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RA RechtsprechungsAuswertung Heft 01/2011 Öffentliches Recht Zum Grundsatz der Ämterstabilität im Beamtenrecht .................................. 1 Durchsuchung in Räumlichkeiten eines Rundfunksenders .............................. 8 Anspruch auf Unterlassen unwahrer Behauptungen durch den Staat ..................... 13 Zivilrecht Arbeitsvertrag: Automatische Beendigung bei Erreichen des Rentenalters ................ 16 Anforderungen an das Nacherfüllungsverlangen ..................................... 21 Keine Haftung des Ehegatten für Maklerprovision ................................... 24 Analoge Anwendung von § 33 ZPO bei isolierter Drittwiderklage ...................... 29 Strafrecht Voraussetzungen für einen gerechtfertigten Behandlungsabbruch ....................... 33 “Neutraler” Gegenstand als gefährliches Werkzeug .................................. 37 Betrug durch “Ping”-Anrufe .................................................... 42 Urteile in Fallstruktur Öffentliches Recht: Nachbarrechtsschutz im Gaststättenrecht .......................... 47 Zivilrecht: Annahmeverzugsvergütung gem. § 615 S. 1 BGB .......................... 55 Strafrecht: Abpressen von Bankkarte und PIN ...................................... 61 Literaturauswertung .................................................. 71 JURA INTENSIV Verlags-GmbH & Co. KG

Heft 01/2011 · wenn der der Beurteilung zugrunde gelegte Sachver-halt nicht oder nicht vollständig ermittelt wurde (so lag es hier), Gesetze der Denklogik verletzt wurden oder die

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RA RechtsprechungsAuswertung

Heft 01/2011

Öffentliches RechtZum Grundsatz der Ämterstabilität im Beamtenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1Durchsuchung in Räumlichkeiten eines Rundfunksenders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8Anspruch auf Unterlassen unwahrer Behauptungen durch den Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Zivilrecht Arbeitsvertrag: Automatische Beendigung bei Erreichen des Rentenalters . . . . . . . . . . . . . . . . 16Anforderungen an das Nacherfüllungsverlangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21Keine Haftung des Ehegatten für Maklerprovision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24Analoge Anwendung von § 33 ZPO bei isolierter Drittwiderklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

StrafrechtVoraussetzungen für einen gerechtfertigten Behandlungsabbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33“Neutraler” Gegenstand als gefährliches Werkzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37Betrug durch “Ping”-Anrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

Urteile in FallstrukturÖffentliches Recht: Nachbarrechtsschutz im Gaststättenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47Zivilrecht: Annahmeverzugsvergütung gem. § 615 S. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55Strafrecht: Abpressen von Bankkarte und PIN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

Literaturauswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

JURA INTENSIV Verlags-GmbH & Co. KG

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RA 2011, HEFT 1ÖFFENTLICHES RECHT

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Öffentliches Recht

Standort: Beamtenrecht Problem: Grundsatz der Ämterstabilität

BVERWG, URTEIL VOM 04.11.2010

2 C 16.09 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

Problemdarstellung:

Die nachstehende Entscheidung des BVerwG zur be-amtenrechtlichen Konkurrentenklage wird für erhebli-che Diskussionen sorgen und die Rechtsschutz-möglichkeiten des unterlegenen Bewerbers nachhaltigprägen:

A. Aus Art. 33 II GG haben alle Deutschen nach Eig-nung, Befähigung und fachlicher Leistung gleichenZugang zum öffentlichen Amt. Daraus folgen zweier-lei verfassungsunmittelbare Ansprüche: Erstens kön-nen alle Bewerber eine fehlerfreie, d.h. ausschließlicham Prinzip der Bestenauslese orientierte Auswahlent-scheidung verlangen (1. Stufe), und zweitens hat derbeste Bewerber einen Anspruch auf Übertragung desAmtes, d.h. seine Ernennung (2. Stufe).

B. Nicht selten gibt es bereits Streit über die Frage,wer am besten geeignet ist. Sind die Beurteilungen derBewerber willkürfrei zustande gekommen? Und: Wel-che Kriterien sind überhaupt heranzuziehen, um den“Besten” zu ermitteln? Der vorliegende Fall gibt hier-für ein gutes Beispiel: Es ging um die Besetzung derStelle des Präsidenten eines OLG. Welches Kriteriummacht hier - gleiche fachliche Eignung unterstellt -den “Besten” aus, Berufserfahrung bei einem Oberge-richt (über diese verfügte nur der ernannte Beigelade-ne) oder Berufserfahrung in der ordentlichen Gerichts-barkeit (über diese verfügte nur der unterlegene Klä-ger)?

C. Fühlt der Unterlegene sich ungerecht behandelt,stellt sich die Frage nach seinen Rechtschutzmöglich-keiten. Hierzu hatte sich eine st.Rspr. herausgebildet,welche die Rechtswirklichkeit über Jahrzehnte prägte:Das BVerwG ging davon aus, dass der unterlegeneBewerber nur einen Anspruch auf ermessensfehler-freie Auswahl aus Art. 33 II GG geltend machen kön-ne (1.Stufe), er durch die Ernennung des Konkurren-ten (2. Stufe) aber nicht in seinen Rechten verletzt sei,weil diese ihn gar nicht betreffe (Urteil vom 30.6.1993- 2 B 64.93; vgl. die Nachweise bei Wernsmann,DVBl 2005, 276, 279). Dies hatte prozessual zur Fol-ge, dass immer nur gegen die eigene Ablehnung imAuswahlverfahren geklagt werden konnte, nicht gegendie Ernennung des Konkurrenten (fehlende Klagebe-

fugnis, § 42 II VwGO, für die Anfechtungsklage man-gels eigener Betroffenheit).

D. Aber auch die Klage gegen die eigene Ablehnungstößt auf eine hohe Hürde, nämlich den ebenfalls vonder Rspr. entwickelten “Grundsatz der Ämterstabili-tät”. Danach ist aus Gründen des Vertrauensschutzes(Art. 20 III GG) selbst eine Klage gegen die eigeneAblehnung unzulässig, sobald der Konkurrent ernanntworden ist. Eine Klagebefugnis besteht danach nichtmehr. Es gilt: “Einmal im Amt - immer im Amt!”

E. Dies hat in praxi dazu geführt, dass der auf der 1.Stufe (Auswahl) Unterlegene unter allen Umständenden Einritt der 2. Stufe (Ernennung des Konkurrenten)verhindern musste, um nicht gänzlich rechtsschutzlosgestellt zu werden. Prozessual ging das nur mit einerSicherungsanordnung nach § 123 I 1 VwGO, gerichtetauf Nichternennung des Konkurrenten. Diese nahmalso faktisch die Rolle des Hauptsacheverfahrens ein.Im Anordnungsanspruch (§§ 123 III VwGO i.V.m.920 II ZPO) wurde - grob gesagt - die Rechtmäßigkeitder Auswahlentscheidung geprüft. War die Auswahl(1. Stufe) fehlerhaft, hatte die Ernennung des Kon-kurrenten (2. Stufe) zu unterbleiben (BVerfG, NJW1990, 501).

F. Wie nun aber, wenn dem Unterlegenen selbst dieseRechtsschutzmöglichkeit genommen wurde, etwa weilihm keine Zeit blieb (der Konkurrent wurde unmittel-bar nach der Auswahl ernannt oder dem Unterlegenwurde die Auswahl des Konkurrenten gar nicht be-kannt gegeben), die Behörde das Verfahren nicht ab-gewartet hat (während des laufenden Antrags nach §123 I VwGO wurde der Konkurrent ernannt) oder siesich gar über den Gerichtsbeschluss hinweg gesetzthat (Ernennung ungeachtet einer ergangenen einstwei-ligen Anordnung auf Unterlassen)? In diesen Fällenhat die Rspr. - zögerlich, aber immerhin - eine Aus-nahme vom “Grundsatz der Ämterstabilität” gemacht(BVerwGE 118, 370, 374): Wegen des Gebotes effek-tiven Rechtsschutzes aus Art. 19 IV GG solle in die-sen Fällen weiterhin eine Überprüfung der Auswahl-entscheidung möglich bleiben. Dass der Konkurrentbereits ernannt worden sei, spiele dann keine Rolle:Die Behörde müsse die Ernennung bei fehlerhafterAuswahl eben zurücknehmen oder notfalls Schadens-ersatz zahlen.

G. Mit dem vorliegenden Urteil wirft das BVerwG

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dieses System zum größten Teil über den Haufen, in-dem es von seiner Rechtsprechung abrückt, wonachder unterlegene Bewerber gegen die Ernennung desKonkurrenten nicht klagen könne. Das Gericht folgtnunmehr unter ausdrücklicher Aufgabe seiner gegen-teiligen Rspr. der h.L., die schon immer argumentierthatte, nicht nur die eigene Ablehnung, sondern auchdie Ernennung des Konkurrenten greife in das Rechtdes unterlegenen Bewerbers aus Art. 33 II GG ein(Schenke, FS Schnapp (2008), 655, 667; Laubinger,ZBR 2010, 289, 292) - eine Ansicht, die eigentlichoffensichtlich sein sollte, beschränkt doch die Kon-kurrentenernennung die Rechte des Unterlegenen we-gen des “Grundsatzes der Ämterstabilität” (wie obenunter D. gezeigt) ganz erheblich, bis hin zum Rechts-verlust.

D. Besteht somit nunmehr grundsätzlich auch eineKlagebefugnis des Unterlegenen gegen die Ernennungdes Konkurrenten aus Art. 33 II GG, stellt sich dieweitere Frage, ob diese nicht doch wieder am “Grund-satz der Ämterstabilität” scheitern muss, der ja ab Er-nennung jeden weiteren Rechtsschutz ausschließt. DasBVerwG rückt vom “Grundsatz der Ämterstabilität”zwar nicht völlig ab, erweitert die Ausnahme jedochum eine Variante: Das Gebot effektiven Rechtsschut-zes aus Art. 19 IV GG gebiete es der Behörde nichtnur, dem Unterlegenen die Möglichkeit zu geben, ei-nen vorläufigen Rechtsschutzantrag nach § 123 IVwGO zu stellen und diesen bis zum Ende zu verfol-gen sowie einen die Ernennung untersagenden Ge-richtsbeschluss ggf. auch zu beachten, sondern auch,dem Unterlegenen nach Erschöpfung des Ver-waltungsrechtswegs Gelegenheit zu geben, noch einenEilantrag nach § 32 BVerfGG zum BVerfG zu stellen!Ein solcher ist statthaft, weil Art. 33 II GG ein grund-rechtsgleiches Recht ist, das in der Hauptsache auchmittels Verfassungsbeschwerde vor das BVerfG ge-bracht werden kann (Art. 93 I Nr. 4a GG). Ernennt dieBehörde den Konkurrenten also unmittelbar nach Ab-lehnung einer einstweiligen Anordung durch das OVG(letzte Instanz), verletzt sie Art. 19 IV GG. Sie hatvielmehr mit der Ernennung weiter zuzuwarten, obnoch ein Antrag nach § 32 BVerfGG nachkommt (dasBVerwG deutet an, zwei Wochen müssten ausrei-chen). Anderenfalls greift der “Grundsatz der Ämters-tabilität” nicht. So lag der Fall hier.

E. War die Auswahlentscheidung fehlerhaft, hat alsodie Anfechtungsklage gegen die Ernennung des Kon-kurrenten Erfolg, wird die Ernennung gerichtlich auf-gehoben (§ 113 I 1 VwGO). Die nun wieder vakanteStelle ist infolgedessen neu auszuschreiben und einerneutes Auswahlverfahren durchzuführen. Eine selte-ne Ausnahme gibt es allerdings: Wenn sich das Aus-wahlermessen auf null reduziert, kann der unterlegeneBewerber sogar unmittelbar die eigene Ernennung

verlangen; dies dürfte angesichts des weiten Beurtei-lungsspielraums bzgl. der Eignungskriterien (vgl. obenB.) allerdings in praxi so gut wie nie vorkommen.

Prüfungsrelevanz:In diesem Fall geht es nicht nur um Beamtenrecht,welches in Prüfungen eine eher untergeordnete Bedeu-tung hat, sondern um Verwaltungsprozessrecht (Kla-gebefugnis für eine Anfechtungsklage, vorläufigerRechtsschutz nach § 123 I VwGO) und vor allem umVerfassungsrecht (Anspruch aus Art. 33 II GG,Grundsatz der Ämterstabilität aus Vertrauensschutznach Art. 20 III GG und seine Durchbrechung ausGründen effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 IVGG). Neben der Praxis hat die Entscheidung daherauch für Prüfungen sehr hohe Relevanz.

Neben diesen in erster Linie prozessualen Problemensei darauf hingewiesen, dass der Behörde in materiel-ler Hinsicht ein Beurteilungsspielraum bei der Besten-auswahl nach Art. 33 II GG zukommt, der von denGerichten nur eingeschränkt überprüft werden kann.Keinesfalls darf ein Richter, der die Bewerber ja garnicht kennt, selbst eine Beurteilung ihrer Eignung vor-nehmen. Er - und somit auch ein Klausurverfasser -hat sich vielmehr auf eine Beurteilungsfehlerkontrollezu beschränken. Beurteilungsfehler liegen z.B. vor,wenn der der Beurteilung zugrunde gelegte Sachver-halt nicht oder nicht vollständig ermittelt wurde (solag es hier), Gesetze der Denklogik verletzt wurdenoder die Beurteilung den Spielraum verlässt, weil sieobjektiv willkürlich erscheint (vgl. zu allem die Ver-tiefungshinweise).

Vertiefungshinweise:“ Bewerberauswahl nach Art. 33 II GG: BVerfG,NVwZ 2008, 69; NVwZ 2008, 194; NVwZ 2003, 200;BVerwGE 122, 147; 122, 237; 124, 99; BVerwG,Buchholz 232 § 23 BBG Nr. 44

“ Vorläufiger Rechtsschutz zur Verhinderung der Er-nennung des Konkurrenten: BVerfG, NJW 1990, 501;NVwZ 2003, 200; NVwZ 2007, 1178

“ Grundsatz der Ämterstabilität: BVerwGE 80, 127,129; BGHZ 129, 226, 229; Wernsmann, DVBl 2005,276; Laubinger, ZBR 2010, 289

“ Entscheidung der Vorinstanz: OVG Koblenz, DVBl2009, 659

“ Beurteilungsspielraum bei beamtenrechtlicher Be-urteilung: BVerwG, RA 2004, 165 = NVwZ 2004,1380 m.w.N.

Leitsätze:1. Die Ernennung des in einem Stellenbesetzungs-verfahrens erfolgreichen Bewerbers ist ein Ver-waltungsakt mit Drittwirkung, der in die Rechte

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der unterlegenen Bewerber aus Art. 33 II GG ein-greift (Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung,BVerwGE 118, 370 [372 f.]). 2. Der Grundsatz der Ämterstabilität steht derAufhebung der Ernennung auf Klage eines unterle-genen Bewerbers nicht entgegen, wenn dieser da-ran gehindert worden ist, die Rechtsschutzmöglich-keiten zur Durchsetzung seines Bewerbungsverfah-rensanspruchs vor der Ernennung auszuschöpfen. 3. Der Dienstherr muss nach Obsiegen im einst-weiligen Anordnungsverfahren vor dem Oberver-waltungsgericht mit der Ernennung angemesseneZeit zuwarten, um dem unterlegenen Bewerber dieAnrufung des Bundesverfassungsgerichts zu er-möglichen. 4. Einer dienstlichen Beurteilung fehlt die Aussage-kraft für den Leistungsvergleich der Bewerber,wenn der für die Erstellung Zuständige keine Bei-träge Dritter eingeholt hat, obwohl er die dienst-liche Tätigkeit des beurteilten Bewerbers nicht auseigener Anschauung kennt.

Sachverhalt:Der Kläger als Präsident des Landgerichts Koblenz(Besoldungsgruppe R 6) und der Beigeladene als da-maliger Präsident des Landessozialgerichts (Besol-dungsgruppe R 6) bewarben sich auf die nach R 8 be-soldete Stelle des Präsidenten des Oberlandesgerichtsin Koblenz. Der Justizminister gab dem Beigeladenenaufgrund einer von ihm selbst erstellten Anlassbeur-teilung den Vorzug. Der Präsidialrat der ordentlichenGerichtsbarkeit sprach sich wegen der fehlenden Er-fahrung des Beigeladenen im Bereich dieser Gerichts-barkeit gegen ihn aus. Nach dem Landesrichtergesetzbedurfte der Besetzungsvorschlag der Zustimmung desRichterwahlausschusses, wofür die Mehrheit der abge-gebenen Stimmen erforderlich ist. In der Sitzung desAusschusses vom 8. Februar 2007 stimmten in dergesetzlich vorgesehenen offenen Abstimmung fünfMitglieder für und vier Mitglieder gegen den Beset-zungsvorschlag. Die beiden richterlichen Mitgliederenthielten sich ihrer Stimme. Sie waren unmittelbarvor der Sitzung des Ausschusses von der Staatssekre-tärin des Justizministeriums zu einem Gespräch inihrem Dienstzimmer gebeten worden. Der Antrag des Klägers, dem Beklagten im Wegeeinstweiliger Anordnung die Ernennung des Beigela-denen zum Präsidenten des Oberlandesgerichts zu un-tersagen, blieb in beiden Instanzen erfolglos. DasOberverwaltungsgericht wies die Beschwerde des Klä-gers gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichtsdurch Beschluss vom 13. Juni 2007 zurück. Darinheißt es, der Richterwahlausschuss habe dem Beset-zungsvorschlag zugestimmt, weil die Zahl der Ja-Stimmen die Zahl der Nein-Stimmen überwogen habe.Es gebe keine greifbaren Anhaltspunkte für eine sach-

widrige Beeinflussung der richterlichen Ausschuss-mitglieder durch die Staatssekretärin. Die Auswahl-entscheidung des Justizministers sei frei von Rechts-fehlern. Dessen Anlassbeurteilung für den Beigelade-nen sei auf zureichende tatsächliche Erkenntnisse ge-stützt. Mit seiner Klage will der Kläger hauptsächlich dieAufhebung der Ernennung des Beigeladenen zum Prä-sidenten des Oberlandesgerichts erreichen. Hilfsweisestrebt er seine Ernennung zusätzlich zu derjenigen desBeigeladenen an. Weiter hilfsweise will er festgestelltwissen, dass ihn sowohl die Ernennung des Beigelade-nen und die zugrunde liegende Auswahlentscheidungals auch die Vornahme der Ernennung vor einer Ent-scheidung des Bundesverfassungsgerichts in seinenRechten verletzten. Die Klage ist in den Vorinstanzenerfolglos geblieben.

Aus den Gründen:Die Revision des Klägers ist mit dem Hauptantrag imWesentlichen begründet. Die angefochtene Ernennungdes Beigeladenen zum Präsidenten des Oberlandes-gerichts und seine Einweisung in die dazugehörendePlanstelle beim Oberlandesgericht Koblenz sind mitWirkung für die Zukunft aufzuheben, weil die Ernen-nung die Rechte der Klägers aus Art. 33 Abs. 2 GG inVerbindung mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verletzt undder Grundsatz der Ämterstabilität der Aufhebung nichtentgegensteht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Der Be-klagte muss über die Vergabe des Amtes des Präsiden-ten des Oberlandesgerichts aufgrund eines erneutenAuswahlverfahrens unter Beachtung der Rechtsauf-fassung des Senats nochmals entscheiden.

A. Zulässigkeit der Anfechtungsklage gegen die Er-nennung des KonkurrentenDer Kläger kann die Ernennung des Beigeladenen an-fechten, weil sie in seine Rechte eingreift.

I. StatthaftigkeitDie Ernennung eines nach Maßgabe des Art. 33 Abs.2 GG ausgewählten Bewerbers für ein Amt stellt einenVerwaltungsakt dar, der darauf gerichtet ist, unmittel-bare Rechtswirkungen für die durch Art. 33 Abs. 2GG gewährleisteten Bewerbungsverfahrensansprücheder unterlegenen Bewerber zu entfalten. Einer Ernen-nung bedarf es, um einem Richter oder Beamten aufLebenszeit ein höherwertiges, nämlich einer höherenBesoldungsgruppe zugeordnetes Amt im statusrecht-lichen Sinne zu verleihen (Beförderung; vgl. § 5 Abs.1 des Landesrichtergesetzes Rheinland Pfalz - LRiGRP - i.V.m. § 8 Abs. 1 Nr. 4 des Landesbeamtenge-setzes Rheinland-Pfalz - LBG RP -; nunmehr § 8 Abs.1 Nr. 3 des Beamtenstatusgesetzes - BeamtStG -). DieErnennung erfolgt durch Aushändigung der Ernen-nungsurkunde (§ 8 Abs. 2 Satz 1 LBG RP; § 8 Abs. 2

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Satz 1 BeamtStG). Dadurch wird der Richter oder Be-amte Inhaber des höherwertigen Amtes mit den darangeknüpften Rechten und Pflichten aus dem Richter-oder Beamtenverhältnis. Die Ernennung begründetAnsprüche auf die Einweisung in die zu dem Amt ge-hörende Planstelle und auf eine dem neuen Amt an-gemessene Beschäftigung bei dem Gericht oder derBehörde, der die Planstelle zugeordnet ist (Urteilevom 23. September 2004 - BVerwG 2 C 27.03 -BVerwGE 122, 53 [55 f.] und vom 22. Juni 2006 -BVerwG 2 C 26.05 - BVerwGE 126, 182 Rn. 12).

