinatentransformation (4.16) invariant ist. Zu jeder Transformation (4.16), die die Lagrange-Funktion nicht andert, gehort also eine Erhaltungsgroße, die durch (4.21) leicht ermittelt werden kann.Der Umkehrschluss gilt allerdings nicht: nicht zu jeder Erhaltungsgroße gibt es eine Symmetrietransfor-mation der Lagrange-Funktion, wie wir im Zusammenhang mit der Planetenbewegung am Beispiel desLenzschen Vektors sehen werden.

Der Erhaltungssatz, der zu einer zyklischen Koordinate qi gehort, ist ein Spezialfall des Noether-Theorems, da die Unabhangigkeit der Lagrange-Funktion von qi die Invarianz von L unter Translationvon qi zur Folge hat.

Es gibt sogar auch dann eine Erhaltungsgroße, wenn die Lagrange-Funktion unter den Transformatio-nen (4.16) nicht invariant ist, sondern einen zusatzlichen Term erhalt, der die totale zeitliche Ableitungeiner beliebigen Funktion F (q′, t, α) ist:

L′(q′, q′, t, α) = L

(q(q′, t, α),

d

dtq(q′, t, α), t

)= L(q′, q′, t) +

d

dtF (q′, t, α) . (4.22)

Es folgt namlich∂L′(q′, q′, t, α)

∂α

∣∣∣∣α=0

=d

dt

∂F (q′, t, α)

∂α

∣∣∣∣α=0

,

und folglich ist die Funktion

J(q, q, t) =

3N−k∑i=1

∂L(q, q, t)

∂qi

∂qi(q′, t, α)

∂α

∣∣∣∣α=0

− ∂F (q′, t, α)

∂α

∣∣∣∣α=0

(4.23)

eine Erhaltungsgroße.

4.5.1 Die 10 Erhaltungsgroßen abgeschlossener N-Teilchensysteme

Wir leiten im Folgenden die im ersten Kapitel erwahnten 10 Erhaltungsgroßen abgeschlossener N -Teilchensysteme aus dem Noether-Theorem her. Wir beschranken uns auf den wichtigen Fall, dass dieZweiteilchenpotenziale nur vom Abstand der Teilchen abhangen. Die Lagrange-Funktion ist dann

L =N∑i=1

mi

2~r2i −

N∑i<j

Vij(|~ri − ~rj |) .

1. Die Lagrange-Funktion ist nicht explizit von der Zeit abhangig und demnach invariant unter Zeitver-schiebungen. Also ist die Hamiltonfunktion eine Erhaltungsgroße und gleich der Energie E = T+V ,weil keine von außen auferlegten Zwangsbedingungen vorliegen und die Krafte konservativ sind. Alsoist die Energie konstant.

39

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2. Die Lagrange-Funktion ist unter Drehungen invariant, denn sie hangt nur vom Betrag der Geschwin-digkeits- und Abstandsvektoren ab, nicht von ihrer Richtung. Wir zeigen im Folgenden, dass ausInvarianz unter Drehungen um die z-Achse die Erhaltung von Lz folgt. Analog lasst sich die Erhal-tung von Lx und Ly zeigen, so dass auch der Gesamtdrehimpuls

~L =N∑i=1

~ri × ~pi

erhalten ist. Eine Rotation um die z-Achse entspricht der Transformation (vgl. die Gleichung vor(4.18)) xi

yizi

=

cosα sinα 0− sinα cosα 0

0 0 1

· xi

yi′

zi′

=

xi′ cosα+ yi

′ sinα−xi ′ sinα+ yi

′ cosαzi

.

Also ist∂xi(~r

′, α)

∂α= −xi ′ sinα+ yi

′ cosα = yi

und∂yi(~r

′, α)

∂α= −xi ′ cosα− yi ′ sinα = −xi .

Mit

L′ =N∑i=1

mi

2~r ′i

2−

N∑i<j

Vij(|~ri ′ − ~rj ′|) .

ergibt sich die gesuchte Erhaltungsgroße zu

N∑i=1

[∂L

∂xiyi +

∂L

∂yi(−yi)

]=

N∑i=1

mi(xiy − yix) = −Lz .

3. Die Lagrange-Funktion ist unter den Verschiebungen

~ri → ~ri′ = ~ri + α~b

invariant. Folglich ist die Funktion

I =N∑i=1

∂L

∂~ri· ∂~ri(~ri

′, α)

∂α= −

N∑i=1

~pi ·~b = −~P ·~b

eine Erhaltungsgroße. Da der Vektor ~b beliebig ist, ist der Gesamtimpuls ~P eine Erhaltungsgroße.

4. Die reinen Galileitransformationen~ri → ~ri

′ = ~ri + α~vt

uberfuhren die alte Lagrange-Funktion in

L′ =N∑i=1

mi

2(~ri′ − α~v)2 −

∑i<j

Vij(~ri′ − ~rj ′) = L(~r ′, ~r ′) +

d

dtF (~r ′, t, α)

mit

F (~r ′, t, α) = αN∑i=1

mi

(α2~v2t− ~ri ′ · ~v

).

40

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Die Erhaltungsgroße J(~r, ~r, t) lautet

J =N∑i=1

∂L

∂~r· ∂~ri(~r

′, t, α)

∂α

∣∣∣∣∣α=0

− ∂F

∂α

∣∣∣∣α=0

=N∑i=1

(−~pi · ~vt+mi~ri · ~v) = (−~Pt+M~rS) · ~v

mit der Schwerpunktkoordinate ~rS und der Gesamtmasse M . Da J fur jedes ~v eine Erhaltungsgroßeist, ist auch der Ausdruck in Klammern

−~Pt+M~rS

eine Erhaltungsgroße.

Damit haben wir die 10 Erhaltungsgroßen bestimmt: E, ~L, ~P und −~Pt+M~rS .

Aufgaben

1. Begrunden Sie, dass ein eindimensionales mechanisches System mx = F (x), dessen Kraft nichtexplizit zeitabhangig ist, nicht chaotisch sein kann.

2. Betrachten Sie das Rollpendel.

(a) Wieviele Freiheitsgrade und wieviele Erhaltungsgroßen hat dieses System? Schreiben Sie ex-plizit die Erhaltungsgroßen hin. Nennen Sie diejenige Erhaltungsgroße, die nicht die Energieist, px.

(b) Berechnen Sie die Koordinaten (x2, y2) als Funktion von ϕ und zeigen Sie, dass sich m2 furpx = 0 auf einer Ellipsenbahn bewegt.

(c) Berechnen Sie den Zusammenhang zwischen ϕ und t in der Gestalt t =∫dϕ . . . .

41

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Kapitel 5

Lagrange-Gleichungen erster Art

5.1 Vorbemerkungen

Die Lagrange-Gleichungen erster Art (Lagrange-I) sind den Lagrange-Gleichungen zweiter Art (Lagrange-II) recht ahnlich. Sie unterscheiden sich in drei Aspekten:

1. In Lagrange-II wird die Lagrange-Funktion nur durch die 3N − k unabhangigen verallgemeinertenKoordinaten und die zugehorigen Geschwindigkeiten ausgedruckt. In Lagrange-I wird die Lagrange-Funktion durch alle 3N verallgemeinerten Koordinaten ausgedruckt. Man darf im Lagrange-I-Formalismus also keine Koordinaten mit Hilfe der Zwangsbedingungen eliminieren, wenn man dieLagrange-Funktion L = T − V aufstellt.

2. Die Lagrange-I-Gleichungen sind den Lagrange-II-Gleichungen sehr ahnlich (s.u.), aber sie enthaltenjeweils einen zusatzlichen Summanden, der von den Zwangskraften herruhrt.

3. Die Lagrange-I-Gleichungen gelten auch fur nicht holonome Zwangsbedingungen, wenn diese sichin differenzieller Form schreiben lassen, wahrend die Lagrange-II-Gleichungen nur fur holonomeZwangsbedingungen gelten.

Da in den Lagrange-I-Gleichungen die Zwangskrafte explizit drinstehen, ist es praktisch, sie zu verwenden,wenn man Zwangskrafte berechnen muss. Das Berechnen von Zwangskraften wird z.B. bei Gleitreibungnotig (weil ~F (R) = −f |~Z|v ist, siehe Abschnitt 3.4.1), bei der Berechnung der realen Zwangsarbeitbei rheonomen Zwangsbedingungen, oder auch bei der Dimensionierung von technischen Anlagen, z.B.Achterbahnen.

Allerdings kann man bei holonomen Zwangsbedingungen die Zwangskrafte auch aus dem Lagrange-II-Formalismus herleiten. Wir demonstrieren dies im Folgenden, bevor wir dann den Lagrange-I-Formalismusvorstellen.

Die Berechnung der Zwangskrafte uber den Lagrange-II-Formalismus geht uber die Beziehung (2.11),also

~Zi = mi~ri − ~Fi .

Wenn man die Losung ~ri(t) bestimmt hat, hat man auch ~ri und damit ~Zi.Um diese Beziehung auf verallgemeinerte Koordinaten qj umzuschreiben (mit j = 1, . . . , 3N), definie-

ren wir analog zu den verallgemeinerten Kraften Qj (siehe (3.2)) nun verallgemeinerte Zwangskrafte Zjals

Zj ≡N∑i=1

~Zi ·∂~ri∂qj

=

N∑i=1

mi~ri∂~ri∂qj−

N∑i=1

~Fi ·∂~ri∂qj

, j = 1, . . . , 3N

(3.6)=

d

dt

∂T

∂qj− ∂T

∂qj−Qj . (5.1)

42

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Falls sich die Krafte Qj aus einem Potenzial gemaß (3.8) bzw. (3.12) ableiten lassen, so gilt mitL = T − V

d

dt

∂L

∂qj− ∂L

∂qj= Zj , j = 1, . . . , 3N . (5.2)

An dieser Stelle ist ganz wichtig, dass L nun eine Funktion von allen 3N Variablen ist und nicht nur der3N − k unabhangigen Variablen.

Wir merken uns also den auch fur das Folgende wichtigen Sachverhalt: Wenn man die Lagrange-Funktion durch alle 3N Variablen ausdruckt, steht bei den entsprechenden Lagrange-Gleichungen auf derrechten Seite nicht Null, sondern die jeweilige Komponente der verallgemeinerten Zwangskraft.

(Man kann (5.2) wieder in die Lagrange-Gleichungen zweiter Art uberfuhren, indem man mit denvirtuellen Verruckungen δqj multipliziert und uber j = 1, . . . , 3N summiert. Der Term mit den Zwangs-kraften verschwindet mit dem d’Alembert-Prinzip (2.21). Wenn man L nun als Funktion der 3N − kunabhangigen Variablen schreibt, verschwinden die Summanden fur die abhangigen Variablen, und wirerhalten die Lagrange-II-Gleichungen (3.10) fur die 3N − k unabhangigen Koordinaten.)

Wir erhalten folgendes Rezept fur die Berechnung der Zwangskrafte aus Lagrange-II bei holonomenZwangsbedingungen:

(i) Stelle L fur die unabhangigen Koordinaten auf und lose Lagrange-II

(ii) Drucke L durch alle 3N (abhangigen) Koordinaten aus und bestimme (5.2).

Als Beispiel verwenden wir die gleitende Perle auf einem rotierenden, geraden Draht aus dem vorigenKapitel.

Zunachst stellen wir die Lagrange-Gleichungen zweiter Art auf und losen sie:

L =m

2(r2 + r2ω2) ,

r − rω = 0

r(t) = a cosh(ωt) fur r(t = 0) = a , r(t = 0) = 0 .

Dann nehmen wir die zweite Koordinate, ϕ, dazu und berechnen die Zwangskrafte:

L =m

2(r2 + r2ϕ2) ,

Zr =d

dt

∂L

∂r− ∂L

∂r= m(r − rϕ2) = 0 ,

Zϕ =d

dt

∂L

∂ϕ− ∂L

∂ϕ= mr(2rϕ+ rϕ) = ma2ω2 sinh(2ωt) .

Im letzten Schritt der Berechnung der Zwangskrafte haben wir jeweils r = a cosh(ωt) und ϕ = ωteingesetzt und am Schluss das Additionstheorem 2 cosh(ωt) sinh(ωt) = sinh(2ωt) verwendet.

43

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5.2 Herleitung der Lagrange-Gleichungen erster Art

Wir beginnen mit dem d’Alembert-Prinzip und (3.6), d.h.

3N∑j=1

(d

dt

∂T

∂qj− ∂T

∂qj−Qj

)δqj = 0 ,

bzw., falls die verallgemeinerten Krafte Qj aus einem Potenzial V ableitbar sind,

3N∑j=1

(d

dt

∂L

∂qj− ∂L

∂qj

)δqj = 0 . (5.3)

Hierbei ist L eine Funktion von allen 3N Koordinaten und 3N Geschwindigkeiten.Ein solches “Variationsproblem” (namlich die Bestimmung der qj(t) mit Nebenbedingungen – den

Zwangsbedingungen) lost man mit Hilfe von sogenannten Lagrange-Multiplikatoren. Wir schreiben furdie Zwangsbedingungen wie in (2.8)

3N∑j=1

aijdqj + bidt = 0 , i = 1, . . . , k .

Da fur virtuelle Verruckungen dt = 0 ist, gilt

3N∑j=1

aijδqj = 0 , i = 1, . . . , k .

Also gilt auchk∑i=1

λi

3N∑j=1

aijδqj = 0 (5.4)

mit zunachst beliebigen Lagrange-Multiplikatoren λi, die i.A. eine Funktion der qj und qj und von t sind.Wenn man die Gleichungen gelost und folglich q(t) bestimmt hat, hat man auch λi als Funktion der Zeit.

Subtraktion von (5.3) und (5.4) gibt

3N∑j=1

(d

dt

∂L

∂qj− ∂L

∂qj−

k∑i=1

λiaij

)δqj = 0 . (5.5)

Nun kommt der entscheidende gedankliche Schritt: Wir konnen die λi so wahlen, dass jede der Klammernin (5.5) verschwindet. Wir konnen namlich die k Funktionen λi so wahlen, dass k Klammern (sagen wir:Nummer 3N − k + 1 bis 3N) in (5.5) verschwinden. Dann haben wir noch eine verbleibende Summeuber 3N − k Terme, in denen aber nun die δqj unabhangig voneinander gewahlt werden konnen, weilwir ja 3N − k unabhangige Variablen haben. Also mussen auch die verbleibenden 3N − k Klammernverschwinden.

Wir erhalten somit die Lagrange-Gleichungen erster Art:

d

dt

∂L

∂qj=∂L

∂qj+

k∑i=1

λiaij , j = 1, . . . , 3N . (5.6)

Dies sind 3N Gleichungen fur 3N+k Unbekannte (die qj und die λi), die zusammen mit den k Gleichungenfur die Zwangsbedingungen alle Unbekannten festlegen.

44

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Durch Vergleich mit (5.2) erkennen wir, dass

k∑i=1

λiaij = Zj , j = 1, . . . , 3N (5.7)

ist.

Die Gebrauchsanweisung fur Lagrange-Gleichungen erster Art ist die folgende:

(i) Wahle 3N Koordinaten und stelle die Zwangsbedingungen in differenzieller Form auf.

(ii) Schreibe L = T − V als Funktion der 6N Variablen qj , qj .

(iii) Stelle die 3N Lagrange-I-Gleichungen auf und lose sie zusammen mit den Zwangsbedingungen.

Bemerkung: In der Praxis verwendet man auch gerne eine Variante mit weniger Koordinaten. Die ebendurchgefuhrte Herleitung der Lagrange-I-Gleichungen kann auch mit n < 3N generalisierten Koordinatendurchgefuhrt werden, wobei n > 3N − k ist. Die Zahl der Lagrange-Parameter in (5.4) reduziert sichhierbei auf k + n− 3N . In der Gleichung (5.6) ist dann i nur bis k + n− 3N zu summieren, und j lauftvon 1 bis n.

5.3 Beispiele

5.3.1 Teilchen im Kreiskegel

x

y

z

ϕr

g

Wir wahlen als Koordinaten die Zylinderkoordinaten z, r, ϕ. Die Zwangsbedingung ist f(z, r, ϕ) =r − z tanα = 0, bzw. in differenzieller Form:

∂f

∂zdz +

∂f

∂rdr = − tanαdz + dr = 0 .

Die Lagrange-Funktion ist

L = T − V =m

2(z2 + r2 + r2ϕ2)−mgz .

Die Lagrange-I-Gleichungen sind also

d

dt

∂L

∂z− ∂L

∂z= λ

∂f

∂z⇒ mz +mg = −λ tanα

d

dt

∂L

∂r− ∂L

∂r= λ

∂f

∂r⇒ mr −mrϕ2 = λ

d

dt

∂L

∂ϕ− ∂L

∂ϕ= λ

∂f

∂ϕ⇒ mr2ϕ+ 2mrrϕ = 0 .

45

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Wir haben also drei Lagrange-I-Gleichungen und eine Zwangsbedingung zur Bestimmung der 4 Unbe-kannten z(t), r(t), ϕ(t), λ(t). Wenn man die Unbekannten bestimmt hat, hat man auch die Zwangskrafte:

Zz = −λ(t) tanα Zr = λ(t) , Zϕ = 0 .

Zur Losung dieser Gleichungen kann man zunachst die Zwangskraft samt einer der drei Variablen (z.B.z) eliminieren und die Bewegungsgleichungen fur die nun unabhangigen verbleibenden Variablen r und ϕlosen. Hierzu kann man die Zwangsbedingung in der Form z = r cotα in die erste Lagrange-I-Gleichungeinsetzen (das gibt m(r cotα + g) = −λ tanα) und dann hierzu die mit tanα multiplizierte zweiteLagrange-I-Gleichung addieren. Dies gibt

(tanα+ cotα)r − rϕ2 tanα+ g = 0 .

Zusammen mit der dritten Lagrange-I-Gleichung haben wir wieder die schon bekannten Bewegungsglei-chungen ermittelt. Wenn man r(t) und ϕ(t) berechnet hat, kann man dann uber die Zwangsbedingungauch z(t) bestimmen und uber eine der drei Lagrange-I-Gleichungen dann λ(t). Dann hat man auch Zzund Zϕ.

5.3.2 Rollpendel

Im Folgenden stellen wir die Lagrange-Gleichungen erster Art fur das Rollpendel auf und bestimmen einenZusammenhang zwischen der Zwangskraft, die die Schiene ausubt, und der Zwangskraft, die der Fadenausubt. Die Lagrange-Gleichungen zweiter Art fur das Rollpendel haben wir in Abschnitt 3.3 aufgestellt.

Die beiden Zwangsbedingungen lauten

f1(x1, y1, r, ϕ) = y1 = 0

undf2(x1, y1, r, ϕ) = r − l = 0 .

Nur zwei der insgesamt 8 partiellen Ableitungen der beiden Zwangsbedingungen nach den 4 Variablensind von Null verschieden. Diese partiellen Ableitungen entsprechen den Koeffizienten aij aus (2.8), unddie beiden von Null verschiedenen Koeffizienten sind

∂f1

∂y1= a12 = 1 und

∂f2

∂r= a23 = 1 .

Die Lagrange-Funktion ist

T − V =m1

2

(x2

1 + y21

)+m2

2

(x2

2 + y22

)−m1gy1 −m2gy2 ,

bzw ausgedruckt durch die verallgemeinerten Koordinaten r und ϕ statt x2 = x1 + r sinϕ und y2 =y1 − r cosϕ:

L =m1 +m2

2

(x2

1 + y21

)+m2

2

[r2 + r2ϕ2 + 2r (x1 sinϕ− y1 cosϕ) + 2rϕ (x1 cosϕ+ y1 sinϕ)

]−m1gy1−m2g(y1−r cosϕ) .

Die Lagrange-Gleichungen lauten nach Einsetzen der Zwangsbedingungen:

Lx1 : (m1 +m2)x1 +m2l(ϕ cosϕ− ϕ2 sinϕ) = 0 (5.8)

Ly1 : m2l(ϕ sinϕ+ ϕ2 cosϕ) + (m1 +m2)g = λ1 = ZSchiene (5.9)

Lr : m2(x1 sinϕ− lϕ2 − g cosϕ) = λ2 = −ZFaden (5.10)

Lϕ : m2l(x1 cosϕ− lϕ+ g sinϕ) = 0 . (5.11)

Die erste und letzte dieser Gleichungen sind die Bewegungsgleichungen fur x1 und ϕ, die wir schon fruherhergeleitet haben. Fur den Fall px1 = 0 berechnen wir in den Ubungen eine Losung (Aufgabe 2 zu Kapitel

46

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4). Wenn man eine Losung hat, kann man mit Hilfe der zweiten und dritten Gleichung die Zwangskrafteermitteln.

Wir bestimmen jetzt noch einen Zusammenhang der beiden verallgemeinerten Zwangskrafte: ZSchienelasst sich mit der vierten Lagrange-Gleichung umrechnen:

ZSchiene = (m1 +m2 cos2 ϕ)g +m2(lϕ2 − x1 sinϕ) cosϕ = m1g + ZFaden cosϕ .

Dieses Ergebnis ist anschaulich plausibel, da die Schiene zum einen die Gewichtskraft der Masse m1 undzum anderen die Zugkraft des Fadens kompensieren muss.

5.3.3 Ein Beispiel mit Reibung

Als weiteres Beispiel betrachten wir eine Perle auf einem ruhenden, parabelformigen Draht mit Gleitrei-bung,

~F (R) = −f |~Z|v = −f |~Z| (x, y)√x2 + y2

.

Die Dissipationsfunktion (3.21) ist

P =

∫ v

0

f |~Z|dv = f |~Z|√x2 + y2 .

Die Zwangsbedingung lautet f(x, y) = y − ax2 = 0, bzw. df = dy − 2ax dx.Die Lagrange-Funktion ist

L = T − V =m

2(x2 + y2)−mgy ,

und die Lagrange-I-Gleichungen sind

d

dt

∂L

∂x− ∂L

∂x+∂P

∂x= λ

∂f

∂x⇒ mx+ f |~Z| x√

x2 + y2= −2axλ = Zx

undd

dt

∂L

∂y− ∂L

∂y+∂P

∂y= λ

∂f

∂y⇒ my +mg + f |~Z| y√

x2 + y2= λ = Zy .

Wir verwenden die Zwangsbedingung, um y zu eliminieren: y− ax2 = 0⇒ y = 2axx , y = 2a(x2 + xx).

Der Betrag der Zwangskraft ist |~Z| =√Z2x + Z2

y = λ√

4a2x2 + 1, er ist also von y unabhangig.

Dies ist in die beiden Lagrange-I-Gleichungen einzusetzen, aus denen dann λ eliminiert werden kann.Das Vorzeichen der Wurzel und damit die Richtung der Zwangskraft hangt davon ab, ob die Perle sichgerade nach rechts bewegt (positives x) oder nach links (negatives x). Es ergibt sich fur x > 0:

mx+fλ√

4a2x2 + 1 x√x2 + 4a2x2x2

= −2axλ ⇒ mx+ fλ = −2axλ

47

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und

2ma(x2 + xx) +mg +fλ√

4a2x2 + 1 2axx√x2 + 4a2x2x2

= λ ⇒ 2ma(x2 + xx) +mg + 2axfλ = λ .

Elimination von λ fuhrt nach elementaren Rechenschritten auf

(1 + 4a2x2)x+ (2ax+ f)(2ax2 + g) = 0 .

Fur x < 0 ergibt sich entsprechend

(1 + 4a2x2)x+ (2ax− f)(2ax2 + g) = 0 .

Damit haben wir sowohl die Zwangskrafte, als auch die Bewegungsgleichungen bestimmt.

Aufgaben

1. In dem Beispiel mit der Leiter an der Wand (s. Ende von Kapitel 2) wurde die Kraft F auf ein Seil,das die Leiter an ihrem Ort festhalt, mit Hilfe des d’Alembert-Prinzips errechnet. Bestimmen Siedie Zwangskraft F nun mit den Lagrange-Gleichungen erster Art.

2. Berechnen Sie die Lagrange-Gleichungen erster Art und die Ausdrucke fur die verallgemeinerteZwangskraft fur ein gewohnliches Pendel, also fur eine Masse m an einem Faden der Lange l, dasnur in der x− y-Ebene schwingen kann.

3. (Aufgabe 2 der Bachelor-Klausur von 2005)

48

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Ein Massepunkt (1) bewegt sich auf der x-Achse und ein zweiter Massepunkt (2) bewegt sich aufder y-Achse. Beide Massepunkte haben gleiche Massen m und sind durch eine masselose Stangeder Lange b miteinander verbunden. Die Bewegung sei reibungsfrei und die Schwerkraft wirke inRichtung der Winkelhalbierenden der x-Richtung und y-Richtung.

(a) Stellen Sie die lagrangeschen Bewegungsgleichungen erster Art fur x1 und y2 auf.

(b) Drucken Sie x1 und y2 durch den Winkel ϕ der Stange mit der x-Achse aus und berechnen Siedie Bewegungsgleichung fur ϕ.

(c) Bestimmen Sie die Gleichgewichtslagen.

(d) Berechnen Sie die Frequenz ω0 der Schwingung fur kleine Auslenkungen aus der stabilen Gleich-gewichtslage.

49

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Kapitel 6

Hamiltonsches Prinzip

Das von W. R. Hamilton (1805 - 1864) im Alter von 18 Jahren entdeckte Hamiltonsche Prinzip ist gleich-wertig mit den Lagrange-Formalismen. Letztere konnen sehr effizient aus dem Hamiltonschen Prinzipabgeleitet werden. Das Hamiltonsche Prinzip ist ein Extremalprinzip. Wir werden also eine Große de-finieren, die durch die klassischen Bahnen minimiert oder maximiert wird oder dort einen Sattelpunkthat. Diese Große ist die sogenannte “Wirkung”. Solche Extremalprinzipien stecken nicht nur hinter denBewegungsgleichungen der klassischen Mechanik, sondern treten auch in anderen Gebieten der Physikauf. Ein Beispiel hierfur ist das Prinzip der Strahlenoptik, dass die Lichtstrahlen den zeitlich kurzestenWeg nehmen.

6.1 Variationsrechnung (ohne Nebenbedingungen)

Bevor wir das Hamiltonsche Prinzip behandeln, befassen wir uns zunachst allgemein mit der Variations-rechnung. Bei der Variationsrechnung geht es darum, eine Funktion zu finden, die eine bestimmte Großemaximiert oder minimiert. Wir formulieren diese Aufgabe folgendermaßen:

Gegeben sei eine Funktion F = F (y(x), y′(x), x) mit stetig differenzierbarem y(x) und mit y′(x) ≡dy/dx. Gegeben seien außerdem zwei Punkte P1 und P2 mit den Koordinaten (x1, y1) und (x2, y2). Furwelche Kurve y(x) zwischen P1 und P2 wird das Integral

I ≡∫ x2

x1

F (y(x), y′(x), x) dx (6.1)

extremal?

Zur Losung dieser Aufgabe betrachten wir alle Kurven in der Umgebung der gesuchten Losung: Seiy(x) die gesuchte Kurve und η(x) eine beliebige Funktion mit η(x1) = η(x2) = 0. Dann heißt

y(x) = y(x) + εη(x) (6.2)

die variierte Kurve. ε ist ein kleiner Parameter, und

δy(x) ≡ εη(x) (6.3)

heißt Variation der Kurve y(x). Es gilt

d

dxδy(x) = εη′(x) ≡ δy′(x) = δ

d

dxy(x) , (6.4)

d.h. Variation und Differentiation sind vertauschbar.

50

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Nach diesen Definitionen und Voruberlegungen betrachten wir jetzt das Integral I, wobei wir fur y(x)den Ansatz (6.2) einsetzen und I als Funktion von ε ansehen:

I(ε) ≡∫ x2

x1

F (y + εη, y′ + εη′, x) dx . (6.5)

Wir suchen ein Extremum von I. Das bedeutet, dass

dI

∣∣∣∣ε=0

=

∫ x2

x1

(∂F (y, y′, x)

∂yη(x) +

∂F (y, y′, x)

∂y′η′(x)

)dx = 0 (6.6)

sein muss fur alle Funktionen η(x).Wir formen den zweiten Summanden durch partielle Integration um:∫ x2

x1

∂F (y, y′, x)

∂y′η′(x)dx

partielle Integration= −

∫ x2

x1

(d

dx

∂F (y, y′, x)

∂y

)η(x) dx+

∂F (y, y′, x)

∂y′η(x)

∣∣∣∣x2

x1︸ ︷︷ ︸null, da η(x1)=η(x2)=0

. (6.7)

Eingesetzt in (6.6) ergibt sich∫ x2

x1

(∂F (y, y′, x)

∂y− d

dx

∂F (y, y′, x)

∂y′

)η(x)dx = 0 (6.8)

Dies ist genau dann fur alle moglichen Funktionen η(x) erfullt, wenn

d

dx

∂F

∂y′− ∂F

∂y= 0 (6.9)

ist. (Das folgt aus dem “Fundamental-Lemma der Variationsrechnung ohne Nebenbedingungen”.)Wir haben also die Aufgabe, das Integral I zu maximieren (oder minimieren), zuruckgefuhrt auf die

Aufgabe, die Differenzialgleichung (6.9) zu losen.

Hangt der Integrand F (y, y′) nicht explizit von x ab, ist es zur Losung konkreter Aufgaben zweckmaßig,die Bedingung (6.9) auf die Bedingung

H ≡ F − y′ ∂F∂y′

= konst (6.10)

umzuschreiben.Test: H = konst bedeutet dH/dx = 0, und dies sieht man anhand von

dH

dx= y′

∂F

∂y+ y′′

∂F

∂y′− y′′ ∂F

∂y′− y′ d

dx

∂F

∂y′= y′

(∂F

∂y− d

dx

∂F

∂y′

)︸ ︷︷ ︸=0 nach Gl. (6.9)

= 0 .

Also ist H = konst genau dann erfullt, wenn Gl. (6.9) erfullt ist.

6.2 Beispiel: Brachistochronen-Problem

Als Beispiel fur die Variationsrechnung mit einer Variablen betrachten wir das sogenannte Brachistochronen-Problem. Dieses in der Geschichte der Mathematik beruhmte Problem wurde 1696 von Johann Bernoulligestellt und begrundete die Variationsrechnung: Ein Massepunkt mit Anfangsgeschwindigkeit Null sollim Gravitationsfeld reibungsfrei von P1 = (x1, 0) nach P2 = (x2, y2) laufen. (Es zeige die y-Achse inRichtung der Gravitationskraft, so dass y2 > 0 ist.) Gesucht ist diejenige Zwangsflache, die die hierfurbenotigte Zeit minimiert.

51

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Wir beschreiben die Zwangsflache, auf der die Masse rutscht, durch die Kurve y(x), wobei y(x1) = 0und y(x2) = y2 ist. Die Laufzeit ist gegeben durch

T =

∫ x2

x1

ds

v

mit

ds2 = dx2 + dy2 und1

2mv2 = mgy(x) .

(Beim letzten Schritt haben wir den Energieerhaltungssatz mit v0 = 0 verwendet.) Also ist

T =1√2g

∫ x2

x1

√1 + y′2

ydx .

Ein Extremum von T zu finden bedeutet, Gl. (6.9) mit F =√

(1 + y′2)/y zu losen, bzw. die Gleichung(6.10) H = konst mit H = F − y′∂F/∂y′ zu losen.

Letzteres fuhrt auf √1

(1 + y′2)y= c

bzw. mit der Ersetzung r0 = 1/(2c2) ∫ x2

x1

dx =

∫ y2

y1

√y

2r0 − ydy .

Mit der Substitutiony = 2r0 sin2 ϕ

2= r0(1− cosϕ)

wird dies zu

x2 − x1 = 2r0

∫ ϕ2

ϕ1

sin2 ϕ2 cos ϕ2√

1− sin2 ϕ2

dϕ = 2r0

∫ ϕ2

ϕ1

sin2 ϕ

2dϕ = r0

∫ ϕ2

ϕ1

(1− cosϕ)dϕ = r0(ϕ− sinϕ)|ϕ2ϕ1.

Zur Vereinfachung setzen wir x1 = 0. Außerdem ist wegen y1 = 0 auch ϕ1 = 0. Dann gilt

y2 = r0(1− cosϕ2) und x2 = r0(ϕ2 − sinϕ2) .

Diese beiden Gleichungen legen die Parameter r0 und ϕ2 fest, weil ja x2 und y2 gegeben sind. Wenn wirals obere Integrationsgrenze nicht x2 und y2 bzw. ϕ2 wahlen, sondern einen beliebigen Wert zwischendem Anfangs- und Endpunkt, erhalten wir die gesamte Form der Zwangsflache:

y = r0(1− cosϕ) und x = r0(ϕ− sinϕ) .

Man nennt dies eine Zykloide. Die Steigung y′ = dy/dx bekommt man, indem man dy/dϕ und dx/dϕberechnet und durcheinander dividiert. Dies ergibt

dy

dx=

sinϕ

1− cosϕ,

was fur ϕ < π positiv ist und fur ϕ > π negativ wird. Wenn also x2/y2 so groß ist, dass ϕ > π wird,hat die Zwangsflache ein Minimum, d.h. der tiefste Punkt liegt tiefer als der Endpunkt. Dies tritt auf furx2 > y2π/2.

52

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6.3 Verallgemeinerung auf mehrere Variablen

Wenn F von mehreren Funktionen yi(x) und ihren Ableitungen abhangt, also F = F (y1, ..., yn; y′1, ..., y′n;x),

dann erhalten wir ganz analogd

dx

∂F

∂yi ′− ∂F

∂yi= 0 , i = 1, ..., n . (6.11)

Diese Gleichungen werden als Euler-Lagrange-Gleichungen bezeichnet. Wir definieren wieder yi(x) =yi(x) + δyi(x) mit δyi(x) = εiηi(x). Die Variation δI des Integrals (6.1) auf den Kurven yi(x) ist definiertals

δI =

n∑i=1

εi∂I

∂εi

∣∣∣∣ε1=...=εn=0

=

∫ x2

x1

n∑i=1

(∂F

∂yi− d

dx

∂F

∂yi ′

)δyidx . (6.12)

I heißt stationar falls δI = 0 ist fur alle ηi(x), also wenn die Euler-Lagrange-Gleichungen erfullt sind.Wenn I stationar ist, heißt das allerdings noch nicht, dass ein Maximum oder Minimum von I vorliegt.

Es kann auch eine Art “Sattelpunkt” vorliegen. Aber fur das folgende Hamiltonsche Prinzip ist die Frage,ob I extremal ist oder “nur” stationar, irrelevant, da in seiner Formulierung nur erwahnt wird, dass Istationar ist. Es wird keine Aussage daruber gemacht, dass I einen Extremwert annehmen muss.

6.4 Hamiltonsches Prinzip

Die Euler-Lagrange-Gleichungen haben genau die Form der Lagrange-Gleichungen zweiter Art. Dies sehenwir, wenn wir die Ersetzungen x→ t, y → q, F → L machen. Die Funktion I nennen wir jetzt S.

Das Hamiltonsche Prinzip lautet folgendermaßen: Die Bewegung eines mechanischen Systems zwischenden Zeiten t1 und t2 verlauft derart, dass die Wirkung

S ≡∫ t2

t1

L (q, q, t) dt stationar ist. (6.13)

Das bedeutet, dassδS = 0 (6.14)

ist, was auch das Prinzip der stationaren Wirkung genannt wird. In der Formulierung (6.13) ist diesesPrinzip fur alle Systeme gultig, deren Krafte sich gemaß (3.8) oder (3.12) aus einem Potenzial ableitenlassen und deren Zwangsbedingungen holonom bzw. differentiell sind.

Wenn es k holonome Zwangsbedingungen gibt, ist L = L (q1, ..., q3N−k; q1, ..., q3N−k; t) und

δS =

∫ t2

t1

3N−k∑j=1

(∂L

∂qj− d

dt

∂L

∂qj

)δqjdt = 0 . (6.15)

Hier reprasentiert δqi(t) eine Variation von qi(t) zum Zeitpunkt t. Das entspricht der in Kapitel 2 defi-nierten virtuellen Verruckung. Mit (6.15) ist nach dem Fundamental-Lemma der Variationsrechnung dasHamiltonsche Prinzip zu den Lagrange-Gleichungen zweiter Art (3.10) aquivalent.

Mit dem Hamiltonschen Prinzip lasst sich auf elegante Art die “Eichinvarianz” der Lagrange-Gleichungenzeigen, also dass die zwei Lagrange-Funktionen L(q, q, t) und L′(q, q, t) mit

L′(q, q, t) = cL(q, q, t) +d

dtf(q, t) (6.16)

auf dieselben Lagrange-Gleichungen fuhren. Wir haben dies schon in Anschluss an (4.8) gezeigt, und wir

53

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zeigen dies jetzt nochmal auf eine andere Art:

δ

∫ t2

t1

Ldt = 0

⇒ δ

∫ t2

t1

L′dt = δ

(c

∫ t2

t1

Ldt+

∫ t2

t1

d

dtf(q, t)dt

)= δ

∫ t2

t1

d

dtf(q, t)dt = δ (f (q(t2), t2)− f (q(t1), t1))

= 0

da an den Endpunkten keine Variation durchgefuhrt wird.

6.5 Variation mit Nebenbedingungen und Lagrange-Gleichungenerster Art

Die Lagrange-Gleichungen erster Art (5.6) lassen sich durch die Methode der Lagrange-Multiplikatorenableiten. Die Lagrange-Funktion wird jetzt in Abhangigkeit von allen 3N verallgemeinerten Koordinatenaufgestellt. Die Gleichung (6.15) wird also dahingehend geandert, dass eine Summation uber alle 3Nverallgemeinerten Koordinaten auftritt,∫ t2

t1

3N∑j=1

(∂L

∂qj− d

dt

∂L

∂qj

)δqjdt = 0 . (6.17)

Die virtuellen Verruckungen δqi(t) sind Zwangsbedingungen unterworfen und nicht unabhangig. Es giltwieder

3N∑j=1

aijδqj = 0 , i = 1, . . . , k .

Wir addieren nun einen Term ∫ t2

t1

3N∑j=1

k∑i=1

λiaijδqjdt = 0

zu (6.17) und erhalten ∫ t2

t1

3N∑j=1

(∂L

∂qj− d

dt

∂L

∂qj+

k∑i=1

λiaij

)δqjdt = 0 . (6.18)

Die Lagrangeschen Multiplikatoren λi werden so gewahlt, dass die Terme in den k runden Klammern, dievor den k abhangigen δqj stehen, Null ergeben. Die restlichen 3N − k Klammern verschwinden ebenfalls,da die zugehorigen δqj unabhangig sind. Es ergeben sich also wieder die Lagrange-Gleichungen erster Art(5.6).

6.6 Beispiele

Als erstes Beispielsystem betrachten wir einen harmonischen Oszillator. Hier werden wir zeigen, dass dieWirkung nicht immer minimal ist, sondern dass sie fur Zeiten, die großer als die halbe Schwingungsperiodesind, einen Sattelpunkt hat.

Die Wirkung des harmonischen Oszillators ist

S[x] =

∫ t2

t1

[m

2x2 − D

2x2

]dt .

54

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Wir setzen in Folgenden t1 = 0 und x(t1) = 0. Die Losung der Bewegungsgleichungen ist x(t) = A sinωtmit ω =

√D/m, und sie ist die Losung der Bedingung δS = 0. Wir betrachten nun eine variierte Bahn

x(t) = x(t) + εη(t)

mit η(0) = η(t2) = 0. Fur diese Bahn lautet die Wirkung

S[x+ εη] = S[x] + ε

∫ t2

0

[mxη −Dxη]dt+ε2

2

∫ t2

0

[mη2 −Dη2

]dt .

Wir integrieren jeweils den ersten Term in den eckigen Klammern partiell und verwenden η(0) = η(t2) = 0.Dies fuhrt auf

S[x+ εη] = S[x]− ε∫ t2

0

[mx+Dx]ηdt︸ ︷︷ ︸=0

−ε2

2

∫ t2

0

[mη +Dη] ηdt ≡ S[x] + ∆S .

Wir entwickeln die Abweichungen η(t) in eine Fourierreihe,

η(t) =

∞∑k=1

bk sin

(kπ

t2t

)und benutzen die Orthogonalitatsrelationen∫ t2

0

sin

(kπ

t2t

)sin

(lπ

t2t

)dt =

t22δkl ,

woraus

mη +Dη =

∞∑k=1

[D −m

(kπ

t2

)2]bk sin

(kπ

t2t

)folgt. Also ist

∆S = −ε2

2

∞∑k,l=1

[D −m

(kπ

t2

)2]bkbl

∫ t2

0

sin

(kπ

t2t

)sin

(lπ

t2t

)dt = −ε

2

2

t22

∞∑k=1

[D −m

(kπ

t2

)2]b2k .

Fur

t2 > π

√m

D=

π

ω0=T

2

gibt es ein k0 so, dass die eckigen Klammern fur k < k0 positiv und fur k > k0 negativ sind. Also ist fur

η1(t) ≡k0∑k=1

bk sin

(kπ

t2t

)das ∆S negativ, also S[x] > S[x+ εη1]. Fur

η2(t) ≡∞∑

k=k0+1

bk sin

(kπ

t2t

)dagegen ist ∆S positiv, also S[x] < S[x+εη2]. Folglich ist S[x] fur t2 > T/2 weder minimal noch maximal.

Als zweite Anwendung betrachten wir eine schwingende Saite. Hier ist unser Ziel, aus dem Prinzipder stationaren Wirkung die Wellengleichung fur diese Saite abzuleiten. Wir bezeichnen die Lange derSaite mit l und ihre Massenbelegung mit % (das hat die Einheit kg/m). Die Saite werde an beiden Enden

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festgehalten und mit einer konstanten Kraft F vorgespannt. Die Auslenkung an der Stelle x wird mity(x, t) bezeichnet. Wir gehen davon aus, dass die Auslenkung so klein ist, dass dadurch F nicht verandertwird. Gegenuber der bisher betrachteten Situation sind die y jetzt keine diskreten Variablen (wie es die qjwaren), sondern sie hangen kontinuierlich von x ab. Man hat also statt den Summen uber j ein Integraluber x in der Lagrange-Funktion.

Wir berechnen zuerst die Lagrange-Funktion L = T − V . Es ist

T =%

2

∫ l

0

y2(x, t)dx

und

V = Fδl = F

(∫ds− l

)= F

(∫ l

0

√1 + y′2dx− l

).

An geeigneter Stelle werden wir uns daran erinnern, dass y′ eine kleine Große ist. Variation der Wirkungergibt

δ

∫Ldt = δ

∫ t2

t1

[∫ l

0

(%2y2 − F

√1 + y′2

)dx+ Fl

]dt

=

∫ t2

t1

∫ l

0

[%yδy − F y√

1 + y′2δy′

]dxdt '

∫ t2

t1

∫ l

0

[%yδy − F yδy′] dxdt

=

∫ l

0

%yδy|t2t1 dx− F∫ t2

t1

y′δy|l0 dt−∫ t2

t1

∫ l

0

[%y − Fy′′] δy dx dt

=

∫ l

0

%y[δy(x, t2)− δy(x, t1)]dx− F∫ t2

t1

y′[δy(l, t)− δy(0, t)]dt−∫ t2

t1

∫ l

0

[%y − Fy′′] δy dx dt .

Die Variation verschwindet am Anfang und am Ende der Zeit, also ist δy(x, t1) = δy(x, t2) = 0 fur allex. Außerdem verschwindet die Variation an den Randern der Saite, und es ist δy(0, t) = δy(l, t) = 0 furalle t. Damit bleibt nur der dritte Term ubrig, und es folgt

δS = −∫ t2

t1

∫ l

0

[%y − Fy′′] δy dx dt .

Da die Variationen δy(x, t) beliebig sind, kann das Doppelintegral nur verschwinden, wenn der Term inder eckigen Klammer Null ist. Damit haben wir die Wellengleichung

1

c2y(x, t) = y′′(x, t) (6.19)

erhalten. Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Welle ist c =√F/%.

Bemerkung: Man kann die Bewegungsgleichung der Saite auch direkt aus den Lagrange-Gleichungenzweiter Art erhalten, wenn man die Saite diskretisiert. Wir unterteilen die Saite in N = l/∆x kleineAbschnitte der Lange ∆x. Wir schreiben also

xj = j∆x , yj = y(xj) , y′ =yj+1 − yj

∆x

und machen die Ersetzung ∫dxf(x, t)→

∑j

∆xf(xj , t) .

Damit ist

L =%

2

N−1∑j=0

y2j (t)∆xj −

F

2

N−1∑j=0

yj+1 − yj(∆xj)2

∆xj ,

56

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wobei wir wieder√

1 + y′2 durch 1+y′2/2 ersetzt haben. Die Lagrange-Gleichungen zweiter Art sind also

d

dt

∂L

∂yj= %yj∆xj = F

(yj − yj−1

∆x+yj − yj+1

∆x

)=∂L

∂yj.

Das fuhrt auf

%yj = F2yj − yj+1 − yj−1

(∆x)2

und schließlich, wenn wir wieder zum Kontinuum gehen, auf

%y = Fy′′ .

Aufgaben

1. Seifenhaut: Eine Seifenhaut, die zwischen zwei an den Positionen x1 und x2 um die x-Achse zen-trierten Kreisen mit den Radien y1 und y2 eingespannt ist, nimmt eine minimale Flache ein.

(a) Stellen Sie eine Bedingung fur diese Flache auf.

(b) Berechnen Sie die Kurve y(x), die die minimale Flache beschreibt. Gehen Sie dabei aus vonF − y′ ∂F∂y′ = konst. ≡ a (siehe Gleichung (6.10) im Skript). In Ihrem Ergebnis fur y(x) darfdie Konstante a drinstehen. Erklaren Sie am Ende, durch welche Bedingung der Wert von afestgelegt wird. (Hinweis: Vielleicht brauchen Sie folgende Beziehung: cosh2(x)−1 = sinh2(x).)

2. Weisen Sie nach, dass sich ein Teilchen, das infolge von Zwangskraften auf einer gekrummten Flachelaufen muss, ansonsten aber kraftefrei ist, auf einer Geodaten (also der kurzest moglichen Verbin-dung zwischen zwei Punkten) bewegt. (Statt der gekrummten Flache kann man auch einen ge-krummten Raum betrachten - das findet bei der Allgemeinen Relativitatstheorie eine Anwendung.)

3. Hochspannungsleitung: Gegeben ist ein Kabel, das an den Enden xA und xB auf derselben HoheyA = yB aufgehangt ist und nicht den Boden beruhren kann. Im Folgenden soll schrittweise dieForm des Kabels berechnet werden, indem die potenzielle Energie minimiert wird.

(a) Stellen Sie die potenzielle Energie in der Form Upot =∫F (y, y′) dx auf, wobei y(x) die Form

des Kabels beschreibt.

(b) Das Kabel habe die Lange L (wobei der Abstand der beiden Pfosten xB − xA < L sei).Schreiben Sie diese Nebenbedingung in Form eines Integrals

∫g(y, y′) dx− L = 0.

(c) Um die Variation mit Nebenbedingungen zu losen, soll eine erweiterte Funktion F aufgestelltwerden, die die Nebenbedingungen enthalt: F = F + λg mit λ ∈ R.

Gehen Sie nun von der Beziehung F − y′ ∂F∂y′ = konst. ≡ a (analog zu Gleichung (6.10) im

Skript) aus, um aus der erweiterten Funktion F eine Losung fur die Kurve des Kabels y(x) zubestimmen. Ihr Ergebnis fur y(x) darf von a und λ abhangen. (Hinweis: Vielleicht brauchenSie folgende Beziehung: cosh2(x)− 1 = sinh2(x).)

(d) Geben Sie die beiden Beziehungen an, durch die a und λ festgelegt sind.

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Kapitel 7

Zentralkraft

In diesem und den folgenden drei Kapiteln behandeln wir Anwendungen des bisher behandelten Stoffs.In diesem Kapitel diskutieren wir das Problem zweier Korper, die sich unter dem Einfluss einer wechsel-seitigen Zentralkraft bewegen. Zentralkrafte zeigen in Richtung der Verbindungslinie der beiden Korper.Wir beschranken uns wie in Abschnitt 1.5 auf konservative Zentralkrafte, deren Betrag nur vom Betragdes Abstands der beiden Korper abhangt, aber nicht von der Richtung. Wir betrachten zwei Teilchen mitden Massen m1, m2 und der Kraft ~F = ~F (~r, t) zwischen ihnen, wobei ~r ≡ ~r1 − ~r2 ist:

m1~r1 = ~F (~r, t) , m2~r2 = −~F (~r, t) (7.1)

7.1 Allgemeine Losung der Bewegungsgleichungen

Unser Ziel ist es, diese Bewegungsgleichungen zu losen. Da dies ein abgeschlossenes Zweiteilchensystemist, ist es zweckmaßig, einen Koordinatenwechsel zu Schwerpunkts- und Relativkoordinaten vorzunehmen.Von der Schwerpunktbewegung wissen wir namlich schon, dass fur sie die Erhaltung von Impuls undDrehimpuls gilt.

Der Schwerpunkts-Vektor ist

~R =m1~r1 +m2~r2

m1 +m2.

Addition der beiden Gleichungen in (7.1) fuhrt auf (vgl. (1.17))

m1~r1 +m2~r2 = 0 ⇒ ~R =m1~r1 +m2~r2

m1 +m2= 0 . (7.2)

Die Bewegung des Schwerpunkts ist also gleichformig.Subtraktion der aus (7.1) durch Multiplikation mit den Massen erhaltenen Gleichungen

m2m1~r1 = m2~F , m1m2~r2 = −m1

~F

ergibtm1m2

m1 +m2~r = ~F (~r, t) (7.3)

mit der sogenannten reduzierten Masse

m ≡ m1m2

m1 +m2. (7.4)

Aus Gleichungen (7.2) und (7.3) erkennen wir, dass die Schwerpunktsbewegung und die Relativbewe-

gung vollig voneinander entkoppelt sind, also dass die Gleichung fur ~R nicht von der fur ~r abhangt undumgekehrt.

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Im Folgenden betrachten wir nur noch die Relativbewegung. Wir sehen an Gleichung (7.3), dass dieRelativbewegung zweier Massen, die von außen nicht beeinflusst werden, zur Bewegung eines Einteilchen-systems mit reduzierter Masse m aquivalent ist:

m~r = ~F (~r, t) (7.5)

Zentralkrafte zeigen immer auf einen bestimmten Punkt, das sog. Kraftzentrum, den wir o.B.d.A. in denUrsprung des Koordinatensystems legen.

Ein Beispiel hierfur ist die Gravitationskraft zwischen zwei Massen (1.13)

m~r = −Gm1m2

r2

~r

r= −GmM

r2

~r

r

wobei M ≡ m1 +m2.Nach (1.21) ist der Drehimpuls konstant, d.h.

~L = ~r × ~p = konst.

Dies folgt auch aus dem Noether-Theorem, da eine Rotationsinvarianz vorliegt: weder die kinetische,noch die potenzielle Energie andern sich bei einer Rotation des Koordinatensystems. Das Problem besitztKugelsymmetrie, d.h. Drehungen um irgendeine feste Achse haben keinen Einfluss auf die Losungen.

Da der Ortsvektor senkrecht zum konstanten Drehimpuls steht,

~r · ~L = ~r · (~r × ~p) = 0 ,

verlaufen Zentralkraftbewegungen in einer Ebene. (Fur den Spezialfall ~L = 0 ist ~r ‖ ~r, d.h. die Bewegungverlauft sogar langs einer Linie.)

Konservative Zentralkrafte lassen sich ausdrucken als

~F (~r) = f(r)~r

r, f(r) = −dV (r)

dr, (7.6)

wobei das Potenzial V (r) nur von r ≡ |~r| abhangt (Vgl. Abschnitt 1.5).Weil die Bewegung in einer Ebene stattfindet, reicht es, das System durch zwei Freiheitsgrade zu

beschreiben. Wir wahlen Polarkoordinaten und verwenden den Lagrange-Formalismus:

L =m

2

(r2 + r2ϕ2

)− V (r) . (7.7)

Die entsprechenden Bewegungsgleichungen sind

mr = −dVdr

+mrϕ2

undmr(rϕ+ 2rϕ) = 0 .

Wegen der zweiten Zeitableitungen sind zur Losung eigentlich vier Integrationen notig. Unter Verwendungder Erhaltungsgroßen konnen wir dies auf zwei Integrationen reduzieren.

Die Variable ϕ ist zyklisch, also ist

pϕ =∂L

∂ϕ= mr2ϕ = konst (7.8)

eine Erhaltungsgroße. Dies ist der Drehimpuls.Außerdem sind alle zu Beginn von Abschnitt 4.4 genannten Bedingungen dafur erfullt, dass die Energie

eine Erhaltungsgroße ist. Insbesondere ist L nicht explizit zeitabhangig. Es gilt also

E =m

2

(r2 + r2ϕ2

)+ V (r)

(7.8)=

m

2r2 +

p2ϕ

2mr2+ V (r) = konst . (7.9)

59

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Wir gehen weiterhin so vor wie beim Losen der Aufgabe mit dem Teilchen im Kreiskegel (Abschnitt 4.4).Auflosen von (7.9) nach r ergibt

r ≡ dr

dt= ±

√2

m

(E − V (r)−

p2ϕ

2mr2

). (7.10)

Die beiden Vorzeichen gelten jeweils fur verschiedene Bahnabschnitte, namlich fur diejenigen, bei denenr mit der Zeit zunimmt, und fur diejenigen, bei denen r mit der Zeit abnimmt. Der Ausdruck unter derWurzel in Gleichung (7.10) darf nicht negativ sein. Wenn er Null wird, also wenn

r = 0 bzw. V (r) +p2ϕ

2mr2= E (7.11)

ist, hat die Bewegung dort einen Umkehrpunkt. Damit es einen minimalen Abstand gibt, muss −V (r)im Limes r → 0 negativ werden, oder, wenn es positiv ist, langsamer anwachsen als p2

ϕ/2mr2. Wenn es

auch einen maximal moglichen Abstand gibt, nennt man die Bewegung “gebunden”.Es bleiben jetzt noch zwei Integrationen ubrig, denn die Gleichungen erster Ordnung (7.8),(7.10) sind

noch zu losen. Integration von (7.10) mit r0 ≡ r(t = 0) ergibt

dt

dr= ± 1√

2m

(E − V (r)− p2ϕ

2mr2

) ⇒ t = ±∫ r

r0

dr′√2m

(E − V (r′)− p2ϕ

2mr′2

) . (7.12)

Die Radialbewegung r = r(t) ergibt sich aus der Umkehrung von (7.12) fur vorgegebene V (r), E, pϕ. DieseLosungen gelten jeweils fur Abschnitte, bei denen r ein festes Vorzeichen hat. An den Umkehrpunktenwerden die Losungen zu verschiedenen Vorzeichen aneinander gefugt.

Mit (7.8), d.h. ϕ = dϕdt =

pϕmr2(t) und ϕ0 ≡ ϕ(t = 0) ist

ϕ(t) =pϕm

∫ t

0

dt′

r2(t′)+ ϕ0 . (7.13)

Damit ist das Problem formal auf Integrale mit vier (Integrations-)konstanten pϕ, E, r0, ϕ0 zuruckgefuhrt.Wenn man sich nur fur die Bahngestalt, und nicht fur den zeitlichen Ablauf interessiert, bestimmt

man die geometrische Bahn r(ϕ) bzw. ϕ(r) statt der beiden Großen r(t), ϕ(t). Die Berechnung geht so:

1) dt(7.8)=

mr2

pϕdϕ , 2) dt

(7.10)= ± dr√

2m

(E − V (r)− p2ϕ

2mr2

)1),2)⇒ mr2

pϕdϕ = ± dr√

2m

(E − V (r)− p2ϕ

2mr2

) ⇔ dϕ = ±pϕm

dr

r2

√2m

(E − V (r)− p2ϕ

2mr2

)⇒ ϕ(r) = ±pϕ

m

∫ r

r0

dr′

r′2√

2m

(E − V (r′)− p2ϕ

2mr′2

) + ϕ0 . (7.14)

7.2 Das zweite Keplersche Gesetz

Das zweite Keplersche Gesetz besagt, dass der “Fahrstrahl”, also die Verbindungslinie von der Sonne zudem betrachteten Planeten, in gleicher Zeit gleiche Flachen uberstreicht. Historisch betrachtet hat Keplerdieses Gesetz vor seinen beiden anderen Gesetzen gefunden, als er die Bahn des Planeten Mars genauuntersuchte und feststellte, dass die Geschwindigkeit des Planeten schneller ist, wenn der Planet naheran der Sonne ist.

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Dieses Gesetz folgt direkt aus der Drehimpulserhaltung und gilt fur alle konservativen Zentralkrafte,nicht nur fur Krafte der Form f(r) ∝ 1/r2. Wir bezeichnen die uberstrichene Flache mit A, und fur dieAnderung von A gilt

dA =1

2r rdϕ

⇒ dA

dt=

1

2r2 dϕ

dt

(7.8)=

pϕ2m

= konst . (7.15)

Also ist 12r

2ϕ die Flachengeschwindigkeit, d.h. die Flache, die vom Radiusvektor pro Zeiteinheituberstrichen wird, und sie ist identisch mit dem Drehimpuls.

7.3 Das effektive Potenzial

Fur Potenziale vom Typ V (r) = arn+1, d.h. Krafte F ∝ rn, fuhren die Bewegungsgleichungen furn = 1,−2,−3 auf elementare Integrale und fur n = 5, 3, 0,−4,−5,−7 auf die sogenannten elliptischenFunktionen (siehe z.B. Goldstein S.81-83). Berechnungen und Ergebnisse sind i.A. kompliziert. QualitativeAussagen uber die radiale Bewegung lassen sich aber durch Betrachtung des effektiven Potenzials Veff(r)machen. Wir schreiben die Gesamtenergie (7.9) als

E =m

2r2 + Veff(r) (7.16)

mit dem sogenannten “effektiven Potenzial”

Veff(r) ≡ V (r) +p2ϕ

2mr2︸ ︷︷ ︸Zentrifugalpotenzial

. (7.17)

Dieses setzt sich zusammen aus dem zur Zentralkraft gehorenden Potenzial und dem “Zentrifugalpoten-zial”, aus dessen Ableitung nach r sich die Zentrifugalkraft ergibt.

Als Beispiel betrachten wir den harmonischen Oszillator, der durch das Potenzial

V (r) =1

2fr2

definiert ist, also ist die Kraft~F (~r) = −f~r

eine lineare Ruckstellkraft, wie z.B. bei einem Pendel mit kleiner Auslenkung oder einer Masse an einerelastischen Feder.

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Das effektive Potenzial geht sowohl fur r → 0 als auch fur r →∞ gegen Unendlich und hat dazwischenirgendwo ein Minimum. Die Energie muss mindestens so groß wie das effektive Potenzial an diesemMinimum sein, damit eine Losung (7.10) existiert. Die Bewegung hat zwei Umkehrpunkte, die sich ausder Bedingung E = Veff(r) ergeben. Die Bewegung ist also “gebunden”.

Fur pϕ = 0 gilt Veff = V , und die Bewegung verlauft langs einer Geraden, z.B. langs der x-Achse. Dielineare Ruckstellkraft Fx = −fx fuhrt dann auf eine einfache harmonische Schwingung.

Fur pϕ 6= 0 geht die Bewegung nicht durch das Kraftzentrum. An der komponentenweisen DarstellungFx = −fx und Fy = −fy sehen wir, dass die Bewegung die Resultierende zweier harmonischer Schwin-gungen im rechten Winkel zueinander mit gleicher Frequenz ist. Dies fuhrt i.A. auf elliptische Bahnen.(Wenn die Frequenzen nicht gleich waren, ergaben sich Lissajous-Figuren.)