II. KlagebefugnisDarüber hinaus ist die Ernennung nach ihrem Rege-lungsgehalt auf unmittelbare Rechtswirkungen für die-jenigen Bewerber gerichtet, die sich erfolglos um dieVerleihung des Amtes beworben haben. Die Ernen-nung greift in deren Rechte aus Art. 33 Abs. 2 GG ein,weil sie in einem untrennbaren rechtlichen Zu-sammenhang mit der Entscheidung des Dienstherrnüber die Bewerberauswahl steht und deren rechtlichesSchicksal teilt. Die Ernennung des ausgewählten Be-werbers ist Ziel und Abschluss des Auswahlverfah-rens. Der Dienstherr ist an den Leistungsgrundsatznach Art. 33 Abs. 2 GG gebunden, wenn er ein Amtim statusrechtlichen Sinne nicht durch Umsetzungoder eine den Status nicht berührende Versetzung,sondern durch Beförderung des Inhabers eines niedri-geren Amtes vergeben will. Nach Art. 33 Abs. 2 GGdürfen Ämter nur nach Kriterien vergeben werden, dieunmittelbar Eignung, Befähigung und fachliche Lei-stung betreffen. Hierbei handelt es sich um Gesichts-punkte, die darüber Aufschluss geben, in welchemMaße der Richter oder Beamte den Anforderungenseines Amtes genügt und sich in einem höheren Amtvoraussichtlich bewähren wird. Art. 33 Abs. 2 GG giltfür Beförderungen unbeschränkt und vorbehaltlos; erenthält keine Einschränkungen, die die Bedeutung desLeistungsgrundsatzes relativieren. [...]

1. Subjektiv-öffentliches Recht der Bewerber aus Art.33 II GGZudem vermittelt Art. 33 Abs. 2 GG Bewerbern eingrundrechtsgleiches Recht auf leistungsgerechte Ein-beziehung in die Bewerberauswahl.

a. Grundsätzlich: Auf ermessensfehlerfreie AuswahlJeder Bewerber um das Amt hat einen Anspruch da-rauf, dass der Dienstherr seine Bewerbung nur ausGründen zurückweist, die durch den Leistungsgrund-satz gedeckt sind (Bewerbungsverfahrensanspruch;vgl. Urteile vom 28. Oktober 2004 a.a.O. und vom 17.August 2005 a.a.O). Als Anspruch auf leistungsge-rechte Einbeziehung in die Bewerberauswahl wird derBewerbungsverfahrensanspruch auch erfüllt, wenn derDienstherr die Bewerbung ablehnt, weil er in Einklang

mit Art. 33 Abs. 2 GG einen anderen Bewerber für ambesten geeignet hält.

b. Ausnahme: Auf eigene Ernennung bei Ermessens-reduzierung Nur in den seltenen Ausnahmefällen, in denen derdem Dienstherrn durch Art. 33 Abs. 2 GG eröffneteBeurteilungsspielraum für die Gewichtung der Lei-stungskriterien auf Null reduziert ist, d.h. ein Bewer-ber eindeutig am Besten geeignet ist, gibt Art. 33 Abs.2 GG diesem Bewerber einen Anspruch auf Erfolg imAuswahlverfahren. Dessen Bewerbungsverfahrens-anspruch erstarkt zum Anspruch auf Vergabe des hö-heren Amtes.

3. Mögliche VerletzungAufgrund seiner Zielrichtung ist der Bewerbungsver-fahrensanspruch an ein laufendes Auswahlverfahrenzur Vergabe eines bestimmten Amtes geknüpft. DieBewerber um dieses Amt stehen in einem Wett-bewerb, dessen Regeln der Leistungsgrundsatz vor-gibt. Ihre Ansprüche stehen nicht isoliert nebenein-ander, sondern sind aufeinander bezogen. Sie werdenin Ansehung des konkreten Bewerberfeldes, d.h. desLeistungsvermögens der Mitbewerber, inhaltlich kon-kretisiert. Jede Benachteiligung oder Bevorzugungeines Bewerbers wirkt sich auch auf die Erfolgsaus-sichten der Mitbewerber aus. Dies gilt umso mehr, jeweniger Bewerber um das Amt konkurrieren.

a. Durch ErmittlungsfehlerEin Verstoß gegen Art. 33 Abs. 2 GG kann sich darausergeben, dass ein Leistungsvergleich gar nicht mög-lich ist, weil es bereits an tragfähigen Erkenntnissenüber das Leistungsvermögen, d.h. an aussagekräftigendienstlichen Beurteilungen, fehlt.

b. Durch BeurteilungsfehlerDer eigentliche Leistungsvergleich verletzt Art. 33Abs. 2 GG, wenn nicht unmittelbar leistungsbezogeneGesichtspunkte in die Auswahlentscheidung einflie-ßen oder die Leistungsmerkmale fehlerhaft gewichtetwerden. Aus der gegenseitigen Abhängigkeit der Be-werbungen folgt, dass jeder Bewerber im Stande seinmuss, sowohl eigene Benachteiligungen als auch Be-vorzugungen eines anderen zu verhindern, die nichtdurch Art. 33 Abs. 2 GG gedeckt sind. Daher kannsich eine Verletzung seines Bewerbungsverfahrens-anspruchs auch aus der Beurteilung eines Mitbewer-bers oder aus dem Leistungsvergleich zwischen ihnenergeben. Voraussetzung ist nur, dass sich ein derarti-ger Verstoß auf die Erfolgsaussichten der eigenen Be-werbung auswirken kann. Deren Erfolg muss beirechtsfehlerfreiem Verlauf zumindest ernsthaft mög-lich sein (BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 2. Oktober2007 - 2 BvR 2457/04 - und vom 8. Oktober 2007 - 2

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BvR 1846/07; BVerwG, Urteil vom 18. April 2002 -BVerwG 2 C 19.01 - Buchholz 237.95 § 20 SHLBGNr. 2). Der wechselseitige inhaltliche Bezug der Rech-te der Bewerber aus Art. 33 Abs. 2 GG schlägt sich inder Entscheidung des Dienstherrn nieder, welchenBewerber er für am besten geeignet für das zu verge-bende Amt hält. Diese Auswahlentscheidung betrifftnach ihrem Inhalt alle Bewerber gleichermaßen: Mitder Auswahl eines Bewerbers geht zwangsläufig dieAblehnung der Mitbewerber einher. Hat der Dienst-herr die Auswahl in Einklang mit Art. 33 Abs. 2 GGvorgenommen, so sind die Bewerbungsverfahrensan-sprüche der unterlegenen Bewerber erfüllt. Die geson-derten Mitteilungen der Auswahlentscheidung an je-den Bewerber, einmal positiven, ansonsten negativenInhalts, stellen keine inhaltlich eigenständigen Ent-scheidungen dar, sondern geben die einheitliche,rechtlich untrennbare Auswahlentscheidung bekannt.[...]

c. Kein Ausschluss

aa. “Grundsatz der Ämterstabilität”Die Bewerbungsverfahrensansprüche der unterlegenenBewerber gehen durch die Ernennung unter, wenndiese das Auswahlverfahren endgültig abschließt. Diesist regelmäßig der Fall, weil die Ernennung nach demGrundsatz der Ämterstabilität nicht mehr rückgängiggemacht werden kann, sodass das Amt unwiderruflichvergeben ist. Ein unterlegener Bewerber kann seinenBewerbungsverfahrensanspruch nur dann durch eineAnfechtungsklage gegen die Ernennung weiterverfol-gen, wenn er unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GGdaran gehindert worden ist, seine Rechtsschutzmög-lichkeiten vor der Ernennung auszuschöpfen. Die rechtliche Bedeutung der Ernennung wird nun-mehr durch den Wortlaut des hier noch nicht anwend-baren § 9 BeamtStG verdeutlicht. Danach sind Ernen-nungen nach Eignung, Befähigung und fachlicher Lei-stung vorzunehmen. Darin kommt zum Ausdruck, dassnicht nur die Auswahlentscheidung, sondern auch diedaran anknüpfende Ernennung in die Rechte aller Be-werber aus Art. 33 Abs. 2 GG eingreift (vgl. zum Gan-zen Schenke, in: FS Schnapp (2008), S. 655 [667 f.];Laubinger, ZBR 2010, 289 [292 f.]). An der gegen-teiligen Rechtsprechung hält der Senat nicht mehr fest(vgl. BVerwG, Buchholz 232 § 23 BBG Nr. 36 S. 7 f.und BVerwGE 118, 370 [372 f.]).

bb. Ausnahme: Verhinderung effektiven Rechtsschut-zesDie Anfechtungsklage des Klägers gegen die Ernen-nung scheitert nicht bereits am Grundsatz der Ämters-tabilität, weil dem Kläger der durch Art. 19 Abs. 4Satz 1 GG, Art. 33 Abs. 2 GG gebotene Rechtsschutznicht erschöpfend vor der Ernennung gewährt worden

ist. [...]

(1). Bisheriges System: § 123 I VwGO zwischen Aus-wahlentscheidung und ErnennungEs muss sichergestellt sein, dass ein unterlegener Be-werber die Auswahlentscheidung des Dienstherrn vorder Ernennung in einem gerichtlichen Verfahren über-prüfen lassen kann, das den inhaltlichen Anforderun-gen des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG genügt. Hierfür hatsich eine Praxis der Verwaltungsgerichte herausgebil-det, die den gerichtlichen Rechtsschutz in den Zeit-raum zwischen der Auswahlentscheidung und der Er-nennung verlagert. Ein unterlegener Bewerber ist zurDurchsetzung seines Bewerbungsverfahrensanspruchsdarauf verwiesen, eine einstweilige Anordnung nach §123 VwGO zu beantragen, durch die dem Dienstherrndie Ernennung des ausgewählten Bewerbers untersagtwird. Erwächst eine einstweilige Anordnung diesesInhalts in Rechtskraft, so muss der Dienstherr dasAuswahlverfahren, wenn er es nicht zulässigerweiseabbricht, je nach Inhalt und Reichweite des Verstoßesgegen Art. 33 Abs. 2 GG vollständig oder teilweisewiederholen und auf der Grundlage des wiederholtenVerfahrens eine neue Auswahlentscheidung treffen.Der Dienstherr darf den ausgewählten Bewerber ersternennen, wenn feststeht, dass der Antrag auf Erlasseiner einstweiligen Anordnung keinen Erfolg hat. EinHauptsacheverfahren findet dann wegen der Rechts-beständigkeit der Ernennung nicht mehr statt. [...]Die Wirksamkeit des Rechtsschutzes vor der Ernen-nung hängt aber davon ab, dass der Dienstherr die ge-richtliche Nachprüfung seiner Auswahlentscheidungermöglicht. Er muss mit der Ernennung des ausge-wählten Bewerbers zuwarten, bis die unterlegenenBewerber ihre Rechtsschutzmöglichkeiten ausge-schöpft haben. Daher ergeben sich aus Art. 19 Abs. 4Satz 1 GG, Art. 33 Abs. 2 GG Mitteilungs- und Warte-pflichten des Dienstherrn, mit denen Ansprüche derunterlegenen Bewerber korrespondieren: Zunächstmuss der Dienstherr die Auswahlentscheidung vor derErnennung den unterlegenen Bewerbern mitteilen.Danach muss er eine angemessene Zeit zuwarten, da-mit die Unterlegenen das Verwaltungsgericht anrufenkönnen. In der Praxis der Verwaltungsgerichte hatsich eine Wartezeit von zwei Wochen ab Zugang derMitteilung über die Ablehnung der Bewerbung alsangemessen herausgebildet. Beantragt ein Bewerberrechtzeitig den Erlass einer einstweiligen Anordnung,darf der Dienstherr die Ernennung erst nach Abschlussdes gerichtlichen Verfahrens vornehmen (BVerwGE118, 370 [374 f.]).

(2). Darüber hinaus: Eilantrag vor dem BVerfG nach§ 32 BVerfGGHat der Dienstherr in der abschließenden Beschwerd-einstanz des einstweiligen Anordnungsverfahrens vor

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dem Oberverwaltungsgericht obsiegt, muss er noch-mals angemessene Zeit mit der Ernennung zuwarten,um dem unterlegenen Bewerber Gelegenheit zu geben,zur Durchsetzung seines Bewerbungsverfahrensan-spruchs nach Art. 33 Abs. 2 GG das Bundesverfas-sungsgericht anzurufen. Nach der Kammerrechtsprechung des Bundesverfas-sungsgerichts gewährleisten Art. 19 Abs. 4 Satz 1,Art. 33 Abs. 2 GG auch die Möglichkeit, eine einst-weilige Anordnung nach § 32 BVerfGG zu erwirkenoder Verfassungsbeschwerde zu erheben. Nimmt derDienstherr dem unterlegenen Bewerber diese Mög-lichkeit, indem er den ausgewählten Bewerber nachder Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts vorAblauf einer angemessenen Wartefrist ernennt, so ver-hindert er die Gewährung wirkungsvollen Rechts-schutzes (BVerfG, NJW-RR 2005, 998 [999]; NVwZ2007, 1178; NVwZ 2008, 70; NVwZ 2009, 1430). Nach alledem verhindert der Dienstherr den nach Art.19 Abs. 4 Satz 1 GG, Art. 33 Abs. 2 GG gebotenenRechtsschutz, wenn er den ausgewählten Bewerberernennt, obwohl ihm dies durch eine Entscheidungeines Verwaltungsgerichts oder des Bundes-verfassungsgerichts untersagt ist. Gleiches gilt, wenner die Ernennung während eines laufenden gericht-lichen Verfahrens vornimmt. Darüber hinaus liegenFälle der Rechtsschutzverhinderung vor, wenn derDienstherr die Ernennung ohne vorherige Mitteilun-gen an die unterlegenen Bewerber oder vor Ablauf derWartefrist für den Antrag auf Erlass einer einstweili-gen Anordnung, der gesetzlichen Frist für die Be-schwerde an das Oberverwaltungsgericht oder derWartefrist für die Anrufung des Bundesverfassungs-gerichts vornimmt. [...]

(3). SubsumtionIm vorliegenden Fall kann sich der Beklagte nicht aufdie Ämterstabilität berufen, weil er die Gewährungwirkungsvollen gerichtlichen Rechtsschutzes für denKläger verhindert hat. Durch die Ernennung des Bei-geladenen zum Präsidenten des Oberlandesgerichtsunmittelbar nach der Bekanntgabe der Beschwerdeent-scheidung des Oberverwaltungsgerichts hat der Justiz-minister des Beklagten dem Kläger die Möglichkeitgenommen, die Ernennung durch die Anrufung desBundesverfassungsgerichts zu verhindern. Er hat dieaus Art. 19 Abs. 4 Satz 1, Art. 33 Abs. 2 GG folgendeWartepflicht missachtet. Diesen Verfassungsverstoßhat bereits das Bundesverfassungsgericht in den Grün-den des Kammerbeschlusses vom 24. September 2007- 2 BvR 1586/07 - (NVwZ 2008, 70) festgestellt. Dem Justizminister musste zum Zeitpunkt der Ernen-nung des Beigeladenen am 22. Juni 2007 auch bekanntsein, dass er die Ernennung noch nicht vornehmendurfte. Die Ausführungen des Oberverwaltungs-gerichts, wonach das Bundesverfassungsgericht die

Wartepflicht für seine eigene Anrufung erstmals indem Kammerbeschluss vom 9. Juli 2007 - 2 BvR206/07 - (NVwZ 2007, 1178) postuliert habe, sindunrichtig. Dieser Beschluss nimmt ausdrücklich aufden Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichtsvom 28. April 2005 (NJW-RR 2005, 998) Bezug. Dortheißt es, eine Verletzung der Art. 19 Abs. 4 Satz 1,Art. 33 Abs. 2 GG liege vor, wenn einem unterlegenenBewerber um eine Notarstelle durch umgehende Er-nennung des ausgewählten Bewerbers die Möglichkeitgenommen werde, die Besetzung der Stelle durch eineverfassungsgerichtliche Eilentscheidung zu verhin-dern. Der Justizminister kann sich nicht darauf beru-fen, diese Entscheidung nicht gekannt zu haben, zumalder Kläger die Einschaltung des Bundesverfassungs-gerichts bereits angekündigt hatte.

B. BegründetheitDie Ernennung des Beigeladenen zum Präsidenten desOberlandesgerichts ist mit Wirkung für die Zukunftaufzuheben, weil sie den Kläger in seinen Rechten ausArt. 33 Abs. 2 GG verletzt. Die Erwägungen, auf dieder Beklagte die Auswahlentscheidung zugunsten desBeigeladenen gestützt hat, werden den sich aus Art. 33Abs. 2 GG ergebenden Anforderungen nicht gerecht.Dies hat die Rechtswidrigkeit der Ernennung zur Fol-ge, ohne dass es darauf ankommt, ob der Beigeladeneaus anderen als den vom Beklagten angeführten Grün-den in Einklang mit Art. 33 Abs. 2 GG hätte ausge-wählt werden können.

I. Rechtswidrigkeit der ErnennungWie dargelegt dürfen der Entscheidung über die Ver-gabe eines Amtes im statusrechtlichen Sinne nur lei-stungsbezogene Gesichtspunkte zugrunde gelegt wer-den, die darüber Aufschluss geben, in welchem Maßedie Bewerber den Anforderungen ihres Amtes genü-gen und sich in einem höheren Amt voraussichtlichbewähren werden.

1. Beurteilungsspielraum des DienstherrnDie Entscheidung des Dienstherrn, welche Bedeutunger den einzelnen Gesichtspunkten beimisst, unterliegtnur einer eingeschränkten Nachprüfung durch die Ver-waltungsgerichte (BVerwGE 115, 58 [60 f.]; 122, 147[150 f.]; 124, 99 [102 f.]).

2. Beurteilungsfehler

a. Durch unzureichende SachverhaltsermittlungDer für die Bewerberauswahl maßgebende Leistungs-vergleich ist anhand aktueller dienstlicher Beurteilun-gen vorzunehmen. Deren Eignung als Vergleichs-grundlage setzt voraus, dass sie inhaltlich aussagekräf-tig sind. Hierfür ist erforderlich, dass sie die dienst-liche Tätigkeit im maßgebenden Beurteilungszeitraum

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vollständig erfassen, auf zuverlässige Erkenntnisquel-len gestützt sind, das zu erwartende Leistungsvermö-gen in Bezug auf das angestrebte Amt auf der Grund-lage der im innegehabten Amt erbrachten Leistungenhinreichend differenziert darstellen sowie auf gleichenBewertungsmaßstäben beruhen. [...]Danach erweist sich die Auswahlentscheidung zu-gunsten des Beigeladenen schon deshalb als rechts-fehlerhaft, weil dessen Anlassbeurteilung nicht aufeiner tragfähigen Tatsachengrundlage beruht. Der fürdie Beurteilung zuständige Justizminister hat sich keinBild über die dienstliche Tätigkeit des Beigeladenenals Präsident des Landessozialgerichts verschafft.Hierfür reichen weder die statistischen Angaben überdie Entwicklung der Sozialgerichtsbarkeit währendder Amtszeit des Beigeladenen noch die Eindrückeaus, die der Justizminister in seiner Amtszeit als Prä-sident des Oberlandesgerichts Koblenz aufgrund derZusammenarbeit der Präsidenten der Obergerichte desLandes von dem Beigeladenen gewonnen hat. Statisti-sche Angaben über Erledigungszahlen und Verfah-renslaufzeiten im Bereich einer Gerichtsbarkeit lassenfür sich genommen keine zuverlässigen Rückschlüsseauf die Leistungen eines Gerichtspräsidenten und sei-ne Eignung für das Amt des Präsidenten eines Ober-gerichts zu. Da sie dem Präsidenten nicht unmittelbarzugerechnet werden können, sind sie allenfalls geeig-net, das Werturteil über die Führung der Dienst-geschäfte abzurunden. [...]

b. Durch fehlerhafte LeistungsbewertungDarüber hinaus verletzt auch der Leistungsvergleich,auf den der Beklagte die Auswahlentscheidung ge-stützt hat, den Bewerbungsverfahrensanspruch desKlägers. Zum einen sind die zugrunde gelegten Lei-stungskriterien nicht aussagekräftig, zum anderen fehltes an gleichen Bewertungsmaßstäben für Kläger undBeigeladenen. Da beide das bestmögliche Gesamtur-teil erhielten, war es dem Beklagten möglich, die Aus-wahlentscheidung auf bestimmte, als besonders be-deutsam angesehene Leistungsgesichtspunkte zu stüt-zen. Nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichtsin dem Beschluss vom 13. Juni 2007 hat der Beklagtedarauf abgestellt, dass der Beigeladene bereits seitsieben Jahren Präsident eines Obergerichts war, indieser Eigenschaft ein höher bewertetes Richteramt alsder Kläger wahrnahm, die Sozialgerichtsbarkeit imstatistischen Ländervergleich in die Spitzengruppegeführt habe und ihm eine stetige Innovations- undModernisierungsbereitschaft eigen sei. Das Amt des Beigeladenen als Präsident des Landes-sozialgerichts kann hier für sich genommen keinenentscheidenden Eignungsvorsprung gegenüber demKläger begründen. Gleiches gilt für die unterschiedli-che Einstufung der Richterämter. Denn das zu beset-

zende Amt ist in der ordentlichen Gerichtsbarkeit an-gesiedelt, in der nur der Kläger, nicht aber der Bei-geladene über dienstliche Erfahrungen als Richter undGerichtspräsident verfügt (vgl. BVerfG, NVwZ 2007,691; vgl. auch BVerwGE 124, 99 [103] zur Bedeutungeines höherwertigen Dienstpostens). Die statistisch erfassten Verbesserungen im Bereichder Sozialgerichtsbarkeit während der Amtszeit desBeigeladenen können einen Eignungsvorsprung nichtbegründen, weil sie nicht lediglich das Werturteil überdie Amtsführung des Beigeladenen abrunden. Viel-mehr wird die Bewertung, der Beklagte verfüge überherausragende Fähigkeiten, ausschließlich mit denStatistiken belegt. [...]

c. Durch ungleiche BewertungskriterienInsoweit hat der Beklagte auch das Gebot gleicher Be-wertungsmaßstäbe nicht beachtet. Hierfür wäre erfor-derlich gewesen, die statistische Entwicklung im Be-reich des Landgerichts Koblenz während der Amtszeitdes Beklagten in vergleichbarer Weise festzustellenund unter Berücksichtigung der Besonderheiten derunterschiedlichen Gerichtsbarkeiten und Instanzen mitden statistischen Angaben über die Sozialgerichtsbar-keit zu vergleichen. [...]

II. Rechtsfolge

1. Anspruch auf erneute, rechtmäßige AuswahlDie dargestellten Defizite der Auswahlentscheidunghaben zur Folge, dass der Beklagte ein neues Aus-wahlverfahren für die Besetzung der Stelle des Prä-sidenten des Oberlandesgerichts durchführen muss.Aus diesem Grund kann der Antrag des Klägers, denBeklagten zu seiner Ernennung anstelle des Beigelade-nen zu verpflichten, keinen Erfolg haben. [...]

2. Kein Ausschluss durch den “Grundsatz der Ämters-tabilität”Der Grundsatz des Vertrauensschutzes nach Art. 20Abs. 3 GG gebietet nicht, im vorliegenden Fall vonder Aufhebung der Ernennung abzusehen und es beider Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ernennungzu belassen.

a. Änderung der Rechtsprechung absehbarEine Änderung der Rechtsprechung ist unter dem Ge-sichtspunkt des Vertrauensschutzes unbedenklich,wenn sie hinreichend begründet ist und sich im Rah-men einer vorhersehbaren Entwicklung hält (vgl.BVerfGE 122, 248 [277 f.]). Dies ist hier der Fall. DieAuffassung, die Aufhebung der Ernennung scheiterein den Fällen der Rechtsschutzverhinderung nicht be-reits am Grundsatz der Ämterstabilität, schließt eineEntwicklung ab, die der Senat durch die Urteile vom13. September 2001 - BVerwG 2 C 39.00 - (BVerwGE

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115, 89) und vom 21. August 2003 - BVerwG 2 C14.02 - (BVerwGE 118, 370) eingeleitet hat. DieGründe des auf die Verfassungsbeschwerde des Klä-gers ergangenen Kammerbeschlusses vom 24. Septem-ber 2007 - 2 BvR 1586/07 - (NVwZ 2008, 70) lassendarauf schließen, dass auch die zuständige Kammerdes Bundesverfassungsgerichts angenommen hat, dieRechtsprechung des Senats sei im Wandel begriffen.Im Schrifttum ist die Anfechtbarkeit der Ernennungseit langem gefordert worden, wobei die Beschrän-kung auf Fälle der Rechtsschutzverhinderung überwie-gend abgelehnt wird (vgl. nur Schoch, VorläufigerRechtsschutz und Risikoverteilung im Verwaltungs-recht, 1988, S. 692 ff.; Schenke, FS Schnapp (2008),S. 655 [667 f.]; Laubinger, ZBR 2010, 289 [292 f.];Battis, Kommentar zum BBG, 4. Auflage 2009, § 9Rn. 30 f.; Höfling, in Bonner Kommentar zum Grund-gesetz Stand: August 2007, Art. 33 Abs. 1 bis 3 Rn.367 f.; Wahl/Schütz, in: Schoch/Schmidt-Aß-mann/Pietzner, Kommentar zur VwGO, § 42 Abs. 2Rn. 325; Kopp/Schenke, Kommentar zur VwGO, 16.Auflage 2009, § 42 Rn. 49).

b. Kompensationsmöglichkeiten für den Beigeladenen[...] Zwar hat der Beigeladene erhebliche Nachteile zutragen. Er kann in dem Amt des Präsidenten des Lan-

dessozialgerichts nicht mehr amtsangemessen beschäf-tigt werden. Auch dies ist auf das Vorgehen des Be-klagten zurückzuführen, der die einzige Stelle nachder Ernennung des Beigeladenen zum Präsidenten desOberlandesgerichts trotz Warnungen zügig besetzt hat.Der Beklagte ist aus Gründen der Fürsorgepflicht ge-halten, die Folgen für den Beigeladenen soweit alsmöglich auszugleichen. Er kann den Beigeladenen mitdessen Zustimmung in ein anderes gleichwertiges Amtder Besoldungsgruppe R 6 versetzen. Aus diesemGrund hat der Senat die Wirksamkeit seines Urteilshinsichtlich der Aufhebung der Ernennung auf denZeitpunkt der Urteilszustellung hinausgeschoben. DerBeigeladene kann sich erneut um das Amt des Präsi-denten des Oberlandesgerichts bewerben. Schließlichist zu berücksichtigen, dass einer weiteren, allein derÄmterstabilität geschuldeten Amtsführung des Bei-geladenen ein Makel anhaften würde, wenn es der Se-nat bei der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Er-nennung beließe. Seinen Belangen wird dadurchRechnung getragen, dass die Auswahlentscheidung ineinem neuen Bewerbungsverfahren unter seiner Be-teiligung dann unter Berücksichtigung einer dienst-lichen Beurteilung zu treffen ist, die seine Leistungenim Amt des Präsidenten des Oberlandesgerichts bewertet.

Standort: Grundrechte Problem: Durchsuchung vs. Rundfunkfreiheit

BVERFG, BESCHLUSS VOM 10.12.2010

1 BVR 1739/04 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

Problemdarstellung:

Im vorliegenden Fall ging es um die Frage, unter wel-chen Voraussetzungen eine Durchsuchung mit an-schließender Sicherstellung von Gegenständen in denRäumen eines Rundfunksenders stattfinden darf. DasBVerfG hatte aus diesem Anlass im Rahmen einerVerfassungsbeschwerde über die Verletzung vonGrundrechten des Senders zu entscheiden.

A. Interessant war zunächst die Frage, welche Grund-rechte das BVerfG prüfen würde. Es standen dieRundfunkfreiheit aus Art. 5 I 2 GG und die Unverletz-lichkeit der Wohnung aus Art. 13 I GG zur Wahl.Letztere erstreckt sich bekanntlich nach Ansicht desBVerfG auch auf Geschäftsräume. Dennoch prüft dasGericht zunächst Art. 5 I 2, 2. Fall GG.

B. Inhaltlich kam das BVerfG zu einer Grundrechts-verletzung: Die Rundfunkfreiheit umfasse - ähnlichwie die Pressefreheit - auch das “Redaktionsgeheim-nis”, welches wiederum vor staatlichem Zugriff aufvertrauliche Informationen schütze. In dieses Rechtgriff der angegriffene gerichtliche Durchsuchungsbe-schluss ein. Eine Rechtfertigung gelang im konkretenFall nicht, weil zwar in der StPO verfassungskonforme

Schranken existierten, diese aber in unverhältnismäßi-ger Weise angewendet worden seien.

C. Besondere Betonung legt das BVerfG dabei aufseine “Wechselwirkungslehre”: Zwar sei es demBVerfG verwehrt, einfaches Recht zu prüfen. DieAuslegung und Anwendung der StPO-Vorschriftenauf den einzelnen Fall sei deshalb grds. allein Sacheder Fachgerichte. Bei Anwendung und Auslegung deseinfachen Rechts sei aber stets das eingeschränkteGrundrecht zu beachten; es löse eine Wechselwirkungmit seiner eigenen Schranke aus, damit die Bedeutungder Grundrechte auch auf Rechtsanwendungsebenegewahrt bleibe (st. Rspr. des BVerfG seit BVerfGE20, 162 [186 f.]; zuletzt BVerfGE 117, 244 [260 ff.]).Im Hinblick auf die Bedeutung der Rundfunkfreiheiterschien dem BVerfG die Durchsuchung i.E. unver-hältnismäßig.

D. Auf Art. 13 I 1 GG ging das Gericht danach nichtmehr ein. Eine Verletzung dieses Grundrechts hätte ineinem Gutachten aber ebenfalls bejaht werden müs-sen, da ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Rund-funkfreiheit kaum ein verhältnismäßiger Eingriff indie Unverletzlichkeit der Wohnung sein kann.

Prüfungsrelevanz:Das Urteil könnte vor allem im Rahmen einer Verfas-

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sungsbeschwerde Verwendung in Prüfungsaufgabenfinden. Merken sollte man sich, dass im Schwerpunktdas Grundrecht aus Art. 5 GG zu prüfen ist, wenn da-neben Art. 13 I GG in Betracht kommt (dies dürftenicht nur für Rundfunk, sondern auch Presse und Filmgelten). Das Gutachten sollte also mit der Prüfung vonArt. 5 I GG begonnen werden.

Vertiefungshinweise:“ Zur Reichweite der Rundfunkfreiheit und des Re-daktionsgeheimnisses: BVerfGE 66, 116 [133 ff.]; 77,65 [74 f.]; 107, 299 [330]; 117, 244 [259 f.]

Kursprogramm:

“ Examenskurs: “Steuerspitzelei”

Leitsätze (der Redaktion):1. Die Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit ver-wehrt es staatlichen Stellen grundsätzlich, sich ei-nen Einblick in die Vorgänge zu verschaffen, diezur Entstehung von Nachrichten oder Beiträgenführen, die in der Presse gedruckt oder im Rund-funk gesendet werden.2. Zur Verhältnismäßigkeit einer Durchsuchunganlässlich des Verdachts der Verletzung der Ver-traulichkeit des Wortes, § 201 StGB.

Sachverhalt:Der Beschwerdeführer, ein eingetragener Verein, be-treibt den Hamburger Lokalsender „Freies SenderKombinat (FSK)“. Am 24. Oktober 2003 wurde imRahmen der vom Beschwerdeführer ausgestrahltenSendung „Nachmittagsmagazin der Musikredaktion“ein Beitrag gesendet, der sich mit vermeintlichenÜbergriffen von Polizeibeamten bei einer wenige Tagezurückliegenden Demonstration in Hamburg beschäf-tigte. Ein Moderator, dessen Name nicht bekannt wur-de, spielte in dieser Radiosendung die Mitschnitte vonzwei Telefongesprächen ein, die zwischen einem Pres-sesprecher der Hamburger Polizei und einer Persongeführt worden waren, die sich in den Telefongesprä-chen als Herr „P. vom Freien Senderkombinat FSK“vorgestellt hatte. Der Anrufer konfrontierte den Pres-sesprecher in diesen Telefongesprächen mit Zeugen-aussagen Dritter, aus denen sich ergebe, dass es beider Demonstration zu Übergriffen von Polizeibeamtengekommen sei und dass Demonstrationsteilnehmerverletzt worden seien. Auch eine Leitstelle der Polizeihabe bestätigt, dass Demonstranten verletzt wordenseien. Der Pressesprecher gab auch auf mehrfachesInsistieren des Anrufers nur bekannt, dass auf Seitender Polizei keine Erkenntnisse zu derartigen Vorfällenoder zu verletzten Demonstrationsteilnehmern vorlä-gen. Der Moderator in der Radiosendung kommentier-

te die ausgestrahlten Gesprächsmitschnitte dahinge-hend, dass die Kommunikationsstrategie bei der Ham-burger Polizei nicht sehr ausgereift sei.Das Landeskriminalamt Hamburg zeichnete die Ra-diosendung auf und erstattete Strafanzeige wegen desVerdachts der Verletzung der Vertraulichkeit desWortes, § 201 Abs. 1 StGB. Die StaatsanwaltschaftHamburg leitete ein Ermittlungsverfahren gegen Un-bekannt ein und beantragte am 31. Oktober 2003 dieAnordnung der Durchsuchung der Räumlichkeiten desRundfunksenders.Mit angegriffenem Beschluss vom 4. November 2003- 163 Gs 2340/03 - ordnete das Amtsgericht Hamburggestützt auf § 103 StPO die Durchsuchung der Ge-schäfts-, Büro- und sonstigen Betriebsräume des Be-schwerdeführers an. Unbekannte Beschuldigte seienverdächtig, unbefugt das nichtöffentlich gesprocheneWort eines anderen auf einen Tonträger aufgenommenund die so hergestellte Aufnahme gebraucht zu haben.Die hiergegen gerichtete Beschwerde wies das Land-gericht mit angegriffenem Beschluss vom 1. April2004 - 622 Qs 27/04 - als unbegründet zurück. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Anord-nung der Durchsuchung und rügt eine Verletzung sei-ner Grundrechte auf Rundfunkfreiheit aus Art. 5 Abs.1 Satz 2 GG und auf Unverletzlichkeit der Wohnungaus Art. 13 Abs. 1 GG.

Aus den Gründen:Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und im Sinnedes § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich be-gründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzenden Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aufRundfunkfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG.

A. Verletzung der Rundfunkfreiheit

I. Schutzbereich betroffen[14] Das Grundrecht der Rundfunkfreiheit, das auchjuristischen Personen zusteht, die - wie der Beschwer-deführer - Rundfunkprogramme veranstalten (vgl.BVerfGE 97, 298 [310]), gewährleistet nicht nur alssubjektives Recht den im Rundfunkwesen tätigen Per-sonen und Unternehmen Freiheit von staatlichemZwang (vgl. BVerfGE 66, 116 [133]; 77, 65 [74]),sondern schützt in seiner objektiven Bedeutung darü-ber hinaus die institutionelle Eigenständigkeit desRundfunks von der Beschaffung der Information biszur Verbreitung der Nachrichten und Meinungen (vgl.BVerfGE 10, 118 [121]; 66, 116 [133]; 77, 65 [74ff.]). Die Gewährleistungsbereiche der Presse- undRundfunkfreiheit schließen diejenigen Voraussetzun-gen und Hilfstätigkeiten mit ein, ohne welche die Me-dien ihre Funktion nicht in angemessener Weise erfül-len können. Geschützt sind namentlich die Geheimhal-tung der Informationsquellen und das Vertrauensver-

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hältnis zwischen Presse beziehungsweise Rundfunk zuihren Informanten (vgl. BVerfGE 20, 162 [176, 187];36, 193 [204]; 117, 244 [258 f.]) sowie die Vertrau-lichkeit der Redaktionsarbeit (vgl. BVerfGE 66, 116[133 ff.]; 77, 65 [75]; 100, 313 [365]; 107, 299 [330];117, 244 [258]). Letztere verwehrt es staatlichen Stel-len grundsätzlich, sich einen Einblick in die Vorgängezu verschaffen, die zur Entstehung von Nachrichtenoder Beiträgen führen, die in der Presse gedruckt oderim Rundfunk gesendet werden (vgl. BVerfGE 66, 116[135]; 77, 65 [75]; 107, 299 [330]). Entsprechend dieser Zielsetzung fallen nicht nur Un-terlagen eigener journalistischer Recherche (vgl.BVerfGE 77, 65 [75]) und redaktionelles Datenmateri-al einschließlich der im Zuge journalistischer Recher-che hergestellten Kontakte (vgl. BVerfGE 117, 244[260]), sondern auch organisationsbezogene Unterla-gen eines Presse- oder Rundfunkunternehmens, ausdenen sich redaktionelle Arbeitsabläufe, redaktionelleProjekte oder auch die Identität der Mitarbeiter einerRedaktion ergeben, unter das Redaktionsgeheimnis.

II. Eingriff[15] Eine Durchsuchung in den Räumen eines Rund-funkunternehmens stellt - ebenso wie die Durch-suchung von Presseräumen - wegen der damit verbun-denen Störung der redaktionellen Arbeit sowie derMöglichkeit einer einschüchternden Wirkung eineBeeinträchtigung des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1Satz 2 GG dar (vgl. BVerfGE 117, 244 [259 f.];BVerfG, NJW 2005, S. 965). Auch können potentielleInformanten durch die begründete Befürchtung, beieiner Durchsuchung könne ihre Identität aufgedecktwerden, davon abgehalten werden, Informationen zuliefern, die sie nur im Vertrauen auf die Wahrung ih-rer Anonymität herauszugeben bereit sind (vgl. BVerf-GE 117, 244 [259]). Überdies liegt in der Verschaf-fung staatlichen Wissens über den Inhalt redaktionel-len Materials ein Eingriff in das von der Rundfunk-freiheit geschützte Redaktionsgeheimnis (vgl. BVerf-GE 20, 162 [187]; 117, 244 [259 f.]).

III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung[16] Der Eingriff ist verfassungsrechtlich nicht ge-rechtfertigt. Zwar sind die den Entscheidungen zuGrunde gelegten Vorschriften mit der Rundfunkfrei-heit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG vereinbar, ihre An-wendung im Einzelfall genügt jedoch den verfassungs-rechtlichen Anforderungen nicht.

1. Schranken[17] Die Rundfunkfreiheit ist nicht vorbehaltlos ge-währt, sondern findet nach Art. 5 Abs. 2 GG ihreSchranken unter anderem in den Vorschriften der all-gemeinen Gesetze. Die Bestimmungen der Strafpro-zessordnung mit ihrer prinzipiellen Verpflichtung für

jeden Staatsbürger, zur Wahrheitsfindung im Straf-verfahren beizutragen und die im Gesetz vorgesehenenErmittlungsmaßnahmen zu dulden, sind als allgemeineGesetze anerkannt (vgl. BVerfGE 77, 65 [75]; 107,299 [331 f.]; 117, 244 [261]).