Wenn E den minimal moglichen Wert hat, namlich den des Minimums von Veff(r), dann liegt eineKreisbahn vor. Das Minimum von Veff ergibt sich aus der Gleichung

0 =dVeff

dr= fr −

p2ϕ

mr3,

und der Radius der Kreisbahn ergibt sich folglich zu

r0 =

(p2ϕ

mf

)1/4

.

7.4 Geschlossene und offene Bahnen

Fur eine gebundene Bewegung zwischen zwei Umkehrpunkten r1, r2 andert sich ϕ bei einem vollen Zyklusr1 → r2 → r1 mit (7.14) um

∆ϕ = +pϕm

∫ r2

r1

dr′

r′2√

2m

(E − V (r′)− p2ϕ

2mr′2

)−pϕm

∫ r1

r2

dr′

r′2√

2m

(E − V (r′)− p2ϕ

2mr′2

)= 2

pϕm

∫ r2

r1

dr′

r′2√

2m

(E − V (r′)− p2ϕ

2mr′2

) .Die Bahn heißt geschlossen, falls

∆ϕ =m

n2π (7.18)

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ist mit ganzen Zahlen m und n, d.h. wenn n Radialzyklen m Umlaufe ergeben, so dass sich die Kurvenach m Umfaufen schließt.

Sonst ist die Bahn offen. Nur der harmonische Oszillator, V = f2 r

2, und das Keplerpotenzial, V = −αr ,haben finite geschlossene Bahnen fur alle Anfangsbedingungen.

7.5 Kepler-Potenzial

Das wichtigste Zentralkraftpotenzial, das Kepler-Potenzial

V (r) = −Gm1m2

r≡ −α

r(7.19)

der Planetenbewegung, wird im Folgenden ausfuhrlich behandelt. Das effektive Potenzial fur Bewegungenim Gravitationsfeld ist nach (7.17)

Veff(r) = −αr

+p2ϕ

2mr2.

Damit ist

E = Veff(r) +1

2mr2 ,

was genau derselbe Ausdruck ist, den man in einem eindimensionalen System hatte, in dem das Potenzialdem Veff entspricht.

Folgende Falle sind zu unterscheiden:

1) E = E1 ≥ 0: Da das effektive Potenzial fur r → 0 gegen +∞ geht, gibt es einen minimalen Abstandr1 der Masse m vom Kraftzentrum. Dieser ist durch die Bedingung Veff(r1) = E1 festgelegt. Da Veff

fur genugend große r negativ ist, gibt es keinen außeren Umkehrpunkt. Die Bahn ist infinit undbeschreibt einen Streuvorgang, d.h. ein aus dem Unendlichen ankommendes Teilchen wird aufgrunddes Zentrifugalpotenzials zuruckgestoßen und wandert wieder ins Unendliche. Nur fur pϕ = 0 sturztdas Teilchen ins Kraftzentrum. Wir werden spater herausfinden, dass fur pϕ 6= 0 und E1 > 0 eineHyperbelbahn und fur E1 = 0 eine Parabelbahn vorliegt.

2) Wenn E negativ ist, ist die Bewegung gebunden, weil Veff fur r → ∞ gegen Null geht, also furgenugend große r uber dem Wert von E liegt. Es gibt also zwei Umkehrpunkte, diese seien bei denRadien r2 (innen) und r3 (außen). Wir bezeichnen mit E2 die Energie Veff(r2) und mit E3 denminimalen Wert von Veff . Wenn E3 < E = E2 < 0 ist, ist die Bahn finit und beschreibt einengebundenen Zustand. Das Teilchen lauft zwischen den Umkehrpunkten r2 und r3 hin und her.

3) Die Energie entspricht dem Minimum von Veff . Die Bahn bildet einen Kreis mit Radius

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dVeff

dr

∣∣∣∣r

= r0 =α

r20

−p2ϕ

mr30

= 0 ⇒ r0 =p2ϕ

mα. (7.20)

Wir berechnen nun noch die geometrische Bahn ϕ(r). (7.19) in (7.14) eingesetzt ergibt:

ϕ(r) = ±∫ r

r0

dr′

r′2√− 1r′2

+ 2mαp2ϕr′ + 2mE

p2ϕ

+ ϕ0 . (7.21)

Substitution u′ = 1r′ ⇒ du′ = − 1

r′2dr′ ergibt

ϕ(u) = ∓∫ u

u0

du′√−u′2 + 2mα

p2ϕu′ + 2mE

p2ϕ

+ ϕ0 .

Unter Benutzung von ∫dx√

ax2 + bx+ c=

1√−a

arccos

(2ax+ b√b2 − 4ac

)fur a < 0 , b2 − 4ac > 0 ergibt sich

ϕ(u) = ∓ arccos

−2u+ 2mαp2ϕ√(

2mαp2ϕ

)2

+ 8mEp2ϕ

+ ϕ0 (7.22)

= ∓ arccos

1− p2ϕmαu√

1 +2Ep2ϕmα2

+ ϕ0 . (7.23)

Auflosen von (7.22) nach u ergibt mit cos (±(ϕ− ϕ0)) = cos(ϕ− ϕ0) dann

1

r≡ u =

p2ϕ

[1−

√1 +

2Ep2ϕ

mα2cos(ϕ− ϕ0)

].

Wir wahlen ϕ0 ≡ ϕ0 + π. Mit cos(ϕ− ϕ0 + π) = − cos(ϕ− ϕ0) lautet dann die Bahngleichung

1

r= C (1 + ε cos(ϕ− ϕ0)) . (7.24)

Wir definieren die Exzentrizitat ε der Bahn

ε ≡√

1 +2Ep2

ϕ

mα2. (7.25)

C−1 =p2ϕmα heißt “Parameter” der Bahn, der Winkel ϕ0 das Perihel. (Bei ϕ = ϕ0 ist die Bahn dem

Koordinatenursprung am nachsten.)Die Bahngleichung (7.24) ist die Gleichung eines Kegelschnittes, dessen einer Brennpunkt im Koordi-

natenursprung (Kraftzentrum) liegt. Fur die betrachteten Falle in der Diskussion des effektiven Potenzialsergeben sich die folgenden Bahneigenschaften:

1) E = E1 ≥ 0:

a) E = E1 > 0(7.25)⇒ ε > 1, d.h. die Bahn ist eine Hyperbel

b) E = E1 = 0⇒ ε = 1, d.h. die Bahn ist eine Parabel

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2) E3 < E = E2 < 0 ⇒ 0 < ε < 1, d.h. die Bahn ist eine Ellipse. Dass die Planetenbahnen Ellipsensind, ist das Erste Keplersche Gesetz.

Perihel-Abstand: rp(7.25) mit cos(ϕp−ϕ0)=1

=1

C(1 + ε),

Aphel-Abstand: rAcos(ϕA−ϕ0)=−1

=1

C(1− ε)(7.26)

vom Koordinatenursprung. Die große Halbachse a der Ellipse ist definiert als

a =rP + rA

2

(7.26)=

1

C(1− ε2)

(7.25)= −

p2ϕ

mα2

2Ep2ϕ

= − α

2E.

Also istE = − α

2a, (7.27)

d.h. die Energie des Teilchens auf der Ellipsenbahn hangt nur von a ab.

Zur Bestimmung der kleinen Halbachse b setzen wir ϕ0 = 0. Der Abstand c des Kraftzentrums vomEllipsenmittelpunkt ist

c = a− rP =ε

C(1− ε2).

Die kleine Halbachse schneidet die Ellipse bei einem Winkel ϕ, der durch die Bedingung r(ϕ) cos(ϕ) =−c gegeben ist. Dies ergibt cos(ϕ) = −ε und r−1 = C(1− ε2). Die Lange der kleinen Halbachse istgegeben durch die Bedingung b2 = r2 − c2, was schließlich

b =1

C√

1− ε2

ergibt.

Damit konnen wir das dritte Keplersche Gesetz herleiten: Die Flache der Ellipse ist

A = πab = π1

C2(1− ε2)3/2=πa3/2

√C

.

Außerdem ist die Flache A wegen dem zweiten Keplerschen Gesetz (7.15) identisch mit pϕT/2m,wobei T die Umlaufdauer ist. Gleichsetzen dieser beiden Ausdrucke fur A und Einsetzen der Kon-stanten ergibt das Dritte Keplersche Gesetz

a3

T 2= konst , (7.28)

wobei wir seit Newton auch den Wert der Konstanten kennen,

konst =α

4mπ2=G(m1 +m2)

4π2.

Da die Masse eines Planenten sehr viel kleiner ist als die Sonnenmasse, kann die Summe der beidenMassen durch die Sonnenmasse genahert werden. Dann ist das Verhaltnis a2/T 3 weder von derPlanetenmasse, noch von seiner Energie oder seienm Drehimpuls abhangig. Also ist dieses Verhaltnisfur alle Planeten gleich.

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3) E = E3 ≡ Veff

(r0

(7.20)=

p2ϕmα

)= −mα

2

p2ϕ︸ ︷︷ ︸

−α/r

+mα2

2p2ϕ︸ ︷︷ ︸

p2ϕ/(2mr2)

= −mα2

2p2ϕ

(7.25)⇒ ε = 0 , d.h. die Bahn ist ein Kreis; aus (7.24) fur ε = 0 folgt:

r0 = C−1 =p2ϕ

⇒ E = − α

2r0(7.29)

D.h., fur r0 = a sind die Energien fur Kreis- und Ellipsenbahnen gleich.

Aufgaben

1. Betrachten Sie das Teilchen im Kreiskegel. Gehen Sie aus von der Rechnung in Abschnitt 4.4.

(a) Schreiben Sie durch Einfuhren einer modifizierten Masse und eines modifizierten Winkels dieLagrange-Funktion so um, dass sie genau wie diejenige eines Zentralpotenzials aussieht.

(b) Was ist das effektive Potenzial?

(c) Skizzieren Sie Veff(r) und begrunden Sie hieraus, dass die Bewegung gebunden ist. ZeichnenSie in Ihrer Skizze den minimalen und den maximalen Radius ein.

(d) Fur welches r resultiert eine Kreisbahn?

(e) Erwarten Sie, dass die Bahnen geschlossen sind?

2. Lenz-Vektor: Fur die Bahn ~r(t) im Kepler-Potenzial definieren wir den Lenzschen Vektor ~Λ als

~Λ =m

α~r × (~r × ~r)− ~r

r=~p× ~Lαm

− ~r

r.

Zeigen Sie

(a) ~Λ ist eine Erhaltungsgroße, d.h. d~Λ/dt = 0.

(b) |~Λ| ist gleich der Exzentrizitat ε.

(c) ~Λ zeigt zum Perihel, also ~Λ ‖ ~rP . (rP ist der Vektor vom Kraftzentrum zum Perihel.)

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Kapitel 8

Streuung im Zentralkraftfeld

Eine wichtige Anwendung von Zentralkraftfeldern ist die Streutheorie. Streuphanomene werden in vielenBereichen der Physik untersucht, um die Eigenschaften der Materie auf verschiedensten Langen- undEnergieskalen zu ergrunden, von Femtometern (und GeV) in der Teilchenphysik bis zu Nanometern (undmeV) in der Festkorperphysik. Wegen der Wellennatur von Teilchen muss die Energie der Geschosse umso hoher sein, je kleiner die Struktur ist, die man anhand ihres Streuverhaltens untersuchen mochte. DieBerechnungen mussen deshalb in der Regel im Rahmen der Quantentheorie durchgefuhrt werden. Trotz-dem ist die Methode der Streutheorie in der klassischen Mechanik und der Quantenmechanik weitgehendgleich, und teilweise werden Aussagen der klassischen Streutheorie zumindest approximativ in der Quan-tenmechanik bestatigt. Die Bilder und Formeln im folgenden Text sind fur den Fall eines abstoßendenPotenzials gemacht. Streuung in einem anziehenden Potenzial geht analog.

8.1 Stoßparameter

Als erstes wichtiges Konzept definieren wir den Stoßparameter s. Wir gehen davon aus, dass die Kraft imUnendlichen auf Null geht, so dass das Teilchen zunachst mit Geschwindigkeit v0 auf einer geraden Bahnangeflogen kommt, dann durch das Kraftzentrum abgelenkt wird, und sich nach dem Stoß wieder einer(anderen) geraden Bahn annahert. Verlangert man diese asymptotischen geraden Bahnen am Kraftzen-trum vorbei, dann ist der Stoßparameter s der geringste Abstand dieser Geraden vom Kraftzentrum.

Der Drehimpuls der einlaufenden Teilchen bzgl. des Kraftzentrums lasst sich durch s ausdrucken:

pϕ = mv0s =√

2mE s , E =1

2mv2

0 = konst

wobei v0 die Anfangsgeschwindigkeit fur große Abstande vom Kraftzentrum ist und die Kraft fur großeAbstande gegen Null gehen soll.

Im Zentralkraftfeld ist die Bewegung symmetrisch bzgl. des Perihels P . Daher ist der Streuwinkel

θ = π − 2ϕ0 .

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Der Winkel ϕ0 im Perihel der Bahn ist nach (7.14):

ϕ0 = ϕ(r∞)− ϕ(rmin)

=pϕm

∫ ∞rmin

dr

r2

√2m

(E − V (r)− p2ϕ

2mr2

)Durch die Substitution u = 1/r und mit p2

ϕ = 2mEs2 ergibt sich fur den Streuwinkel:

θ(s) = π − 2s

∫ umax

0

du√1− s2u2 − V (1/u)/E

. (8.1)

8.2 Differentieller Wirkungsquerschnitt

Um genugend Statistik zu erhalten, schießt man nicht nacheinander einzelne Teilchen auf das Target,sondern verwendet “homogene” Teilchenstrahlen mit moglichst großer Teilchendichte. Die Intensitat I istdie Zahl der Teilchen, die pro Sekunde durch eine Einheitsflache senkrecht zur Teilchengeschwindigkeitlaufen (Einheit von I: s−1m−2).

Der Teilchenstrahl enthalt also Teilchen mit verschiedenen Stoßparametern. Die Zahl der pro Zeitein-heit einfallenden Teilchen mit einem Stoßparameter, der zwischen s und s+ ds liegt, betragt

2πsds︸ ︷︷ ︸Flache

I .

Dies muss gleich der Anzahl der Teilchen sein, die in einen Raumwinkel dΩ = 2π sin θdθ zwischenθ und θ + dθ gestreut werden (vorausgesetzt der Zusammenhang zwischen θ und s ist eindeutig). DenZusammenhang zwischen dem Stoßparameter s und dem Streuwinkel θ schreiben wir als

2πsds I = −σ(θ) 2π sin θdθ︸ ︷︷ ︸dΩ

I .

Das negative Vorzeichen kommt daher, dass fur großere s eine geringere Kraft auf das Teilchen wirkt,d.h. der Streuwinkel wird kleiner. Der Proportionalitatsfaktor σ(θ) ≡ dσ/dΩ mit der Einheit Flache wirdals differentieller Wirkungsquerschnitt bezeichnet:

σ(θ) = − s

sin θ

ds

dθ, 0 ≤ θ ≤ π .

Integriert man den Wirkungsquerschnitt uber den gesamten Raumwinkel, der zu dem Bereich θ > θ0

gehort, so erhalt man diejenige Querschnittsflache des einfallenden Teilchenstrahls, deren Teilchen um

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mindestens den Winkel θ0 gestreut werden. Fur den Wirkungsquerschnitt hat sich die Einheit “Barn”eingeburgert. Ein Barn ist 10−28 Quadratmeter. Das englische Wort “barn” bedeutet “Scheune”. BeiStreuexperimenten mit Atomkernen maß man uberraschend große Wirkungsquerschnitte fur die Streuungmit Streuwinkeln großer als 90 Grad, verglichen mit der Querschnittsflache der Atomkerne. So kam es zuder Namensgebung.

8.3 Rutherford-Streuung

Wir betrachten die Streuung geladener Teilchen im Coulomb-Feld, mit einem abstoßenden Potenzial derForm

V (r) = +K

r,

d.h. die Energie ist immer großer als Null, und es treten nur infinite Bahnen auf. Das Coulomb-Potenzialhat genau dieselbe Form wie das Gravitationspotenzial, das wir im vorigen Kapitel ausfuhrlich behandelthaben. Wir mussen nur den Parameter α durch −K ersetzen. Also erhalten wir die (7.24) entsprechendeBahngleichung, indem wir das Vorzeichen von C umkehren:

1

r= C (−1 + ε cos(ϕ− ϕ0)) ,

wobei ε definiert ist als (vgl. (7.25))

ε ≡√

1 +2Ep2

ϕ

mK2, C−1 =

p2ϕ

mK.

Im Gegensatz zum vorigen Kapitel verschieben wir ϕ0 nicht um π, da wir ϕ0 wieder so definieren wollen,dass bei diesem Winkel das Perihel ist. Also ist r minimal fur ϕ = ϕ0. Wir wahlen ϕ0 so, dass ϕ(r∞) = 0ist. Also ist

0 =1

r∞= C (−1 + ε cos(0− ϕ0)) ⇔ cosϕ0 =

1

ε.

Fur den Streuwinkel θ gilt 0 ≤ θ ≤ π und

θ ≡ π − 2ϕ0 ⇒ sinθ

2≡ sin

(π2− ϕ0

)= cosϕ0 .

Mit pϕ =√

2mE s ergibt Auflosen von

sinθ

2=

1

ε=

1√1 +

(2EsK

)2nach s:

s =K

2E

(1

sin2 θ2

− 1

)1/2

=K

2Ecot

θ

2mit sin2 x =

1

1 + cot2 x.

Also ist der Wirkungsquerschnitt

σ(θ) = − s

sin θ

ds

dθcot′( θ2 )=− 1

21

sin2 θ2=

(K

2E

)2

cotθ

2

1

sin θ

1

2 sin2 θ2

sin θ=2 sin θ2 cos θ2=

1

4

(K

2E

)21

sin4 θ2

.

1906 bis 1913 fuhrten Rutherford, Geiger und Marsden Streuexperimente durch, bei denen sie α-Teilchenauf eine nur ca einen µm dicke Goldfolie schossen. Fur die Auswertung der Experimente war die exakteUbereinstimmung von klassischem und (erst spater berechneten) quantenthereotischem Wirkungsquer-schnitt ein glucklicher Umstand.

69

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8.4 Totaler Wirkungsquerschnitt

Der totale Wirkungsquerschnitt ist definiert als

σtot =

∫σ(θ)dΩ = 2π

∫ π

0

σ(θ) sin θ dθ . (8.2)

In der Rutherford-Streuung ist der totale Wirkungsquerschnitt unendlich. Dies kommt daher, dass dasCoulomb-Potenzial eine unendliche Reichweite hat. Der totale Wirkungsquerschnitt ist die Zahl allerTeilchen, die pro Sekunde in alle Richtungen gestreut werden, dividiert durch die einfallende IntensitatI. Wegen der unendlichen Reichweite des Potenzials werden auch noch solche Teilchen gestreut, die einengroßen Stoßparameter haben. Die Gesamtzahl der pro Zeiteinheit gestreuten Teilchen divergiert also. Nurwenn das Potenzial fur große Abstande schnell genug abfallt, ist der totale Wirkungsquerschnitt endlich.

8.5 Streuung an einer ideal reflektierenden Kugel

Wir wahlen eine feststehende Kugel vom Radius R als Streuzentrum und streuen Massepunkte elastischan ihr. Den Einfallswinkel senkrecht zur Kugeloberflache, der mit dem Ausfallswinkel identisch ist, nennenwir γ. Er hangt mit dem Stoßparameter s uber die Beziehung

sin γ =s

R

zusammen. Also ist der Streuwinkel θ

θ = π − 2γ = π − 2 arcsins

R.

Der Zusammenhang zwischen s und θ ist also

s = R sinπ − θ

2= R cos

θ

2.

Daraus ergibt sich der differenzielle Wirkungsquerschnitt

σ(θ) =s

sin θ

∣∣∣∣dsdθ∣∣∣∣ =

s

sin θ

R

2sin

θ

2=R cos θ2

sin θ

R

2sin

θ

2=R2

4.

Er ist also unabhangig vom Winkel θ.Fur den totalen Wirkungsquerschnitt erhalten wir

σtot =

∫σ(θ)dΩ = 2π

∫ π

0

σ(θ) sin θdθ = πR2 .

Dies entspricht der Querschnittsflache der Kugel, was zu erwarten war.

8.6 Streuung im Laborsystem

Bisher wurde nur die Streuung im Feld eines im Koordinatenursprung verankerten Kraftzentrums un-tersucht. In der Praxis aber werden Teilchen nicht auf ein ortsfestes Kraftzentrum geschossen, sondernauf andere Teilchen, die entweder durch den Stoß in Bewegung versetzt werden oder sich von Anfang anebenfalls bewegen.

Der im Laborsystem gemessene Streuwinkel θL ist nicht identisch mit dem Streuwinkel θ im Schwer-punktsystem. Wir mussen daher eine Beziehung zwischen den Winkeln θ und θL aufstellen. Wir be-schranken uns dabei auf den Fall, dass das Targetteilchen mit der Masse m2 vor der Streuung im Labor-system ruht. Wir bezeichnen die Geschwindigkeiten vor der Streuung mit ~v und nach der Streuung mit

70

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~u. Im Laborsystem geben wir allen Ortsvektoren und Geschwindigkeiten den Index L, und im Schwer-punktsystem geben wir ihnen keinen Index.

Da das Teilchen 2 vor dem Stoß ruht, ist die Geschwindigkeit des Schwerpunkts im Laborsystemgegeben durch

~vSL =m1

m1 +m2~v1L .

Die Geschwindigkeit nach der Streuung erfullt die Gleichung

u1L sin θL = u1 sin θ ,

da die Geschwindigkeitskomponenten senkrecht zur Schwerpunktsbewegung in beiden Bezugssystemengleich sind. Außerdem gilt

u1L cos θL = u1 cos θ + vSL .

Division der ersten durch die zweite Gleichung fuhrt auf

tan θL =sin θ

cos θ + m1

m1+m2

vL1

u1

. (8.3)

Wegen der Energieerhaltung ist im Schwerpunktsystem die Geschwindigkeit u1 des Teilchens 1 nach derStreuung gleich der Geschwindigkeit v1L − vSL des Teilchens 1 vor der Streuung:

u1 = v1L − vSL = v1L −m1

m1 +m2v1L =

m2

m1 +m2v1L .

Einsetzen in (8.3) ergibt

tan θL =sin θ

cos θ + m1

m2

. (8.4)

Der Streuwinkel im Laborsystem ist also stets kleiner als im Schwerpunktsystem.Quadrieren der Gleichung (8.4) fuhrt auf eine quadratische Gleichung fur cos θ. Von den beiden

Losungen dieser Gleichung ist diejenige zu nehmen, fur die im Fall m1 m2 der Streuwinkel im Labor-und Schwerpunktsystem fast gleich ist. Man erhalt also

cos θ = −m1

m2

(1− cos2 θL

)+ cos θL

√1−

(m1

m2

)2

(1− cos2 θL) . (8.5)

Wir haben also unter Verwendung des Energie- und des Impulssatzes die Beziehung zwischen dem Streu-winkel θ im Schwerpunktsystem und dem Streuwinkel θL im Laborsystem gefunden.

Der Streuwinkel ψL des Targetteilchens kann durch eine ahnliche Rechnung ermittelt werden. DasErgebnis ist

ψL =π − θ

2. (8.6)

Es ist noch interessant, den Fall m1 = m2 zu betrachten. Gleichung (8.4) liefert

tan θL =sin θ

1 + cos θ= tan

θ

2. (8.7)

Daraus folgt

θL =θ

2.

Da θ nicht großer als 180o sein kann, ist der Streuwinkel θL < 90o. Wenn Projektil und Targetteilchengleich schwer sind, erfolgt die Streuung im Laborsystem also in Vorwartsrichtung. Die Gleichungen (8.6)und (8.7) ergeben zusammen

ψL + θL =π

2.

71

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Also laufen gleich schwere Teilchen nach der elastischen Streuung unter einem Winkel von 90o im Labor-system auseinander (wenn der Stoß nicht so zentral ist, dass die erste Kugel nach dem Stoß liegenbleibt).Dieses Ergebnis ist jedem Billardspieler bekannt und setzt vier Bedingungen voraus: Der Stoß ist elastisch,beide Teilchen sind gleich schwer, die Masse m2 ruht vor dem Stoß und die Krafte beim Stoß wirken inradialer Richtung.

Nicht nur der Streuwinkel, auch die differenziellen Wirkungsquerschnitte sind in beiden Bezugssyste-men verschieden. Im Laborsystem ist die Intensitat der einfallenden Teilchen großer als im Schwerpunkt-system, weil ihre Geschwindigkeit großer ist. Wir bezeichnen diese Intensitat mit IL. Der differenzielleWirkungsquerschnitt im Laborsystem wird durch folgende Beziehung definiert:

σL(θL)dΩL = σL(θL)2π sin θLdθL =Zahl der pro Sekunde in den Raumwinkel dΩL gestreuten Teilchen

Intensitat IL der einfallenden Teilchen.

(8.8)Die Zahl der Teilchen, die pro Sekunde mit einem Stoßparameter im Intervall [s, s + ds] einlaufen, istgleich der Zahl der Teilchen, die pro Sekunde in den Winkelbereich [θL, θL + dθL] gestreut werden:

IL · 2πs|ds| = IL · σL(θL)2π sin θL|dθL| .

Daraus folgt

σL(θL) =s

sin θL

∣∣∣∣ dsdθL∣∣∣∣ =

s

sin θ

∣∣∣∣dsdθ∣∣∣∣ · sin θ

sin θL

∣∣∣∣ dθdθL∣∣∣∣ = σ(θ)

sin θ

sin θL

∣∣∣∣ dθdθL∣∣∣∣ = σ(θ)

∣∣∣∣ d cos θ

d cos θL

∣∣∣∣ .Wenn wir fur cos θ die rechte Seite von (8.5) einsetzen, ergibt sich nach einer kurzen Rechnung

σL(θL) = σ(θ)

2m1

m2cos θL +

1 +(m1

m2

)2

cos (2θL)

1−(m1

m2

)2

sin2 θL

. (8.9)

Fur den Streuwinkel θ im Laborsystem in dieser Formel ist Gleichung (8.5) zu nehmen.Wir betrachten wieder den Spezialfall m1 = m2. Dann ist wegen (8.7) θL = θ/2 und folglich

σL(θL) = σ(θ) ·(

2 cos θL +1 + cos(2θL)

cos θL

)= 4σ(2θL) cos θL . (8.10)

Aufgaben

1. Berechnen Sie den differenziellen Wirkungsquerschnitt σ(θ) im Zentralkraftfeld V (r) = β/r2 mitβ > 0.

(a) Stellen Sie eine Beziehung fur den Streuwinkel in Abhangigkeit vom Stoßparameter, also furθ(s), in Form eines Integrals auf.

(b) Welche Beziehung besteht zwischen dem minimalen Abstand rmin und dem Stoßparameter s?

(c) Losen Sie das unter a) erhaltene Integral fur θ(s). (Hinweis: Fur das Kepler-Potenzial habenwir in Kap. 7 bereits ein ahnliches Integral gelost.)

(d) Stellen Sie nun den differentiellen Wirkungsquerschnitt σ(θ) auf.

2. Betrachten Sie zwei identische Kugeln der Masse m1 und des Radius R1. Die eine Kugel sei amAnfang ruhend, und die andere wird an ihr elastisch gestreut. Berechnen Sie den differenziellen undden totalen Wirkungsquerschnitt im Laborsystem.

72

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Kapitel 9

Starrer Korper

In diesem Kapitel betrachten wir die Bewegung starrer Korper. Ein starrer Korper ist ein Korper mitfest vorgegebener Massenverteilung %(~r), dessen Gestalt sich nicht andert. Seine Masse ist

M =

∫d3r%(~r) .

In diesem Kapitel werden keine Deformationen betrachtet. Der starre Korper kann also nur seine Lageund seine Orientierung andern, d.h. er hat 6 Freiheitsgrade, wie wir in Kapitel 2 gesehen haben.

Wir betrachten zwei verschiedene Koordinatensysteme: Ein raumfestes Koordinatensystem K (La-borsystem) mit den Achsen x, y, z, und ein fest im Schwerpunkt S des starren Korpers verankertesintrinsisches Koordinatensystem K mit den Achsen x1, x2, x3. Im System K ist die Massenverteilung %unabhangig von der Zeit, ganz gleich, welche Bewegung der Korper ausfuhrt.

9.1 Kinetische Energie und Tragheitstensor

Um die kinetische Energie zu ermitteln, beginnen wir mit der Betrachtung infinitesimaler Verruckungendes Korpers. Der Punkt P habe die Position ~r in K und die Position ~x = ~r − ~rS in K. Verschiebt undrotiert man den starren Korper ein wenig, so gilt fur P :

d~r = d~rS + d~ϕ× ~x . (9.1)

Die Richtung

n =d~ϕ

|d~ϕ|(9.2)

ist die Rotationsachse (Rotation im Uhrzeigersinn wenn man in Achsenrichtung schaut), und |d~ϕ| istder Winkel, um den der Korper gedreht wird bei festgehaltenem S. Die Drehung ist im folgenden Bildveranschaulicht:

α

~xd~x

n

|d~ϕ|

Wir verwenden |d~x| = |~x| sin (α)|d~ϕ| und d~x ⊥ n, ~x, und erhalten somit d~x = d~ϕ× ~x.Wir dividieren die Gleichung (9.1) durch dt

d~r

dt=

d~rsdt

+d~ϕ

dt× ~x

73

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und schreiben dies in der Form~v = ~V + ~ω × ~x . (9.3)

~V ist die Geschwindigkeit des Schwerpunkts S.Als nachstes bestimmen wir den Ausdruck fur die kinetische Energie. Im korperfesten Koordinaten-

system ist ∫d3x~x%(~x) = 0 , (9.4)

da der Ursprung im Schwerpunkt liegt.Die kinetische Energie ist dann

T =1

2

∫d3x%(~x)

(~V + ~ω × ~x

)2

=1

2~V 2

∫d3x%(~x)︸ ︷︷ ︸M

+1

2~V × ~ω

∫d3x~x%(~x)︸ ︷︷ ︸0

+1

2

∫d3x%(~x)(~ω × ~x)2 . (9.5)

Den letzten Summanden schreiben wir unter Verwendung der Beziehung (~a×~b)2 = ~a2~b2 − (~a ·~b)2 als

1

2ωjJjkωk

mit

Jjk :=

∫d3x%(~x)

[~x2δjk − xjxk .