2. Schranken-SchrankenDie in den allgemeinen Gesetzen bestimmten Schran-ken der Presse- und der Rundfunkfreiheit müssen al-lerdings ihrerseits im Lichte dieser Grundrechtsver-bürgungen gesehen werden.

a. Wechselwirkungslehre des BVerfGEs bedarf einer Zuordnung der durch Art. 5 Abs. 1Satz 2 GG gewährleisteten Freiheiten und des durchdie einschränkenden Vorschriften geschützten Rechts-gutes, die in erster Linie dem Gesetzgeber obliegt (vgl.BVerfGE 77, 65 [75]; 107, 299 [331 f.]). Eine solcheZuordnung hat der Gesetzgeber vorgenommen, indemer einerseits die allgemeine Zeugnispflicht von Me-dienangehörigen in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StPO undkorrespondierend hierzu Beschlagnahmen bei Journa-listen und in Redaktionsräumen in § 97 Abs. 5 Satz 1StPO eingeschränkt hat, andererseits aber ein Be-schlagnahmeverbot in § 97 Abs. 5 Satz 2, Abs. 2 Satz3 StPO bei strafrechtlicher Verstrickung des Zeugenoder der Sache wiederum ausgeschlossen hat. Auf die-se Weise hat der Gesetzgeber jedenfalls im Grundsatzeinen tragfähigen Ausgleich zwischen dem Schutz derInstitution einer freien Presse und eines freien Rund-funks auf der einen Seite und dem legitimen Strafver-folgungsinteresse auf der anderen Seite geschaffen,wobei offen bleiben kann, ob der Gesetzgeber denSchutz der Presse und des Rundfunks weiter hätte zie-hen oder stärker hätte beschränken dürfen (vgl.BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senatsvom 22. August 2000 - 1 BvR 77/96 -, NJW 2001, S.507 [508]). Er hat hiermit typische, wenn auch nichtalle Konfliktsituationen erfasst und in genereller Wei-se Abwägungen zwischen den Freiheitsrechten derMedien und den Erfordernissen einer rechtsstaatlichenStrafrechtspflege vorgenommen. Die Normen sindnach ständiger Rechtsprechung des Bundes-verfassungsgerichts allerdings nicht notwendig ab-schließende Regelungen (vgl. BVerfGE 20, 162 [189];64, 108 [116]; 77, 65 [81 f.]). Vielmehr ist auch dann,wenn im Einzelfall ein gesetzliches Zeugnisverweige-rungsrecht nicht greift, im Zuge der Anwendung undAuslegung des einfachen Rechts, insbesondere im Zu-ge der regelmäßig gebotenen Verhältnismäßigkeits-prüfung der Ausstrahlungswirkung des Art. 5 Abs. 1Satz 2 GG Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 107,299 [334]; 117, 244 [262]).

b. Subsumtion[18] Die Rechtsanwendung im Einzelfall verletzt je-

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doch das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art.5 Abs. 1 Satz 2 GG.

aa. BVerfG keine “Superrevisionsinstanz”[19] Die Auslegung der Vorschriften des Strafprozess-rechts sowie ihre Anwendung auf den einzelnen Fallsind Sache der dafür zuständigen Strafgerichte unddaher der Nachprüfung durch das Bundesverfassungs-gericht entzogen. Nur bei Verletzung spezifischenVerfassungsrechts durch die Gerichte kann das Bun-desverfassungsgericht auf die Verfassungsbeschwerdehin eingreifen (BVerfGE 7, 198 [206 f.]; 18, 85 [92f.]; 62, 189 [192 f.]; 95, 96 [128]). Im Rahmen einerVerfassungsbeschwerde ist daher nur zu prüfen, ob dieGerichte Reichweite und Wirkkraft der Grundrechtezutreffend beurteilt haben (BVerfGE 7, 198 [207]; 11,343 [349]; 21, 209 [216]). Handelt es sich um Gesetze, die die Rundfunkfreiheitbeschränken, ist bei Anwendung und Auslegung deseinfachen Rechts das eingeschränkte Grundrecht zubeachten (vgl. BVerfGE 20, 162 [186 f.]; 77, 65 [81ff.]; 117, 244 [260 ff.]), damit dessen wertsetzendeBedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene ge-wahrt bleibt (BVerfGE 7, 198 [208 f.]; 59, 231 [265];71, 206 [214]; st. Rspr.). Die Anordnung einer Durch-suchung von Wohn- oder grundrechtlich geschütztenArbeitsräumen muss von vornherein dem Verhältnis-mäßigkeitsgrundsatz genügen (vgl. BVerfGE 20, 162[186 f.]; 42, 212 [219 f.]). Die Durchsuchung muss imBlick auf den bei der Anordnung verfolgten ZweckErfolg versprechend sein. Ferner muss gerade dieseZwangsmaßnahme zur Ermittlung und Verfolgung derStraftat erforderlich sein. Schließlich muss der jeweili-ge Eingriff in angemessenem Verhältnis zu derSchwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachtsstehen (BVerfGE 96, 44 [51]; BVerfGK 5, 289 [291];BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senatsvom 11. Juli 2008 - 2 BvR 2016/06 -, NJW 2009, S.281). Stehen Durchsuchungen und Beschlagnahmen inPresse- oder Rundfunkunternehmen in Rede, fällt zu-sätzlich der mögliche oder wahrscheinliche Eingriff inArt. 5 Abs. 1 Satz 2 GG ins Gewicht (vgl. BVerfGE20, 162 [187, 213]). Die Beeinträchtigungen der Pres-se- und Rundfunkfreiheit sind auch dann in die Ge-wichtung einzustellen, wenn die Vorschriften derStrafprozessordnung ein pressespezifisches Beschlag-nahmeverbot nicht vorsehen (vgl. BVerfGE 117, 244[262]) und sind insbesondere im Rahmen der Verhält-nismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen (BVerfGE77, 65 [82 f.]; 107, 299 [334]; BVerfG, Beschluss der1. Kammer des Ersten Senats vom 22. August 2000 - 1BvR 77/96 -, NJW 2001, S. 507). Geboten ist dahereine Abwägung zwischen dem sich auf die konkret zuverfolgenden Taten beziehenden Strafverfolgungsin-teresse und - hier - der Rundfunkfreiheit (vgl. BVerfG,Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22.

August 2000 - 1 BvR 77/96 -, NJW 2001, S. 507[508]; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senatsvom 1. Februar 2005 - 1 BvR 2019/03 -, NJW 2005, S.965).

bb. Verletzung spezifischen Verfassungsrechts[20] Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Ent-scheidungen nicht gerecht.

(1). Hinreichende Anhaltspunkte für eine strafbareHandlung[21] Nicht zu beanstanden ist allerdings, dass dieFachgerichte davon ausgegangen sind, dass zumindestder Anrufer und der Moderator der inkriminierten Ra-diosendung verdächtig waren, durch Anfertigung undVerwendung der Aufnahmen von den Telefongesprä-chen sich der Verletzung der Vertraulichkeit des Wor-tes schuldig gemacht zu haben. Ebenso begegnet eskeinen Bedenken, dass die Fachgerichte hinreichendetatsächliche Anhaltspunkte für die Vermutung gesehenhaben, dass die gesuchten Beweismittel in den Räu-men des Beschwerdeführers aufzufinden seien.

(2). Kein Durchsuchungs- und Beschlagnahmeverbotdurch Mitgewahrsam nicht Tatverdächtiger[22] Ebenfalls nicht zu beanstanden ist die Annahmeder Fachgerichte, dass ein eventuelles Beschlagnah-meverbot in den Räumen der Rundfunkanstalt des Be-schwerdeführers gemäß § 97 Abs. 5 Satz 2, Abs. 2Satz 3 StPO entfallen sei, weil einzelne Mitarbeiterdes Beschwerdeführers der Teilnahme an den Tatenverdächtig seien. Nach der Rechtsprechung der Fachgerichte hindertauch ein etwaiger Mitgewahrsam anderer, nicht be-schuldigter Mitarbeiter einer Redaktion nicht die Be-schlagnahme in Redaktionsräumen. Andernfalls bliebeletztlich jede Durchsuchung und Beschlagnahme ge-gen Angehörige eines Presseunternehmens ausge-schlossen, weil an Presseunterlagen in aller Regel Mit-gewahrsam mehrerer, darunter auch zeugnisverweige-rungsberechtigter Personen bestehe. Eine solche weit-gehende Einschränkung der Aufklärungsmöglichkei-ten sei aber auch unter Berücksichtigung der Presse-freiheit nicht geboten und liefe dem Zweck des Straf-rechts und des Strafprozessrechts zuwider (vgl.BGHSt 19, 374 [375]). In der Literatur wird dieseRechtsprechung auch auf die Frage übertragen, ob derMitgewahrsam eines zwar nicht beschuldigten, aberdoch der aufzuklärenden Tat verdächtigen Zeugnis-verweigerungsberechtigten das Beschlagnahmeverbotinsgesamt entfallen lässt, und die Konsequenz gezo-gen, dass bereits der Verdacht der Beteiligung gegennur einen Mitarbeiter des Presseorgans den Beschlag-nahmeschutz in Redaktionsräumen entfallen lasse(vgl. Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 53. Aufl.,München 2010, § 97 Rn. 45; Wohlers, in: Rudolphi

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u.a., Systematischer Kommentar zur Strafprozessord-nung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Loseblatt,64. Lieferung, Stand: Oktober 2009, § 97 Rn. 73;Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnungund das Gerichtsverfassungsgesetz, Zweiter Band, 25.Aufl., Berlin 2004, § 97 Rn. 2, 137; Kunert, MDR1975, S. 885 [890]). Gegen eine solche Anwendung des einfachen Rechtsbestehen auch mit Blick auf Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GGkeine durchgreifenden Bedenken, da mit der Prüfungder einfachrechtlichen Beschlagnahmeverbote und derFeststellung ihres Entfallens nicht abschließend überden Schutz der Rundfunkfreiheit entschieden ist, § 97Abs. 5 Satz 2, 2. Halbsatz StPO. Vielmehr bleibt Art.5 Abs. 1 Satz 2 GG auch dann, wenn ein Beschlagnah-meverbot nicht greift, für die Anwendung und Aus-legung der strafprozessualen Normen über Durchsu-chungen und Beschlagnahmen, die in Redaktionenoder bei Journalisten durchgeführt werden, von Be-deutung (vgl. BVerfGE 117, 244 [262]).

(3). Verhältnismäßigkeit[23] Die angegriffenen Entscheidungen lassen abereine tragfähige Beurteilung der Verhältnismäßigkeitder angeordneten Durchsuchung nicht erkennen.

(a). Erforderlichkeit[24] So lassen die Entscheidungen von Amtsgerichtund Landgericht bereits Erwägungen zur Frage derErforderlichkeit der Durchsuchung im gebotenen Um-fang vermissen. Nicht zu beanstanden ist es zwar, dassdie Fachgerichte davon ausgegangen sind, dass dieIdentität des Anrufers noch nicht festgestanden habe,sondern weiterer Aufklärung bedurfte. In noch vertret-barer Weise hat das Landgericht auch eine vorherigeBefragung des Beschuldigten P. als nicht gleich ge-eignete Ermittlungsmaßnahme angesehen, da ihreVornahme den Ermittlungserfolg einer späterenDurchsuchung hätte gefährden können. Eine ansons-ten drohende Gefahr der Verschlechterung der Be-weislage kann je nach Umständen einen Grund dar-stellen, um eine grundrechtsschonendere Maßnahmezurückzustellen oder von ihr abzusehen (vgl. BVerfG,NStZ-RR 2006, S. 110 [111]).

(b). Angemessenheit

[25] Zumindest Zweifeln begegnen die angegriffenenEntscheidungen aber, weil ihren Gründen nicht zu ent-nehmen ist, dass die Fachgerichte die von § 97 Abs. 5Satz 2 StPO angeordnete, gesonderte Subsidiaritäts-prüfung vorgenommen haben. Zwar ist es grundsätz-lich Sache der ermittelnden Behörden, über die Zwec-kmäßigkeit und die Reihenfolge vorzunehmender Er-mittlungshandlungen zu befinden (vgl. BVerfG, Be-schluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 13.November 2005 - 2 BvR 728, 758/05 -, NStZ-RR2006, S. 110). Eine Beschlagnahme von Beweismit-teln in Redaktionsräumen oder Rundfunksendern - undeine hierauf gerichtete Durchsuchung - kommt nachden Vorgaben des Gesetzgebers gemäß § 97 Abs. 5Satz 2, 2 Hs StPO aber auch bei Entfallen eines Be-schlagnahmeverbotes nur dann in Betracht, wenn dieErmittlung des Sachverhalts auf andere Weise wesent-lich erschwert oder unmöglich wäre. Der Gesetzgeberbringt mit dieser Subsidiaritätsvorschrift zum Aus-druck, dass die besondere Schutzbedürftigkeit vonPresse- und Rundfunkunternehmen auch bei Entfalleneines Beschlagnahmeverbotes zu beachten ist undschränkt den Spielraum der Ermittlungsbehörden, überdie Vornahme einzelner Ermittlungsmaßnahmen zubefinden, hier ein. Angesichts dessen wären die Fachgerichte gehaltengewesen, die Frage zu erörtern, ob die Taten nichtauch auf andere Weise hätten aufgeklärt werden kön-nen. Die angegriffenen Entscheidungen befassen sichaber nur mit der Frage, ob die vorherige Befragungdes Beschuldigten P. unterbleiben konnte, nicht aberdamit, ob angesichts der schon vorliegenden Erkennt-nisse eine Aufklärung der Taten auch ohne Durchsu-chung der Räume der Beschwerdeführerin zur Be-schlagnahme der gesuchten Beweismittel möglich ge-wesen wäre.

B. Verletzung von Art. 13 I GGOb die angegriffenen Entscheidungen auch das Grund-recht des Beschwerdeführers auf Unverletzlichkeit derWohnung aus Art. 13 Abs. 1 GG verletzen, von demauch Geschäftsräume umfasst sind, kann dahinstehen,denn die Beschlüsse des Amtsgerichts und des Land-gerichts verletzen den Beschwerdeführer jedenfalls inseinem Grundrecht auf Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs.1 Satz 2 GG).

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Standort: Staatliche Äußerungen Problem: Unterlassen von Tatsachenbehauptungen

VG WIESBADEN, BESCHLUSS VOM 22.04.2010

4 L 243/10 (NVWZ-RR 2011, 21)

Problemdarstellung:

Das VG Wiesbaden gab einem Eilantrag der bekann-ten ehemaligen Eisschnellläuferin Claudia Pechsteinstatt, mit dem diese vom Bundeskriminalamt verlang-te, die Verbreitung einer unwahren Tatsachenbehaup-tung zu unterlassen. Das BKA hatte auf seiner Home-page berichtet, der Internationale SportgerichtshofCAS sei in seinem Urteil in Sachen Pechstein zu derÜberzeugung gelangt, das der Sportlerin vorgeworfeneBlutdoping sei “nach Einschätzung des Gerichts sonur in einem professionellen ärztlichen Umfeld mög-lich” gewesen.

A. Als Anspruchsgrundlage diente - vom VG uner-wähnt - der allgemeine öffentlich-rechtliche Unterlas-sungsanspruch. Dieser aus Grundrechten ableitbare,mittlerweile gewohnheitsrechtlich anerkannte An-spruch schützt vor Eingriffen in subjektive Rechte derBürger durch staatliches Handeln, sofern keine Dul-dungspflicht besteht.

B. Als subjektiv-öffentliches Recht kam hier nur dasallgemeine Persönlichkeitsrecht Pechsteins aus Art. 2 Ii.V.m. 1 I GG in Betracht. Dieses schützt u.a. die per-sönliche Ehre, welche durch die Behauptung, sie habesich zum Zwecke des Blutdopings ärztlicher Hilfe be-dient, beeinträchtigt war. Daran ändere - so das Ge-richt - auch nichts, dass Pechstein in der Öffentlichkeitstehe und ihr Fall ohnehin öffentlich kontrovers disku-tiert worden sei (u.a. von ihr selbst auf ihrer Homepa-ge).

C. Hinsichtlich der Duldungspflicht staatlicher Äuße-rungen ist zwischen Tatsachenbehauptungen undWerturteilen zu differenzieren.

I. Liegt - wie hier - eine Tatsachenbehauptung vor, istes i.d.R. recht einfach: Die Wahrheit muss man dul-den, die Unwahrheit nicht. Tatsachenbehauptungensind ja - im Gegensatz zu Werturteilen - dem Wahr-heitsbeweis zugänglich. Da der CAS die ihm vomBKA in den Mund gelegte Behauptung keineswegsaufgestellt hatte, lag eine unwahre Tatsachenbehaup-tung vor, eine Duldungspflicht Pechsteins bestandnicht.

II. Bei Werturteilen ist eine Unterscheidung nach wahrund unwahr nicht möglich. Hier besteht eine Dul-dungspflicht dann, wenn a) der Hoheitsträger für dieÄußerung zuständig war, diese b) das Sachlichkeits-gebot nicht verletzt und c) der Grundsatz der Verhält-nismäßigkeit gewahrt ist (vgl. OVG Münster, RA2006, 478 = NWVBl 2006, 32 m.w.N.).

Prüfungsrelevanz:Der vorliegende Fall könnte ohne Weiteres in eineExamensaufgabe übernommen werden. Prozessualhandelte es sich um ein Vorgehen im einstweiligenRechtsschutz nach § 123 I 1 VwGO, also um eine Si-cherungsanordnung zur Erhaltung des status quo. Die-se setzt - neben dem oben angesprochenen An-ordnungsanspruch - auch einen Anordnungsgrund vor-aus, §§ 123 III VwGO i.V.m. 920 II ZPO. Dieser laghier in der besonderen Eilbedürftigkeit, zumal dasBKA sich uneinsichtig zeigte und durchaus Anstaltenmachte, bei seiner Behauptung zu bleiben und dieseggf. auch zu wiederholen.

Unbedingt angesprochen werden müsste in einem Gut-achten die vom VG vernachlässigte Frage nach derZulässigkeit der Vorwegnahme der Hauptsache. Inseinem stattgebenden Beschluss nimmt das VG ja dieHauptsache vorweg, was im vorläufigen Rechtsschutzgrds. unzulässig ist, da auf einer weniger sicheren Tat-sachengrundlage entschieden wird (nur Glaubhaftma-chung nach §§ 123 III VwGO, 920 II, 294 ZPO stattVollbeweis). Allerdings hält die ganz h.M. es ausGründen effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 IV GG)für zulässig, ausnahmsweise doch die Hauptsache vor-weg zu nehmen, wenn diese zu spät käme.

Vertiefungshinweise:“ Öffentlich-rechtlicher Unterlassungsanspruch gegenTatsachenbehauptungen: BVerwG, RA 2008, 669 =DVBl 2008, 1242 (Millî Görüs)

“ Öffentlich-rechtlicher Unterlassungsanspruch inanderen Fällen: OVG Münster, RA 2010, 38 = DÖV2009, 725 (Videoüberwachung einer Bibliothek);OVG Lüneburg, RA 2009, 154 = NVwZ 2009, 258(wirtschaftliche Betätigung von Gemeinden); VGArnsberg, RA 2007, 623 (sakrales Glockengeläut)

“ Zulässigkeit staatlicher Äußerungen: Murswiek,NVwZ 2003, 1

“ Zur Entwicklung des Presse- und Äußerungsrechtsbis 2010: Sajuntz, NJW 2010, 2992

“ Zulässige Vorwegnahme der Hauptsache: VG Ol-denburg, RA 2006, 175 = NVwZ-RR 2006, 127

Leitsätze:1. Der Halbsatz, wonach ein vorgeworfenes Blutdo-ping “nach Einschätzung des Gerichts so nur ineinem professionellen ärztlichen Umfeld möglichist”, ist geeignet, als unwahre Tatsachenbehaup-tung das Persönlichkeitsrecht eines Betroffenen inerheblichem Maße und nachhaltig zu beeinträchti-gen.2. Die Erheblichkeit und Schwere einer Persönlich-

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keitsrechtsverletzung kann auch danach begründetoder gesteigert werden, dass die durch ein Organder öffentlichen Gewalt (hier: Pressemeldung desBundeskriminalamts) erfolgte.

Sachverhalt:Die Ast., eine bekannte Eisschnellläuferin, begehrt imWege einstweiligen Rechtsschutzes die Unterlassungder in der obigen Tenorierung ersichtlichen Behaup-tung der Ag., die diese in einer am 5. 3. 2010 veröf-fentlichten Pressemitteilung aufstellte. Der Internationale Sportsgerichtshof CAS bestätigtemit Schiedsurteil vom 25. 11. 2009 ein Urteil der In-ternationalen Skating Union (ISU) vom 1. 7. 2009,wonach gegenüber der Ast. eine zweijährige Wett-kampfsperre wegen angeblichen Blutdopings verhängtworden ist. Auf Grund einer Strafanzeige der Deut-schen Eisschnelllaufgemeinschaft (DESG) ermitteltdie Staatsanwaltschaft bei dem LG München I danachwegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Arznei-mittelgesetz. Im Zuge dieser Ermittlungen wurdendurch das Bundeskriminalamt der Ag. am 3. und 5. 3.2010 insgesamt 21 Hausdurchsuchungen bei Sport-verbänden, Sportlern sowie in einer Arztpraxis durch-geführt. Unter dem Titel „Durchsuchungen wegenDoping-Verdachts im Eisschnelllaufbereich” gabenam 5. 3. 2010 die Staatsanwaltschaft bei dem LGMünchen I und das Bundeskriminalamt folgende Pres-seerklärung ab und stellten diese auch auf die Home-page des Bundeskriminalamtes ein:

“Am 4. und 5. 3. 2010 hat das Bundeskriminalamt(BKA) im Auftrag der Staatsanwaltschaft bei dem LGMünchen I insgesamt 21 Durchsuchungen u. a. bei derGeschäftsstelle der Deutschen Eislaufgemeinschaft,bei Mitarbeitern des Eislaufverbandes, dem Verbandangehörenden Sportlern sowie in einer Arztpraxis we-gen des Verdachts des Verstoßes gegen das Arznei-mittelgesetz durchgeführt [ . . .]”. Im Novem-ber/Dezember 2009 hatten die Nationale Antidoping-agentur (NADA) sowie die Deutsche Eisschnelllauf-gemeinschaft e.V. bei der Staatsanwaltschaft bei demLG München I Anzeige gegen Unbekannt wegen Ver-dachts des Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetzerstattet. Die Anzeigen stehen im Zusammenhang mitdem Urteil des Internationalen SportsgerichtshofsCAS (Court of Arbitration for Sport) vom 25. 11.2009 gegen eine prominente Eisschnellläuferin. In derUrteilsbegründung wird der Athletin Blutdoping vor-geworfen, welches nach Einschätzung des Gerichtsnur so in einem professionellen ärztlichen Umfeldmöglich sei. Über diese Erklärung hinausgehendeAuskünfte können derzeit nicht erteilt werden.”

Das VG hat der Ag. untersagt, bezüglich des die Ast.betreffenden Schiedsurteils des Internationalen Sport-

gerichtshofs CAS vom 25. 11. 2009 zu veröffentlichenoder zu verbreiten oder veröffentlichen oder verbrei-ten zu lassen: “In der Urteilsbegründung wird der Ath-letin Blutdoping vorgeworfen, welches nach Einschät-zung des Gerichts so nur in einem professionellenärztlichen Umfeld möglich sei”. Der Antrag ist erfolg-reich.

Aus den Gründen:Der nach § 123 I VwGO zulässige Antrag auf Erlasseiner einstweiligen Anordnung ist auch begründet,denn die streitbefangene Äußerung der Ag. verletztdie Ast. rechtswidrig in ihrem Persönlichkeitsrechtund ist daher zu unterlassen.

A. AnordnungsgrundDie Ast. hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaftgemacht. Das Ermittlungsverfahren wegen Verstoßesgegen das Arzneimittelgesetz ist bei der Staatsanwalt-schaft bei dem LG München I noch anhängig, so dass– wie zuvor geschehen – sowohl mit weiteren Presse-erklärungen der Staatsanwaltschaft wie auch des Bun-deskriminalamtes in diesem Fall zu rechnen ist.Das Bundeskriminalamt hat auf das Abmahnschreibender Ast. nicht reagiert, so dass zu erwarten steht, dassdiese Behörde eine entsprechende Äußerung erneuttätigen wird oder tätigen könnte.

B. AnordnungsanspruchDie Ast. hat auch einen Anordnungsanspruch auf Er-lass einer einstweiligen Anordnung zur Untersagungderartiger Äußerungen glaubhaft gemacht.

I. Eingriff in subjektiv-öffentliches Recht der ASt.Der Halbsatz, wonach das vorgeworfene Blutdoping“nach Einschätzung des Gerichts so nur in einem pro-fessionellen ärztlichen Umfeld möglich ist”, ist ge-eignet, als unwahre Tatsachenbehauptung das Persön-lichkeitsrecht der Ast. nach Art. 1 I und 2 I GG in er-heblichem Maße und nachhaltig zu beeinträchtigen,ohne dass dies zu Gunsten anderer erheblicher Rechts-güter unserer Gesellschaft gerechtfertigt wäre.

1. Ehrverletzung...Der Hinweis auf ein “professionelles ärztliches Um-feld” lässt nur den Schluss zu, dass hier seitens derAst. mit professioneller ärztlicher Hilfe vorgegangenwurde, wie es etwa im Zusammenhang mit Dopingfäl-len im Fahrradsport mit in Spanien agierenden Ärztender Öffentlichkeit hinlänglich bekannt ist. LetztereAssoziationen dürften für den Empfänger der Presse-erklärung auch unvermeidbar sein.Diese Aussage ist geeignet, die Wertschätzung derAst. in der Öffentlichkeit zu beschädigen. Die - sugge-rierte - Einschaltung von Ärzten setzt zwingend einevorsätzliche und zielgerichtete Vorgehensweise vor-

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aus, so dass veränderte Blutwerte nicht etwa - aus derSicht der laienhaften Öffentlichkeit - auf etwa nur einefahrlässige Einnahme von Präparaten oder anderenUmständen zurückführbar sein können.

2. ...trotz fehlender Namensnennung...Die Presseerklärung konnte auch ohne Namensnen-nung ohne Weiteres der Person der Ast. zugeordnetwerden, weil die allein auf die Blutzusammensetzunggestützte Wettkampfsperre in den letzten Monatenwiederholt in der Öffentlichkeit ausschließlich in Be-zug auf die Person der Ast. erörtert worden ist.

3. ...und Prominenz der ASt.Eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte der Ast. isthier auch nicht deshalb zu verneinen, weil die Ast.selbst offensiv und noch am Tage der bei ihr durch-geführten Durchsuchung hierüber auf ihrer Homepageberichtete. Auf dieser stellt sie ausdrücklich heraus,dass der festgestellte Retikulozytenwert der einzigeauffällige Blutparameter sei, der ihrer Verurteilung zuGrunde liegt. Insbesondere impliziert der dortige Hin-weis, wonach die Durchsuchung im Zusammenhangmit dem bei der Staatsanwaltschaft in München lau-fenden Ermittlungsverfahren erfolge, “um nach demCAS-Urteil gegen mich die Hintermänner meines sogenannten Dopingfalls aufzudecken” keineswegs, dassdie Ast. selbst etwa angebe, mit professioneller frem-der Hilfe ihren Retikulocytenwert beeinflusst zu ha-ben. Sie hat sich damit auch nicht ihrer geschütztenPrivatsphäre begeben.

II. Keine DuldungspflichtDie streitbefangene Äußerung der Ag. ist auch un-wahr. In dem CAS-Urteil ist keineswegs die Rede da-von, dass die angebliche Beeinflussung des Bluts derAst. “so nur in einem professionellen ärztlichen Um-feld möglich” ist. Wie die Ag. in ihrer Antragserwide-rung aus dem CAS-Urteil zitiert (Nr. 186, wie obenbereits wiedergegeben), bringt das SchiedsGer. ledig-lich zum Ausdruck, dass es zunehmend schwerer sei,rEPO in Urinproben überhaupt festzustellen, weil einehäufige Gabe sehr kleiner rEPO-Mengen in “ausge-klügelten Dosierungsplänen” diesen Nachweis er-schwerten. ”Daher ist ein mangelnder positiver rE-PO-Befund für das SchiedsGer. kein Beweis dafür,dass eine Blutmanipulation ausgeschlossen werdenkann” (Nr. 186 am Ende). Mit diesen beiden Gedan-ken nimmt der Internationale Sportgerichtshof zu demEinwand der Ast. Stellung, dass man im Falle einerManipulation des Blutes etwa durch Zufuhr von rEPOeinen positiven rEPO-Befund in ihrer Urinprobe oder

erhöhte Hämoglobin- oder Hämokritwerte in ihrenBlutproben feststellen müsste und dass nur ein erhöh-ter Hämoglobinwert statt eines hohen Retikulozyten-wertes den gewünschten aber verbotenen Effekt einerErhöhung der Transportkapazität für Sauerstoff habenwürde.Aus diesen Ausführungen des Internationalen Sport-gerichtshofs vermag die Kammer nicht herauszulesen,dass es nach dessen Einschätzung auch im Falle derAst. nur mit ärztlicher Hilfe zu den angeblichen Blut-manipulationen hat kommen können. Der hierzu vonder Ag. angeführte Satz bzw. Hinweis des Sportge-richtshofs auf “ausgeklügelte Dosierungspläne” stellterkennbar lediglich die argumentative Vorbereitungfür die Feststellung im Schlusssatz dar, wonach dasFehlen eines positiven rEPO-Befunds noch keinenUnschuldsbeweis darstellen könne. Anhaltspunktedafür, dass im Falle der Ast. professionelle Doping-ärzte mitgewirkt haben könnten, wie es der streitbe-fangene Satzteil impliziert oder inhaltlich beim Leservermitteln muss, sind dem Urteil des InternationalenSportgerichtshofs nicht zu entnehmen. Die Aussage istdaher als falsch zu bewerten.Die Aussage kann auch nicht, wie in der Antragserwi-derung ausgeführt, als “eine zulässige Meinungsäuße-rung, die sich auf hinreichende Anknüpfungstatsachenstützen kann” bewertet werden. Als Meinungsäuße-rung des Bundeskriminalamtes kommt die streitbe-fangene Satzaussage schon deshalb nicht in Betracht,weil diese in der Presseerklärung mit der Formulie-rung “nach Einschätzung des Gerichts” dem Interna-tionalen Sportgerichtshof zugeschrieben wird Damitist die Aussage keine Meinungsäußerung, sondern ei-ne Tatsachenfeststellung.

C. ErgebnisDie Verletzung der Persönlichkeitsrechte der Ast. istauch erheblich, denn die streitbefangene Äußerung istin hohem Maße ehrverletzend und geeignet, die Ast. inihrer Wertschätzung durch die Öffentlichkeit herab-zumindern und Vorverurteilungen zu provozieren.Dies wiegt umso schwerer als diese Ehrverletzungdurch ein Organ der öffentlichen Gewalt erfolgte. ZuRecht weist die Ast. darauf hin, dass Äußerungen vonstaatlichen Hoheitsträgern von der Öffentlichkeit be-sonderes Vertrauen entgegengebracht wird. Aussagenvon Justiz und Strafverfolgungsbehörden wird ohneweiteres unterstellt, dass diese wahr sind.Der Ag. ist daher im Wege einstweiliger Anordnungzu untersagen, die streitbefangene Äußerung zu wie-derholen oder wiederholen zu lassen.

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Zivilrecht

Standort: Arbeitsrecht Problem: Altersdiskriminierung

EUGH, URTEIL VOM 12.10.2010

C-45/09 (NJW 2010, 3767)

Problemdarstellung:

Frau R. war 39 Jahre lang bei einem Reinigungsunter-nehmen beschäftigt. Der Arbeitsvertrag sah vor, dasser gem. § 19 Nr. 8 des einschlägigen Rahmentarifver-trages (RTV) mit Ablauf des Kalendermonats endet, indem die Beschäftigte Anspruch auf eine Rente wegenAlters hat, spätestens mit Ablauf des Monats, in demsie das 65. Lebensjahr vollendet hat. Dementsprechendteilte der Arbeitgeber Frau R. mit, dass ihr Arbeitsver-trag wegen Eintritts in das Rentenalter mit dem31.05.2008 ende. Hiergegen widersprach Frau R. underhob am 28.05.2008 Klage zum Arbeitsgericht Ham-burg. Sie macht geltend, dass die Beendigung ihresArbeitsvertrages eine altersbedingte Diskriminierungund daher unzulässig sei. Eine Altersgrenze wie in § 19Nr. 8 RTV vorgesehen, sei mit der Richtlinie2000/78/EG unvereinbar. Das Arbeitsgericht hat demEuGH daraufhin verschiedene Fragen zur Vorabent-scheidung vorgelegt; u.a. die Frage ob eine nationaleRegelung wie § 10 S. 3 Nr. 5 AGG und eine tarifver-tragliche Vereinbarung wie § 19 Nr. 8 RTV gegen dasin Art. 1 und 2 der Richtlinie 2000/78/EG niedergeleg-te Verbot der Altersdiskriminierung verstoßen.

Prüfungsrelevanz:Obwohl der EuGH bereits in den Entscheidungen AgeConcern England (NZA 2009, 305) und Palacios (NJW2007, 3339) angedeutet hatte, dass er Altersgrenzen alszulässig erachtet, legte das Arbeitsgericht Hamburgerneut einen Fragenkatalog vor.

Ausgangspunkt der Diskussion ist § 10 S. 3 Nr. 5AGG: Zwar verbietet das AGG in §§ 1, 3, 6 und 7 eineunterschiedliche Behandlung von Arbeitnehmern we-gen Alters, jedoch kann gem. § 10 AGG eine solcheausnahmsweise zulässig sein, wenn sie objektiv undangemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigtist. § 10 S. 3 Nr. 5 AGG besagt, dass u.a. eine Alters-grenzenregelung zulässig sein kann, also eine Rege-lung die eine automatische Beendigung des Arbeits-verhältnisses im Zeitpunkt des Erreichens des Renten-eintrittsalters vorsieht. § 10 S. 3 Nr. 5 AGG fungiertaußerdem als Ermächtigungsgrundlage für die Tarif-partner. Diese hatten von der Vorschrift Gebrauch ge-macht und sie in § 19 Nr. 8 RTV umgesetzt. Dahersteht nicht alleine die Europarechtskonformität der in-nerstaatliche Regelung § 10 S. 3 Nr. 5 AGG (Vorla-

gefrage 2), sondern auch die der tarifvertraglichen Ver-einbarung § 19 Nr. 8 RTV (Vorlagefrage 3) zur Frage.

Der EuGH bekennt sich zur Zulässigkeit von Alters-grenzenregelungen. Die Ermächtigungsgrundlage § 10S. 3 Nr. 5 AGG hält er für eine „nicht unvernünftige“Regelung zur Umsetzung eines legitimen arbeitsmarkt-politischen Ziels, nämlich des Erreichens einer ausge-wogenen Personalstruktur und der Erleichterung, Ar-beitsplätze für jüngere Arbeitnehmer zu schaffen.Nichtsdestotrotz verlangt der EuGH, dass die konkreteRegelung, also die Umsetzung der Ermächtigungs-grundlage an den Vorgaben des Art. 6 der Richtlinieausgerichtet ist. D.h. die Umsetzung muss ihrerseitsangemessen und erforderlich sein, um rechtmäßigeZiele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik undArbeitsmarkt zu realisieren. Das gibt § 10 S. 3 AGGjedoch vor: Die Vorschrift besagt, dass die Regelbei-spiele der Nrn. 1 – 6 zur Rechtfertigung einer an sichunzulässigen Ungleichbehandlung führen können, er-laub die Ungleichbehandlung also nicht schlechter-dings.

Entscheidend war für den Gerichtshof außerdem, dassdie streitigen Vorschriften dem ausscheidenden Arbeit-nehmer weder verbieten, über das Renteneintrittsalterhinaus zu arbeiten, noch diesem den Schutz des AGGentziehen. Theoretisch kann der ausscheidende Arbeit-nehmer sich unverzüglich auf den nun freigewordenenArbeitsplatz bewerben, ohne dass ihm der Diskriminie-rungsschutz des AGG verlorengeht. Das bedeutet, dassder Arbeitgeber ihn jedenfalls nicht wegen seines Al-ters ablehnen darf. Damit besteht aus Sicht des Arbeit-gebers allerdings die Gefahr, dass die Altersgrenzen-regelung leer läuft. Insoweit wird schon jetzt vertreten,dass die Rechtfertigung für die Beendigung des Ar-beitsverhältnisses auf die Neueinstellung durchschlägt(Bauer/von Medem, NJW 2010, 3676). Ob dies tat-sächlich vom EuGH intendiert war, ist fraglich. Dennschließlich würde dem früheren Arbeitnehmer und jet-zigen Stellenbewerber dann faktisch der Diskriminie-rungsschutz wiederum entzogen – und ein tragendesArgument in der EuGH-Entscheidung fiele weg. Esbleibt abzuwarten, wie die (nationale) Rechtsprechungdas Problem lösen wird.

Für Klausuren und auch mündliche Prüfungen ist je-denfalls zu raten, die Struktur des AGG und dessenHauptproblemkreise wenigstens im Überblick zu be-herrschen (hierzu auch RA 2010, xxx = NZA 2010,1412). Die Tatsache, dass sich bereits der EuGH mitdem AGG beschäftigt, zeigt dessen Prüfungspotential.

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Vertiefungshinweise:“ Zur Zulässigkeit von Altersgrenzenregelungen:BAG, NZA 2008, 1302 (hier bestätigt); NZA 2004,1336 (befristete Arbeitsvertrag); BAG, NZA 1988, 617(Betriebsvereinbarung über Altersgrenze)

Leitsätze( der Redaktion): 1. Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG steht ei-ner nationalen Bestimmung wie § 10 Nr. 5 AGG,wonach Altersgrenzenregelungen zulässig sind,nicht entgegen, wenn diese Bestimmung objektivund angemessen und durch ein legitimes Ziel ge-rechtfertigt ist. Das ist bei § 10 Nr. 5 AGG der Fall.2. Die Nutzung dieser Ermächtigung in einem Ta-rifvertrag ist als solche nicht der gerichtlichen Kon-trolle entzogen, sondern muss ebenfalls den Anfor-derungen des Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie2000/78/EG entsprechen. 3. Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG steht ei-ner Maßnahme wie § 19 Nr. 8 RTV für die gewerb-lichen Beschäftigungen in der Gebäudereinigungnicht entgegen.

Sachverhalt: Die berufliche Tätigkeit von Frau Rosenbladt bestand39 Jahre lang darin, in einer Kaserne in Ham-burg-Blankenese (Deutschland) zu reinigen. Seit dem1. November 1994 war Frau Rosenbladt beim Reini-gungsunternehmen Oellerking mit einer Bruttomonats-vergütung von 307,48 Euro teilzeitbeschäftigt (zweiStunden pro Tag, zehn Stunden pro Woche). DieserArbeitsvertrag sieht vor, dass er gemäß § 19 Nr. 8 RTVmit Ablauf des Kalendermonats endet, in dem die Be-schäftigte Anspruch auf eine Rente wegen Alters hat,spätestens mit Ablauf des Monats, in dem sie das 65.Lebensjahr vollendet hat. Gemäß dieser Regelung teil-te Oellerking Frau Rosenbladt am 14. Mai 2008 mit,dass ihr Arbeitsvertrag wegen Eintritts in das Renten-alter mit dem 31. Mai 2008 ende. Mit Schreiben vom18. Mai 2008 teilte Frau Rosenbladt ihrem Arbeitgebermit, dass sie weiterhin arbeiten wolle. Trotz ihres Wi-derspruchs endete ihr Arbeitsverhältnis am 31. Mai2008. Oellerking bot Frau Rosenbladt jedoch ein Pro-zessarbeitsverhältnis ab 1. Juni 2008 an. Am 28. Mai2008 erhob Frau Rosenbladt beim Arbeitsgericht Ham-burg eine Klage gegen ihren Arbeitgeber. Sie machtgeltend, dass die Beendigung ihres Arbeitsvertrags un-zulässig sei, da sie eine Diskriminierung wegen desAlters darstelle. Eine Altersgrenze wie die in § 19 Nr.8 RTV vorgesehene könne weder nach Art. 4 nochnach Art. 6 der Richtlinie 2000/78 gerechtfertigt sein.Seit dem 1. Juni 2008 bezieht Frau Rosenbladt eineRente aus der gesetzlichen Altersversorgung in Höhevon monatlich 253,19 Euro, entsprechend 228,26 Euronetto.

Das vorlegende Gericht hegt Zweifel, ob die in § 19Nr. 8 RTV enthaltene Klausel über die automatischeBeendigung von Arbeitsverhältnissen mit dem durchdas Primärrecht der Union und die Richtlinie 2000/78gewährleisteten Grundsatz der Gleichbehandlung inBeschäftigung und Beruf in Einklang steht.Unter diesen Umständen hat das Arbeitsgericht Ham-burg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und demGerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidungvorzulegen:1. Sind nach Inkrafttreten des AGG kollektivrechtlicheRegelungen, die nach dem Merkmal Alter differenzie-ren, mit dem Verbot der Altersdiskriminierung in Art.1 und Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 vereinbar,ohne dass das AGG dies (wie früher in § 10 S. 3 Nr. 7AGG) ausdrücklich gestattet?2. Verstößt eine innerstaatliche Regelung, die demStaat, den Tarifvertragsparteien und den Parteien eineseinzelnen Arbeitsvertrags erlaubt, eine automatischeBeendigung von Arbeitsverhältnissen zu einem be-stimmten festgelegten Lebensalter (hier: Vollendungdes 65. Lebensjahrs) zu regeln, gegen das Verbot derAltersdiskriminierung in Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 derRichtlinie 2000/78, wenn in dem Mitgliedstaat seitJahrzehnten ständig entsprechende Klauseln auf dieArbeitsverhältnisse fast aller Arbeitnehmer angewen-det werden, gleichgültig, wie die jeweilige wirtschaftli-che, soziale, demografische Situation und die konkreteArbeitsmarktlage war?3. Verstößt ein Tarifvertrag, der es dem Arbeitgebererlaubt, Arbeitsverhältnisse zu einem bestimmten fest-gelegten Lebensalter (hier: Vollendung des 65. Le-bensjahrs) zu beenden, gegen das Verbot der Altersdis-kriminierung in Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie2000/78, wenn in dem Mitgliedstaat seit Jahrzehntenständig entsprechende Klauseln auf die Arbeitsverhält-nisse fast aller Arbeitnehmer angewendet werden,gleichgültig, wie die jeweilige wirtschaftliche, sozialeund demografische Situation und die konkrete Arbeits-marktlage ist?

Aus den Gründen :

A. Zur zweiten Frage: Vereinbarkeit von § 10 Nr. 5AGG mit RL 2000/78/EG[36 ] Mit seiner zweiten Frage, die zuerst zu prüfen ist,möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 Abs.1 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass ereiner nationalen Regelung wie § 10 Nr. 5 AGG ent-gegensteht, soweit nach dieser Klauseln, denen zufolgedas Arbeitsverhältnis automatisch endet, wenn der Be-schäftigte das Rentenalter erreicht, dem Verbot vonDiskriminierungen wegen des Alters entzogen seinkönnen.

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I. Ungleichbehandlung durch § 10 Nr. 5 GG[37] Es ist zunächst festzustellen, dass § 10 Nr. 5AGG zu einer unmittelbar auf dem Alter beruhendenUngleichbehandlung im Sinne von Art. 2 Abs. 2Buchst. a der Richtlinie 2000/78 führt (vgl. in diesemSinne Urteil vom 16. Oktober 2007, Palacios de la Vil-la, C-411/05, Slg. 2007, I-8531, Randnr. 51).