](9.6)

Hier haben wir die “Einsteinsche Summenkonvention” verwendet, d.h. es wird uber doppelt auftretendeIndizes summiert.

Also haben wir die kinetische Energie in zwei Beitrage zerlegt, die wir unter Verwendung der Matrix-schreibweise fur den Tragheitstensor schreiben konnen als

T = Ttrans + Trot =1

2M~V 2 +

1

2~ωtJ~ω . (9.7)

Das Tragheitsmoment bezgl. eines anderen Koordinatensystems, dessen Ursprung nicht im Schwer-punkt ist, erhalten wir mit dem

Satz von Steiner:

Sei J der Tragheitstensor, wie er im korperfesten System K berechnet wird, das im Schwerpunkt S

zentriert ist, und sei K′

ein zu K achsenparalleles System, das gegenuber diesem um ~a verschoben ist.

Dann ist der in K′

berechnete Tragheitstensor

J ′ij =

∫d3x′%(~x′)

[~x′2δij − x′ix′j

](9.8)

~x′=~x+~a↓= Jij +M

(~a2δij − aiaj

)(9.9)

(denn alle in ~x linearen Terme verschwinden wegen der Schwerpunktbedingung).

74

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Haupttragheitsachsensystem:

Da der Tragheitstensor reell und symmetrisch ist, lasst er sich durch eine orthogonale Transformation aufDiagonalform bringen:

R0J R−1

0= J

0=

I1 0 00 I2 00 0 I3

=

∫d3y%(~y)

y22 + y2

3 0 00 y2

3 + y21 0

0 0 y21 + y2

2

(9.10)

Hierzu bestimmt man die Eigenwerte Ii und Eigenvektoren ~ω(i):

J~ω(i) = Ii~ω(i) . (9.11)

R−1

0hat als Spalten die ~ω(i). I1, I2, I3 sind die (Haupt-)Tragheitsmomente des starren Korpers. Sie sind

positiv und erfullen die UngleichungI1 + I2 ≥ I3

(und analog unter zyklischer Vertauschung der Indizes). Dasjenige korperfeste System, in dem der Tragheits-tensor diagonal ist, heißt Haupttragheitsachsensystem. (Bei Entartung der Eigenwerte gibt es eine Wahl-freiheit.)

Als Beispiel berechnen wir das Tragheitsmoment einer homogenen Kugel der Dichte % und des Ra-dius R: Es ist I1 = I2 = I3 aus Symmetriegrunden, und das Hauptachsensystem ist im Kugelzentrumverankert. Es ist

I1 + I2 + I3 = 3I = 2%

∫r2d3x = 8π%

∫ R

0

r4dr =8π%R5

5.

Mit % = 3M4πR3 erhalten wir daraus

I =2

5MR2 . (9.12)

9.2 Drehimpuls und Bewegungsgleichung des starren Korpers

Wie wir in Kapitel 1 gesehen haben, setzt sich der Drehimpuls zusammen aus dem Bahndrehimpuls unddem Eigendrehimpuls. Wenn wir den Ursprung des Laborsystems in den Schwerpunkt des Korpers legen,verschwindet der Bahndrehimpuls. Es bleibt also

~L =

∫d3x%(~x)~x× ~x

~x=~ω×~x↓=

∫d3x%(~x)~x× (~ω × ~x)

=

∫d3x%(~x)

[~x2~ω − (~x · ~ω)~x

]= J~ω .

Also ist~L = J~ω . (9.13)

~L hat im allgemeinen nicht dieselbe Richtung wie ~ω. Es hat nur dann dieselbe Richtung, wenn ~ω parallelzu einer Hauptachse ist.

Die Rotationsenergie konnen wir nun auch durch den Drehimpuls ausdrucken: Aus (9.7) und (9.13)erhalten wir

Trot =1

2~ω · ~L . (9.14)

75

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Wenn ~ω zur i-ten Hauptachse parallel ist, vereinfachen sich die beiden letzten Gleichungen zu

~L = Ii~ω (9.15)

und

Trot =1

2Ii~ω

2 . (9.16)

Eine zeitliche Anderung des Drehimpulses wird durch ein Drehmoment verursacht (siehe (1.20)),

d~L

dt=∑i

~ri × ~F(ex)i =

∑i

~Ni .

9.3 Kraftefreier Kreisel

Wir betrachten einen rotationssymmetrischen starren Korper (Kreisel) in Abwesenheit von außeren

Kraften. Sei die x3-Achse die Symmetrieachse, so dass I1 = I2 6= I3 ist. Weiterhin sei ~L vorgegebenund bilde den Winkel θ 6= 0 mit der Symmetrieachse. Wir legen die x1-Achse in die von ~L und der Sym-metrieachse aufgespannte Ebene. Dann steht die x2-Achse senkrecht auf dieser Ebene, und L2 = ω2 = 0.Also liegt ~ω in der (1, 3)-Ebene. Diese Situation ist in der folgenden Abbildung am Beispiel eines ellip-soidformigen Kreisels dargestellt, wobei die (1, 3)-Ebene die Papierebene ist:

x1x3

~L~ω

~ωl

~ωPr

Wie schon erwahnt, liegen die Vektoren ~L, ~ω und die Symmetrieachse in einer Ebene, und da man dieseBetrachtung zu jedem Zeitpunkt anstellen kann, liegen sie folglich immer in einer Ebene.

In unserem Beispiel ist I1 > I3. Deshalb liegt der Vektor ~L naher an der x1-Achse als der Vektor ~ω. DieSymmetrieachse x3 bewegt sich nach

”hinten“ (also senkrecht zur Papierebene). Sie rotiert gleichformig

um die Richtung des raumfesten ~L. Man nennt dies die”regulare Prazession“. Die Frequenz der regularen

Prazession erhalten wir durch Aufspalten von ~ω in eine Komponente ~ωl parallel zur x3-Achse und eineKomponente ~ωPr parallel zu ~L:

~ω = ~ωl + ~ωPr .

~ωl ist irrelevant fur die Prazessionsbewegung. Wir berechnen daher ωPr = |~ωPr|: Aus

ω1 = ωPr sin (θ) (9.17)

undL1 = |~L| sin (θ) = I1ω1 = I1ωPr sin (θ) (9.18)

erhalten wir

ωPr =|~L|I1

. (9.19)

~ω uberstreicht bei der regularen Prazession den”Spurkegel“, die Symmetrieachse den

”Nutationskegel“:

76

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~L

~x3

Die Winkelgeschwindigkeit um die Symmetrieachse konnen wir auch durch den Drehimpuls und dieTragheitsmomente ausdrucken: Es ist

ω3 =L3

I3=|~L| cos(θ)

I3. (9.20)

9.4 Starre Korper mit nur einem Freiheitsgrad

Nun betrachten wir starre Korper mit außeren Kraften und beschranken uns zunachst auf Systeme mitnur einem Freiheitsgrad. Es ist zum Beispiel der Korper fest auf einer Rotationsachse montiert, oder errollt auf einer Unterlage in nur einer Richtung. In beiden Fallen behalt die Rotationsachse ihre Richtungbei, und wir konnen den Winkel ϕ als Freiheitsgrad wahlen.

Wir wahlen die z-Richtung parallel zur Rotationsachse. Die kinetische Energie im Laborsystem hatdann die Beitrage

Trot =1

2Jzzϕ

2 (9.21)

Ttrans =1

2M~V 2 =

1

2M~r2

s , (9.22)

wobei ~rs die Geschwindigkeit des Schwerpunkts langs seiner Bahnkurve ist.

Als Beispiel betrachten wir eine Walze auf einer schiefen Ebene:

α

ϕ

y

Die Walze habe den Radius R, die Masse M und die Lange l. Der Schwerpunkt der Walze sei in der Mitteder Walze. Der Zusammenhang zwischen der Position y auf der Ebene und dem Rollwinkel ϕ ist

y = Rϕ , (9.23)

und die Lagrange-Funktion ist

L =1

2Jzz

(y

R

)2

+1

2My2 +Mg sin (α)y . (9.24)

Die Lagrange-Gleichungd

dt

∂L

∂y=∂L

∂y(9.25)

fuhrt auf

y =Mg sin (α)JzzR2 +M

. (9.26)

77

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Wenn die Massenverteilung homogen ist, ist % konstant und M = R2π%l und

Jzz = %

∫ l

0

dz

∫ R

0

dr r

∫ 2π

0

dϕ r2

= %l2πR4

4=

1

2MR2 . (9.27)

Also ist

y =2

3g sinα . (9.28)

Im Unterschied hierzu lautet die Bewegungsgleichung, wenn die Walze reibungsfrei gleitet ohne zu rollen

y = g sinα .

9.5 Die Eulerschen Gleichungen

Nun heben wir die Beschrankung auf einen Freiheitsgrad auf. Wir bestimmen die Bewegungsgleichungenbezogen auf das korperfeste System K, dessen Ursprung im Schwerpunkt liegt. Hierbei ist es wichtig sichbewusst zu machen, dass auch K ein Inerzialsystem sein soll. Wenn wir also die Zeitableitung diverserGroßen bestimmen, betrachten wir die Basisvektoren des Systems K als konstant. Man wahlt sozusagenzu jedem Zeitpunkt ein neues Inerzialsystem, bzgl. dessen alle Großen angegeben werden. Im Kuyperswerden die so berechneten Zeitableitungen “korperfeste Zeitableitungen” genannt.

Wir hatten~N =

d

dt~L

und~x = ~ω × ~x

und~L =

∫d3x %(~x)~x× (~ω × ~x) .

Bemerkung: Wir verstehen alle Großen auf dieser Seite (Vektoren, Tensoren) im System K, aber schreibenkeine Querstriche uber die Großen.

Wir erhalten

d~L

dt=

∫d3x%(~x)

[(~ω × ~x)× (~ω × ~x) + ~x× (~ω × ~x) + ~x× (~ω × (~ω × ~x))

]= 0 + J · ~ω +

∫~ω × (~x× (~ω × ~x))%(~x)d3x

und somit~N = J · ~ω + ~ω × ~L . (9.29)

Dabei haben wir benutzt, dass

~a× (~b× (~a×~b)) = ~b× (~a× (~a×~b))

ist. Denn die linke Seite ist

~a× (~a · b2 −~b(~a ·~b)) = −(~a×~b)(~a ·~b) = (~b× ~a)(~a ·~b)

und die rechte Seite ist~b× (~a(~a ·~b)−~ba2) = (~b× ~a)(~a ·~b) = linke Seite .

78

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Wenn J diagonal ist, lauten die Eulerschen Gleichungen

~N =

I1ω1

I2ω2

I3ω3

+

ω1

ω2

ω3

× I1ω1

I2ω2

I3ω3

=

I1ω1 + ω2ω3(I3 − I2)I2ω2 + ω3ω1(I1 − I3)I3ω3 + ω1ω2(I2 − I1)

. (9.30)

Diese Gleichungen sind nichtlinear und fuhren damit im Allgemeinen auf komplizierte Bewegungen.Wir kommen nun zum Kreisel zuruck und betrachten daher noch einmal einen rotationssymmetrischen

starren Korper ohne außere Krafte (wie in 9.3). Es ist also ~N = 0 und I1 = I2. Aus der dritten Euler-Gleichung folgt sofort, dass ω3 = 0 ist. Wenn wir die erste Euler-Gleichung nach der Zeit ableiten undω2 durch die zweite Euler-Gleichung ausdrucken, erhalten wir

ω1 + ω1(I1 − I3)2ω2

3

I21

= 0 .

Wir definieren

ω20 =

(I1 − I3)2ω23

I21

und erhalten damitω1 = A sin(ω0t− φ) (9.31)

undω2 = −A cos(ω0t− φ) , (9.32)

wobei A und φ durch die Anfangsbedingungen festzulegen sind. Die Vektoren ~ω und ~L rotieren mitFrequenz ω0 um die Symmetrieachse. Dies wird in der Literatur auch “Nutation” genannt. Die Frequenzω0 ist verschieden von der Prazessionsfrequenz ωPr aus Gleichung (9.19), mit der die Symmetrieachse imLaborsystem um den Drehimpuls rotiert.

9.6 Der Schwere Kreisel

S

x3

O

Der Kreisel im Schwerefeld ist ein anspruchsvolles Thema der theoretischen Mechanik, und wir be-schranken uns hier auf eine Berechnung der wesentlichen Phanomene. Der Kreisel sei rotationssymme-trisch um die x3-Achse, und wir definieren

l = OS ,

wobei O der Punkt ist, in dem der Kreisel gestutzt wird. Da der Punkt O fest ist, bleiben von den 6Freiheitsgraden des starren Korpers nur 3 ubrig.

Wir wahlen 3 Winkel als Freiheitsgrade, die sogenannten “Eulerschen Winkel”:

• θ : Winkel zwischen z-Achse und x3-Achse;

• φ: Winkel zwischen Projektion der x3-Achse auf den Boden und der x-Achse des Laborsystems;

• ψ: Winkel zwischen x1-Achse und der Verbindungslinie von S zur z-Achse (Linie ⊥ x3-Achse) .

79

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x

y

z

O −φ

Sx1

x2

x3

θ

Also gibt θ die Neigung des Kreisels an, man nennt θ auch den “Nutationswinkel”. Der Winkel φ wird“Prazessionswinkel” genannt, und er gibt die Orientierung der auf den Boden projizierten Kreiselachsean. Der Winkel ψ ist der “Eigenrotationswinkel”.

Die kinetische Energie ausgedruckt durch die 3 Winkel ist

T =1

2(I1 +Ml2)︸ ︷︷ ︸

I′1

(θ2 + φ2 sin2 θ

)+

1

2I3

(ψ + φ cos θ

)2

(9.33)

Die potenzielle Energie istV = Mgl cos (θ) .

Die Lagrange-Funktion L = T − V erfullt die Gleichungen ∂L∂ψ = 0 und ∂L

∂φ = 0. Also sind ψ und φzyklische Variablen, und

Pψ ≡∂L

∂ψ(9.34)

und

Pφ ≡∂L

∂φ(9.35)

sind Erhaltungsgroßen. Außerdem ist auch die Gesamtenergie E = T + V eine Erhaltungsgroße. Wirhaben folglich genauso viele Erhaltungsgroßen wie Freiheitsgrade und konnen die Losung der Bewegungs-gleichungen finden.

Wir drucken zunachst φ und ψ durch die Erhaltungsgroßen aus:

Pψ = I3

(ψ + φ cos θ

)(9.36)

Pφ =(I ′1 sin2 θ + I3 cos2 θ

)φ+ I3ψ cos θ (9.37)

⇒ φ =Pφ − Pψ cos θ

I ′1 sin2 θ(9.38)

ψ =PψI3− φ cos θ . (9.39)

Dies wird in den Ausdruck fur die Energie eingesetzt:

E = T + V =1

2

(I ′1

(θ2 + φ2 sin2 θ

)+ I3

(ψ + φ cos θ

)2)

+Mgl cos θ

=1

2I ′1θ

2 +P 2ψ

2I3+Mgl +

(Pφ − Pψ cos θ)2

2I ′1 sin2 θ−Mgl (1− cos θ)︸ ︷︷ ︸

≡Ueff (θ)

. (9.40)

Weil E eine Erhaltungsgroße ist, ist auch

E′ ≡ E −P 2ψ

2I3−Mgl =

1

2I ′1θ

2 + Ueff (θ) (9.41)

80

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eine Erhaltungsgroße. Der Ausdruck fur E′ ist der eines gewohnlichen eindimensionalen Problems mitder Variablen θ und dem Potenzial Ueff .

Wir diskutieren die Dynamik des Kreisels im Folgenden qualitativ:

• Es ist E′ > Ueff (so wie beim Zentralkraftproblem E ≥ Veff gilt).

• Wenn Pφ 6= Pψ ist: limθ→0 Ueff = limθ→π Ueff =∞

• Definiere u(t) = cos θ(t). Dann ist

θ2 =u2

1− u2

undu2 = f(u)

mit

f(u) =(1− u2

) [2E′

I ′1+

2Mgl(1− u)

I ′1

]− (Pφ − Pψu)

2

I ′21(9.42)

u ∈ [−1, 1] und f(u) ≥ 0 .

Wir unterscheiden drei Falle:

1. u = 1 entspricht Pφ = Pψ und u = 0 (stehender Kreisel)

2. u = −1 bedeutet Pφ = −Pψ und u = 0 (hangender Kreisel)

3. −1 < u < 1: schiefer Kreisel

• f(u) ist positiv zwischen zwei Werten u1, u2 ∈]− 1, 1[. Also bewegt sich θ(t) zwischen zwei Wertenθ1 und θ2.

Betrachte

φ =PφI ′1

u0 − u1− u2

(mit u0 =PψPφ

)

zusatzlich zu θ bzw. u:

Man muss 3 Falle unterscheiden, je nachdem wie u0 relativ zu u1 und u2 liegt:

1. u0 > u2 (bzw. u0 < u1):⇒ φ hat stets dasselbe Vorzeichen. Die Bewegung des Durchstoßpunktes der x3-Achse durch eineKugelschale (in deren Mittelpunkt der Auflagepunkt ist) sieht folgendermaßen aus:

2. u1 < u0 < u2 ⇒ φ hat am oberen Breitengrad ein anderes Vorzeichen als am unteren:

81

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3. u0 = u1 oder u0 = u2

φ verschwindet an einem Breitenkreis.

Aufgaben

1. Wir betrachten ein Jojo (Masse M , Tragheitmoment Jzz bzgl. Symmetrie-Achse, Fadenlange L,Faden sei masselos). Der Radius der Achse, um die der Faden gewickelt ist, sei R (siehe Bild), undder Schwerpunkt S sei in der Mitte der Achse.

~ex

(a) Bestimmen Sie die Lagrangefunktion.

(b) Bestimmen Sie die Bewegungsgleichungen.

(c) Am untersten Punkt, wenn der Faden vollstandig abgewickelt ist, wird das Jojo elastischreflektiert. Was ist folglich die Schwingungsperiode?

2. Ein Halbkreiszylinder (d.i. ein langs der Symmetrieachse halbierter Zylinder) mit dem Radius Rund der Masse M (mit homogener Massenverteilung) fuhrt auf einer horizontalen Ebene unter demEinfluss der Schwerkraft eine Wippbewegung aus (er rollt also auf dem runden Teil seiner Berandunghin und her).

(a) Bestimmen Sie die Tragheitsmomente IA, IS , IP um die Zylinderachse A, die Schwerpunkt-sachse S und den Auflagepunkt P .

(b) Bestimmen Sie die Bewegungsgleichung fur den Kippwinkel ϕ.

(c) Was ist die Schwingungsperiode im Grenzfall kleiner Kippwinkel?

(d) Schreiben Sie die drei verschiedenen Moglichkeiten hin, die kinetische Energie in einen Translations-und einen Rotationsanteil zu zerlegen, indem Sie jede der drei in a) erwahnten Achsen einmalals Rotationsachse verwenden.

82

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Kapitel 10

Schwingungen

In diesem vierten Kapitel zur Anwendung der Lagrange-Mechanik befassen wir uns mit Schwingungen.Wir betrachten hier in erster Linie kleine Schwingungen um eine stabile Gleichgewichtslage. Allgemeinist die Schwingungstheorie eine der bedeutendsten Anwendungen der Mechanik. Sie bildet eine wichtigeGrundlage des Maschinenbaus und der Elektrotechnik, deren Schwingkreise ahnlichen Differenzialglei-chungen unterliegen wie mechanische Schwinger. Der harmonische Oszillator spielt eine zentrale Rolle,da er nicht nur in der klassischen Mechanik auftritt, sondern auch fur die theoretische Formulierung derQuantenmechanik und der Quantenfeldtheorie eine bedeutende Rolle spielt.

10.1 Schwingungen mit einem Freiheitsgrad

Dieses Unterkapitel behandelt zwei wichtige Beispiele als Vorbereitung auf die Behandlung von Schwin-gungen mit mehreren Freiheitsgraden: den gedampften harmonischen Oszillator und den durch eine har-monische Kraft erregten, gedampften harmonischen Oszillator.

10.1.1 Gedampfter harmonischer Oszillator

Die Bewegungsgleichung des gedampften harmonischen Oszillators mit der Auslenkung x(t) lautet

mx+ dx+Dx = 0 .

Dies beschreibt ein Federpendel mit masseloser Feder und eingehangter Masse m sowie FederkonstanteD. Wir definieren ω2

0 = D/m und γ = d/(2m) und erhalten dann

x+ 2γx+ ω20x = 0 . (10.1)

Diese lineare, homogene Differenzialgleichung fuhrt mit dem bekannten Ansatz

x(t) = ceλt (10.2)

auf die charakteristische Gleichungλ2 + 2λγ + ω2

0 = 0 (10.3)

mit den beiden Wurzeln

λ1 = −γ +√γ2 − ω2

0 , λ2 = −γ −√γ2 − ω2

0 . (10.4)

Drei Falle sind zu unterscheiden:

83

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1. γ2 < ω20 (gedampfte Schwingung)

Mit ω ≡√ω2

0 − γ2 ergibt sich die allgemeine Losung

x(t) = e−γt(c1e

iωt + c2e−iωt) . (10.5)

Die reellen Anfangsbedingungen x(0) = x0, x(0) = x0 fuhren auf

c1 =x0

2+γx0 + x0

2iω, c2 = c∗1 =

x0

2− γx0 + x0

2iω(10.6)

⇒ x(t) = e−γt(x0 cosωt+

γx0 + x0

ωsinωt

)= Ae−γt sin(ωt+ ϕ0) (10.7)

mit

A =

√x2

0 +

(γx0 + x0

ω

)2

, tanϕ0 =x0ω

γx0 + x0. (10.8)

Bei einer gedampften, harmonischen Schwingung nimmt demnach die Amplitude exponentiell ab,und die Eigenfrequenz ω der gedampften Schwingung ist kleiner als die Eigenfrequenz ω0 der un-gedampften Schwingung.

2. γ2 > ω20 (Kriechfall)

Wir definieren κ =√γ2 − ω2

0 . Die Losung sieht genauso aus wie im vorigen Fall, nur dass wir stattiω jetzt uberall ein κ schreiben.

Die allgemeine Losung ist alsox(t) = e−γt

(c1e

κt + c2e−κt) (10.9)

mit

c1 =x0

2+γx0 + x0

2κ, c2 =

x0

2− γx0 + x0

2κ.

Dies gibt

x(t) = e−γt(x0 coshκt+

γx0 + x0

κsinhκt

). (10.10)

Dies beschreibt keine Schwingung, sondern eine so genannte aperiodische Kriechbewegung. Dieaperiodische Auslenkung geht fur große Zeiten gegen Null.

3. γ2 = ω20 (aperiodischer Grenzfall) Diesen Fall losen wir am einfachsten, indem wir im Ergebnis

(10.10) den Grenzubergang κ→ 0 machen. Wir erhalten also

x(t) = e−γt (x0 + (γx0 + x0)t) . (10.11)

Die asymptotische Annaherung an die Nulllage ist hier schneller als im Fall b). Deshalb arbeitenZeigermessinstrumente im aperiodischen Grenzfall.

Die drei Falle sind in der folgenden Graphik skizziert:

84

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10.1.2 Periodisch getriebener gedampfter harmonischer Oszillator

Wir betrachten fur die erzwungene Schwingung eines gedampften harmonischen Oszillators die Bewe-gungsgleichung

x+ 2γx+ ω20x = f0e

iΩt. (10.12)

Nach der Theorie der linearen Differenzialgleichungen ergibt sich die allgemeine Losung der linearen,inhomogenen Differenzialgleichung (10.12), indem man zur Losung der homogenen Gleichung (10.1) einespezielle Losung der inhomogenen Gleichung addiert.

Wie wir gesehen haben, geht die homogene Losung mit der Zeit gegen Null. Wir erwarten daher, dassnach Abklingen der homogenen Losung nur eine spezielle Losung ubrig bleibt, die keinen gedampftenBeitrag enthalt, und dass dann der Oszillator mit der erregenden Frequenz Ω schwingt. Zur Berechnungdieser speziellen ungedampften Losung der inhomogenen Gleichung wahlen wir den Ansatz

xs(t) = Asei(Ωt−ϕs), (10.13)

mit konstanter, reeller Amplitude As und Phase ϕs. Einsetzen in (10.12) ergibt

As(−Ω2 + 2iγΩ + ω20) = f0e

iϕs = f0(cosϕ+ i sinϕ) . (10.14)

Diese Gleichung ist erfullt, wenn auf beiden Seiten die absoluten Betrage

As

√(ω2

0 − Ω2)2 + 4γ2Ω2 = f0 (10.15)

85

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und die Quotienten aus den imaginaren und reellen Anteilen gleich sind

tanϕs =2γΩ

ω20 − Ω2

. (10.16)

Fur γ2 < ω20 (gedampfte Schwingung), d.h. mit (10.7), und dem Realteil der speziellen Losung (10.13)

ist die allgemeine Losung

x(t) = Ae−γt sin

(√ω2

0 − γ2t+ ϕ0

)+As cos (Ωt− ϕs) . (10.17)

Die angeregte Schwingung setzt sich demnach aus einem gedampften und einem ungedampften Anteilzusammen. Der gedampfte Anteil beschreibt die Einschwingung, auch Transiente genannt. Fur großeZeiten (t 1/γ) bleibt nur die stationare Losung ubrig, die hier gerade der speziellen Losung xs(t)entspricht. Wir schreiben die Schwingungsamplitude As der stationaren Losung durch Umformen von(10.15) als

As =f0/ω

20√(

1− Ω2

ω20

)2

+ 4 γ2

ω20

Ω2

ω20

.

Fur γ2/ω20 ≤ 1/2 hat As als Funktion von Ω ein Maximum; fur großere γ hat sie kein Maximum, sondern

fallt mit wachsendem Ω monoton ab. Im ersten Fall spricht man von einer Resonanzkurve. Das Maximum

ist bei Amax = f0/(

2γ√ω2

0 − γ2)

bei der Resonanzfrequenz ΩR =√ω2

0 − 2γ2. Die Phasendifferenz ϕs

zwischen der erregenden Kraft und der erzwungenen Schwingung ist nach (10.16)

ϕs = arctan2γΩ

ω20 − Ω2

(+π) ,

wobei der letzte Summand π nur fur Ω > ω0 auftritt, so dass dann π2 < ϕ (Ω > ω0) < π ist.

Die folgenden Uberlegungen machen den Summanden +π klar: ϕs muss stetig von Ω abhangen. Außer-dem ist zu erwarten, dass die Phasendifferenz zwischen treibender Kraft und Schwingung des Oszillatorsumso großer wird, je schneller die treibende Kraft oszilliert. Fur die weitere Analyse betrachten wir einpaar spezielle Falle: Fur Ω ω0 sind Oszillator und außere Kraft praktisch in Phase; Der Oszillator folgtder einwirkenden Kraft mit nur geringer Verzogerung, d. h. ϕs ' 0. Fur Ω = ω0 ist die Phasendifferenzstets π/2, weil die linke Seite von (10.14) rein imaginar ist. Fur Ω ω0 schwingt der Oszillator imGegentakt zur außeren Kraft, d. h. ϕs ' π. Dies kann man z.B. daraus folgern, dass fur Ω → ∞ dielinke Seite von (10.14) gegen Minus Unendlich lauft. Eine weitere spezielle Situation ist der Fall γ → 0.Dann ist wird die linke Seite von (10.14) reell und wechselt bei Ω = ω0 das Vorzeichen. Also springt diePhasendifferenz von ϕ = 0 fur Ω < ω0 auf ϕ = π fur Ω > ω0. Die folgende Graphik zeigt den Verlauffur verschiedene Werte von γ, wobei die Kurven mit einer großeren Steigung bei ω0 großere Werte von γhaben.

86

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10.2 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden

Wir betrachten nun ein System aus N miteinander wechselwirkenden Teilchen, die zusammen eine stabileGleichgewichtslage haben. Wenn wir nur kleine Auslenkungen aus der Gleichgewichtslage betrachten,wird das zu einem System aus N gekoppelten Oszillatoren, die um die Gleichgewichtslage schwingen undnahezu linearen Ruckstellkraften unterliegen. Das System sei konservativ. Eventuell gibt es k holonome,skleronome Zwangsbedingungen. Es folgt, dass die kinetische Energie eine quadratische Funktion dern = 3N − k generalisierten Geschwindigkeiten ist (vgl. (4.11)):

T =1

2

n∑i,j=1

Tij(q1, ..., qn)qiqj , (10.18)

mit symmetrischen Koeffizienten Tij = Tji. Die Koordinaten der Gleichgewichtslage q0i legen wir inden Koordinatenursprung, so dass die qi (mit i = 1, ..., n), die Auslenkungen aus dem Gleichgewichtbezeichnen.

Entwicklung in eine Taylorreihe um die Gleichgewichtslage ergibt

Tij(q1, ..., qn) ≡ Tij(q) = Tij(0) +

n∑l=1

∂Tij(q)

∂ql

∣∣∣∣0

ql + ... (10.19)

Fur genugend kleine Auslenkungen betragt die kinetische Energie mit (10.18)

T ' 1

2

n∑i,j=1

Tij qiqj , Tij ≡ Tij(0). (10.20)

Da die qi ebenso wie die qi kleine Großen sind, ist dieser fuhrende Term der Taylorentwicklung fur unsereBetrachtungen ausreichend.