II. Rechtfertigung gem. Art. 6 RL [38] Nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie2000/78 stellt eine Ungleichbehandlung wegen desAlters keine Diskriminierung dar, wenn sie objektivund angemessen ist und im Rahmen des nationalenRechts durch ein legitimes Ziel, worunter insbesondererechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungs-politik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung zu ver-stehen sind, gerechtfertigt ist und die Mittel zur Errei-chung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.In Abs. 1 Unterabs. 2 dieses Artikels werden mehrereBeispiele von Ungleichbehandlungen aufgeführt, diedie in Unterabs. 1 genannten Merkmale aufweisen.

1. Objektive und angemessene Regelung[39] § 10 AGG enthält im Wesentlichen die gleichenGrundsätze. § 10 Nr. 5 AGG nennt als eines von meh-reren Beispielen von auf dem Alter beruhenden unter-schiedlichen Behandlungen, die gerechtfertigt seinkönnen, Vereinbarungen, die die Beendigung des Be-schäftigungsverhältnisses ohne Kündigung zu einemZeitpunkt vorsehen, zu dem der Beschäftigte eine Ren-te wegen Alters beantragen kann. Diese Vorschriftführt damit keine zwingende Regelung des Eintritts inden Ruhestand ein, sondern ermächtigt Arbeitgeberund Arbeitnehmer, einzel- oder tarifvertraglich eineArt und Weise der Beendigung des Arbeitsverhältnis-ses zu vereinbaren, die unabhängig von einer Kündi-gung auf dem Alter beruht, von dem an eine Rente be-antragt werden kann.[40] In Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78werden in der Aufzählung von Ungleichbehandlungenwegen des Alters, die gerechtfertigt sein und damitnicht als diskriminierend angesehen werden können,Klauseln über die automatische Beendigung von Ar-beitsverhältnissen nicht genannt. Dieser Umstand al-lein ist jedoch nicht ausschlaggebend. Diese Aufzäh-lung hat nämlich nur Hinweischarakter. So sind dieMitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie nichtverpflichtet, ein spezifisches Verzeichnis der Un-gleichbehandlungen zu erstellen, die durch ein legiti-mes Ziel gerechtfertigt sein können (vgl. Urteil AgeConcern England, Randnr. 43). Wenn sie sich im Rah-men ihres Ermessensspielraums hierfür entscheiden,können sie in dieses Verzeichnis andere Beispiele vonUngleichbehandlungen und Zielen als die ausdrücklichin der Richtlinie genannten aufnehmen, sofern dieseZiele im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie legitim

und die Ungleichbehandlungen zur Erreichung dieserZiele angemessen und erforderlich sind.[41] Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Mit-gliedstaaten und gegebenenfalls die Sozialpartner aufnationaler Ebene nicht nur bei der Entscheidung, wel-ches konkrete Ziel von mehreren im Bereich der Ar-beits- und Sozialpolitik sie verfolgen wollen, sondernauch bei der Festlegung der Maßnahmen zu seiner Er-reichung über einen weiten Ermessensspielraum verfü-gen (vgl. Urteile vom 22. November 2005, Mangold,C-144/04, Slg. 2005, I-9981, Randnr. 63, und Palaciosde la Villa, Randnr. 68).[44] Es ist darauf hinzuweisen, dass die automatischeBeendigung der Arbeitsverhältnisse von Beschäftigten,die die das Alter und die Beitragszahlung betreffendenVoraussetzungen für den Bezug einer Altersrente erfül-len, seit Langem Teil des Arbeitsrechts zahlreicherMitgliedstaaten und in den Beziehungen des Arbeits-lebens weithin üblich ist. Dieser Mechanismus beruhtauf einem Ausgleich zwischen politischen, wirtschaft-lichen, sozialen, demografischen und/oder haushalts-bezogenen Erwägungen und hängt von der Entschei-dung ab, die Lebensarbeitszeit der Arbeitnehmer zuverlängern oder, im Gegenteil, deren früheren Eintrittin den Ruhestand vorzusehen (vgl. in diesem SinneUrteil Palacios de la Villa, Randnr. 69).[45] Daher sind Ziele der Art, wie die deutsche Regie-rung sie angeführt hat, grundsätzlich als solche anzuse-hen, die eine Ungleichbehandlung wegen des Alterswie die in § 10 Nr. 5 AGG vorgesehene im Sinne vonArt. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 als "objektiv undangemessen" erscheinen lassen und "im Rahmen desnationalen Rechts" rechtfertigen.

2. Erforderliche Maßnahme[46] Es ist weiter zu prüfen, ob eine solche Maßnahmeangemessen und erforderlich im Sinne von Art. 6 Abs.1 der Richtlinie 2000/78 ist.[47] Die Zulässigkeit von Klauseln über die automati-sche Beendigung des Arbeitsverhältnisses, wenn derBeschäftigte das Rentenalter erreicht, kann grundsätz-lich nicht als eine übermäßige Beeinträchtigung derberechtigten Interessen der betroffenen Arbeitnehmerangesehen werden.[48] Eine Regelung wie die im Ausgangsverfahrenfragliche stellt nämlich nicht nur auf ein bestimmtesAlter ab, sondern berücksichtigt auch den Umstand,dass den Betroffenen am Ende ihrer beruflichen Lauf-bahn ein finanzieller Ausgleich durch einen Einkom-mensersatz in Gestalt einer Altersrente zugutekommt(vgl. in diesem Sinne Urteil Palacios de la Villa,Randnr. 73).[51] Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkteerscheint es nicht unvernünftig, wenn die Stellen einesMitgliedstaats annehmen, dass eine Maßnahme wie diein § 10 Nr. 5 AGG festgelegte Zulässigkeit von Klau-

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seln über die automatische Beendigung des Arbeits-verhältnisses bei Erreichen des Rentenalters des Be-schäftigten angemessen und erforderlich sein kann, umlegitime Ziele der nationalen Arbeits- und Beschäfti-gungspolitik wie die zu erreichen, die die deutsche Re-gierung angeführt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil Pala-cios de la Villa, Randnr. 72).

III. Jedoch: Überprüfung der Einzelmaßnahme (tarifli-che Regelung) [52] Diese Schlussfolgerung bedeutet indessen nicht,dass solche in einem Tarifvertrag enthaltenen Klauselnder effektiven gerichtlichen Kontrolle im Hinblick aufdie Vorschriften der Richtlinie 2000/78 und denGleichbehandlungsgrundsatz entzogen wären. DieseKontrolle ist anhand der besonderen Gegebenheitenvorzunehmen, die für die zu prüfende Klausel kenn-zeichnend sind. Es ist nämlich für jede den Mechanis-mus einer automatischen Beendigung des Arbeitsver-hältnisses vorsehende Vereinbarung sicherzustellen,dass insbesondere die in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 derRichtlinie 2000/78 normierten Voraussetzungen einge-halten sind. Überdies wird den Mitgliedstaaten in Art.16 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 ausdrücklich auf-gegeben, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen,damit "die mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz nichtzu vereinbarenden Bestimmungen in Arbeits- und Ta-rifverträgen … für nichtig erklärt werden können odergeändert werden".

IV. Ergebnis zur zweiten Frage[53] Demnach ist auf die zweite Frage zu antworten,dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 dahin auszu-legen ist, dass er einer nationalen Bestimmung wie §10 Nr. 5 AGG, wonach Klauseln über die automatischeBeendigung von Arbeitsverhältnissen bei Erreichendes Rentenalters des Beschäftigten zulässig sind, nichtentgegensteht, soweit zum einen diese Bestimmungobjektiv und angemessen und durch ein legitimes Zielder Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik gerecht-fertigt ist und zum anderen die Mittel zur Erreichungdieses Ziels angemessen und erforderlich sind. DieNutzung dieser Ermächtigung in einem Tarifvertrag istals solche nicht der gerichtlichen Kontrolle entzogen,sondern muss gemäß den Anforderungen des Art. 6Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 ebenfalls in angemesse-ner und erforderlicher Weise ein legitimes Ziel verfol-gen.

B. Zur ersten und zur dritten Frage: Vereinbarkeit von§ 19 Nr. 8 RTV mit RL 2000/78/EG[54] Mit der ersten und der dritten Frage, die zusam-men zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gerichtwissen, ob Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 der in§ 19 Nr. 8 RTV enthaltenen Klausel entgegensteht,nach der das Arbeitsverhältnis automatisch endet,

wenn der Beschäftigte das Rentenalter von 65 Jahrenerreicht.[62] Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dassKlauseln über die automatische Beendigung der Ar-beitsverhältnisse von Beschäftigten, die eine Alters-rente beantragen können, als Teil einer nationalen Poli-tik gerechtfertigt sein können, mit der über eine besse-re Beschäftigungsverteilung zwischen den Generatio-nen der Zugang zur Beschäftigung gefördert werdensoll, da die damit verfolgten Ziele grundsätzlich alseine – wie es Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie2000/78 verlangt – im Rahmen des nationalen Rechtsobjektive und angemessene Rechtfertigung für einevon den Mitgliedstaaten angeordnete Ungleichbehand-lung wegen des Alters anzusehen sind (vgl. in diesemSinne Urteil Palacios de la Villa, Randnrn. 53, 65 und66). Folglich sind solche Ziele, wie sie das vorlegendeGericht nennt, "legitime" Ziele im Sinne dieses Arti-kels.[63] Demgemäß ist zu prüfen, ob die für die Errei-chung dieser Ziele verwendeten Mittel "angemessenund erforderlich" sind.

I. Angemessenheit [64] Was erstens die Angemessenheit der im RTV ent-haltenen Klausel über die automatische Beendigungvon Arbeitsverhältnissen anbelangt, ist das vorlegendeGericht der Auffassung, dass Klauseln dieser Art we-gen ihrer Ineffizienz die verfolgten Ziele nicht errei-chen könnten.[65] Zu dem Ziel der Förderung der Beschäftigungführt das vorlegende Gericht aus, dass die Klauselnüber die automatische Beendigung des Arbeitsverhält-nisses von Beschäftigten, die das 65. Lebensjahr voll-endeten, seit Langem häufig vereinbart würden, ohneindessen das Beschäftigungsniveau in Deutschland imGeringsten zu beeinflussen. § 19 Nr. 8 RTV verbiete esdem Arbeitgeber auch nicht, Personen über 65 Jahrenzu beschäftigen, noch verpflichte ihn die Bestimmungdazu, einen Beschäftigten, der das 65. Lebensjahr voll-endet habe, durch einen jüngeren Arbeitnehmer zu er-setzen.[66] Was das Ziel angeht, eine harmonische Strukturder Alterspyramide im Gebäudereinigungsgewerbesicherzustellen, bezweifelt das vorlegende Gericht des-sen Relevanz, da in dieser Branche kein spezielles Ri-siko der Überalterung der Belegschaften bestehe.[67] Hinsichtlich der Beurteilung durch das vorlegen-de Gericht ist darauf hinzuweisen, dass die im Aus-gangsverfahren fragliche Klausel über die automati-sche Beendigung von Arbeitsverhältnissen die Fruchteiner von den Vertretern der Arbeitnehmer und denVertretern der Arbeitgeber ausgehandelten Vereinba-rung ist, die damit ihr als ein Grundrecht anerkanntesRecht auf Kollektivverhandlungen ausgeübt haben(vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2010, Kom-

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mission/Deutschland, C-271/08, noch nicht in der amt-lichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 37). Dass esdamit den Sozialpartnern überlassen ist, einen Aus-gleich zwischen ihren Interessen festzulegen, bieteteine nicht unerhebliche Flexibilität, da jede der Partei-en gegebenenfalls die Vereinbarung kündigen kann(vgl. in diesem Sinne Urteil Palacios de la Villa,Randnr. 74).[69] Angesichts des weiten Ermessensspielraums, derden Sozialpartnern auf nationaler Ebene nicht nur beider Entscheidung über die Verfolgung eines bestimm-ten sozial- und beschäftigungspolitischen Ziels, son-dern auch bei der Festlegung der für seine Erreichunggeeigneten Maßnahmen zusteht, erscheint die Auffas-sung der Sozialpartner, dass eine Maßnahme wie die in§ 19 Nr. 8 RTV vorgesehene zur Erreichung der vor-genannten Ziele angemessen sein kann, nicht unver-nünftig.

II. Erforderlichkeit[70] Zweitens bezweifelt das vorlegende Gericht, dasseine Klausel über die automatische Beendigung vonArbeitsverhältnissen, wie § 19 Nr. 8 RTV sie vorsieht,erforderlich ist.[71] Zum einen bedeute die automatische Beendigungder Arbeitsverhältnisse für die Arbeitnehmer des Ge-bäudereinigungsgewerbes im Allgemeinen und fürFrau Rosenbladt im Besonderen einen erheblichen fi-nanziellen Nachteil. Da diese Branche durch geringvergütete Beschäftigungsverhältnisse und Teilzeitar-beit gekennzeichnet sei, reichten die gesetzlichen Al-tersrenten nicht aus für den Lebensunterhalt der Ar-beitnehmer.[72] Zum anderen gebe es weniger einschneidendeMittel als die automatische Beendigung von Arbeits-verhältnissen. Was das Interesse der Arbeitgeber ander Planung ihrer Personalpolitik betreffe, genüge es,dass sie sich bei ihren Beschäftigten erkundigten, obdiese über die Erreichung des Rentenalters hinaus zuarbeiten beabsichtigten.[73] Um zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren frag-liche Maßnahme über das zur Erreichung der ange-strebten Ziele Erforderliche hinausgeht und die Inter-essen von Arbeitnehmern, die das 65. Lebensjahr voll-enden und ab diesem Zeitpunkt ihre Altersrente bezie-hen können, übermäßig beeinträchtigt, ist sie in demRegelungskontext zu betrachten, in den sie sich ein-fügt, und sind sowohl die Nachteile, die sie für die Be-troffenen bewirken kann, als auch die Vorteile zu be-rücksichtigen, die sie für die Gesellschaft im Allgemei-

nen und die diese bildenden Individuen bedeutet.[74] Aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichtsund den vor dem Gerichtshof abgegebenen Erklärun-gen geht hervor, dass das deutsche Arbeitsrecht einerPerson, die ein Alter erreicht hat, in dem sie ihre Rentebeantragen kann, die Fortführung einer Berufstätigkeitnicht untersagt. Aus diesen Erläuterungen geht fernerhervor, dass ein Arbeitnehmer, der sich in dieser Lagebefindet, weiterhin den Schutz gegen Diskriminierun-gen wegen des Alters gemäß dem AGG genießt. Dasvorlegende Gericht hat insoweit klargestellt, dass esdas AGG verböte, einer Person in der Lage von FrauRosenbladt, nachdem ihr Arbeitsverhältnis wegen Er-reichens des Rentenalters geendet hat, eine Beschäfti-gung – sei es bei ihrem früheren Arbeitgeber, sei es beieinem Dritten – aus einem Grund zu verweigern, dermit ihrem Alter zusammenhängt.[75] In diesen Kontext gestellt, hat die von Rechts we-gen eintretende Beendigung des Arbeitsverhältnisses,die aus einer Maßnahme wie der in § 19 Nr. 8 RTVvorgesehenen resultiert, nicht die automatische Wir-kung, dass die Betroffenen gezwungen werden, endgül-tig aus dem Arbeitsmarkt auszuscheiden. Mit dieserBestimmung wird folglich keine zwingende Regelungzur Versetzung in den Ruhestand von Amts wegen ein-geführt (vgl. in diesem Sinne Urteil Age Concern Eng-land, Randnr. 27). Sie hindert einen Arbeitnehmer, derdies, etwa aus finanziellen Gründen, wünscht, nichtdaran, seine Berufstätigkeit über das Erreichen desRentenalters hinaus fortzuführen. Sie nimmt Beschäf-tigten, die das Rentenalter erreicht haben, nicht denSchutz gegen Ungleichbehandlungen wegen des Alters,wenn sie erwerbstätig bleiben wollen und eine neueBeschäftigung suchen.[76] Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte istfestzustellen, dass eine Maßnahme wie die in § 19 Nr.8 RTV vorgesehene nicht über das hinausgeht, was zurErreichung der verfolgten Ziele erforderlich ist, wennder weite Ermessensspielraum berücksichtigt wird, derden Mitgliedstaaten und den Sozialpartnern auf demGebiet der Sozial- und Beschäftigungspolitik zusteht.

III. Ergebnis[77] Auf die erste und die dritte Frage ist daher zu ant-worten, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 dahinauszulegen ist, dass er einer Maßnahme wie der in § 19Nr. 8 RTV enthaltenen Klausel über die automatischeBeendigung der Arbeitsverhältnisse von Beschäftigten,die das Rentenalter von 65 Jahren erreicht haben, nichtentgegensteht.

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Standort: Kaufrecht Problem: Nacherfüllung

BGH, URTEIL VOM 10.03.2010

VIII ZR 310/08 (NJW 2010, 1448)

Problemdarstellung:

Der Kl. kaufte von der Bekl. am 23.04.2005 einen Re-nault-Neuwagen zum Preis von 18.500 i. Nach derÜbergabe des Pkw im Juni 2005 beanstandete der Kl.Mängel im Bereich der Elektronik. Die Bekl. erwider-te, dass ihr derartige Mängel nicht bekannt seien undbat den Kl., ihr das Fahrzeug nochmals zur Prüfungvorzustellen. Mit Schreiben vom 03.07.2005 erklärteder Kl., dass es ihm unzumutbar sei, Nachbesserungenhinzunehmen, so dass alleine eine Neulieferung inBetracht komme. Weiterhin heißt es: „Selbstverständ-lich kann Renault – früher oder später – das Fahrzeuguntersuchen lassen – dies sofort, falls Sie sich mit ei-ner Ersatzlieferung, wie von mir jetzt verlangt, einver-standen erklären.“ Nach weiterer Korrespondenz er-klärte der Kl. mit Schreiben vom 30.11.2005 den Rüc-ktritt vom Kaufvertrag.

Mit seiner Klage begehrt er Rückzahlung des Kauf-preises abzüglich Nutzungsersatz Zug um Zug gegenRückgabe des Fahrzeugs.

Prüfungsrelevanz:

Der Senat legt eine sehr interessante Entscheidungvor, die sich zwar in den Kontext der bisherigenRechtsprechung (BGH, NJW 2008, 1147, siehe auchunten B.) einfügt, aber dennoch weitere Fragen auf-wirft. Die Examensrelevanz ist in jedem Fall als hocheinzuschätzen.

A. Die Entscheidung

Der Käufer verlangte gem. §§ 437 Nr. 2, 323 I, 346 I,348 BGB die Rückzahlung des Kaufpreises Zug umZug gegen Rückgabe des Pkw. Fraglich war, ob dieBekl. einen fälligen und durchsetzbaren Anspruch desKl. nicht ordnungsgemäß erfüllt hatte. Als solcherkam der Nacherfüllungsanspruch gem. §§ 437 Nr. 1,439 BGB in Betracht. Dieser setzt voraus, dass dieKaufsache schon bei Gefahrübergang mangelhaft warund der Käufer daraufhin ein Nacherfüllungsbegehreni.S.d. § 439 BGB äußert. Letzteres war vorliegend pro-blematisch. Denn der Kl. räumte der Bekl. nur unterder Bedingung einer sofortigen Ersatzlieferung dieMöglichkeit ein, das Fahrzeug auf den beanstandetenMangel hin zu untersuchen. Der Senat geht davon aus,dass dies kein ordnungsgemäßes Nacherfüllungsver-langen darstellt. Der Käufer müsse zu aller erst demVerkäufer die Chance geben, die Kaufsache zu unter-suchen.

Das Ergebnis erstaunt im ersten Moment, da gem. §

439 I BGB allein dem Käufer das Wahlrecht hinsicht-lich der Nacherfüllung zusteht (anders im Werkver-tragsrecht, vgl. § 635 I BGB): Nur er kann entschei-den, ob er eine Nachbesserung oder eine Nachliefe-rung wünscht – erst im nächsten Schritt kann der Ver-käufer gem. § 439 III BGB unter den dortigen Voraus-setzungen die gewählte Form der Nacherfüllung ab-lehnen. Insofern könnte man annehmen, dass der Käu-fer bereits zeitgleich mit dem Nacherfüllungsbegehrensein Wahlrecht ausüben und die Nacherfüllung vonvorneherein auf eine der Varianten des § 439 I BGBbeschränken kann.

Richtigerweise betont der Senat aber, dass die Mög-lichkeit der Untersuchung der Kaufsache aus einemanderen ganz anderen Zusammenhang folgt: Der Fragenach der Art der Nacherfüllung ist immerhin die Fragevorgelagert, ob der Mangel bereits bei Gefahrüber-gang vorgelegen hatte. Nur wenn dem so ist, muss derVerkäufer überhaupt Gewährleistung erbringen. Inso-fern ist dem Verkäufer keine Ferndiagnose zuzumu-ten; er muss die Möglichkeit der Untersuchung einge-räumt bekommen.