Fur ein konservatives System existiert eine potenzielle Energie V . Wir machen auch fur V eine Tay-lorentwicklung:

V (q) = V (0)︸ ︷︷ ︸irrelevant

+

n∑i=1

∂V (q)

∂qi

∣∣∣∣0︸ ︷︷ ︸

=0

qi +1

2

n∑i,j=1

∂2V (q)

∂qi∂qj

∣∣∣∣0

qiqj + ... (10.21)

Der 2. Term ist 0 fur die Gleichgewichtslage, da die potenzielle Energie dort minimal ist.Folglich ist das Potenzial in der Umgebung der Gleichgewichtslage ungefahr gleich

V (q) ' 1

2

n∑i,j=1

∂2V

∂qi∂qj

∣∣∣∣0

qiqj ≡1

2

n∑i,j=1

Vijqiqj . (10.22)

Die Matrizen V und T sind symmetrisch und positiv definit.Die Lagrange-Funktion

L(q, q) =1

2

n∑i,j=1

(Tij qiqj − Vijqiqj) (10.23)

ergibt die Bewegungsgleichungen

n∑j=1

(Tij qj + Vijqj) = 0 , i = 1, ..., n. (10.24)

Der Ansatzqj(t) = Caje

iωt , j = 1, ..., n (10.25)

87

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lost die n Differenzialgleichungen (10.24), wie wir gleich sehen werden. Dabei ist C ein zweckmaßigerSkalenfaktor. Einsetzen ergibt

n∑j=1

(Vij − ω2Tij)aj = 0 , i = 1, ..., n. (10.26)

In Matrix-Schreibweise lautet (10.26)

(V − ω2T )~a = 0, (10.27)

wobei V und T die (n× n)-Matrizen mit den Eintragen Vij bzw. Tij sind.Das lineare System (10.26) bzw. (10.27) hat nur dann nichttriviale Losungen, d.h. aj 6= 0 fur minde-

stens ein j, wenn die Determinante verschwindet:

det(V − ω2T ) = 0 . (10.28)

Diese Bedingung legt die moglichen Werte von ω2 fest. Sie ist eine charakteristische Gleichung in Formeines Polynoms vom Grad n in der Variablen ω2. V , T sind beide reell, symmetrisch und positiv definit,

d.h.alle n Losungen ω2 sind positiv,ω2

1 , ω22 , ..., ω

2n > 0. (10.29)

(Einige der Losungen konnen gleich sein. Diese so genannten Entartungen betrachten wir nicht.)Seien ~ar die Eigenvektoren des verallgemeinerten Eigenwertproblems (10.27), deren Normierung wir

etwas weiter unten festlegen. Wir benutzen diese Eigenvektoren fur einen Wechsel des Koordinaten-systems, ahnlich wie bei der Hauptachsentransfomationin Kapitel 9). Die ~ar sind definiert durch dieBedingung

V~ar = ω2rT~ar, r = 1, ..., n. (10.30)

Ahnlich wie bei gewohnlichen Eigenwertproblemen mit symmetrischen Matrizen konnen wir fur die ~ar eineArt Orthogonalitatsbeziehung erhalten. Wir betrachten zwei Eigenvektoren ~a1 und ~a2 zu den Eigenwertenω2

1 und ω22 . Weil die Matrizen T und V symmetrisch sind, gelten die folgenden Beziehungen:

V~a1 = ω21T~a1 ;

~at2V~a1 = ω21~at2T~a1 und analog mit der Vertauschung von 1 und 2;

~at2V~a1 = ~at1V~a2 = ω22~at1T~a2 = ω2

2~at2T~a1 .

Die zweite und dritte Zeile sind nur dann miteinander vertraglich, wenn ~at2T~a1 = 0 ist, wenn die Eigen-vektoren ~a1 und ~a2 verschieden sind. Dies fuhrt uns mit einer entsprechend gewahlten Normierung der~ar und mit der Definition

A = (~a1,~a2, ...,~an)

auf die Beziehung

AtTA =

1 0

1. . .

0 1

≡ 1. (10.31)

Unter Verwendung von (10.30) folgt daraus

AtV A =

ω2

1 0ω2

2

. . .

0 ω2n

≡ Ω2 , (10.32)

88

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d.h. die Matrix A diagonalisiert simultan V und T .Die Normalkoordinaten Qr sind definiert uber die Beziehungen

~q ≡n∑r=1

~arQr ≡ A~Q. (10.33)

Einsetzen von (10.33) in die Lagrange-Funktion (10.23) ergibt:

L =1

2(~qtT ~q − ~qtV ~q)

=1

2((A ~Q)tT (A ~Q)− (A~Q)tV (A~Q))

=1

2( ~QtAtTA ~Q− ~QtAtV A~Q)

=1

2( ~Qt ~Q− ~QtΩ2 ~Q) .

≡ 1

2

n∑r=1

(Q2r − ω2

rQ2r). (10.34)

Gl. (10.34) zeigt, dass die Normalkoordinaten n entkoppelte harmonische Oszillatoren mit Eigenfre-quenzen ωr beschreiben, mit den Lagrange-Gleichungen

Qr + ω2rQr = 0, r = 1, ..., n. (10.35)

Wir haben also ein Problem mit n Freiheitsgraden auf n Probleme mit je einem Freiheitsgrad reduziert.

10.3 Beispiel 1: Zwei gekoppelte, ungedampfte Oszillatoren

Wir betrachten zwei identische harmonische Oszillatoren, die durch eine Feder mit der FederkonstantenD12 verbunden sind und die sich nur auf einer horizontalen Geraden bewegen konnen. Die kinetische undpotenzielle Energie und die Lagrangfunktion sind also

T =m

2(q2

1 + q22), V =

D

2q21 +

D

2q22 +

D12

2(q2 − q1)2

⇒ L =1

2

2∑i,j=1

(Tij qiqj − Vijqiqj) ≡1

2(~qtT ~q − ~qtV ~q)

mit

T = m

(1 00 1

), V =

(D +D12 −D12

−D12 D +D12

).

Die Eigenfrequenzen ω1 und ω2 und die Eigenvektoren ~a1 und ~a2 erhalten wir durch Losen der Gleichung(10.35). Es ergibt sich

A =1√2m

(1 11 −1

)

89

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und

ω1 =

√D

m, ω2 =

√D + 2D12

m.

Die Spalten der Matrix A sind die beiden Eigenvektoren, die Normierung ist gemaß (10.31) gewahlt. DieGleichung (10.32) fuhrt auf

AtV A =1

m

(D 00 D + 2D12

).

Die Normalkoordinaten ergeben sich gemaß (10.33) mit AtA = 1m1:

~Q = A−1~q = mAt~q ⇒ Q1 =

√m

2(q1 + q2), Q2 =

√m

2(q1 − q2).

Ihre Bewegungsgleichungen lauten

Q1 + ω21Q1 = 0, Q2 + ω2

2Q2 = 0 .

Die allgemeine Losung ergibt sich aus

~q = A~Q ⇒ q1 =1√2m

(Q1 +Q2), q2 =1√2m

(Q1 −Q2).

Bem.: Die Normalschwingungen (auch Fundamentalschwingungen oder Eigenschwingungen genannt)haben eine einfache Interpretation. Fur die Anfangsbedingungen q1(0) = q2(0), q1(0) = q2(0) wird nurdie erste, gleichphasige Normalschwingung angeregt, bei der die Amplitudenfaktoren gleich sind, d.h.a11 = a21. Fur die zweite Normalschwingung ist a12 = −a22, wobei diese gegenphasige Schwingung durchdie Anfangsbedingungen q1(0) = −q2(0), q1(0) = −q2(0) angeregt wird.

Uberlagerung der Normalschwingungen kann zu neuen Phanomenen fuhren, wie der so genanntenSchwebung. Sie tritt auf, wenn |ω1 − ω2| ω1 ist. Wir betrachten die Anfangsbedingung

q1(0) = A , q1(0) = q2(0) = q2(0) = 0.

Dies fuhrt auf die Losung

q1(t) =A

2(cosω1t+ cosω2t) = A cos

(ω2 − ω1

2t

)cos

(ω2 + ω1

2t

),

q2(t) =A

2(cosω1t− cosω2t) = A sin

(ω2 − ω1

2t

)sin

(ω2 + ω1

2t

),

die im folgenden Bild skizziert ist:

90

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Der erste Faktor auf der rechten Seite bedeutet ein An- und Abschwellen der Amplitude. Dabeiwandert die Energie mit der Schwebungsfrequenz ω2 − ω1 zwischen den Oszillatoren hin und her. Mannennt dieses Phanomen Schwebung.

Wir haben gesehen, dass durch die Kopplung zweier Oszillatoren die Eigenfrequenz ω1 =√D/m in

die beiden Eigenfrequenzen ω1 und ω2 aufspaltet. Entsprechend findet man bei der Kopplung von NOszillatoren eine Aufspaltung in N Eigenfrequenzen, falls keine Entartungen auftreten. Dieses Ergebnisist uber die Mechanik hinaus von großer Bedeutung fur die Physik, so z.B. fur das Energiespektrum vonElektronen in Festkorpern, bei dem die Aufspaltung der sehr dicht liegenden Einzelniveaus zu sogenanntenEnergiebandern fuhrt.

10.4 Beispiel 2: Erzwungene Schwingungen zweier gekoppelterOszillatoren

Wir betrachten nun die Situation, dass zwei gekoppelte Oszillatoren von außen periodisch getriebenwerden. Diese periodische Kraft wenden wir auf den Oszillator 1 an, wie in dem Bild dargestellt.

Die Beitrage zur Lagrange-Funktion sind

T =m

2(q2

1 + q22)

und

V =D

2(q1 −A cos Ωt)2 +

D

2q22 +

D12

2(q2 − q1)2 .

Die Lagrange-Gleichungen ergeben dann

mq1 + (D +D12)q1 −D12q2 = DA cos Ωt

mq2 + (D +D12)q2 −D12q1 = 0 .

Im Gegensatz zum getriebenen gedampften Oszillator im Unterkapitel 10.1 nehmen wir keinen Dampfungstermin die Gleichungen auf. Die Losung der homogenen Differenzialgleichungen wurde im vorangehenden Bei-spiel besprochen. Vom einfachen Oszillator wissen wir, dass ungedampfte, stationare Schwingungen diePhasenverschiebung ϕs = 0 bzw. ϕs = π zwischen der erregenden Kraft und der erzwungenen Schwingunghaben. Fur eine spezielle Losung betrachten wir daher den Ansatz

qi(t) = Ai cos Ωt i = 1, 2 ,

91

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wobei Phasenverschiebungen 0 bzw. π durch positive bzw. negative Amplituden Ai beschrieben werden.Einsetzen ergibt

(ω23 − Ω2)A1 −

D12

mA2 = f0

−D12

mA1 + (ω2

3 − Ω2)A2 = 0

mit

ω23 ≡

D +D12

m, f0 ≡

DA

m.

Die Losung des Gleichungssystems lautet

A1 = f0ω2

3 − Ω2

(ω23 − Ω2)2 −

(D12

m

)2 = f0ω2

3 − Ω2

(ω21 − Ω2)(ω2

2 − Ω2)

A2 = f0

D12

m

(ω23 − Ω2)2 −

(D12

m

)2 = f0ω2

3 − ω21

(ω21 − Ω2)(ω2

2 − Ω2),

wobei ω1 und ω2 wie im vorigen Beispiel definiert sind als

ω21 ≡

D

m, ω2

2 ≡D + 2D12

m.

Erwartungsgemaß werden die Amplituden bei diesen Frequenzen unendlich. (Wenn man den Dampfungstermdazunimmt, werden die Amplituden nicht unendlich, sondern haben ein Maximum in der Nahe der Ei-genfrequenzen.)

Besonders bemerkenswert ist das Ergebnis

A1(Ω = ω3) = 0 , A2(Ω = ω3) = −ADD12

.

D.h. die rechte Masse schwingt im stationaren Fall mit solcher Amplitude, dass sich die beiden an der lin-ken Masse angreifenden Federkrafte gegenseitig aufheben. Man benutzt diesen Effekt zur Konstruktionvon Schwingungstilgern: Maschinenschwingungen, die durch harmonische Anregungen konstanter Fre-quenz erzeugt werden, lassen sich durch einen angekoppelten, geeignet abgestimmten zweiten Schwingereliminieren.

Aufgaben

1. Gekoppelte Pendel: Zwei Pendel der Langen l1 und l2 mit den Massen m1 und m2 werden durch einehorizontale Feder verbunden. Die Feder wird an den beiden (wie immer masselosen) Pendelstangenauf der Hohe l < l1, l2 unterhalb der Aufhangepunkte angebracht. Der Abstand der beiden Pendelsei wesentlich großer als l, so dass die Feder stets nahezu horizontal bleibt.

(a) Stellen Sie die Bewegungsgleichungen fur die beiden Pendel auf.

(b) Integrieren Sie die Bewegungsgleichungen zunachst fur den Spezialfall m1 = m2 und l1 = l2und in der Naherung kleiner Ausschlage. Wahlen Sie die Anfangsbedingungen ϕ1(0) = ϕ0 undϕ1 = ϕ2 = ϕ2 = 0. Bemerkung: ϕ0 muss eine kleine Große sein.

(c) Losen Sie jetzt diese Aufgabe auch fur m1 6= m2, aber immer noch mit l1 = l2.

(d) Betrachten Sie zum Schluss den Fall m1 6= m2 und l1 6= l2, immer noch fur dieselben Anfangs-bedingungen wie in (b) und fur kleine Ausschlage.

2. Gehen Sie aus von der Wellengleichung (6.19).

92

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(a) Zeigen Sie, dass diese Gleichung zu der durch (10.24) beschriebenen Kategorie von Systemengehort, indem Sie die x-Werte diskretisieren. Wie sieht die Matrix Vij aus?

(b) Nun betrachten Sie wieder die kontinuerliche Variante. Betrachten Sie eine an beiden Enden fi-xierte Saite, also y(x = 0, t) = y(x = l, t) = 0. Was ist der zu (10.25) analoge Losungsansatz furdie kontinuierliche Wellengleichung (6.19)? Welche allgemeine Form haben also die Losungen?

(c) Finden Sie noch eine weitere Klasse von Losungen, wenn Sie sich nicht um die Randbedingun-gen kummern?

93

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Kapitel 11

Der Hamilton-Formalismus

11.1 Einleitung

In diesem Kapitel befassen wir uns mit einer weiteren Formulierung der klassischen Mechanik, namlichmit der Hamiltonschen Mechanik, die in den 1830er Jahren vom irischen Mathematiker Sir WilliamRowan Hamilton entwickelt wurde. Zum expliziten Losen von Aufgaben ist sie nicht besser geeignet alsdie Lagrange-Mechanik, aber sie ist fur Computersimulationen besser geeignet, gewahrt tiefere Einsichtenin die Struktur der klassischen Mechanik und ist eine wichtige Grundlage fur die Chaos-Theorie, fur diestatistische Mechanik und fur die Quantenmechanik.

Zwischen der Lagrange-Mechanik und der Hamilton-Mechanik bestehen die folgenden wichtigen Un-terschiede:

1. Die Lagrange-Mechanik geht von der Lagrange-Funktion L(q, q, t) aus, wahrend die Hamilton-Mechanik von der Hamiltonfunktion

H(q, p, t) =∑

i

qipi − L

(siehe (4.9)) ausgeht. Ganz wichtig ist hierbei, dass als Variablen der Hamiltonfunktion die genera-lisierten Koordinaten qi und die zu diesen Koordinaten konjugierten Impulse

pi =∂L

∂qi

(siehe (4.5)) gewahlt werden. Alle qi mussen also durch die p und q ausgedruckt werden. (Das wirdbei Ubungsaufgaben haufig vergessen......)

2. Wahrend es beim Lagrange-Formalismus fur jeden Freiheitsgrad eine Bewegungsgleichung zweiterOrdnung in der Zeit gibt (also mit der zweiten Zeitableitung), gibt es im Hamilton-Formalismuspro Freiheitsgrad zwei Bewegungsgleichungen erster Ordnung in der Zeit, je eine fur die zeitlicheAnderung von qi und von pi. Man kann also die Dynamik mechanischer Systeme im Hamilton-Formalismus als Trajektorien im sogenannten Phasenraum auffassen, der von den 2n Koordinatenpi und qi aufgespannt wird.

Wir betrachten in diesem und allen folgenden Kapiteln nur den Fall, dass es holonome Zwangsbedingungenoder keine Zwangsbedingungen gibt. Die Zahl der Freiheitsgrade ist also n = 3N − k, und die Indizes derqi und pi laufen folglich immer von 1 bis n.

11.2 Die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen

Die Bewegungsgleichungen im Hamilton-Formalismus lassen sich auf zwei Wegen herleiten, namlich direktaus den Lagrange-Gleichungen, verbunden mit dem Zusammenhang H =

i piqi−L, und auch aus dem

94

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Hamiltonschen Prinzip (dem Prinzip der stationaren Wirkung). Wir gehen im Folgenden durch beideHerleitungen.

11.2.1 Herleitung der Hamiltonschen Gleichungen aus den Lagrange-Glei-

chungen

Der Zusammenhang zwischen H und L ist ganz analog zu dem Zusammenhang zwischen verschiedenenthermodynamischen Potenzialen, namlich uber eine Legendre-Transformation. Legendre-Transformationenin der Thermodynamik werden verwendet, um von einer Variablen zu einer anderen zu wechseln, die mitder partiellen Ableitung des Potenzials nach der ersten Variablen identisch ist. Ein Wechsel von denVariablen qi zu den Variablen pi = ∂L/∂qi ist genau von dieser Art. Wir sehen dies explizit, indem wirdas totale Differenzial von H hinschreiben:

dH =∑

i

pidqi +∑

i

qidpi −∑

i

∂L

∂qidqi −

i

∂L

∂qidqi −

∂L

∂tdt .

Mit den Lagrange-Gleichungen zweiter Art und (3.6) folgt

∂L

∂qi=

d

dt

∂L

∂qi=

d

dtpi ≡ pi

und damit

dH =∑

i

qidpi −∑

i

pidqi −∂L

∂tdt ≡

i

∂H

∂pidpi +

i

∂H

∂qidqi +

∂H

∂tdt .

Die rechte Seite ist das vollstandige Differenzial von H(q, p, t). Koeffizientenvergleich ergibt

qi =∂H

∂pi, pi = −

∂H

∂qi(11.1)

und∂H

∂t= −

∂L

∂t. (11.2)

Die Gleichungen (11.1) sind die sogenannten Hamiltonschen Bewegungsgleichungen.

11.2.2 Herleitung der Hamiltonschen Gleichungen aus Hamiltonschem Prin-

zip

Die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen lassen sich auch aus der Bedingung herleiten, dass die WirkungS stationar wird:

δS ≡ δ

∫ t2

t1

dt

[

i

piqi −H(q, p, t)

]

= δ

∫ t2

t1

[

i

pidqi −Hdt

]

= 0 . (11.3)

Die Variation von S ist so zu nehmen, dass der Anfangs- und der Endpunkt des Integrals im Phasenraumvorgegeben sind, aber die Phasenraumtrajektorie zwischen diesen beiden Punkten variiert wird mit einerAnderung δq(t), δp(t).

p , q , t

p , q , t

klass. Trajektorie

keine klassischeTrajektorie

1p , q , t

1

2 2

1

2

95

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Dies ist anders als in Kapitel 6, wo nur q(t) variiert wurde. Wir werden gleich sehen, dass eineunabhangige Variation von q und p auf die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen fuhrt. Dies bedeutet,dass der Hamilton-Formalismus eine Darstellung der Mechanik ist, in der q und p als gleichberechtigteVariablen betrachtet werden durfen.

Weitere Umformung von (11.3) fuhrt auf

0 = δ

∫ t2

t1

dt

[

i

piqi −H(q, p, t)

]

=

∫ t2

t1

dt∑

i

[

piδqi + qiδpi −∂H

∂qiδqi −

∂H

∂piδpi

]

=

∫ t2

t1

dt∑

i

[(

−∂H

∂qi− pi

)

δqi +

(

qi −∂H

∂pi

)

δpi

]

. (11.4)

Beim Ubergang zur letzten Zeile wurde in dem Term mit q partiell integriert, so wie wir das schon inKapitel 6 gemacht haben. Wenn wir erlauben, dass die δpi und die δqi voneinander unabhangig sindund zu jedem Zeitpunkt anders gewahlt werden konnen, mussen die beiden Ausdrucke in den rundenKlammern verschwinden, woraus die Hamiltonschen Gleichungen folgen.

11.2.3 Beispiel: Teilchen im Kreiskegel

Wir leiten die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen fur ein Teilchen im Kreiskegel her. Die hierfur not-wendigen Schritte konnen als allgemeines Rezept fur die Aufstellung von Hamiltonschen Bewegungsglei-chungen verwendet werden. Wir nummerieren sie daher im Folgenden durch.

1. Berechnung von T und V und der Lagrange-Funktion: Wir ubernehmen sie aus dem Abschnitt 4.4:

L = T − V =m

2

[

(1 + cot2 α)r2 + r2ϕ2]

−mgr cotα .

2. Bestimmung der zu den generalisierten Koordinaten kanonisch konjugierten Impulse: Die beidenVariablen sind ϕ und r, und die zu ihnen konjugierten Impulse sind

pϕ =∂L

∂ϕ= mr2ϕ

und

pr =∂L

∂r= mr(1 + cot2 α) .

3. Berechnen von H : Da wir es mit zeitunabhangigen Zwangsbedingungen zu tun haben, konnen wirdirekt H = T + V verwenden. Wir nehmen jetzt aber den allgemeineren Weg uber die FormelH =

i piqi − L:

H = prr + pϕϕ− L =1

2m(r2ϕ2 + r2(1 + cot2 α)) +mgr cotα .

4. Wechsel von den Variablen ϕ und r zu pϕ und pr: Zu diesem Zweck drucken wir in H die Geschwin-digkeiten ϕ und r durch die Impulse pϕ und pr aus und erhalten

H =p2ϕ

2mr2+

p2r2m(1 + cot2 α)

+mgr cotα . (11.5)

96

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5. Bestimmen der Hamiltonschen Bewegungsgleichungen:

ϕ =∂H

∂pϕ=

mr2,

pϕ = −∂H

∂ϕ= 0 ,

r =∂H

∂pr=

pr

m(1 + cot2 α),

pr = −∂H

∂r=

p2ϕ

mr3−mg cotα .

Die erste und dritte Gleichung stimmen mit obigen Beziehungen fur die kanonischen Impulseuberein. Die zweite Gleichung entspricht der Tatsache, dass ϕ eine zyklische Variable ist. Die vierteGleichung entspricht der Gleichung (4.10).

Wir sehen, dass das Aufstellen der Hamiltonschen Bewegungsgleichungen komplizierter ist als der Lagrange-Formalismus, da wir zunachst durch diesen hindurch gehen mussen, um die kanonischen Impulse korrektzu identifizieren.

11.3 Erhaltungsgroßen und Poissonklammern

Wir untersuchen nun, wie sich Erhaltungsgroßen im Hamiltonformalismus außern. Zunachst betrachtenwir nochmal die Bedingungen, unter denen die Hamiltonfunktion selbst eine Erhaltungsgroße ist. UnterVerwendung der Hamiltonschen Gleichung ergibt sich

dH

dt=

i

∂H

∂qiqi +

i

∂H

∂pipi +

∂H

∂t

=∑

i

[

∂H

∂qi

∂H

∂pi+

∂H

∂pi

(

−∂H

∂qi

)]

+∂H

∂t

=∂H

∂t.

Also ist H genau dann eine Erhaltungsgroße, wenn ∂H/∂t = 0 ist. Mit (11.2) erhalten wir wieder dieschon in Kapitel 4 formulierte Bedingung, dass H eine Erhaltungsgroße ist, wenn L nicht explizit vonder Zeit abhangt. Außerdem hatten wir schon in Kapitel 4 gesehen, dass wenn die Zwangsbedingungenskleronom und die Krafte konservativ sind, H identisch mit der Energie E ist.

Als nachstes betrachten wir eine beliebige differenzierbare Funktion f(q, p, t) der Koordinaten, Impulseund evtl. der Zeit und untersuchen, unter welchen Bedingungen sie eine Erhaltungsgroße ist. Es ist

df

dt=

i

∂f

∂qiqi +

i

∂f

∂pipi +

∂f

∂t

=∑

i

[

∂f

∂qi

∂H

∂pi+

∂f

∂pi

(

−∂H

∂qi

)]

+∂f

∂t

≡ [f,H ] +∂f

∂t. (11.6)

Hier haben wir die sogenannte Poisson-Klammer eingefuhrt. Allgemein ist die Poissonklammer zweierdifferenzierbarer Funktionen von p und q definiert als

[f, g] =∑

i

(

∂f

∂qi

∂g

∂pi−

∂f

∂pi

∂g

∂qi

)

. (11.7)

97

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Es folgt also, dass eine Funktion f eine Erhaltungsgroße ist, wenn sie nicht explizit zeitabhangig ist undihre Poisson-Klammer mit H verschwindet.

Als Beispiel betrachten wir wieder das Teilchen im Kreiskegel. Wir wissen, dass pϕ eine Erhaltungs-große ist. Im Folgenden berechnen wir die Poissonklammer von pϕ mit H , wobei H durch (11.5) gegebenist:

[pϕ, H ] =∂pϕ

∂ϕ

∂H

∂pϕ+

∂pϕ

∂r

∂H

∂pr−

∂pϕ

∂pϕ

∂H

∂ϕ−

∂pϕ

∂pr

∂H

∂r.

Der erste, zweite und vierte Term verschwinden, weil pϕ nicht von den anderen drei Variablen abhangt,denn alle Großen werden ja als Funktion von r, ϕ, pr, pϕ betrachtet. Also hangt pϕ nur von pϕ ab. Dererste Faktor des dritten Terms ist daher 1, aber dafur verschwindet der zweite Faktor. Also ist [pϕ, H ] = 0,wie es sein muss, wenn pϕ eine Erhaltungsgroße ist.

Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen den Poisson-Klammern der klassischen Mechanik undden Kommutatoren der Quantenmechanik. Viele Beziehungen, die in der klassischen Mechanik unterVerwendung von Poissonklammern gelten, gelten analog in der Quantemechanik, wenn man die Poisson-Klammern durch Kommutatoren ersetzt (und noch einen Faktor i~ dranmultipliziert). Von besondererBedeutung sind hier die sog. fundamentalen Poissonklammern

[qi, pj ] = δij , [qi, qj ] = [pi, pj] = 0 . (11.8)

In der Quantenmechanik folgt aus der Tatsache, dass der Kommutator von qi mit pi nicht verschwindet,die Unscharferelation.

11.4 Der Phasenraum und die Liouville-Gleichung

Der durch die 2nKoordinaten pi und qi aufgespannte Phasenraum ist sehr nutzlich zur Veranschaulichungder Dynamik von Systemen. Wir haben in Aufgabe 2d) in Kapitel 1 ein sogenanntes Phasenraumportraitfur das Pendel gezeichnet, das die qualitativ verschiedenen Trajektorien zeigt:

In der Chaostheorie sind solche Phasenraumbilder ein wichtiges Hilfsmittel, um sich die komplexenSachverhalte zu veranschaulichen und um auch ohne Rechnungen einen qualitativen Eindruck von demVerhalten eines Systems zu vermitteln.

Deshalb diskutieren wir in diesem Unterkapitel einige Eigenschaften des Phasenraums. Die folgendenUberlegungen gelten in der angegebenen Form, wenn H nicht explizit von der Zeit abhangt. Wenn H

explizit von der Zeit abhangt, kann man sich mit einem Trick einen Phasenraum mit zeitunabhangigenPhasenraumportraits konstruieren: Man fuhrt eine weitere Koordinate ein, nennen wir sie s(t), die deneinfachen Zeitverlauf s = 1 hat. Man macht den Phasenraum also 2n+ 1-dimensional.

98

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11.4.1 Trajektorien im Phasenraum

Da die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen von erster Ordnung in der Zeitableitung sind, ist eine Tra-jektorie (q(t), p(t)) im Phasenraum durch einen zu einer Zeit t0 festgelegten Punkt (q(0), p(0)) eindeutigbestimmt. Dies gilt nicht nur vorwarts in der Zeit, sondern auch ruckwarts in der Zeit. Wir konnen jedemPunkt im Phasenraum einen Pfeil zuordnen, dessen Richtung die Richtung und Lange die “Geschwin-digkeit” (q1, . . . , qn, p1, . . . , pn) in diesem Punkt angeben. Die Geschwindigkeit lasst sich mit Hilfe derHamiltonschen Gleichungen berechnen.

Aus diesen Uberlegungen folgt die in der Praxis sehr hilfreiche Regel, dass sich Trajektorien imPhasenraum nicht schneiden durfen. Denn wenn sie sich schneiden wurden, gabe es Punkte, in denen dieRichtung des Geschwindigkeitsvektors nicht eindeutig ware. Die Zeitentwicklung Hamiltonscher Systemeist aber deterministisch. Die einzig moglichen Punkte, in denen mehrere Trajektorien zusammenkommenkonnen, sind instabile Gleichgewichtspunkte, in denen die Geschwindigkeit Null ist, man betrachte hierzudas Phasenraumportrait des Pendels (siehe vorige Seite). Der instabile Gleichgewichtspunkt bei (φ =(2n + 1)π, Lz = 0) entspricht dem senkrecht nach oben stehenden Pendel. Man nennt einen solchenPunkt, in den sowohl Trajektorien hinein- als auch hinauslaufen und in dessen Umgebung deshalb dieTrajektorien Hyperbelform haben, einen hyperbolischen Fixpunkt. Den stabilen Gleichgewichtspunkt bei(φ = 2nπ, Lz = 0) nennt man ubrigens einen elliptischen Fixpunkt.

11.4.2 Die Liouville-Gleichung

Es ist oft zweckmaßig, nicht nur eine, sondern viele Trajektorien im Phasenraum gleichzeitig zu betrach-ten. Dies macht man z.B. bei Teilchenbeschleunigern und in der statistischen Mechanik. Das Vorgehenin der statistischen Mechanik wird im Folgenden naher erlautert:

In der statistischen Mechanik betrachtet man z.B. ein “Gas” aus N Teilchen, das in eine Kammereingesperrt ist, mit den n = 3N Ortskoordinaten qi und den entsprechenden Impulskoordinaten pi.Die Dynamik des gesamten Teilchengases lasst sich also durch die Trajektorie eines Punktes im 6N -dimensionalen Phasenraum darstellen. Wir schreiben

~x = (q1, . . . , qn, p1, . . . , pn) . (11.9)

Die Bewegungsgleichungen (11.1) lassen sich also zusammenfassen als

~x = ~f(~x) (11.10)

mit der durch die rechten Seiten der beiden Gleichungen (11.1) gegebenen Funktion ~f .Um die Brucke zwischen der klassischen Mechanik und der statistischen Mechanik zu bauen, betrach-

tet man nun nicht ein einzelnes System, sondern ein ganzes Ensemble von solchen Systemen. Da mandie Anfangsbedingung sowieso nicht mit beliebiger Genauigkeit angeben kann, betrachtet man das En-semble von Systemen, deren Anfangszustand im Rahmen einer gewahlten Genauigkeit ubereinstimmt.Im Phasenraum fullen all diese Anfangszustande des Ensembles ein kleines endliches Volumen aus. Wirwahlen das Ensemble so, dass die Dichte der Systeme in diesem kleinen Volumen einen konstanten Wert0 hat und außerhalb verschwindet. Nun betrachtet man die zeitliche Entwicklung all dieser Systemegleichzeitig im Phasenraum. Jeder Punkt des anfanglich gewahlten Volumenelements bewegt sich gemaßGleichung (11.10). Das Volumenelement bewegt sich also und deformiert sich dabei. Wir zeigen zunachst,dass sich das Gesamtvolumen dabei nicht andert. Hierzu machen wir den Ansatz V = l1l2 . . . l2n (mitinfinitesimalen li), wir gehen also davon aus, dass das Volumenelement ein 2n-dimensionaler “Quader”

ist, dessen Kanten sich in jeder der 2n Dimensionen von x(i)a bis x

(i)e erstrecken. Durch Taylorentwicklung

99

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erhalten wir l1 = x(1)

e − x(1)

a ≃ l1∂f1/∂x(1). Damit folgt

V = l1l2 . . . l2n + l2l1l3 . . . l2n + . . .

=∂f1

∂x(1)l1l2 . . . l2n +

∂f2

∂x(2)l2l1l3 . . . l2n + . . .

=∑

i

∂fi

∂x(i)l1l2 . . . l2n

= V ~∇ · ~f . (11.11)

Die Divergenz der Funktion ~f entscheidet also, wie sich das Phasenraumvolumen unter der Dynamikandert. Fur unsere Hamiltonschen Bewegungsgleichungen gilt

~∇ · ~f =n∑

i=1

(

∂qi

∂H

∂pi−

∂pi

∂H

∂qi

)

= 0 . (11.12)

Das Phasenraumvolumen andert sich also nicht, sondern deformiert sich nur.Wir bezeichnen mit (~x, t) die Dichte der Zustande unseres Ensembles im Phasenraum. Sie hat am

Anfang den Wert 0 innerhalb des gewahlten Volumenelements, und außerhalb ist sie 0. Wir haben ebengezeigt, dass sich das Phasenraumvolumenelement unter der Hamiltonschen Dynamik deformiert, aberdass es nicht sein Volumen andert. Also gibt es auch zu spateren Zeiten nur Bereiche mit Dichte 0 und0, die aber immer feiner verwoben werden.

Wir stellen jetzt noch eine allgemeine Bewegungsgleichung, die sogenannte Liouville-Gleichung, fur dieDichte (~x, t) auf, die auch dann gilt, wenn (~x, t) nicht konstant ist. Wir gehen aus von einer allgemeinenFunktion (~x, t). Wir leiten die Liouville-Gleichung aus den Hamiltonschen Gleichungen her, indem wirmit der Kontinuitatsgleichung starten und die rechte Seite mit Hilfe der Hamiltonschen Gleichungenumformen:

∂t= −~∇

(

~x)

=∑

i

[

∂pi

(

∂H

∂qi

)

−∂

∂qi

(

∂H

∂pi

)]

=∑

i

(

∂H

∂qi

∂pi−

∂H

∂pi

∂qi

)

,

∂t= [H, ] . (11.13)

In der letzten Zeile tritt wieder eine Poisson-Klammer auf. Die Liouville-Gleichung besagt also, dassdie zeitliche Anderung der Phasenraumdichte durch die Poisson-Klammer der Hamiltonfunktion mit gegeben ist. Fur den speziellen, oben behandelten Fall, dass innerhalb eines gewissen Volumens denkonstanten Wert 0 und außerhalb den Wert Null hat, ergibt sich ∂/∂t = 0 an allen Orten außer an denRandern des Volumenelements, die sich ja verschieben.

11.4.3 Invariante Mannigfaltigkeiten

Zur Veranschaulichung der Dynamik Hamiltonscher Systeme ist es hilfreich, invariante Mannigfaltigkeiten(auch “invariante Mengen” genannt) im Phasenraum zu identifizieren. Dies sind Mengen von Punkten imPhasenraum, die unter der Zeitentwicklung auf sich selbst abgebildet werden. Das bedeutet, dass wennman die Zeitentwicklung aller Trajektorien, die in diesen Punkten starten, gleichzeitig betrachtet, dieseMenge auf sich selbst abgebildet wird. Zwei wichtige Arten von invarianten Mengen sollen im Folgendenkurz vorgestellt werden: Fixpunkte und periodische Bahnen.

100

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Fixpunkte

Fixpunkte ~x∗ sind Gleichgewichtslosungen von (11.10), also von

0 = f(~x∗) .

In der Umgebung eines Fixpunktes konnen wir die Phasenraumtrajektorien durch Taylorentwicklung imAbstand vom Fixpunkt berechnen: Wir setzen

~x(t) = ~x∗ + ~u(t) ,

unddxi

dt=

dui

dt= fi(~x

∗ + ~u(t)) ≃∑

j

(

∂fi

∂xj

)

~x∗

uj(t) .

Dies ist eine Matrixgleichung der Form~u = A~u (11.14)

mit

Aij =

(

∂fi

∂xj

)

~x∗

.

Diese Gleichung hat Losungen der Form

~u(t) =

2n∑

k=1

~vkeλkt ,

wobei ~vk die Losung der Eigenwertgleichung

A~vk = λk~vk

ist.Da die Matrixelemente von A reell sind, gibt es zu jedem komplexen Eigenwert einen komplex kon-

jugierten Partner.In zwei Dimensionen haben wir zwei Eigenwerte

λ1,2 =1

2

(

τ ±√

τ2 − 4∆)

, ∆ = λ1λ2, τ = λ1 + λ2 .

τ ist die Spur von A und ∆ die Determinante.Wir unterscheiden die folgenden Falle (siehe Abb. 11.1):

• ∆ > 0 und τ2−4∆ > 0: Beide Eigenwerte sind reell und haben dasselbe Vorzeichen. Der Fixpunkt istein Knoten. Seine Stabilitat wird durch das Vorzeichen von τ bestimmt. Bei einem stabilen Knotenschmiegen sich die Trajektorien mit der Zeit immer starker an die “langsame” Eigenrichtung (d.h.die mit dem kleineren |λ|) an, bei einem instabilen Knoten richtet sich die Trajektorie mit der Zeitan der “schnellen” Eigenrichtung aus.

• ∆ < 0: Die Eigenwerte sind reell und haben entgegengesetztes Vorzeichen. Der Fixpunkt ist einSattelpunkt, auch hyperbolischer Fixpunkt genannt. Es gibt eine stabile und eine instabile Richtung.

• ∆ > 0 und τ2−4∆ < 0: Die Eigenwerte sind komplex konjugiert. Der Fixpunkt ist eine Spirale. SeineStabilitat wird durch das Vorzeichen von τ bestimmt. Wir setzen λ1 = λ′ + iλ′′ und λ2 = λ′ − iλ′′

an. Dann ist~u(t) = ~v1e

(λ′+iλ′′

)t + ~v2e(λ′

−iλ′′)t .

~u ist reell, und folglich sind ~v1 und ~v2 komplex konjugiert, ~v1 = ~v′ + i~v′′ und ~v2 = ~v′ − i~v′′. Diesgibt

~u(t) = 2eλ′t (~v′ cosλ′′t− ~v′′ sinλ′′t) .

Die relative Orientierung von ~v′ und ~v′′ und das Vorzeichen von λ′′ bestimmen den Drehsinn derSpirale.

101

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• τ = 0: Der Fixpunkt ist ein Zentrum, auch elliptischer Fixpunkt genannt. Die Trajektorien laufenin geschlossenen Bahnen um ihn herum.

• τ2 − 4∆ = 0: In diesem Fall sind entweder alle Richtungen Eigenrichtungen zum selben Eigenwertund wir haben einen Stern, oder es gibt nur eine Eigenrichtung, und dann ist der Fixpunkt entartet.In beiden Fallen befindet sich der Fixpunkt an der Grenze zwischen Knoten und Spirale.

• ∆ = 0: In diesem Fall ist ein Eigenwert 0. Aus der entsprechenden Eigenrichtung lauft man wederaus dem Fixpunkt heraus, noch in ihn hinein. Es gibt also eine ganze Linie von Fixpunkten.

stabile Spirale

stabiler Knoten

Sattelpunkt

instabiler Knoten Stern

entarteter FixpunktFixpunktlinie

instabile SpiraleZentrum

Abbildung 11.1: Die erwahnten Arten von Fixpunkten in 2 Dimensionen.

Allerdings konnen die meisten dieser Fixpunkte bei Hamiltonschen Systemen nicht auftreten. Wegender Gleichung (11.12) darf ein Phasenraumvolumenelement auch in der Umgebung dieses Fixpunktes seineGroße nicht andern, und deshalb muss die Summe der Eigenwerte Null sein. Zentrum und Sattelpunkt,also elliptische und hyperbolische Fixpunkte, sind daher die einzig moglichen Fixpunkte in HamiltonschenSystemen mit zweidimensionalem Phasenraum.

In 2n > 2 Dimensionen hat ein Fixpunkt mehr als zwei Eigenrichtungen, die zum Teil stabil, zum Teilinstabil sind (man braucht beides, damit das Phasenraumvolumen erhalten ist). Dann kann es z.B. einkomplex konjugiertes Paar von Eigenwerten geben, dessen Eigenvektoren eine Ebene aufspannen, in derTrajektoren spiralformig in den Fixpunkt hineinlaufen, wahrend sie langs anderer Eigenrichtungen ausdem Fixpunkt herauslaufen, oder umgekehrt.

Periodische Bahnen

Eine periodische Trajektorie ist eine Trajektorie, die sich exakt schließt. Wenn sie stabil ist, bleiben be-nachbarte Trajektorien in ihrer Nahe und wickeln sich evtl um sie herum. Wenn sie aber instabil ist,

102

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entfernen sich benachbarte Trajektorien in der instabilen Eigenrichtung exponenziell schnell in der Zeitvon ihr (und folglich auch voneinander). Um dies genauer zu verstehen, betrachten wir einen sogenann-ten Poincare-Schnitt durch die Umgebung einer periodischen Traektorie. Wir wahlen einen Punkt aufdieser Trajektorie und schieben gedanklich ein Blatt Papier durch diesen Punkt, so dass die Papierebenesenkrecht auf die Trajektorie steht. (Die Dimension des “Papierblatts” ist allerdings großer als 2, wenndie periodische Trajektorie samt ihrer Umgebung einen mehr als dreidimensionalen Unterraum des Pha-senraums ausfullt....) Wir verfolgen nun eine Trajektorie, die in der Nachbarschaft unserer periodischenTrajektorie startet, in der Zeit. Jedesmal, wenn sie unser Blatt Papier durchstoßt, markieren wir denDurchstoßpunkt. So bekommen wir eine Abfolge von Durchstoßpunkten, die in der Nahe des Durchstoß-punkts der periodischen Trajektorie liegen. Dann machen wir dasselbe fur eine andere Trajektorie undmarkieren die Durchstoßpunkte dieser zweiten Trajektorie in einer anderen Farbe, usw. Eine Trajekto-rie wird also zu einer Kette von Durchstoßpunkten, und das sich ergebende Gesamtbild ist ganz analogzum Phasenraumportrait in der Umgebung eines Fixpunkts. So werden stabile periodische Bahnen imPoincare-Schnitt zu elliptischen Fixpunkten und instabile periodische Bahnen zu hyperbolischen Fix-punkten oder (in hoheren Dimensionen) zu Fixpunkten mit mehr als einer stabilen und/oder instabilenEigenrichtung.

Aufgaben

1. Berechnen Sie fur die Perle auf dem parabelformigen, rotierenden Draht (s. Kap. 2.1.1 und Ubungs-aufgabe 1 von Kap. 3) die Hamiltonfunktion und die Hamiltonschen Gleichungen. Wenn Sie uberschussigeEnergie und Zeit haben, dann berechnen Sie beides auch noch fur das Rollpendel. (Die Lagrange-Funktion wurde in Kap. 3.3 hergeleitet.)

2. Zeigen Sie, dass sich die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen mit Hilfe der Poisson-Klammernschreiben lassen als

qi = [qi, H ] , pi = [pi, H ] .

3. Berechnen Sie die Poissonklammern [Lx, Ly] und [Lx, ~L2] ≡ [Lx, L

2

x + L2

y + L2

z]. (Bem.: Lx ist diex-Komponente des Drehimpulses, also Lx = ypz − zpy.)

4. In Aufgabe 2d) von Kapitel 1 haben Sie die Bahnen im Phasenraum fur ein Pendel gezeichnet.

(a) Zeichnen Sie nun ein analoges Bild fur einen hupfenden Gummiball, der auf dem Boden ela-stisch reflektiert wird und zwischen diesen Reflexionen nur der Gravitationskraft ausgesetztist. Betrachten Sie dieses System nur in einer Dimension (d.h. der Ball hupft senkrecht nachoben).

(b) Markieren Sie nun im Phasenraum die Flache, die zwischen zwei Energien E1 und E2 undzwischen zwei Impulsen p1 und p2 liegt. Rechnen Sie explizit nach, dass sich dieses “Phasen-raumvolumen” mit der Zeit nicht andert (also dass alle Trajektorien, die in dieser Flache zurZeit t0 starten, zu einer spateren Zeit t1 eine gleich große Flache bilden).

103

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Kapitel 12

Der Hamilton-Jacobi-Formalismus

Wenn man ausgehend vom Hamilton-Formalismus versucht, Transformationen auf neue Koordinatenund Impulse so durchzufuhren, dass die Bewegung moglichst einfach wird, also dass es moglichst vielezyklische Variablen gibt, gelangt man zur Hamilton-Jacobi-Gleichung. In diesem Kapitel befassen wir unszunachst mit sogenannten kanonischen Transformationen, um dann zu untersuchen, welche Bedingungenerfullt sein mussen, damit man auf eine einfache Bewegung kommen kann. Dies wird der letzte Schrittsein auf dem Weg, ein Kriterium fur die Losbarkeit mechanischer Probleme aufzustellen.

12.1 Kanonische Transformationen

In Kapitel 4 haben wir gezeigt, dass die Lagrange-Gleichungen unter Punkttransformationen forminva-riant sind. Wenn wir also von den Koordinaten q zu den Koordinaten Q = Q(q, t) wechseln und die

entsprechend transformierte Lagrange-Funktion L′(Q, Q, t) = L[

q(Q, t), q(Q, Q, t), t]

ermitteln, gelten

auch in den neuen Koordinaten und mit der neuen Lagrange-Funktion die Lagrange-Gleichungen zwei-ter Art. Weil die Hamilton-Gleichungen direkt aus den Lagrange-Gleichungen abgeleitet werden konnen,folgt somit auch, dass die Hamilton-Gleichungen unter Punkttransformationen forminvariant sind. Umdie neue Hamiltonfunktion zu erhalten, konnen wir zunachst L′ bestimmen, daraus die neuen Impulse P

ermitteln und damit schließlich die Hamiltonfunktion und die Hamiltonschen Gleichungen in den neuenKoordinaten und Impulsen aufstellen.

Im Folgenden wollen wir Transformationen der Koordinaten und Impulse direkt im Hamilton-Forma-lismus durchfuhren. Wir betrachten Transformationen von den Variablen q, p und der HamiltonfunktionH(q, p, t) auf neue Variablen Q,P und eine neue Hamiltonfunktion K(Q,P, t) und verlangen, dass dieHamiltonschen Bewegungsgleichungen

Qi =∂K

∂Pi

, Pi = −∂K

∂Qi

mit den neuen Variablen und der neuen Hamiltonfunktion ebenfalls gelten. Diese sogenannten kanonischen

Transformationen sind allgemeiner als die Punkttransformationen. Aus dem eben Gesagten ist klar, dassjede Punkttransformation auch eine kanonische Transformation ist, aber langst nicht jede kanonischeTransformation lasst sich als Punkttransformation darstellen.

Da die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen aus dem Hamiltonschen Prinzip (11.3) folgen, ist eineTransformation genau dann kanonisch, wenn das Hamiltonsche Prinzip nach der Transformation weiterhinerfullt ist. Wir benutzen diese Bedingung, um ein Rezept zur Erzeugung kanonischer Transformationenzu erhalten.

Die Bedingung (11.3) lautet in den neuen Koordinaten

δ

∫ t2

t1

dt

[

i

PiQi −K(Q,P, t)

]

= 0 ,

104

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wobei die Variation an den Anfangs- und Endpunkten verschwindet, δQi(t1) = δQi(t2) = δPi(t1) =δPi(t2) = 0. Der Vergleich mit (11.3) ergibt, dass sich (

i piqi −H) und (∑

i PiQi −K) nur um einenFaktor und um die totale Zeitableitung einer Funktion F unterscheiden durfen:

c(∑

i

piqi−H) =∑

i

PiQi−K+dF

dt= −

i

PiQi−K+d(F +

i PiQi)

dt≡ −

i

PiQi−K+dG

dt. (12.1)

(Das ist analog zu den Uberlegungen im Abschnitt 6.4.) Wir setzen c = 1, denn ein c 6= 1 lasst sichdurch eine Anderung der Skala fur Q und K immer auf c = 1 abbilden. Die Funktion F bzw. G ist einebeliebige stetig differenzierbare Funktion der alten und neuen Variablen (wobei von den 4 Variablensatzenq, p,Q, P nur 2 unabhangig sind.) Wir wahlen G als Funktion der alten Koordinaten und der neuenImpulse, G = G(q, P, t) und erhalten

dG

dt=∑

i

(

∂G

∂qiqi +

∂G

∂Pi

Pi

)

+∂G

∂t.

Wenn wir dies in (12.1) einsetzen und die linke und rechte Seite vergleichen, erhalten wir

pi =∂G

∂qi, Qi =

∂G

∂Pi

, K = H +∂G

∂t. (12.2)

Wir habe also ein Rezept dafur gefunden, eine kanonische Transformation durchzufuhren: Man nehmeeine differenzierbare Funktion G(q, P, t) und stelle die Beziehungen (12.2) auf. Man uberprufe, dass dieTransformation umkehrbar ist, dass also jedem Phasenraumpunkt q, p ein Phasenraumpunkt Q,P imneuen System zugeordnet ist und umgekehrt. Damit ist der Zusammenhang zwischen den alten und neuenVariablen und die neue Funktion K bestimmt. Man nennt G die erzeugende Funktion der kanonischenTransformation.

Es gibt insgesamt 4 verschiedene Moglichkeiten, uber eine Erzeugende Funktion einen Zusammenhangzwischen den alten und neuen Variablen herzustellen, da es 4 verschiedene Kombinationen eines alten undeines neuen Variablensatzes gibt. Statt einer erzeugenden Funktion G(q, P, t) kann man also auch eineFunktion F1(q,Q, t) oder eine Funktion F3(Q, p, t) oder eine Funktion F4(p, P, t) wahlen und die zu (12.2)analogen Beziehungen aufstellen. In Lehrbuchern, die alle 4 Moglichkeiten zur Erzeugung von kanonischenTransformationen explizit behandeln, wird unsere Erzeugende Funktion F2(q, P, t) genannt. Da wir imFolgenden aber nur die Variante mit F2 (also G) benotigen, diskutieren wir die anderen Varianten nicht.

Um ein konkretes Beispiel zu betrachten, wahlen wir die erzeugende Funktion G =∑

i qiPi + H∆t

mit einem kleinen Zeitintervall ∆t. Die Beziehungen (12.2) sind dann

pi =∂G

∂qi= Pi +

∂H(q, P, t)

∂qi∆t ≃ Pi − pi∆t , ⇒ Pi = pi + pi∆t ≃ pi(t+∆t) ;

Qi =∂G

∂Pi

= qi +∂H(q, P, t)

∂Pi

∆t ≃ qi +∂H(q, p, t)

∂pi∆t ≃ qi(t+∆t) ;

K = H +∂H(q, P, t)

∂t≃ H(q, p, t+∆t) .

Die durch G erzeugte kanonische Transformation macht also eine Translation in der Zeit um ∆t. Wenn∆t infinitesimal klein ist, konnen alle ≃-Beziehungen in dieser Rechnung durch = ersetzt werden, denndie vernachlassigten Terme sind von der Ordnung (∆t)2, was gegenuber der Ordnung ∆t unendlich vielkleiner ist, wenn ∆t infinitesimal klein ist.

Zum Schluss notieren wir noch einen wichtigen Satz (ohne Beweis):Eine umkehrbare Transformation von q, p,H nach Q,P,K ist genau dann kanonisch, wenn die fun-

damentalen Poissonklammern

[Qi, Pj ] = δij , [Qi, Qj ] = [Pi, Pj ] = 0

gelten. Dies uberpruft man durch Einsetzen von Qi(q, p) und Pi(q, p) und Ausnutzen von (11.8).

105

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12.2 Die Hamilton-Jacobi-Gleichung

Die Hamilton-Jacobi-Gleichung erhalt man, wenn man nach einer kanonischen Transformation sucht, diesowohl die neuen Koordinaten Qi, als auch die neuen Impulse Pi zu Konstanten der Bewegung macht,also Pi = αi und Qi = βi mit Konstanten αi und βi, deren Werte von den Anfangsbedingungen abhangen,aber sich mit der Zeit nicht andern. Wenn man eine solche Transformation gefunden hat, hat man namlichauch die Losung der Bewegungsgleichungen fur q und p gefunden, da diese ja als Funktionen von Q,P, t,also von β, α, t geschrieben werden konnen. Man hat dann also die Trajektorien des Systems als Funktionder Zeit und der Anfangsbedingungen berechnet.

Freilich ist das Finden einer solchen Transformation genauso schwer wie das direkte Losen der Lagrange-Gleichungen, so dass auch die Hamilton-Jacobi-Theorie meist keine echte Hilfe beim Losen mechanischerProbleme ist. Ihr Nutzen liegt vielmehr darin, dass sie neue Einsichten in die Struktur der klassischenMechanik gewahrt, so dass wir bald hinreichende Bedingungen fur die Losbarkeit mechanischer Problemeaufstellen konnen.

Eine Transformation auf konstante Q und P ist z.B. erreicht, wenn K(Q,P, t) = 0 ist. Denn dann istja

Qi =∂K

∂Pi

= 0

und

Pi = −∂K

∂Qi

= 0 ,

d.h. weder die Q noch die P andern sich mit der Zeit.Aus K = 0 folgt mit der dritten Gleichung von (12.2)

K = H +∂G

∂t= 0 , (12.3)

also (mit der ersten Gleichung von (12.2))

H

(

q,∂G(q, P, t)

∂q, t

)

= −∂G(q, P, t)

∂t. (12.4)

Dies ist die Hamilton-Jacobi-Gleichung. Die Funktion G nennt man Prinzipalfunktion oder auch Hamil-tonsche Wirkungsfunktion. Sie ist identisch mit der Wirkung S =

Ldt:

Aus der Bedingung (12.1) erhalten wir namlich mit Pi = 0 und K = 0

i

piqi −H =dG

dt(12.5)

und daraus durch Integration

G =

dt

(

i

piqi −H

)

=

dtL .

Wir schreiben deshalb ab jetzt S statt G, und statt P schreiben wir α, um deutlich zu machen, dass essich um Konstanten handelt. Die Hamilton-Jacobi-Gleichung hat dann die Form

H

(

q,∂S(q, α, t)

∂q, t

)

= −∂S(q, α, t)

∂t. (12.6)

Die Hamilton-Jacobi-Gleichung ist eine partielle Differenzialgleichung zur Bestimmung der Wirkungs-funktion S(q, α). Wir haben also das ursprungliche Problem, die Lagrange-Gleichungen oder die Hamil-tonschen Bewegungsgleichungen zu losen, ersetzt durch das Problem, die Erzeugende S einer kanonischen

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Transformation zu finden. Aus 2n gewohnlichen Differenzialgleichungen fur die q und p der Hamilton-schen Formulierung wurde nun eine partielle Differenzialgleichung fur S. Hiermit haben wir eine weitereFormulierung mechanischer Probleme gefunden. (Nach Newton, d’Alembert, Lagrange und Hamilton istdas jetzt die funfte Formulierung.) Es gibt einige mechanische Probleme, die sich recht schnell mit derHamilton-Jacobi-Gleichung losen lassen, da die Hamilton-Jacobi-Gleichung in diesen Problemen sich beigeeigneter Koordinatenwahl leicht in einen Satz unabhangiger Gleichungen fur die einzelnen Koordinatenseparieren lasst. (Wir machen eine solche Separation in der Ubungsaufgabe 3 am Ende dieses Kapitels.)

Bespiel: Harmonischer Oszillator

Als einfaches Beispiel betrachten wir einen harmonischen Oszillator. Der Phasenraum ist zweidimensional,aber weil die Energie erhalten ist, ist jede Trajektorie in einem eindimensionalen Unterraum gefangen.Die eindimensionalen Probleme lassen sich immer durch eine direkte Integration losen. Also ist auch dieHamilton-Jacobi-Gleichung fur eindimensionale Systeme mit einer nicht explizit von der Zeit abhangendenHamiltonfunktion immer durch eine Integration losbar.

Fur den harmonischen Oszillator ist

H =p2

2m+

m

2ω2q2 .

Die Hamilton-Jacobi-Gleichung lautet somit

1

2

[

1

m

(

∂S

∂q

)2

+mω2q2

]

+∂S

∂t= 0 .

Mit dem Ansatz S = W − Pt konnen wir die Zeit loswerden und erhalten

1

2

[

1

m

(

∂W

∂q

)2

+mω2q2

]

= P . (12.7)

Auf der linken Seite steht die Hamiltonfunktion. Da sie nicht explizit zeitabhangig ist, ist sie eine Er-haltungsgroße und identisch mit E, also ist der neue Impuls gegeben durch die Erhaltungsgroße P = E.Auflosen nach W gibt

∂W (q, E)

∂q= ±

2mE −m2ω2q2 = p .

Integration ergibt

W (q, E) = mω

∫ q

0

2E

mω2− q′2 dq′

und

Q =∂S

∂E=

∂W

∂E− t =

1

ω

∫ q

0

dq′√

2Emω2 − q′2

− t =1

ωarcsin

(√

mω2

2Eq

)

− t . (12.8)

(Den Anfangspunkt q0 des Integrals haben wir hier ohne Verlust von Allgemeinheit des in der nachstenZeile angegebenen Ergebnisses auf 0 gesetzt.) Damit ist

q(t) =

2E

mω2sin(ω(t+Q)) ≡

2E

mω2sin(ωt+ ϕ0) .

Wir haben also q ausgedruckt durch den neuen “Impuls” P = E und durch die neue Koordinate Q =ϕ0/ω, die die Anfangsphase festlegt, und durch die Zeit t. Damit haben wir die Bewegungsgleichunggelost.

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12.3 Die zeitunabhangige Hamilton-Jacobi-Gleichung

Die kanonische Transformation auf K = 0, die wir im vorigen Unterkapitel durchgefuhrt haben, fuhrt ineinen trivialen Phasenraum: Es ist Qi = Pi = 0 fur alle i, d.h. alle Trajektorien sind Fixpunkte. Der neuePhasenraum weiß also nichts mehr von der Struktur des ursprunglichen Phasenraums, und wir konnenaus ihm keine weiteren Erkenntnisse gewinnen. Um weitere Fortschritte bei der Suche nach Kriterien furdie Losbarkeit mechanischer Probleme zu machen, fuhren wir im Folgenden eine modifizierte kanonischeTransformation durch, die mehr Einsichten gewahrt. Wir beschranken uns auf Systeme mit einer nichtexplizit zeitabhangigen Hamiltonfunktion.

Wenn die Hamiltonfunktion nicht explizit von der Zeit abhangt, kann man die Zeit durch den AnsatzS(q, α, t) = W (q, α)−Et aus der Hamilton-Jacobi-Gleichung (12.6) eliminieren, so wie wir es im Beispieldes harmonischen Oszillators gemacht haben. Man nennt W die Charakteristische Funktion.

Die Hamilton-Jacobi-Gleichung lautet mit dieser Ersetzung

H

(

q,∂W

∂q

)

= E . (12.9)

Wir wahlen jetztW statt S als Erzeugende der kanonischen Transformation. Aus der dritten Gleichungvon (12.2) folgt dann

K(Q,α) = H(q(Q,α), p(Q,α)) .

Weil die α ja konstant sein sollen, darf K nicht von den Q abhangen (sonst ware mindestens ein αi =∂K/∂Qi 6= 0), also lasst sich auch H allein als Funktion der α schreiben. Wenn die Energie als eine dieserGroßen gewahlt wurde, ist naturlich einfach H = E.