Diese Argumentation greift in Fällen des Verbrauchs-güterkaufs freilich nur, wenn man mit dem BGH da-von ausgeht, dass die Beweislastumkehr des § 476BGB nur in zeitlicher Hinsicht gilt und die eigentlicheBeweislast hinsichtlich des Mangels beim Käufer ver-bleibt. Geht man mit der Literatur davon aus, dass dieVorschrift auch hinsichtlich des Vorliegens eines(Grund-)Mangels gilt, liefe die Argumentation desSenats weitgehend leer (Streitstand bei Münch-KommBGB/Lorenz, § 476 Rn. 4). Denn dann stelltesich die Frage nach dem Vorliegen des Mangels je-denfalls innerhalb der 6-Monats-Frist nicht; das Vor-liegen würde zugunsten des Käufers vermutet. Mitdiesen Gedanken musste sich der Senat allerdingsnicht auseinander setzen.

B. Kontext

Unbedingt zu beachten ist in diesem Zusammenhangdie Entscheidung des BGH zum unberechtigten Nach-erfüllungsverlangen (BGH, NJW 2008, 1147). Hat derVerkäufer auf Verlangen des Käufers nacherfüllt, ob-wohl der “Mangel“ tatsächlich aus der Sphäre desKäufers stammte, kann der Verkäufer gem. §§ 280 I,241 II BGB Schadensersatz beanspruchen. Dies giltjedenfalls, wenn der Käufer nicht im Rahmen seinerMöglichkeiten vor dem Nacherfüllungsverlangenüberprüft hatte, ob der “Mangel“ aus seiner Sphärestammt. Der Käufer darf also nicht ohne weiteresNacherfüllung verlangen. Ähnlich die vorliegendeEntscheidung: Der Käufer darf nicht unter einer vor-

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herigen Bedingung Nacherfüllung verlangen.

Interessant ist nun die Frage, ob auch im vorliegendenFall ein Schadensersatzanspruch ausgelöst würde, so-fern der Verkäufer die Nacherfüllung trotz des un-wirksamen Nacherfüllungsbegehrens erbracht hätte.Der Senat musste sich hierzu nicht äußern. Man darfaber vorsichtig vermuten, dass ein Schadensersatzan-spruch möglich wäre.

Vertiefungshinweise:

“ Zum unberechtigten Nacherfüllungsverlangen:BGH, NJW 2008, 1147; NJW 2009, 1262 (zum Ver-tretenmüssen); NJW 2006, 1195; Thole, AcP 209, 498

“ Nacherfüllung in der Berufungsinstanz: BGH, NJW2009, 2532; Skamel, NJW 2010, 271

“ Zum Fristsetzungserfordernis bei der Nacherfül-lung: OLG Celle, NJW-RR 2007, 352 (Fristsetzungunverzichtbar); Skamel, JuS 2010, 671 (Fristsetzung inrichtlinienkonformer Auslegung teilweise verzicht-bar); Koch, NJW 2010, 1636

Kursprogramm:“ Examenskurs: “Augen auf beim Mustangkauf”

Leitsatz: Die Obliegenheit des Käufers, dem Verkäufer Ge-legenheit zur Nacherfüllung zu geben, beschränktsich nicht auf eine mündliche oder schriftliche Auf-forderung zur Nacherfüllung, sondern umfasstauch die Bereitschaft des Käufers, dem Verkäuferdie Kaufsache zur Überprüfung der erhobenenMängelrügen zur Verfügung zu stellen (im An-schluss an BGH, 23. Februar 2005, VIII ZR 100/04,BGHZ 162, 219 ff. und das Senatsurteil vom 21.Dezember 2005, VIII ZR 49/05, NJW 2006, 1195).

Sachverhalt:Der Kläger kaufte von der Beklagten, einer Re-nault-Niederlassung, auf der Grundlage einer Bestel-lung vom 23. April 2005 einen Renault-Neuwagenzum Preis von 18.500 i brutto. Das Fahrzeug wurdeihm am 10. Juni 2005 gegen Zahlung des Kaufpreisesübergeben. Mit Schreiben vom 23. Juni 2005 beanstandete derKläger Mängel im Bereich der Elektronik des Fahr-zeugs. Die Beklagte antwortete mit Schreiben vom 27.Juni 2005, dass ihr die Mängel nicht bekannt seien,und bat den Kläger, ihr das Fahrzeug nochmals zurPrüfung vorzustellen. Dem kam der Kläger nicht nach.Er vertrat im Schreiben vom 3. Juli 2005 die Auffas-sung, es sei ihm unzumutbar, sich auf Nachbesserun-gen einzulassen, weil er befürchte, dass Defekte derElektronik trotz Nachbesserungen immer wieder auf-treten würden; mit dieser Begründung verlangte er

unter Fristsetzung bis zum 11. Juli 2005 "eine kom-plette Lieferung eines anderen Fahrzeuges, das derBestellung entspricht". Weiter heißt es in dem Schrei-ben: "Selbstverständlich kann Renault - früher oder später -das Fahrzeug untersuchen lassen - dies sofort, falls Siesich mit einer Ersatzlieferung, wie von mir jetzt ver-langt, einverstanden erklären."Die Beklagte antwortete mit Schreiben vom 13. Juli2005, sie könne auf die vom Kläger begehrte Ersatz-lieferung nicht eingehen, erklärte sich aber für denFall, dass nachweislich ein Mangel vorliegen sollte, zudessen Beseitigung bereit; sie bot an, das Fahrzeugdurch ihren hauseigenen Abschleppdienst abzuholenund dem Kläger für die Zeit des Werkstattaufenthaltseinen kostenfreien Ersatzwagen zu stellen. Im An-schluss an das Schreiben des Klägers vom 15. Juli2005, mit dem dieser nochmals darauf beharrte, dassihm ein Anspruch auf Mangelbeseitigung in Form derErsatzlieferung eines kompletten Neuwagens zustehe,bestand die Beklagte mit Schreiben vom 20. Juli 2005darauf, dass der Kläger ihr, bevor sie weitere Schritteeinleiten könne, Gelegenheit geben müsse, das Fahr-zeug in ihrem Haus zu überprüfen und gegebenenfallsauftretende Mängel zu beseitigen. Nach weiterer Kor-respondenz erklärte der Kläger mit Schreiben vom 30.November 2005 den Rücktritt vom Kaufvertrag. Der Kläger begehrt mit seiner Klage die Rückzahlungdes Kaufpreises abzüglich Nutzungswertersatz Zugum Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs sowie dieFeststellung des Annahmeverzugs und der Verpflich-tung der Beklagten, die dem Kläger infolge der Nicht-rücknahme des Fahrzeugs bereits entstandenen undnoch entstehenden Schäden zu ersetzen. Das Landge-richt hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klä-gers hat keinen Erfolg gehabt. Mit der vom Senat zu-gelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebe-gehren weiter.

Aus den Gründen:[5] Die Revision hat keinen Erfolg.

A. Ausführungen des Berufungsgerichts[6] Das Berufungsgericht hat im Wesentlichen ausge-führt: [7] Der Kläger habe keinen Anspruch auf Rückabwic-klung des Kaufvertrags und Schadensersatz, weil dermit Schreiben vom 30. November 2005 erklärte Rüc-ktritt vom Vertrag unwirksam sei. Es könne dahinge-stellt bleiben, ob die Beklagte die vom Kläger gefor-derte Nacherfüllung in Form der Lieferung eines neu-en Renault, wie das Landgericht angenommen habe,wegen unverhältnismäßig hoher Kosten gemäß § 439Abs. 3 BGB wirksam verweigert habe. Denn jeden-falls habe der Kläger Nacherfüllung gemäß § 439 Abs.1 BGB nicht verlangen können, da er sich selbst nicht

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vertragsgerecht verhalten habe. Nachdem der Klägerim Schreiben vom 3. Juli 2005 die Lieferung einesanderen Fahrzeugs verlangt habe, sei er verpflichtetgewesen, dem Wunsch der Beklagten, das Fahrzeug zuuntersuchen, nachzukommen, damit diese ihr weiteresVerhalten - insbesondere in Bezug auf die Frage, obein Mangel gegeben sei, welcher Aufwand gegebenen-falls für dessen Beseitigung erforderlich sein würdeund ob sie von ihrem Verweigerungsrecht gemäß §439 Abs. 3 BGB Gebrauch machen wolle - sachge-recht hätte abstimmen können. [8] Die Beklagte habe eine zuverlässige Beurteilungder gerügten Mängel nur nach eigener Überprüfungdes Fahrzeugs treffen können; angesichts der vielfälti-gen Ursachen, die für die vom Kläger gerügten Fehl-funktionen in Betracht kämen, sei der Beklagten eineFerndiagnose nicht mit der erforderlichen Zuverlässig-keit möglich gewesen. Für den Kläger sei aufgrundder Umstände erkennbar gewesen, dass der erstmalsmit Schreiben vom 27. Juni 2005 geäußerte Wunschder Beklagten, das Fahrzeug auf die gerügten Mängelhin überprüfen zu können, deren berechtigtem Inter-esse entsprochen habe. Der Kläger habe demgegen-über im Schreiben vom 3. Juli 2005 ausdrücklich eineUntersuchung des Wagens davon abhängig gemacht,dass die Beklagte der von ihm verlangten Ersatzliefe-rung zustimme, und habe auch im weiteren Verlaufkeine Prüfung des Fahrzeugs zugelassen. Damit habeer die Untersuchung des Pkw faktisch verweigert, weiler diese von einer Bedingung abhängig gemacht habe,auf die die Beklagte nicht habe einzugehen brauchen.Durch diese Verhaltensweise habe der Kläger seinevertragliche Nebenpflicht auf Mitwirkung und Rüc-ksichtnahme verletzt. Rechtsfolge sei, dass die Be-klagte die Nacherfüllung in der Form der Ersatzliefe-rung gemäß § 439 Abs. 1 BGB habe verweigern kön-nen, was sie mit Schreiben vom 13. Juli 2005 getanhabe. Ein Rücktrittsrecht des Klägers sei damit nichtgegeben.

B. Entscheidung des BGH[9] Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfungstand. Dem Kläger stehen die geltend gemachten An-sprüche auf Rückabwicklung des Kaufvertrages undSchadensersatz nicht zu. Das Berufungsgericht hat mitRecht angenommen, dass der vom Kläger mit Schrei-ben vom 30. November 2005 erklärte Rücktritt vomVertrag nicht wirksam ist, weil der Kläger es versäumthat, der Beklagten in einer den gesetzlichen Anforde-rungen entsprechenden Weise Gelegenheit zur Nach-erfüllung (§ 439 BGB) zu geben. [10] (...) An einem den Anforderungen der § 323 Abs.1, § 439 Abs. 1 BGB entsprechenden Nacherfüllungs-verlangen des Klägers fehlt es, so dass die Vorausset-zungen für ein Rücktrittsrecht des Klägers nach § 437Nr. 2 in Verbindung mit § 323 BGB nicht erfüllt sind.

I. Anforderungen an das Nacherfüllungsverlangen [11] Gemäß § 439 Abs. 1 BGB kann der Käufer alsNacherfüllung nach seiner Wahl die Beseitigung desMangels oder die Lieferung einer mangelfreien Sacheverlangen. Eine Beseitigung des Mangels durch dieBeklagte hat der Kläger nicht verlangt, sondern abge-lehnt. Zur Lieferung einer mangelfreien Sache hat derKläger die Beklagte in seinen Schreiben vom 3. und15. Juli 2005 zwar unter Fristsetzung aufgefordert.Mit diesen Aufforderungen ist der Kläger jedoch sei-ner Obliegenheit, der Beklagten Gelegenheit zurNacherfüllung zu geben, nicht in gehöriger Weisenachgekommen. [12] Das Erfordernis eines Nacherfüllungsverlangensals Voraussetzung für die Rechte des Käufers aus §437 Nr. 2 und 3 BGB umschreibt keine Vertrags-pflicht, sondern eine Obliegenheit des Käufers (Se-natsurteil vom 21. Dezember 2005 - VIII ZR 49/05,NJW 2006, 1195, Tz. 20; Reinking/Eggert, Der Auto-kauf, 10. Aufl., Rdnr. 350). Diese Obliegenheit, derder Käufer im eigenen Interesse nachzukommen hat,wenn er die in § 437 Nr. 2 und 3 BGB aufgeführtenRechte geltend machen will, beschränkt sich nicht aufeine mündliche oder schriftliche Aufforderung zurNacherfüllung, sondern umfasst auch die Bereitschaftdes Käufers, dem Verkäufer die Kaufsache zur Über-prüfung der erhobenen Mängelrügen für eine entspre-chende Untersuchung zur Verfügung zu stellen. DerVerkäufer ist nicht verpflichtet, sich auf ein Nacher-füllungsverlangen des Käufers einzulassen, bevor die-ser ihm nicht Gelegenheit zu einer solchen Untersu-chung der Kaufsache gegeben hat. Denn dem Verkäu-fer soll es mit der ihm vom Käufer einzuräumendenGelegenheit zur Nacherfüllung gerade ermöglicht wer-den, die verkaufte Sache darauf zu überprüfen, ob derbehauptete Mangel besteht und ob er bereits im Zeit-punkt des Gefahrübergangs vorgelegen hat, auf wel-cher Ursache er beruht sowie ob und auf welche Wei-se er beseitigt werden kann (vgl. § 439 Abs. 3 BGB),und hierzu gegebenenfalls Beweise zu sichern (BGHZaaO, 228; Senatsurteil vom 21. Dezember 2005, aaO,Tz. 21). Der Verkäufer kann von der ihm zustehendenUntersuchungsmöglichkeit nur Gebrauch machen,wenn ihm der Käufer die Kaufsache zu diesem Zweckzur Verfügung stellt. II. Subsumtion[13] Der Kläger hat der Beklagten keine Gelegenheitzu einer Untersuchung des Fahrzeugs im Hinblick aufdie erhobenen Mängelrügen gegeben. Er hat eine Un-tersuchung durch die Beklagte in unzulässiger Weisevon der Bedingung abhängig gemacht, dass sich dieBeklagte zuvor mit der vom Kläger gewählten Art derNacherfüllung - der Lieferung eines neuen Fahrzeugs -einverstanden erklärt. Darauf brauchte sich die Be-klagte nicht einzulassen. Der Verkäufer ist nicht ver-

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pflichtet, der vom Käufer gewählten Art der Nacher-füllung zuzustimmen, bevor er Gelegenheit gehabt hat,die Kaufsache auf die vom Käufer gerügten Mängel zuuntersuchen. Dies folgt bereits daraus, dass der Ver-käufer erst aufgrund einer solchen Untersuchung beur-teilen kann, ob die gerügten Mängel bestehen und be-reits bei Gefahrübergang vorgelegen haben; nur unterdieser Voraussetzung ist der Verkäufer überhaupt zurNacherfüllung verpflichtet. Darüber hinaus bedarf es

der vorherigen Untersuchung auch im Hinblick auf dievom Käufer gewählte Art der Nacherfüllung. Dennvon den Feststellungen des Verkäufers zur Ursacheeines etwa vorhandenen Mangels und dazu, ob und aufwelche Weise dieser beseitigt werden kann, hängt ab,ob sich der Verkäufer auf die vom Käufer gewählteArt der Nacherfüllung einlassen muss oder ob er sienach § 275 Abs. 2 und 3 oder § 439 Abs. 3 BGB ver-weigern kann.

Standort: Schuldrecht Problem: Maklervertrag

OLG OLDENBURG, URTEIL VOM 16.06.2010

5 U 138/09 (NJW-RR 2010, 1717)

Problemdarstellung:

Die Kl. ist Immobilienmaklerin. Ab dem 26.06.2008bewarb sie ein Grundstück des W auf ihrer Homepageund verschiedenen Plattformen im Internet. In der Ob-jektbeschreibung unter der Rubrik „Provision“ fandsich der Eintrag: „Vermittlungsprovision: 5,95 % vomKaufpreis“. Noch im Juni 2008 meldeten sich dieBekl., die Eheleute sind, bei der Kl. und bekundetenihr Interesse an dem Grundstück. Im Rahmen einesBesichtigungstermins am 05.07.2008 erklärten dieBekl. gegenüber der Kl., das Grundstück kaufen zuwollen und baten die Kl., alles dafür Notwendige zuveranlassen. Die Kl. legte den Bekl. einen Vertrags-text vor und bat sie, diesen zu unterzeichnen. In demSchriftstück war unter anderem aufgeführt, dass dieKäufer des Grundstücks der Kl. eine Provision vonrund 15.000 i zu zahlen haben. Die Bekl. erklärtender Kl. am Abend des 05.07.2008 per Telefax, dass sienicht bereit seien, die Vereinbarung zu unterschreiben,da sie die Provision nicht zahlen wollten. Sie seiendavon ausgegangen, dass die Kl. vom Verkäufer desGrundstücks bezahlt werde. Die Kl. erwiderte mitSchreiben vom 08.07.2008, dass die Bekl. im Falle desKaufs selbst ohne die schriftliche Übereinkunft zurZahlung der Provision verpflichtet seien. Am15.07.2008 sandte die Bekl. zu 2) der Kl. eine E-Mail,in der es heißt: „Ihre Maklergebühren werden wirselbstverständlich begleichen. Da lag ein Missver-ständnis vor.“ Nachdem die Bekl. das Grundstück er-worben hatten, blieb eine Zahlung aus. Mit ihrer Kla-ge begehrt die Kl. die Zahlung von 14815,50 i nebstZinsen.

Prüfungsrelevanz:So wenig Beachtung der Maklervertrag im erstenStaatsexamen findet, so viel Beachtung kommt ihmschließlich im zweiten Staatsexamen zu. Nichtsdesto-trotz lohnt sich auch in der Vorbereitung auf das ersteExamen eine Annäherung an das Thema. Die vorlie-

gende Entscheidung eignet sich hierzu besonders gut,denn sie verbindet Aspekte des Maklervertrages mitsolchen des Familienrechts und des AllgemeinenTeils.

A. Der Maklervertrag

Der Maklervertrag i.S.d. § 652 BGB darf als recht ei-gentümlicher Typus beschrieben werden. Anders alsdie meisten schuldrechtlichen Normen, die einen Ver-tragstypen normieren, enthält § 652 BGB weder eineAnspruchsgrundlage, noch eine Tätigkeitspflicht desMaklers (oder „Mäklers“; Palandt/Sprau, Einf v § 652Rn. 1). Das Zustandekommen eines wirksamen Mak-lervertrages ist allerdings Voraussetzung für den –wohl überwiegend klausurrelevanten – Provisionsan-spruch des Maklers. Daneben muss der Makler seineLeistung erbracht haben, die wiederum kausal für dasZustandekommen des wirksamen Hauptvertrages seinmuss. Der Auftraggeber muss spätestens bei Ab-schluss des Hauptvertrages von der MaklertätigkeitKenntnis gehabt haben (ungeschriebenes Tatbestands-merkmal; MünchKommBGB/Roth, § 652 Rn. 170)und der Provisionanspruch darf nicht gem. § 654 BGBausgeschlossen sein.

Am Merkmal der Maklerleistung werden zwei Mak-lertypen unterschieden: Der Nachweis- und der Ver-mittlungsmakler. Während ersterer bloß den Nachweisder Gelegenheit zum Abschluss des Hauptvertrageserbringen muss, wird vom Vermittlungsmakler einEinwirken auf den Dritten verlangt (eine gute Über-sicht über alle examensrelevanten Probleme findetsich bei Weishaupt, JuS 2003, 1166).

B. Die Entscheidung

Der Senat führt aus, dass ein Maklervertrag zustandegekommen und auch ein Provisionsanspruch der Kl.entstanden ist. Mit dem Schreiben von 08.07.2008 hatdie Kl. ihr Angebot auf Abschluss eines Maklerver-trages einschließlich des Provisionsbegehrens erneu-ert. Dieses hat die Bekl. zu 2) durch die E-Mail von15.07.2008 innerhalb der Annahmefrist des § 147 IIBGB angenommen. Unschädlich ist, dass zu diesem

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Zeitpunkt die Maklerleistung (der Nachweis zur Gele-genheit des Kaufvertragsabschlusses) bereits erbrachtwar; auf den Zeitpunkt der Maklerlerleistung kommtes nicht an, sofern diese in einem kausalen Zu-sammenhang zum Abschluss des Hauptvertrages steht(vgl. OLG Hamburg, NJW-RR 2003, 487 [488]).

Jedoch ist bloß die Bekl. zu 2) durch ihre Erklärung inder E-Mail vom 15.07.2008 zur Zahlung verpflichtetworden. Eine Mithaftung ihres Ehemannes – des Bekl.zu 1) – über § 1357 BGB scheitert daran, dass der Ab-schluss eines Maklervertrages mit einer Provisionsver-pflichtung von 15.000 i kein Geschäft zur angemes-senen Deckung des Lebensbedarfs darstellt. Ein sol-ches Geschäft ist nur anzunehmen, wenn die Ehegat-ten sich nach ihrem konkreten Lebenszuschnitt nichtvorher darüber verständigen. Das ist bei einer Zah-lungsverpflichtung von 15.000 i ohne weiteres nichtanzunehmen (Palandt/Brudermüller, § 1357 Rn. 1, 12;OLG Düsseldorf, NJW-RR 1996, 1524 [1525]).