Aus der ersten Gleichung von (12.2) erhalten wir jetzt keine konstanten Q mehr, sondern

Qi = ∂K/∂Pi ≡ ∂K/∂αi ≡ ωi = konst ,

worausQi(t) = ωit+Qi(0) (12.10)

folgt.Wir haben also diesmal nicht eine Transformation auf lauter Konstanten gemacht, sondern auf eine

freie Bewegung, mit konstanten Impulsen und linear in der Zeit anwachsenden Koordinaten. Die Pi konnenirgendwelche Konstanten der Bewegung sein, z.B. Anfangswerte der Impulse oder auch Erhaltungsgroßen.Da wir schon die Energie als Konstante verwendet haben, setzen wir schonmal P1 ≡ α1 = E. Die Pi legenzusammen mit den Qi(0) den Anfangspunkt einer Trajektorie fest. Um die kanonische Transformation aufdiese freie Bewegung explizit zu finden, muss man freilich auch hier wieder die Hamilton-Jacobi-Gleichunglosen oder auf einem anderen Weg die Losung der Bewegungsgleichungen finden. Allerdings werden unseinige Uberlegungen zur Beschaffenheit des Phasenraums und zur Auswirkung von Erhaltungsgroßenermoglichen, allgemeine Bedingungen zu finden, unter denen eine kanonische Transformation auf einefreie Bewegung moglich ist. Doch vorher betrachten wir wieder das Beispiel des harmonischen Oszillators.

Nochmal der harmonische Oszillator

Wenn wir den harmonischen Oszillator mit der Erzeugenden W kanonisch transformieren, erhalten wirstatt (12.8)

Q =∂W

∂E=

1

ω

∫ q

0

dq′√

2Emω2 − q′2

=1

ωarcsin

(√

mω2

2Eq

)

.

Also ist der Zusammenhang zwischen den alten und neuen Koordinaten jetzt

q(t) =

2E

mω2sin(ωQ(t)) .

108

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Den Zeitverlauf Q(t) erhalten wir aus

Q =∂K(E)

∂E= 1 .

Also ist Q = t+Q0 und

q(t) =

2E

mω2sin(ωt+ ϕ0)

(mit ϕ0 = ωQ0), wie es sein muss. Die Koordinate Q macht eine freie Bewegung mit konstantem “Impuls”P (der mit E identisch ist).

Es mag zunachst verwundern, wie eine geradlinig gleichformige freie Bewegung in den neuen Koordi-naten Q mit einer periodischen Schwingung in den alten Kooridnaten q vertraglich ist. Die periodischeSchwingung des harmonischen Oszillators ist namlich auf einen begrenzten Bereich von q-Werten be-schrankt, wahrend bei einer freien Bewegung die Koordinate Q alle Werte von minus Unendlich bisplus Unendlich durchlaufen kann. (Wir konnen Trajektorien nicht nur vorwarts in der Zeit, sondern auchruckwarts in der Zeit laufen lassen.) Die Auflosung des Ratsels liegt naturlich darin, dass Werte Q+2π/ωnicht von Werten Q unterschieden werden konnen, da sie genau demselben Zustand des Systems entspre-chen (wegen der Sinusfunktion in der Abbildung von Q auf q). Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen,geben wir der Q-Achse sogenannte periodische Randbedingungen: Statt die Achse von minus bis plusUnendlich laufen zu lassen, nehmen wir den Abschnitt von 0 bis 2π/ω und schließen diesen Abschnittringformig: Wenn wir “oben” beim Wert 2π/ω hinauslaufen, laufen wir “unten” bei 0 wieder rein (undumgekehrt).

Die Notation ware einfacher, wenn wir als Periode der Q-Koordinate nicht 2π/ω, sondern einfach 2πhatten. Dies konnen wir dadurch erzielen, dass wir statt der Wahl P = E die Wahl

P = E/ω

treffen. Dann bekommen wirQ = ω , ⇒ Q = Q0 + ωt .

Dasselbe konnen wir auch in hoheren Dimensionen machen. Ein n-dimensionaler harmonischer Oszil-lator hat die Hamiltonfunktion

H =1

2m

n∑

i=1

(

p2i +m2ω2

i q2

i

)

.

Die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen der n Dimensionen sind unabhangig voneinander und konnenjede fur sich gelost werden. In jedem Freiheitsgrad steckt ein Beitrag Ei zur Gesamtenergie, und es istE =

iEi. Wir wahlen Pi = Ei/ωi und erhalten dann

Qi = ωit+Qi0 , und qi(t) =

2Pi

mωsinQi(t) .

Fur alle Qi wahlen wir periodische Randbedingungen. Wir beschranken also jedes Qi auf den Bereich[0, 2π] und betrachten den Wert 2π als identisch mit 0. Wenn also eine der Koordinaten mit positiverGeschwindigkeit beim Wert 2π ankommt, wird sie auf 0 gesetzt. Wenn sie mit negativer Geschwindigkeitbei 0 ankommt, wird sie auf 2π gesetzt. Wenn wir all diese einander entsprechenden Punkte, die auf denRandflachen des Wurfels [0, 2π]n liegen, miteinander verbinden, erhalten wir einen n-dimensionalen Torus.Einen zweidimensionalen Torus kann man sich gut vorstellen (als Autoreifenschlauch oder als Donut oderBagel), da man ihn in den dreidimensionalen Raum einbetten kann, bei hoheren Dimensionen wird esmit der Anschauung schwieriger...

In mehr als einer Dimension ist die Bewegung eines harmonischen Oszillators i.A. nicht periodisch, son-dern quasiperiodisch. Nur wenn die Frequenzen ωi in rationalen Verhaltnissen zueinander stehen, konnensich die Trajektorien auf dem Torus exakt schließen. Wenn alle Frequenzen in irrationalen Verhaltnissenzueinander stehen, uberdeckt eine Trajektorie im Laufe der Zeit den gesamten Torus immer dichter, d.h.sie kommt jedem Punkt auf dem Torus im Laufe der Zeit beliebig nahe.

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12.4 Einige allgemeine Uberlegungen

Wir haben mit dem n-dimensionalen harmonischen Oszillator ein Beispiel dafur gesehen, wie die kano-nische Transformation mit der charakteristischen Funktion W (q, α) fur die neuen Koordinaten Q aufeine Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit fuhrt. Weil die Bewegung beschrankt ist (also nicht nachUnendlich abhauen kann), findet sie auf einem Torus statt.

Nun fragen wir, ob es eine derartige Transformation fur jedes nicht explizit zeitabhangige, durch dieHamiltonschen Bewegungsgleichungen beschriebene System geben kann. Wie wir gesehen haben, ist einesolche Transformation aquivalent zum Losen der Bewegungsgleichungen. Sowohl bzgl. der Funktion W ,als auch bzgl. der Losungen q(t), p(t) der Bewegungsgleichungen hat man ublicherweise die Vorstellung,dass sie stetig differenzierbar sein muss und sich in irgendeiner Form hinschreiben lasst (zumindest alsIntegral oder in sonst einer Form, die die Funktion eindeutig festlegt). Diese Vorstellung beinhaltet auch,dass eine kleine Anderung der Parameter (also der αi oder der Anfangsbedingungen) auf eine kleineAnderung der Losung fuhren. Außerdem bedeutet die Existenz der Erzeugenden Funktion W auch, dassman eine Formulierung der Losung gefunden hat, die die gesamte zukunftige (und ebenso die vergangene)Zeitentwicklung beinhaltet.

Es gibt nur eine Moglichkeit, wie eine beschrankte Bewegung, die fur alle Zeiten eine geradliniggleichformige Bewegung in allen n KoordinatenQi ist, aussehen kann: sie muss auf einem n-dimensionalenTorus verlaufen. Das Losen der Hamilton-Jacobi-Gleichung fur nicht explizit zeitabhangige Systeme istalso aquivalent zum Durchfuhren einer kanonischen Transformation auf eine gleichformige Bewegung aufeinem n-dimensionalen Torus, der durch Konstanten α1, . . . , αn charakterisiert ist. (Wir schließen jetztmal den ganz spezielle Bedingungen erfordernden Fall aus, dass eine einzige Trajektorie quasiperiodischeinen mehr als n-dimensionalen Torus im Phasenraum abdeckt.) Um herauszufinden, unter welchen Be-dingungen eine solche Transformation allgemein moglich ist, gehen wir jetzt nicht mathematisch exaktvor, sondern versuchen, eine moglichst gute Anschauung uber die Eigenschaften des Phasenraums zugewinnen, die fur eine solche Transformation notig sind.

12.4.1 Unterteilung des Phasenraums mit Hilfe von Erhaltungsgroßen

Zunachst uberlegen wir, wie sich verschiedene Trajektorien auf den Phasenraum verteilen konnen. Wirbetrachten wieder Systeme ohne explizite Zeitabhangigkeit. Die Energie ist also eine Erhaltungsgroße. DerPhasenraum lasst sich damit in Energieschalen unterteilen. Eine Energieschale zur Energie E beinhaltetalle Punkte des Phasenraums, die zu einer Energie in einem infinitesimal kleinen Intervall [E,E + dE]gehoren. Wenn wir einen bestimmten Punkt (q, p) des Phasenraums als Anfangspunkt einer Trajektoriewahlen, dann bleibt die gesamte Trajektorie innerhalb derjenigen Energieschale, in der der Anfangspunktliegt. Die Energieschale ist (2n− 1)-dimensional. Es gibt Systeme, in denen eine Trajektorie die gesam-te Energieschale abdeckt, also im Laufe der Zeit jedem Punkt der Energieschale beliebig nahe kommt.Man nennt solche Systeme ergodisch. Sie spielen eine wichtige Rolle in der statistischen Mechanik. DieBewegung in einem ergodischen System kann man nicht durch eine kanonische Transformation auf einenn-dimensionalen Torus bringen, da eine einzelne Trajektorie ja schon einen 2n − 1-dimensionalen Un-terraum des Phasenraums dicht bedeckt, also einen Raum hoherer Dimension ausfullt. Die Assoziationvon Konstanten α2, ..., αn mit dieser Trajektorie bringt keine besonderen Einsichten. Man kann sie zwarals Anfangsimpulse zur Zeit t = 0 wahlen, doch da zu spateren Zeiten auch alle anderen Impulswer-te der Energieschale auftreten, unterscheidet sich diese Trajektorie abgesehen vom Startpunkt nicht vonanderen Trajektorien in dieser Impulsschale. Ein solches System ist also nicht integrabel, d.h. die Hamilton-Jacobi-Gleichung kann nicht gelost werden. (Wir schließen wieder den ganz speziellen Fall aus, dass dieTrajektorie sich so ordentlich durch den Phasenraum bewegt, dass sie auf einen 2n − 1-dimensionalenTorus transformiert werden kann.)

Wenn es neben der Energie weitere Erhaltungsgroßen gibt, konnen wir die Energieschalen unterteilenin Schalen niedrigerer Dimension, die jeweils zu bestimmten Werten der Erhaltungsgroßen gehoren. Tra-jektorien bleiben dann jeweils in derjenigen Unterschale gefangen, in der sie gestartet sind. Wenn es n

unabhangige Erhaltungsgroßen gibt, sind die Trajektorien in einem n-dimensionalen Unterraum gefangen.

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Systeme mit n unabhangigen Erhaltungsgroßen sind also potenzielle Kandidaten fur integrable Systeme,in denen die Hamilton-Jacobi-Gleichung losbar ist. Noch mehr unabhangige Erhaltungsgroßen zu fordern,macht keinen Sinn, denn n = 3N − k ist die Zahl der raumlichen Koordinaten des Systems, und diesehatten wir schon so gewahlt, dass alle Zwangbedingungen berucksichtigt sind. Wenn eine Trajektorie ineinem Unterraum des Phasenraums gefangen ist, der eine Dimension kleiner als n hat, bedeutet dies, dasssie nicht alle raumlichen Dimensionen sehen kann. Also hat man von Anfang an mehr raumliche Koordi-naten als notig gewahlt. Diesen Fall wollen wir daher ausschließen. Dann gibt es maximal n unabhangigeErhaltungsgroßen.

Wir werden spater an einem Beispiel sehen, dass auch, wenn es außer der Energie keine weiteren Er-haltungsgroßen gibt, Trajektorien in n-dimensionalen Unterraumen gefangen sein konnen, doch typischer-weise gibt es neben diesen Trajekorien auch solche, die einen 2n− 1-dimensionalen Teil des Phasenraumsuberdecken.

12.4.2 Von der Gefahrlichkeit hyperbolischer Fixpunkte und instabiler peri-

odischer Bahnen

Nachdem wir geklart haben, unter welchen Bedingungen Trajektorien in n-dimensionalen Unterraumendes Phasenraums gefangen sind, fragen wir als nachstes, wie das durch die Hamiltonschen Gleichungen(11.10) gegebene Vektorfeld beschaffen sein muss, damit eine kanonische Transformation eines zusam-menhangenden, endlichen Teils des Phasenraums von der ursprunglichen Form (11.10) auf eine freieBewegung, also auf ein Vektorfeld der Form

~x = konst

moglich ist. Hierzu betrachten wir nochmal das Phasenraumportrait des Pendels:

Wir sehen, dass es zwei Sorten von Trajektorien gibt: diejenigen, bei denen das Pendel in einembegrenzten Winkelbereich hin- und herschwingt, und diejenigen, bei denen das Pendel uberschlagt undsich immer in derselben Richtung dreht. Diese beiden Sorten von Trajektorien unterscheiden sich durchihre Energiewerte. Im Energieintervall [−mgl,mgl[ schwingt das Pendel hin und her, im EnergiebereichE > mgl uberschlagt es sich. Diese beiden Bereiche sind durch die Trajektorien zu E = mgl voneinandergetrennt. Diese Trajektorien sind sogenannte heterokline Trajektorien, die zwei hyperbolische Fixpunktemiteinander verbinden, indem sie aus dem einen Fixpunkt in seiner instabilen Eigenrichtung herauslaufenund in den anderen Fixpunkt aus der stabilen Eigenrichtung einmunden. Es ist anschaulich klar, dassman fur jeden dieser beiden Energiebereiche eine Transformation auf eine gleichformige Bewegung aufeinem eindimensionalen “Torus” (also einem Kreis) machen kann.

In dem ersten Energiebereich, in dem das Pendel hin- und herschwingt, haben wir eine ahnlicheSituation wie beim harmonischen Oszillator, fur den wir diese Transformation explizit gemacht haben.Die neue Koordinate Q = ωt lauft gleichformig von 0 nach 2π, wahrend das Pendel von der Ruhelagezunachst nach rechts zum maximalen Ausschlag, dann nach links zum maximalen Ausschlag auf deranderen Seite, und zuruck zum Nulldurchgang schwingt.

111

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Im anderen Energiebereich, in dem das Pendel uberschlagt, ist die neue Koordinate Q einfach eine inder Zeit geeignet gestreckte und gestauchte Funktion ϕ(t), so dass Q gleichformig in der Zeit anwachst(oder abfallt).

Die spezielle Trajektorie, die diese beiden Energiebereiche trennt, lasst sich nicht auf diese Weisetransformieren. Der Grund hierfur ist der hyperbolische Fixpunkt, dem sich die Trajektorie im Limest → ∞ immer mehr annahert, und an dem die Lange des Pfeils, der die Geschwindigkeit der Trajektorienim Phasenraum angibt, Null ist. Bei einer Bewegung auf einem Torus ist die Geschwindigkeit uberall vonNull verschieden und die Richtung der Bewegung an jedem Punkt eindeutig.

Wir folgern also: die Transformation eines durch einen endlichen Energiebereich gegebenen Teils desPhasenraums auf eine gleichformige Bewegung ist unmoglich, wenn dieser Teil des Phasenraums hy-perbolische Fixpunkte enthalt. Elliptische Fixpunkte sind harmloser, da sie als ein auf die Große Nullgeschrumpfter Torus angesehen werden konnen. Hyperbolische Fixpunkte haben noch eine weitere wich-tige Eigenschaft: Wenn man in ihrer unmittelbaren Umgebung ist und in der instabilen Eigenrichtungrauslauft, entfernt sich die Trajektorie fur kleine Zeiten gemaß einer Exponentialfunktion von dem Fix-punkt.

Beim Pendel (und bei allen anderen zeitunabhangigen eindimensionalen Systemen) ist die Existenz vonhyperbolischen Fixpunkten harmlos, da sie nur einen einzigen Energiewert betreffen (bzw. fur allgemeineeindimensionale Systeme eine endliche Anzahl von Energiewerten in jedem endlichen Energieintervall).Fur die Energiebereiche unterhalb und oberhalb der Energie des hyperbolischen Fixpunkts (oder, wennes mehrere solcher Fixpunkte gibt, fur die Energiebereiche zwischen den Fixpunkten) ist eine kanonischeTransformation auf Tori moglich. Das System ist also integrabel, benotigt aber fur verschiedene Bereichedes Phasenraums verschiedene Transformationen.

In hoherdimensionalen Systemen ist die Situation komplexer. Auch hier kann keine kanonische Trans-formation auf eine freie Bewegung durchgefuhrt werden, wenn der betrachtete Bereich des Phasenraumshyperbolische Fixpunkte (also Fixpunkte mit stabilen und instabilen Eigenrichtungen) enthalt. Doch esgibt noch weitere gefahrliche Objekte in hoherdimensionalen Systemen, namlich instabile periodischeTrajektorien. Ebenso wie Fixpunkte bilden die Punkte einer periodischen Bahn eine invariante Mengeim Phasenraum. Wenn wir uns nun noch bewusst machen, dass solche invarianten Mengen nach einerkanonischen Transformation mit der Erzeugenden W (q, α) wieder eine invariante Menge sein mussen,aber dass ein Torus keine instabilen periodischen Bahnen enthalt, folgt, dass Phasenraumbereiche, dieinstabile periodische Bahnen enthalten, nicht auf eine freie Bewegung transformiert werden konnen.

All diese Uberlegungen fuhren uns also zu der Schlussfolgerung, dass die Hamilton-Jacobi-Gleichunglosbar ist, also dass die Dynamik sich auf eine freie Bewegung transformieren lasst, wenn es n Erhaltungs-großen gibt und wenn es innerhalb der Phasenraumbereiche, die gemeinsam transformiert werden sollen,keine instabilen periodischen Bahnen oder Fixpunkte gibt. Damit sind wir vorbereitet fur den Satz vonLiouville uber integrable Systeme und fur den Nachweis, dass nicht integrable Systeme typischerweisechaotisch sind.

Aufgaben

1. Fuhren Sie eine kanonische Transformation mit der Erzeugenden G =∑

i qiPi durch. Wie interpre-tieren Sie dieses Ergebnis?

2. Zeigen Sie, dass die Transformation Qi = pi , Pi = −qi , K(Q,P, t) = H(−P,Q, t) kanonischist. Wie interpretieren Sie dieses Ergebnis?

3. (a) Stellen Sie die Hamilton-Jacobi-Gleichung fur das Zentralkraftproblem

H =1

2m

(

p2r +pϕ

r2

)

+ V (r)

auf.

112

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(b) Separieren Sie zunachst die Zeit ab, so dass Sie eine partielle Differenzialgleichung fur W

bekommen. Setzen Sie α1 = E und machen Sie den Ansatz W (r, ϕ,E, α2) = W1(r, E, α2) +W2(ϕ,E, α2). Warum funktioniert dieser Ansatz?

(c) Formen Sie diese Gleichung so um, dass auf der einen Seite keine ϕ-Abhangigkeit und auf deranderen Seite keine r-Abhangigkeit ist.

(d) Da die rechte und linke Seite von verschiedenen Variablen abhangen, mussen sie gleich einerKonstanten sein. Identifizieren Sie diese mit α2 und schreiben Sie die resultierenden Ausdruckefur W1 und W2 auf. Diese Ausdrucke durfen noch einfache Integrale enthalten.

(e) Finden Sie einen Zusammenhang zwischen pϕ und α2.

(f) Schreiben Sie das somit erhaltene Ergebnis fur S auf und berechnen Sie daraus Ausdrucke furdie neuen Koordinaten β1 und β2.

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Kapitel 13

Integrable und nicht integrable

Systeme

In diesem Kapitel behandeln wir den Satz von Liouville, der eine hinreichende Bedingung fur die Integra-bilitat eines Systems liefert. Außerdem zeigen wir, dass ein integrables System sofort nichtintegrabel wird,wenn man zu seiner Hamiltonfunktion einen kleinen Term addiert, der nicht dieselben Erhaltungsgroßenhat.

13.1 Der Satz von Liouville uber integrable Systeme

Der Satz von Liouville besagt, dass ein raumlich beschranktes Hamiltonsches System mit n Freiheitsgra-den integrabel ist, wenn es n Funktionen Ii(q, p) gibt, die von den Koordinaten und Impulsen, aber nichtvon der Zeit abhangen und folgende drei Eigenschaften haben:

1. Die Funktionen Ii(q, p) sind Erhaltungsgroßen.

2. Alle ihre Poissonklammern verschwinden, d.h.

[Ii, Ij ] = 0 (13.1)

fur alle Paare i, j. Man sagt auch, die Ii sind in Involution.

3. Ihre totalen Differenziale

dIi =

n∑

k=1

(

∂Ii

∂qkdqk +

∂Ii

∂pkdpk

)

sind linear unabhangig, d.h. der Rang der n× 2n Koeffizientenmatrix (∂Ii/∂qk, ∂Ii/∂pk) ist n.

Die erste und dritte Eigenschaft sind notwendig, damit der Phasenraum in n-dimensionale Mannigfal-tigkeiten zerlegt werden kann, die jeweils zu konstanten Werten der Erhaltungsgroßen gehoren. Die zweiteEigenschaft ist notig, damit innerhalb dieser Mannigfaltigkeiten die Erzeugende W (p, I) der kanonischenTransformation auf eine freie Bewegung konstruiert werden kann. Dann folgt, dass diese Mannigfaltigkei-ten Tori sind. Wir zeigen dies, indem wir die Funktion W konstruieren. Sie ist namlich wegen W = S+Et

und

S =

(∑

i

piqi − E)dt =

(∑

i

pidqi − Edt) =

i

pidqi − Et

gegeben durch

W (q, I) =

∫ q

q0

i

pi(q′, I)dq′i . (13.2)

114

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Der Integrationsweg ist innerhalb der n-dimensionalen Mannigfaltigkeit zu den angegebenen Werten I

zu nehmen. Die Funktion W (q, I) ist wohldefiniert, wenn sie unabhangig vom Integrationsweg ist. Wirmussen also zeigen, dass der Wert des Integrals sich nicht andert, wenn wir den Weg bei festem Anfangs-und Endpunkt kontinuierlich deformieren. Dies folgt daraus, dass alle Poissonklammern zwischen den Iiverschwinden, wie wir im Folgenden skizzieren:

Wir konnen ein infinitesimales Wegelement d~q innerhalb der n-dimensionalen Mannigfaltigkeit da-durch erzeugen, dass wir die Hamiltonschen Gleichungen uber eine infinitesimale Zeit dt anwenden. Diesgibt

d~q(1) = (∂H/∂~p)dt

und eine damit verbundene Anderung des Impulses

d~p(1) = −(∂H/∂~q)dt .

Wir konnen außerdem n−1 davon linear unabhangige infinitesimale Wegelemente dadurch erzeugen, dasswir die n− 1 anderen Erhaltungsgroßen jeweils wie eine Hamiltonfunktion behandeln, also

d~q(j) = (∂Ij/∂~p)dτj

undd~p(j) = −(∂Ij/∂~q)dτj

setzen, fur j = 2, . . . , n (den Index j = 1 haben wir ja schon fur die Hamiltonfunktion, also die Erhal-tungsgroße Energie vergeben). Weil die Poissonklammern der Erhaltungsgroßen verschwinden, andernsich die Werte der Erhaltungsgroßen nicht, wir bleiben also innerhalb derselben Mannigfaltigkeit, wennwir ein solches Wegelement konstruieren. (Dies zeigt man ganz genau so wie die Rechnung (11.6).) Alsokonnen wir die Wegelemente des Integrationswegs in (13.2) als Linearkombination der ~q(j) ausdrucken.Wir konnen einen gegebenen Integrationsweg beliebig genau dadurch nahern, dass wir in einer richtiggewahlten Reihenfolge die Ij jeweils infinitesimale Wegelemente erzeugen lassen. Das Integral in (13.2)ist unter stetigen Deformationen des Integrationswegs genau dann invariant, wenn die Reihenfolge derinfinitesimalen Schritte vertauscht werden darf. Dies zeigen wir fur zwei aufeinanderfolgende Schritted~q(j) und d~q(k): Wenn wir von einem Ausgangspunkt (q0, p0) zuerst Ij uber eine infinitesimale “Zeit” dτjanwenden, und dann Ik uber eine infinitesimale “Zeit” dτk, erhalten wir einen Beitrag

dW = ~p(~q0, ~I) · d~q(j) + (~p(~q0, ~I) + d~p(j))d~q(k) = ~p(~q0, ~I) · d~q

(j) + ~p(~q0, ~I)d~q(k) + d~p(j)d~q(k)

zum Integral. Wenn wir die umgekehrte Reihenfolge wahlen, lautet der letzte Term d~p(k))d~q(j). Nun istaber

d~p(j)d~q(k) = −∂Ij

∂~q

∂Ik

∂~pdτjdτk = −

∂Ik

∂~q

∂Ij

∂~pdτjdτk = d~p(k)d~q(j) .

Im vorletzten Schritt haben wir verwendet, dass die Poissonklammer [Ij , Ik] verschwindet. Wir habenalso gezeigt, dass dW unabhangig von der Reihenfolge der beiden Schritte ist. (Diese ganze Rechnung istnichts anderes als der Satz von Stokes in n Dimensionen.)

13.2 Wirkungs- und Winkelvariablen

Beim Nachweis der Eindeutigkeit der Funktion W haben wir eine Sache ignoriert: Es gibt namlich Inte-grale

i

pi(q′, I)dq′i

auf dem Torus, die nicht verschwinden. Dies sind die Integrale uber Wege um den Torus herum, die sichnicht stetig auf einen Punkt zusammenziehen lassen. Es gibt n verschiedene nicht ineinander deformierbareWege Cj . Also gibt es auch n verschiedene Integrale

Jj ≡1

Cj

i

pi(q, I)dqi , (13.3)

115

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die den Torus charakterisieren. Man nennt sie Wirkungsvariablen.Dies bedeutet, dassW doch nicht eindeutig definiert ist, da man zwischen zwei Punkten auf dem Torus

Integrationswege nehmen kann, die sich in ihrer Windungszahl um den Torus in jeder der n Dimensionenunterscheiden konnen. Doch dies spiegelt nur die Tatsache wider, dass auch die Qj nur bis auf Vielfachevon 2π∂K/∂Ij eindeutig sind.

Da die Wirkungsvariablen einen Torus eindeutig charakterisieren, mussen sie sich als Funktionen derErhaltungsgroßen Ii schreiben lassen. Dies bedeutet, dass sie selbst Erhaltungsgroßen sind. Wir hatten vonAnfang an als neue verallgemeinerte Impulse P in der Erzeugenden W der kanonischen Transformationstatt der I die Variablen J wahlen konnen. Die entsprechenden verallgemeinerten neuen Koordinaten Qi

nennen wir Winkelvariablen θi, und diese genugen den Beziehungen

θi =∂W (q, J)

∂Ji(13.4)

und der Bewegungsgleichung

θi =∂K(J)

∂Ji≡ ωi = konst. (13.5)

Wir konnen die den Torus charakterisierenden Integrale (13.3) auch in den neuen Koordinaten be-rechnen. Wir erhalten dann

Jj ≡1

Cj

i

Jidθi .

Wenn wir die geschlossene KurveCj als Weg von (θ1, . . . , θj, . . . θn) = (0, . . . , 0, . . . , 0) nach (θ1, . . . , θj, . . . θn) =(0, . . . , 2π, . . . , 0) nehmen, erhalten wir die Identitat Jj = Jj , wie es sein muss. Die Wirkungsvariablen sindalso eindeutig und verandern sich nicht unter einer kanonischen Transformation. Der Vorfaktor 1/(2π)vor dem Integral (13.3) fuhrt dazu, dass die θi bei einer Umrundung des Torus genau um 2π anwachsen,also als echte Winkel verstanden werden konnen.

13.3 Eine kleine Anderung von H kann ein System nichtinte-

grabel machen

Nun beginnen wir mit einem integrablen System in der Formulierung mit Wirkungs- und Winkelvariablenund mit einer (zeitunabhangigen) Hamilton-Funktion H0, aber addieren eine kleine “Storung” ǫH1, diez.B. die bisher vernachlassigten Effete der Umgebung des betrachteten Systems auf die Dynamik diesesSystems beinhaltet:

H(θ, J) = H0(J) + ǫH1(θ, J) .

In der Darstellung durch Wirkungs- und Winkelvariable hangt H0 nur von den J ab, weil die Hamilton-funktion H ja identisch mit K(J) ist. Wenn H1 explizit von den θ abhangt, hat das durch H beschriebeneSystem keine n Erhaltungsgroßen mehr. Wir zeigen im Folgenden, dass das System dann auch nicht mehrintegrabel ist. solche Uberlegungen wurden ubrigens schon um das Jahr 1890 durch Henri Poincare an-gestellt.

Wir versuchen, eine kanonische Transformation auf neue Variablen J ′, θ′ zu finden, so dass dieHamilton-Funktion nur von J ′ abhangt. Wenn es uns gelingt, ist das neue System integrabel, aber wennwir zeigen konnen, dass es keine solche Transformation gibt, ist das System nicht integrabel.

Die zeitunabhangige Hamilton-Jacobi-Gleichung fur die gesuchte Transformation lautet

H

(

∂W

∂θ, θ

)

= H(J ′) .

Wir entwickeln W in Potenzen von ǫ und behalten in der folgenden Rechnung nur die Terme bis zurlinearen Ordnung in ǫ:

W = W (θ, J ′) = θJ ′ + ǫW1(θ, J′) + . . . .

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(Bemerkung: Das Produkt θJ ′ ist zu lesen als ~θ · ~J ′ bzw.∑

i θiJ′

i . Der Einfachheit halber lassen wirin dieser Rechnung die Vektorpfeile bzw. Summierungen und Laufindizes weg.) Der erste Term in dervorigen Gleichung ist derjenige, den man fur H1 = 0 hatte, und er macht eine kanonische Transformation,bei der die alten und neuen Variablen identisch sind.

Wenn man den Ausdruck fur W in die zeitunabhangige Hamilton-Jacobi-Gleichung einsetzt, erhaltman

H(J ′) ≃ H0

(

J ′ + ǫ∂W1

∂θ

)

+ ǫH1

(

θ,∂W1

∂θ

)

≃ H0(J′) + ǫ

∂H0

∂J ′

∂W1

∂θ+ ǫH1(θ, J

′) .

Die von θ abhangigen Terme verschwinden in der Ordnung ǫ, wenn

∂H0

∂J ′

∂W1

∂θ≡ ω

∂W1

∂θ= −H1(θ, J

′)

ist. Um dies zu losen, entwickeln wir W1 und H1 in einer Fourierreihe in θ (denn θ hat ja die Periode 2π):

W1(θ, J′) =

n6=0

W1,n(J′)ein·θ

H1(θ, J′) =

n6=0

H1,n(J′)ein·θ (13.6)

wobei n = (n1, n2, . . . ) ist (mit ganzzahligen ni). Der Summand n = 0 tritt nicht auf, da er in H1

nur einen konstanten und damit uberflussigen Beitrag zur Energie macht, und da er in W1 wegen derAbleitung nach θ sowieso keine Auswirkung hat. Damit erhalten wir das Ergebnis

W (J ′, θ) = θ · J ′ + iǫ∑

n6=0

H1,n(J′)

n · ω(J ′)ein·θ . (13.7)

Man sieht, dass der Beitrag proportional zu ǫ nicht immer klein ist, da er fur

ω · n = 0

divergiert. Fur ein System mit zwei Freiheitsgraden bedeutet dies

ω1n1 + ω2n2 = 0

bzw.ω1

ω2

= −n2

n1

.

Fur rationale Frequenzverhaltnisse gibt es also Resonanzen, die die Storungstheorie kaputt machen, sodass das System in diesem Fall nicht mit Hilfe der Storungstheorie integriert werden kann.

Die am Anfang dieser Rechnung gemachte Annahme, dass eine kleine Anderung vonH zu einer kleinenAnderung der Trajektorien fuhrt, erweist sich also als falsch. Fruher hoffte man, dass die gefundenenResonanzen durch Terme, die in hoherer Ordnung in ǫ kommen (wir haben ja nur bis zur ersten Ordnunggerechnet), moglicherweise kompensiert werden, oder dass man einen anderen Ansatz finden kann, umdas durch H0 + ǫH1 gegebene mechanische Problem zu losen. Doch heute wissen wir, dass dies i.A. nichtmoglich ist. Das KAM-Theorem und das Poicare-Birkhoff-Theorem (aus Kapitel 14) werden das deutlichmachen.

13.4 Das KAM-Theorem

Wir haben im vorigen Abschnitt gesehen, dass rationale Tori durch H1 zerstort werden, weil Resonanzenauftreten. Nun fragen wir, was mit irrationalen Tori passiert. Werden sie nur deformiert, oder werden sieauch zerstort? Das kommt darauf an, wie “nah” das irrationale Frequenzverhaltnis an rationalen Zahlen

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ist, wie das KAM-Theorem zeigt, das wir im Folgenden in seiner einfachsten Version behandeln. KAMsteht hierbei fur die drei Namen Kolmogorov (1954), Arnold (1963) und Moser (1967). Diese Personenstellten Bedingungen dafur auf, dass die storungstheoretische Rechnung konvergierende Summen ergibt.Das betrifft sowohl die Summation der Fourierkomponenten, als auch die Summation der Terme jederOrdnung in ǫ. Bei der Begrundung des Theorems befassen wir uns hier nur mit der ersten Sorte vonSumme. Wir geben das KAM-Theorem hier fur 2 Freiheitsgrade an. Die allgemeine Formulierung kannin der Originalliteratur gefunden werden.

Das KAM-Theorem besagt, dass wenn die Jacobi-Determinante der Frequenzen nicht Null ist, alsowenn (det ∂ωi/∂Jj) 6= 0 ist, diejenigen Tori, deren Frequenzverhaltnis fur alle rationalen Zahlen m/s dieUngleichung

ω1

ω2

−m

s

>k(ǫ)

s2.5(13.8)

erfullt, stabil sind unter der Storung ǫH1, solange ǫ genugend klein ist. k(ǫ) ist hierbei eine stetigeFunktion, die fur ǫ → 0 verschwindet.

Wir zeigen zunachst, dass diejenigen Frequenzverhaltnisse, die die Bedingung (13.8) erfullen, einnichtverschwindenes Maß haben. Die Gesamtlange aller Intervalle in 0 ≤ ω1/ω2 ≤ 1, fur die (13.8) nichtgilt, erfullt die Ungleichung

L < 2

∞∑

s=1

k(ǫ)

s2.5· s = 2k(ǫ)

∞∑

s=1

s−1.5 = konst. · k(ǫ) → 0

fur ǫ → 0. (Der Faktor s kommt daher, dass es s verschiedene Werte von m gibt, und der Faktor 2 kommtdaher, dass der Ausdruck in den Betragsstrichen in (13.8) positiv oder negativ sein kann.)

Dies bedeutet, dass diejenigen Frequenzverhaltnisse, fur die die ursprungliche Bewegung auf demTorus durch die Storung nur leicht verandert wird, ein Maß 1− konst. · k(ǫ) haben. Fur genugend großeǫ werden schließlich alle Tori zerstort. Der letzte Torus, der zerstort wird, entspricht der “irrationalstenZahl” (

√5− 1)/2.

Um die Konvergenz des Ausdrucks fur W1 zu begrunden, betrachten wir die Summe in (13.7) fureinen irrationalen Torus mit den Frequenzen ω1 > 0 und ω2 > 0, die die Bedingung (13.8) erfullen, undzeigen, dass sie konvergiert. Es ist

|ω1n1 + ω2n2| ≥ |n1|ω2

ω1

ω2

n2

n1

≥ ω2

ω1

ω2

n2

n1

≥ ω2

k(ǫ)

|n1|2.5

und folglich∣

n6=0

H1,n

n · ωein·θ

=

n mit ω·n>0

H1,nein·θ −H1,−ne

−in·θ

n · ω

=

n mit ω·n>0

2ℑH1,nein·θ

n · ω

≤∑

n mit ω·n>0

∣2ℑH1,nein·θ

n · ω

≤1

ω2k(ǫ)

n mit ω·n>0

∣2ℑH1,nein·θ

∣ |n1|2.5 . (13.9)

Das Symbol ℑ steht fur den Imaginarteil. Der letzte Term in (13.7) ist klein, wenn das Ergebnis (13.9)multipliziert mit ǫ klein ist. Dies ist der Fall, wenn die Summe konvergiert und k(ǫ) entsprechend gewahltwird. Die Summe konvergiert, wenn die Fourierkomponenten von H1 fur große n1 und n2 mindestenswie 1/(n3.5

1n2) abfallen. Wenn sie starker abfallen, kann statt des Exponenten 2.5 ein großerer Exponent

gewahlt werden, und wir konnen fur noch mehr Tori zeigen, dass sie nicht zerstort werden. Allgemeinversucht man jeweils, die Abschatzungen moglichst gut auf das konkrete System zuzuschneiden.

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13.5 Was bedeutet das anschaulich?

Wir haben gesehen, dass Tori mit rationalen Frequenzverhaltnissen, also mit geschlossenen, periodischenBahnen, durch eine Storung kaputt gemacht werden. Dies konnen wir uns anschaulich plausibel machen:Eine geschlossene Bahn kommt immer wieder an genau derselben Stelle im Phasenraum vorbei. Dortspurt sie die Storung H1 immer auf die gleiche Weise. Also kann H1 bei jedem Umlauf die Bahn einStuck weiter in derselben Richtung ablenken. Im Laufe der Zeit addieren sich diese kleinen Anderungenzu einer großen Anderung der Bahn auf. Bei einer quasiperiodischen Bahn ist dies anders, da die Bahn janicht immer wieder dieselben Punkte im Phasenraum durchlauft. Wenn die quasiperiodische Bahn jedochnah an einer periodischen ist, kommt sie mehrfach nahe an demselben Punkt vorbei, bevor sie in andereBereiche des Phasenraums geht. Je kurzer die Periode der Bahn (also je kleiner s in (13.8)) ist und jestarker die Storung (also je großer ǫ) ist, desto eher schafft die Storung es, auch eine quasiperiodischeBahn stark zu andern. Dies ist das anschauliche Ergebnis des KAM-Theorems.

Wir konnen dies auch auf unser Sonnensystem anwenden: Wir betrachten die Storung der Bahn einesObjekts A (z.B. ein Asteroid) durch einen Planeten B (z.B. Jupiter). Um die Storung zeitunabhangig zumachen, setzen wir uns in ein Bezugssystem, das mit Jupiter wandert. Aus Sicht dieses Bezugssystemist der Planet auf einer quasiperiodischen Bahn mit zwei Frequenzen, die sich aus dem Umlaufzeiten vonA und B ergeben. Wenn die Umlaufzeiten der beiden Himmelskorper um die Sonne in einem rationalenVerhaltnis zueinander stehen, sagen wir 3:1, dann sieht der Asteroid bei jedem dritten Umlauf denJupiter wieder an derselben Stelle und wird durch ihn in derselben Richtung abgelenkt. Diese kleinenStorungen, die immer in derselben Richtung wirken, konnen sich uber Jahrmillionen soweit aufaddieren,dass der Asteroid aus seiner Bahn geworfen wird. Genau dies ist auch in der Vergangenheit passiert, undman findet im Asteroidengurtel die sogenannten “Kirkwood”-Lucken bei Umlaufzeiten, die in Resonanzmit der Umlaufzeit des Jupiter stehen, wie in diesem Bild gezeigt, das auf der Wikipedia-Seite zumAsteroidengurtel zu finden ist:

Auch die Lucken in den Ringen des Saturn kann man so erklaren. Dort wo die Lucken sind, stehtdie Umlaufdauer der Teilchen in einem rationalen Verhaltnis (mit niedrigem s) zur Umlaufdauer einesSaturn-Mondes.

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Aufgaben

1. Betrachten Sie die in den folgenden Teilaufgaben genannten mechanischen Systeme mit zeitun-abhangiger Hamiltonfunktion und mit konservativen Kraften und holonomen, skleronomen Zwangs-bedingungen (bzw. ohne Zwangsbedingungen), die wir dieses Semester gelost haben. Finden Sie zujedem dieser Systeme n Erhaltungsgroßen, die in Involution miteinander stehen.

(a) Der Skifahrer (Kapitel 1)

(b) Das Teilchen im Kreiskegel

(c) Das Rollpendel

(d) Das Kepler-Problem (Kapitel 7)

2. Betrachten Sie das Zentralkraftproblem.

(a) Diskutieren Sie folgende Behauptung: Die Wirkungsvariablen des Zentralkraftproblems sindgegeben durch

Jϕ =1

pϕdϕ = pϕ

und

Jr =1

prdr =1

π

∫ rmax

rmin

2m(E − Veff (r))dr

mit Veff (r) =p2

ϕ

2mr2+ V (r).

(b) Eigentlich ist n = 3 fur das Zentralkraftproblem. Wo bleibt die dritte Dimension und die dritteWirkungsvariable?

(c) Berechnen Sie fur das Kepler-Problem explizit Jr als Funktion von E. Ermitteln Sie darausden Zusammenhang E(Jr , Jϕ), und aus diesem die Frequenzen ωr und ωϕ. Wie interpretierenSie das Ergebnis ωr = ωϕ?

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Kapitel 14

Das Entstehen von Chaos:

Poincare-Birkhoff-Theorem und

gekickter Rotator

14.1 Instabile Tori und das Poincare-Birkhoff-Theorem

Was passiert, wenn Tori zerstort werden? Hierauf gibt das Poincare-Birkhoff-Theorem (1935) eine Ant-wort. Wir betrachten wieder den Fall n = 2, in dem die Tori zweidimensional sind, und wir konzentrierenuns auf die Umgebung eines rationalen Torus. Wir werden zeigen, dass der ursprungliche rationale Torusbeim Einschalten der Storung in kleinere Tori zerfallt. Zwischen diesen Tori ist die Bewegung vollstandigirregular.

Dies lasst sich am besten mit einer Poincare-Abbildung veranschaulichen. Wir legen in Gedanken einBlatt Papier durch den Torus, so dass ein Schnitt in Form eines Kreises entsteht. (Einen Kreis gibt es,solange wir H1 = 0 wahlen.) Wir betrachten eine Trajektorie auf diesem Torus. In Zeitabstanden T2 =2π/ω2 kommt die Trajektorie durch unsere Schnittebene durch. Jedes Mal ist sie um einen Winkel T2 ·ω1

versetzt. Wir erhalten also eine Folge von Durchstoßpunkten der Trajektorie durch unsere Schnittebene.Wenn der Torus rational ist (ω1/ω2 = m/s), dann ist der Durchstoßpunkt Nummer s + 1 identisch mitNummer 1. Fur irrationale Tori uberdecken im Lauf der Zeit die Durchstoßpunkte den Kreis.

Nun betrachten wir nicht nur einen Torus, sondern alle Tori innerhalb eines gewissen Intervalls vonWerten der Wirkungsvariablen. In der Schnittebene bilden diese Tori dann einen konzentrischen Satz vonKreisen, deren Radius kontinuierlich von der Wirkungsvariablen J1 abhangt.

Die Abfolge von Durchstoßpunkten einer Trajektorie durch die Schnittebene konnen wir in Polarko-ordinaten durch eine diskrete Abbildung M darstellen, die definiert ist durch die beiden Beziehungen

ri+1 = ri = r(t = i ·2π

ω2

)

θi+1 = θi + 2πω1

ω2

= θi + 2πα(r) . (14.1)

Fur ein rationales Verhaltnis α ≡ (ω1/ω2) = m/s ist jeder Punkt auf dem Kreis ein Fixpunkt der s-fachiterierten Abbildung M s.

Nun addieren wir eine Storung ǫH1. Weil wir wieder ǫ als klein betrachten, konnen wir die geanderteAbbildung, die wir mit Mǫ bezeichnen, durch eine Taylorentwicklung bis zur ersten Ordnung in ǫ nahern:

ri+1 = ri + ǫf(ri, θi)

θi+1 = θi + 2πα(ri) + ǫg(ri, θi) . (14.2)

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Weil wir von einem stetigemH1 ausgehen, nehmen wir auch an, dass f und g stetige Funktionen sind. Waskonnen wir uber die Fixpunkte von (Mǫ)

s sagen? Um dies zu diskutieren, untersuchen wir den Fall, dassα(r) stetig mit r anwachst. (Der umgekehrte Fall, dass α(r) stetig mit r abfallt, lasst sich ganz analogbehandeln.) Dazu betrachten wir zunachst alle Punkte mit demselben Winkel θi und verschiedenemRadius ri. Diejenigen mit einem kleinen ri (so dass α(ri) < m/s ist) werden von der Abbildung M s imUhrzeigersinn gedreht (θi+1 < θi), wahrend diejenigen mit einem großen ri (so dass α(ri) > m/s ist) vonder Abbildung M s gegen den Uhrzeigersinn gedreht werden (θi+1 > θi). Diejenigen mit dem Radius, derzu α(ri) = m/s gehort, werden auf sich selbst abgebildet. Wenn die Storung eingeschaltet wird (und damitM s durch (Mǫ)

s ersetzt wird), werden fur genugend kleine ǫ ebenfalls die Punkte (ri, θi) zu kleineren riim Uhrzeigersinn gedreht, wahrend die Punkte zu genugend großen ri gegen den Uhrzeigersinn gedrehtwerden. Im Gegensatz zur ungestorten Abbildung kann sich hierbei der Radius andern. Irgendwo zwischenden kleinen und großen ri muss es einen Punkt (Rǫ(θi), θi) geben, der unter der Abbildung (Mǫ)

s seinenWinkel erhalt. Dieses Argument gilt fur jeden Winkel θi, so dass es fur jeden Winkel θi einen solchen Punktgibt, dessen Winkel sich unter (Mǫ)

s nicht andert. Also gibt es eine geschlossene Kurve von Punkten,die unter (Mǫ)

s ihren Winkel nicht andern (siehe Abb. 14.1). Nun betrachten wir diese Kurve samt der

sεM (R )ε

R ε

Abbildung 14.1: Die Kurve Rǫ derjenigen Punkte, die unter der Abbildung (Mǫ)s nicht ihren Winkel

andern, und die Kurve (Mǫ)s(Rǫ).

Kurve (Mǫ)s(Rǫ). Diese beiden Kurven konnen nicht identisch sein, da dies ja bedeuten wurde, dass der

rationale Torus nicht zerstort wird. Beide Kurven mussen dieselbe Flache einschließen. Daraus folgt, dasssie sich an einer geraden Anzahl von Stellen schneiden. Die Schnittpunkte, die auf beiden Kurven Rǫ und(Mǫ)

s(Rǫ) liegen, sind Fixpunkte von (Mǫ)s. Wir betrachten nun die Umgebung dieser Schnittpunkte:

(Abb.14.2). Man sieht, dass abwechselnd elliptische Fixpunkte (Zentren) und hyperbolische Fixpunkte

Abbildung 14.2: Man erhalt abwechselnd elliptische und hyperbolische Fixpunkte.

(Sattelpunkte) auftreten. Um einen elliptischen Fixpunkt gibt es geschlossene Trajektorien. Dies bedeutet,

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dass der elliptische Fixpunkt von Tori umgeben ist.Wir haben also folgendes Szenario: Durch das Einschalten einer Storung ǫH1 werden alle rationalen

Tori zerstort. Ein Torus des Frequenzverhaltnissesm/s war in der diskreten Abbildung, die wir betrachtethaben, ein Ring, auf dem alle Punkte die Periode s haben. Nach Zerstorung des Torus gibt es noch(mindestens) eine stabile Trajektorie der Periode s und eine instabile Trajektorie der Periode s. Umjeden Punkt der stabilen Trajektorie gibt es einen neuen Satz von Tori. Hier konnen wir nun das KAM-Theorem und das Poincare-Birkhoff-Theorem wieder anwenden: In dem Satz von neuen Tori darf es auchkeine rationalen Tori geben. Statt ihrer gibt es eine stabile und eine instabile periodische Trajektorie. Umdie Punkte der stabilen Trajektorie gibt es wieder Tori, aber die rationalen Tori sind auch hier zerstortund durch weitere stabile und instabile Trajektorien ersetzt, etc... Wir erhalten also eine selbstahnlicheStruktur, die auf allen Skalen zu finden ist.

Zum Schluss diskutieren wir noch die Rolle der hyperbolischen Fixpunkte. Die Trajektorien, die inihrer Nahe beginnen, werden von ihnen abgestoßen. Aber sie konnen nicht sehr weit wandern, da sie inradialer Richtung zwischen den benachbarten nicht zerstorten Tori eingesperrt sind und in tangentialerRichtung den elliptischen Fixpunkten nicht zu nahe kommen konnen. In der Umgebung der hyperboli-schen Fixpunkte bewegen sich die Trajektorien chaotisch und fullen den ihnen zuganglichen Phasenraumaus. Um einen genaueren Eindruck von den Trajektorien in der Nahe der hyperbolischen Fixpunkte zubekommen, betrachten wir die zu diesem Fixpunkt gehorige stabile und instabile Mannigfaltigkeit. Diestabile Mannigfaltigkeit ist die Linie all derjenigen Punkte, die unter der Iteration in den Fixpunkt hin-einlaufen. Die instabile Mannigfaltigkeit sind all diejenigen Punkte, die unter einer Ruckwartsiteration inden Fixpunkt laufen. Man kann diese Mannigfaltigkeiten dadurch konstruieren, dass man mit demjenigenTeil der Mannigfaltigkeit beginnt, der sich in unmittelbarer Nahe (zum Beispiel innerhalb eines Abstandsǫ) des Fixpunktes befindet. Unter wiederholter Vorwartsiteration (bzw. Ruckwartsiteration) aller Punkteauf diesem Linienstuck erhalt man dann die instabile (bzw. stabile) Mannigfaltigkeit. Eine Mannigfal-tigkeit kann sich nicht selbst schneiden, denn sonst hatte ein Punkt ja zwei Vorganger bzw. Nachfolger,was bei einer deterministischen Dynamik nicht moglich ist. Die instabile Mannigfaltigkeit kann unterVorwartsiteration entweder in der Nahe des Fixpunktes bleiben oder auf einen benachbarten Fixpunktzulaufen. Im ersten Fall schneidet sie irgendwann die stabile Mannigfaltigkeit des eigenen Fixpunktes.Man nennt einen solchen Schnittpunkt einen homoklinen Punkt. Wenn es einen Schnittpunkt gibt, gibtes aber unendlich viele. Der Grund ist, dass sich der Schnittpunkt unter der Iteration wieder auf einenSchnittpunkt abbildet. Dies kann nicht derselbe Schnittpunkt sein, da wir sonst eine periodische Bahnhatten, was im Wiederspruch damit ist, dass jeder Punkt der Mannigfaltigkeiten unter einer Vorwarts-(bzw. Ruckwarts-) Iteration in den hyperbolischen Fixpunkt lauft. Es gibt also eine unendliche Folgevon Schnittpunkten, die sich in beiden Iterationsrichtungen dem Fixpunkt nahern. Abb. 14.3 zeigt denqualitativen Verlauf der beiden Mannigfaltigkeiten. Wenn die instabile Mannigfaltigkeit eines Fixpunk-

H 0

1

2

3

Abbildung 14.3: Die stabile und instabile Mannigfaltigkeit eines hyperbolischen Fixpunktes H, wenn siesich schneiden. Der Schnittpunkt 0 der beiden Mannigfaltigkeiten und die ersten drei seiner vorwartsIterierten sind gekennzeichnet.

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tes unter Vorwartsiteration auf einen benachbarten Fixpunkt zulauft, schneidet sie sich irgendwann mitder stabilen Mannigfaltigkeit des Nachbarfixpunktes. In diesem Fall spricht man von einem heteroklinen

Punkt, und es gibt ebenfalls unendlich viele Schnittpunkte.

Diese Uberlegungen zeigen uns, dass chaotische Bereiche in der Umgebung hyperbolischer Fixpunkteauftreten. Dies passt sehr gut mit unserer Beobachtung im letzten Kapitel zusammen, dass Phasenraum-bereiche, die hyperbolische Fixpunkte enthalten, nicht integrabel sind. Das Poincare-Birkhoff-Theoremzeigt uns nun, dass es in dem durch H0+ ǫH1 beschriebenen System keinen Bereich im Phasenraum gibt,in dem es keinen hyperbolischen Fixpunkt gibt. Denn beliebig nah an einem irrationalen Torus befindensich immer auch rationale Tori... Also gibt es fur ein nicht integrables System keine stuckweise stetigdifferenzierbare erzeugende Funktion W (q, P ), die eine globale Transformation des Phasenraums auf einefreie Bewegung macht.

Was wir (im Poincare-Schnitt) als hyperbolische Fixpunkte identifiziert haben, sind im kontinuierli-chen System instabile periodische Bahnen. Chaotische Bereiche sind dicht von solchen instabilen peri-odischen Bahnen durchsetzt. Wir haben in Kapitel 11 gesehen, dass in der Nahe eines hyperbolischenFixpunktes (und analog in der Nahe einer instabilen periodischen Bahn) der Abstand einer Trajektoriezu diesem Fixpunkt exponenziell in der Zeit anwachst, wenn man langs der instabilen Eigenrichtungherauslauft. Dies ist letztlich die Ursache fur die fundamentale Eigenschaft chaotischer Bewegung, dasssich benachbarte Trajektorien exponenziell schnell voneinander entfernen, solange ihr Abstand klein ist.

14.2 Beispiel: Der gekickte Rotator

Das Standardbeispiel fur Hamiltonsches Chaos ist der gekickte Rotator. Dies ist ein rotierender Stab derLange l und des Tragheitsmoments I, der an einem Ende reibungsfrei gelagert ist. Wenn keine Kraft aufihn wirkt, rotiert er also mit konstanter Winkelgeschwindigkeit θ. Der frei rotierende Stab liegt daher mitder Winkelvariablen θ und der Wirkungsvariablen pθ (Drehimpuls) schon automatisch in der durch dieHamilton-Jacobi-Gleichung angestrebten einfachen Form einer freien Bewegung vor.

Nun gibt man dem Stab zu Zeiten t = τ, 2τ, . . . einen Stoß der ImpulsstarkeK/l in einer vorgegebenenRichtung. Die Hamiltonfunktion lautet

H(pθ, θ, t) =p2θ2I

+K cos θ∑

n

δ(t− nτ) ,

wobei der erste Tern die kinetische Energie aufgrund der Rotationsbewegung ist und der zweite Termdafur sorgt, dass der Drehimpuls zu Zeiten nτ durch die Stoße jeweils eine Anderung um den Wert K sin θbekommt, wie die Bewegungsgleichungen zeigen:

dpθ

dt= K sin θ

n

δ(t− nτ)

dt=

I. (14.3)

Der Drehimpuls pθ andert sich also diskontinuierlich zu den Zeiten nτ , wobei der Kraftstoß in +x-Richtunggeht, so dass die Drehimpulsanderung fur θ = ±π am großten ist.

Dies ist eigentlich kein System mit zeitunabhangigem Hamilton-Operator, wie wir sie die ganze Zeitbetrachtet haben. Doch diese Art von zeitabhangiger Storung ist die einfachste Art, Chaos in moglichstniedrigen Dimensionen zu erzeugen. Wenn wir das System immer nur zu diskreten Zeiten betrachten (wiebei einer Beobachtung mit dem Stroboskop), bekommen wir dasselbe Szenario, wie wenn wir durch einenzweidimensionalen Torus eines zeitunabhangigen Systems einen Poincare-Schnitt machen.

Wir gehen also von den kontinuierlichen Gleichungen zu einer diskreten Abbildung uber. Seien pn undθn der Drehimpuls und der Winkel unmittelbar nach dem n-ten Stoß. Integration der Gleichungen (14.3)

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uber den Stoß und die Vereinfachung τ/I = 1 gibt

pn+1 − pn = K sin θn+1

θn+1 = (θn + pn) mod 2π . (14.4)

Diese diskrete Abbildung nennt man oft die Standardabbildung. Die Flache im Phasenraum bleibt unterdieser Abbildung erhalten, denn es ist

det

(

∂θn+1/∂θn ∂θn+1/∂pn∂pn+1/∂θn ∂pn+1/∂pn

)

= det

(

1 1K cos θn+1 1 +K cos θn+1

)

= 1 .

Die nachsten drei Abbildungen zeigen die Trajektorien der Standardabbildung fur verschiedene Werte desParametersK. Der Anfangswert der Impulse wurde immer im Intervall [0, 2π[ gewahlt. Da die Impulse sichauch aus diesem Intervall herausbewegen (um so weiter, je großer K ist), haben wir in den Abbildungenimmer p mod 2π aufgetragen. Fur K = 0 ist das System integrabel, und man sieht nur regulare Tori, diesich als waagrechte Bander durch das Bild ziehen.

Mit zunehmendem K zerfallen immer mehr Tori und gibt es immer großere chaotische Regionen. BeiK ≃ 0.97 zerfallt der letzte ursprungliche Torus. Fur genugend große K fullt vermutlich eine einzigeTrajektorie den ganzen Phasenraum gleichmaßig aus.

14.3 Konsequenzen aus der Existenz von Chaos

Wir haben also gesehen, dass ein nichtverschwindender Anteil des Phasenraums mechanischer Systeme,die nicht die strengen Bedingungen fur Integrabilitat erfullen, aus chaotischen Trajektorien besteht. Chaoszeichnet sich dadurch aus, dass benachbarte Trajektorien exponentiell schnell in der Zeit auseinander-laufen, was dazu fuhrt, dass kleinste Veranderungen der Anfangsbedingungen schon nach recht kurzerZeit zu vollig verschiedenem Bahnverlauf fuhren. Da Anfangsbedingungen prinzipiell nur mit endlicherGenauigkeit festgelegt oder gemessen werden konnen, sind chaotische Systeme nur uber einen begrenztenZeithorizont vorhersagbar. Diese Erkenntnis kam seit den 1960er Jahren, als man anfing, Bewegungsglei-chungen mit den ersten Computern zu integrieren. Doch es dauerte noch 20 Jahre, bis klar wurde, einwie generelles und weit verbreitetes Phanomen Chaos ist. Die Erforschung chaotischer Dynamik ist auchheute ein sehr aktives Forschungsgebiet, auf dem wegen der schwierigen mathematischen Beschreibungund der Vielfalt der Phanomene immer noch viele neue Erkenntnisse gewonnen werden konnen.

Als Fazit sei ein Abschnitt aus dem Buch “The Transition to Chaos” von Linda Reichl (S. 3) zitiert,der 300 Jahre nach der Veroffentlichung von Newtons principia eine Bilanz im Lichte der Erkenntnisseder Chaostheorie zieht:

“The belief that Newtonian mechanics is a basis for determinism was formally laid to rest by Sir JamesLighthill in a lecture to the Royal Society on the three hundredth anniversary of Newton’s Principa.In his lecture Lighthill says . . . I speak . . . once again on behalf of the global fraternity of practitioners

of mechanics. We are all deeply conscious today that the enthusiasm of our forebears for the marvelous

achievements of Newtonian mechanics led them to make generalizations in this area of predictability which,

indeed, we may have generally tended to believe before 1960, but which we now recognize were false. We

collectively wish to apologize for having misled the general educated public by spreading ideas about the

determinism of systems satisfying Newton’s laws of motion that, after 1960, were proved incorrect. . .”

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Abbildung 14.4: Trajektorien der Standardabbildung fur K = 0, 0.3, 0.6 (von oben nach unten).

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Abbildung 14.5: Trajektorien der Standardabbildung fur K = 0.8 und 0.97 (von oben nach unten). Diemittlere Abbildung ist ein Zoom in die fur K = 0.8.

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Abbildung 14.6: Trajektorien der Standardabbildung fur K = 1.6, 2.5 und 5 (von oben nach unten). Diedritte Abbildung zeigt eine der beiden einzigen Inseln.

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