Auch eine Haftung des Bekl. zu 1) nach Rechts-scheinsgrundsätzen kam nicht in Betracht. Die für eineDuldungsvollmacht erforderliche Kenntnis des Ehe-mannes vom Handeln seiner Frau konnte ebensowenigfestgestellt werden, wie die für eine Anscheinsvoll-macht erforderliche schuldhafte Verursachung desRechtsscheins.

Mehr Beachtung schenkt der Senat der Frage nacheinem konkludenten Vertragsschluss, der häufig imZusammenhang mit dem Maklervertrag diskutiertwird. Ein konkludenter Vertragsschluss kommt in Be-tracht, wenn der Kaufinteressent in Kenntnis des ein-deutigen Provisionsverlangens die Dienste des Mak-lers in Anspruch nimmt (BGH, NJW-RR 2007, 400[401]). Hier lag jedoch schon kein eindeutiges Provi-sionsverlangen des Maklers vor. Die in der Inter-net-Anzeige genannte „Vermittlungsprovision“ hättenämlich auch auf die Tätigkeit eines Vermittlungs-maklers schließen lassen können. Dieser zeichnet sichdadurch aus, dass er auf die Willensentschließung desanderen Teils einzuwirken versucht (s.o.). Dies ließeaber den Schluss zu, dass eben der andere Teil, alsoder potentielle Vertragspartner zur Zahlung der Provi-sion herangezogen wird. Ein konkludenter Vertrags-schluss kam daher nicht in Betracht.

Vertiefungshinweise:

“ Zur Schlüsselgewalt (§ 1357 BGB): LG Dortmund,NJW-RR 2009, 1286 (deliktische Haftung für Falsch-angaben); OLG Düsseldorf, NZM 2007, 923 (Miet-verhältnis); Huber, Jura 2003, 145 (Grundfragen);Brudermüller, NJW 2004, 2265 (Schlüsselgewalt undTelefonsex); Kindl, JuS 2002, 994 (Klausur)

“ Zum Maklervertrag im Allgemeinen: Weishaupt,JuS 2003, 1166

“ Zum Zustandekommen eines Maklervertrages:BGH, NZM 2009, 869; NJW 2002, 1945; NJW-RR1986, 55

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Leitsatz: Die Verpflichtung zur Zahlung einer Maklerprovi-sion von 15.000 iiii im Zusammenhang mit demKauf eines Einfamilienhauses zählt nicht zu denGeschäften zur Deckung des Lebensbedarfs nach §1357 BGB.

Sachverhalt:Die Klägerin ist Immobilienmaklerin. Sie nimmt dieBeklagten auf Zahlung von Maklerprovision für denNachweis der Gelegenheit zum Abschluss einesGrundstückskaufvertrages in Anspruch. Ab dem 26.Juni 2008 bewarb die Klägerin ein Grundstück im In-ternet, und zwar auf den Plattformen „Immoscout24“und „Immowelt “ sowie auf ihrer Homepage. In demvorgelegten Ausdruck der seinerzeit auf der Homepa-ge befindlichen Objektbeschreibung (Anlage K 1) fin-det sich unter anderem eine Rubrik „ Provision“. Da-rin heißt es: „Vermittlungsprovision 5,95% vomKaufpreis“.Noch im Juni 2008 rief die Beklagte zu 2) bei der Klä-gerin an und bekundete ihr Interesse an dem fraglichenGrundstück. Anschließend fanden mehrere Besichti-gungstermine unter Beteiligung der Parteien statt. DadieBeklagten weiterhin Interesse bekundeten, trafen dieParteien sich am 5. Juli 2008 erneut auf dem Grund-stück. An diesem Tag erklärten die Beklagten, dasGrundstück kaufen zu wollen und baten die Klägerin,alles dafür Notwendige zu veranlassen. Die Klägerinlegte den Beklagten einen Vertragstext vor und bat sie,diesen zu unterzeichnen. In dem Schriftstück war un-ter anderem aufgeführt, dass die Käufer des Grund-stücks der Klägerin eine Provision zu zahlen haben.Die Beklagten weigerten sich, diese Vereinbarung zuunterschreiben. Am Abend des 5. Juli 2008 übermit-telten die Beklagten der Klägerin ein Telefax, in demsie auf den ihnen vorgelegten Vertragstext Bezug nah-men (Anlage K 3). Weiter heißt es in dem Schreiben:„Wir sind selbstverständlich bis heute davon ausge-gangen, dass sie vom Verkäufer der Immobilie beauf-tragt worden sind und im Verkaufsfall auch von die-sem vergütet werden. Etwas anderes haben Sie uns zukeiner Zeit gesagt. […] Zusammenfassend bekräftigenwir noch einmal, dass wir zu einer Maklervereinba-rung und einer Provisionszahlung an Sie nicht bereitsind. Wir bitten Sie auch, künftig von der Erbringung

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von kostenpflichtigen Dienstleistungen jeglicher ArtAbstand zu nehmen - oder die Kosten vorher in Formeines Angebots zu nennen. “ Darauf erwiderte die Klä-gerin mit Schreiben vom 8. Juli 2008 (Anlage K 4),die Beklagten hätten im Falle eines Kaufs der besag-ten Immobilie auch ohne die erbetene schriftlicheÜbereinkunft eine Provision in Höhe von 14.815,50 iinklusive 19% Mehrwertsteuer zu zahlen. Am 15. Juli 2008 sandte die Beklagte zu 2) der Kläge-rin eine E-Mail mit folgendem Inhalt: „Liebe FrauD…, unsere Entscheidung für das Haus im … ist posi-tiv ausgefallen. Unser Notar Herr S… bereitet einenHausvertrag vor und wird ihn in den nächsten Tagenan Herrn W… und uns mailen. Ihre Maklergebührenwerden wir selbstverständlich begleichen. Da lag einMissverständnis vor. Ich freue mich, von Ihnen zuhören.“Schließlich erwarben die Beklagten das in Rede ste-hende Grundstück für 249.000,00 i. Sodann über-sandte die Klägerin den Beklagten mit Datum vom 14.August 2008 eine Rechnung über 14.815,50 i inklusi-ve 19% Mehrwertsteuer und bat darum, den Betrag biszum 25. August 2008 zu überweisen (Anlage K 6).Eine Überweisung blieb jedoch aus.

Aus den Gründen:[25] Die zulässige Berufung hat teilweise Erfolg. DieBeklagte zu 2) ist verpflichtet, der Klägerin eine Mak-lerprovision in Höhe von 14.815,50 i inklusive 19%Umsatzsteuer nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozent-punkten über dem Basiszinssatz seit dem 31. August2008 zu zahlen. Im Übrigen ist die Berufung unbe-gründet.

A. Maklervertrag mit der Bekl. zu 2) zustande gekom-men [26] 1. Entgegen der Auffassung des Landgerichts istzwischen der Klägerin und der Beklagten zu 2) einMaklervertrag im Sinne des § 652 Abs. 1 Satz 1 BGBzu Stande gekommen. Nach dem Vertrag ist die Be-klagte zu 2) verpflichtet, für den Nachweis der Gele-genheit zum Erwerb des Grundstücks … in O… eineProvision in Höhe von 5% des Kaufpreises zuzüglichUmsatzsteuer zu entrichten.

I. Rückgriff auf §§ 780, 781 BGB nicht erforderlich [30] [...] In ihrem Schreiben vom 8. Juli 2008 (AnlageK 4) hat die Klägerin an ihrem zuvor geäußertenStandpunkt festgehalten und hervorgehoben: „ Wennsie die o.a. Immobilie käuflich erwerben, haben sie dieangegebene Provision (Euro 14.815,50 inkl. gesetzl.19% MwSt. -) mit Abschluss des notariellen Kaufver-trages an die Firma E… zu entrichten “. Daraufhin hatdie Beklagte zu 2) in ihrer an die Klägerin gerichtetenE-Mail vom 15. Juli 2008 (Anlage K 5) ausdrücklicherklärt: „Ihre Maklergebühren werden wir selbstver-

ständlich begleichen. Da lag ein Missverständnis vor.“Mit dieser E-Mail ist ein Maklervertrag zu Stande ge-kommen. Eines Rückgriffs auf die vom Landgericht inBetracht gezogenen Vertragstypen - das Schuldver-sprechen (§ 780 BGB) und das Schuldanerkenntnis (§781 BGB) - bedarf es insoweit nicht.

II. Vertragsschluss zwischen der Kl. und der Bekl. zu2) [31] Nachdem die Beklagten ein Provisionsverlangenzunächst - spätestens mit ihrem Telefax vom 5. Juli2008 (Anlage K 3) - abgelehnt hatten, hat die Klägerinihr Angebot mit dem Schreiben vom 8. Juli 2008, indem die Voraussetzungen und die Höhe eines Provi-sionsanspruchs genannt sind (Anlage K 4), erneuert.Als die Beklagte zu 2) darauf am 15. Juli 2008 - alsoeine Woche später - per E-Mail mitteilte, die Makler-gebühren würden selbstverständlich beglichen, wardie Annahmefrist des § 147 Abs. 2 BGB noch nichtverstrichen. Auf ihre Ausführungen vom 8. Juli 2008durfte die Klägerin angesichts der einzurechnendenPostlauf- und Überlegungszeit (vgl. Ellenberger, in:Palandt, BGB, 69. Aufl., § 147, Rn. 6) auch noch übereine Woche hinaus eine Antwort erwarten.

III. Zeitpunkt der Maklerleistung [33] Nachdem die besagte E-Mail am 15. Juli 2008 beider Klägerin eingegangen war, hat diese offenbar kei-ne weiteren Maklerdienste mehr für die Beklagten er-bracht. Wie in der E-Mail ausgeführt, hatte in diesemZeitpunkt bereits ein Notar den Auftrag erhalten, ei-nen Grundstückskaufvertrag zu entwerfen. Die Be-klagten hatten also die von der Klägerin nachgewiese-ne Gelegenheit zum Erwerb einer Immobilie schonwahrgenommen. Gleichwohl ist in einem erst am 15.Juli 2008 geschlossenen Maklervertrag eine hinrei-chende Grundlage für den geltend gemachten Provi-sionsanspruch zu erblicken. Wie in der Rechtspre-chung anerkannt ist, kann sich ein Maklerkunde auchdann noch wirksam zur Zahlung einer Nachweisprovi-sion verpflichten, wenn der Makler den Nachweis be-reits erbracht hat; er kann sogar unabhängig von einerals Maklerleistung zu qualifizierenden Tätigkeit eineProvision versprechen (vgl. BGH, NJW-RR 1991, S.686, 687 m. w. N.; OLG Hamburg, NJW-RR 2003, S.487, 488; ferner Sprau, in: Palandt, BGB, 69. Aufl., §652, Rn. 2 m. w. N.). Der Senat sieht keinen Anlass,von dieser Judikatur abzuweichen.

IV. Bekl. zu 1) nicht Partei des Maklervertrages[34] Parteien des Maklervertrages sind allein die Klä-gerin und die Beklagte zu 2). Der Beklagte zu 1) istdemgegenüber nicht mit verpflichtet worden. Die ge-gen ihn gerichtete Klage hat das Landgericht deshalbim Ergebnis zu Recht abgewiesen.

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1. Keine Mithaftung gem. § 1357 BGB [35] Entgegen der Auffassung der Klägerin kommteine Haftung des Beklagten zu 1) aus § 1357 Abs. 1BGB nicht in Betracht. Zwar waren die Beklagten, wiedem Vortrag der Parteien zu entnehmen ist, bereits2008 verheiratet. Doch setzt eine Mitverpflichtung desEhegatten gemäß § 1357 Abs. 1 BGB ein Geschäft zurangemessenen Deckung des Lebensbedarfs der Fami-lie voraus. Der Anwendungsbereich der Norm ist da-mit auf solche Geschäfte beschränkt, über deren Ab-schluss die Ehegatten sich nach ihrem konkreten Le-benszuschnitt nicht vorher verständigen (vgl. Bruder-müller, in: Palandt, BGB, 69. Aufl., § 1357, Rn. 1, 12m. w. N.).[36] Im vorliegenden Fall ging es um die Zahlung ei-ner Maklerprovision in Höhe von knapp 15.000,00 iim Zusammenhang mit dem Kauf eines Einfamilien-hauses. Über eine derartige Verpflichtung pflegenEheleute sich in der Regel vorher abzustimmen (vgl.dazu auch OLG Düsseldorf, NJW-RR 1996, S.1524,1525).[37] Aus welchem Grund hier eine Ausnahme vorlie-gen sollte, ist weder dargetan noch sonst ersichtlich.Dass die zu erwerbende Immobilie der Familie alsWohnhaus dienen sollte, rechtfertigt nicht denSchluss, dass bei den damit im Zusammenhang stehen-den Rechtsgeschäften generell keine vorherige Ver-ständigung der Ehegatten zu erwarten ist. Wie die vor-liegende Gestaltung zeigt, können derartige Rechts-geschäfte erhebliche finanzielle Verpflichtungen nachsich ziehen.

2. Keine Stellvertretung [39] Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagtezu 1) die Beklagte zu 2) bevollmächtigt hatte, einenMaklervertrag abzuschließen, lassen sich dem Vortragder Parteien nicht entnehmen. Insofern bleibt, was dieAnnahmeerklärung vom 15. Juli 2008 betrifft, höch-stens die Möglichkeit einer Mitverpflichtung unterRechtsscheinsgesichtspunkten, namentlich unter denAspekten der Duldungs- oder Anscheinsvollmacht.Letztlich führen aber auch diese Grundsätze nicht zueiner Haftung des Beklagten zu 1).

a) Keine Duldungsvollmacht [40] Eine Duldungsvollmacht ist gegeben, wenn derVertretene es wissentlich geschehen lässt, dass einanderer für ihn wie ein Vertreter auftritt und der Ge-schäftsgegner dieses Dulden nach Treu und Glaubendahin versteht und auch verstehen darf, dass der alsVertreter Handelnde bevollmächtigt ist (vgl. Ellen-berger, in: Palandt, BGB, 69. Aufl., § 172, Rn. 8 m. w.N.). 41 Ein Rechtsschein in diesem Sinne ist hier zwarzu bejahen. Schon der Wortlaut der E-Mail vom 15.Juli 2008 („ unsere Entscheidung “, „ Maklergebührenwerden wir […] begleichen “) erweckt den Eindruck,

dass die Beklagte zu 2) von ihrem Ehemann ermäch-tigt worden ist, der Klägerin eine Provision zuzusagen.Das gilt umso mehr, als der Beklagte zu 1) zuvor anmehreren Besichtigungsterminen teilgenommen undsich auch selbst in die Auseinandersetzung um eineeventuelle Maklerprovision eingeschaltet hatte.[42 ] Doch liegen keine hinreichenden Anknüpfungs-punkte dafür vor, dass die Beklagte zu 2) die E-Mailvom 15. Juli 2008 mit Wissen des Beklagten zu 1)verfasst hat. Insofern fehlt hier ein notwendiges Ele-ment für den Tatbestand einer Duldungsvollmacht.

b) Keine Anscheinsvollmacht[43] Eine Anscheinsvollmacht ist gegeben, wenn derVertretene das Handeln des Scheinvertreters nichtkennt, er es aber bei pflichtgemäßer Sorgfalt hätte er-kennen und verhindern können und der andere Teilannehmen durfte, der Vertretene dulde und billige dasHandeln des Vertreters (vgl. Ellenberger, in: Palandt,BGB, 69. Aufl., § 172, Rn. 11 m. w. N.). Die damiterforderliche schuldhafte Verursachung des Rechts-scheins lässt sich ebenfalls nicht feststellen. Ob undgegebenenfalls welche Möglichkeiten der Beklagte zu1) hatte, die Erklärung seiner Ehefrau vom 15. Juli2008 zu verhindern, ist nicht erkennbar.[44] Im Ergebnis ist dem Beklagten zu 1) die Willens-erklärung, die seine Ehefrau der Klägerin am 15. Juli2008 per E-Mail übermittelt hat, somit nicht zuzurech-nen.

3. Kein konludenter Vertragsschluss[45] Auch vor dem 15. Juli 2008 ist kein Maklerver-trag zwischen der Klägerin und dem Beklagten zu 1)geschlossen worden. Wie sich aus den bisherigen Dar-legungen ergibt, hat bis zum 15. Juli 2008 keiner derBeklagten eine Willenserklärung abgegeben, mit derdas Angebot auf Abschluss eines Maklervertrages aus-drücklich angenommen worden ist. Ebenso scheidetein konkludenter Vertragsschluss aus.

a) Anforderungen an konkludenten Vertragsschluss[46] Nach der höchstrichterlichen Judikatur erklärt einInteressent, der sich an einen im geschäftlichen Ver-kehr werbenden Makler wendet, damit noch nichtschlüssig seine Bereitschaft zur Zahlung einer Makler-provision für den Fall, dass ein Vertrag über das ange-botene Objekt zu Stande kommt. Der Interessent darfnämlich, soweit ihm Gegenteiliges nicht bekannt ist,davon ausgehen, dass der Makler das Objekt von demVerkäufer an die Hand bekommen hat und deshalb mitder angetragenen Weitergabe von Informationen eineLeistung für den Anbieter erbringen will. Ohne weite-res braucht der Kaufinteressent in einem solchen Fallnicht damit zu rechnen, dass der Makler auch von ihmeine Provision erwartet. Selbst dieBesichtigung des Verkaufsobjekts zusammen mit dem

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Makler reicht bei dieser Sachlage für einen schlüssi-gen Vertragsschluss nicht aus.[47] Anders ist die Situation, wenn der Makler denKaufinteressenten unmissverständlich auf eine vonihm im Erfolgsfall zu zahlende Käuferprovision hinge-wiesen hat. Ein Kaufinteressent, der in Kenntnis deseindeutigen Provisionsverlangens die Dienste desMaklers in Anspruch nimmt, gibt damit grundsätzlichin schlüssiger Weise zu erkennen, dass er den in demProvisionsbegehren liegenden Antrag auf Abschlusseines Maklervertrages annehmen will (vgl. BGH,NJW-RR 2007, 400 [401] m. w. N.).

b) Subsumtion [48] Die danach an einen konkludenten Vertrags-schluss zu stellenden Anforderungen sind hier nichterfüllt.

aa) Nachweis der Gelegenheit [49] Allerdings hat die Klägerin beiden Beklagten dieGelegenheit zum Abschluss eines Kaufvertrags überdas fragliche Grundstück nachgewiesen. Nach derKontaktaufnahme mit der Klägerin haben Besichti-gungen des Objekts stattgefunden, an denen nicht nurdie Beklagte zu 2), sondern mehrfach auch der Be-klagte zu 1) teilgenommen hat. Schließlich haben dieBeklagten die Ihnen nachgewiesene Immobilie erwor-ben.

bb) Kenntnis von bzw. Vorliegen eines eindeutigenProvisionsverlangens[50] Nicht festzustellen ist jedoch, dass die Beklagtendie Maklerdienste der Klägerin in Kenntnis eines ein-deutigen Provisionsverlangens in Anspruch genom-men haben.[52] Ein eindeutiges Provisionsverlangen ergibt sich[...] nicht aus der vorgelegten Anzeige, die das vonden Beklagten erworbene Objekt betrifft und auf derHomepage der Klägerin veröffentlicht war (Anlage K1). Dabei kann offen bleiben, ob die Beklagten über-haupt durch diese Anzeige auf das Objekt und die Klä-gerin aufmerksam geworden sind. Denn das Provi-sionsverlangen in der Anzeige ist nicht hinreichenddeutlich.[53] In Gestaltungen, in denen ein Makler - wie hier -mit einer Anzeige für ein bestimmtes Objekt wirbt,

wird ein darin enthaltenes Provisionsverlangen viel-fach erst dann für hinreichend deutlich gehalten,wenn klar erkennbar ist, dass der Käufer im Erfolgs-fall verpflichtet sein soll, die Provision an den Maklerzu zahlen (vgl. OLG Düsseldorf, NJW-RR 1997, S.368; OLG Hamm, NJW-RR 1995, S. 819, 820; 1999,S. 127 f.; Sprau, in: Palandt, BGB, 69. Aufl., § 652Rn. 4). [...][54] Nach diesem Maßstab ist in der vorliegenden Ge-staltung kein eindeutiges Provisionsverlangen gege-ben. Die in der Veröffentlichung der Klägerin enthal-tene Angabe „Provision: Vermittlungsprovision 5,95%vom Kaufpreis“ lässt selbst im Zusammenhang mitdem übrigen Anzeigentext nicht klar erkennen, dassder Makler im Erfolgsfall berechtigt sein soll, dieCourtage vom Käufer zu verlangen.[55] [...] Selbst wenn man unterstellt, dass die Kläge-rin mit ihrer Anzeige unter den konkreten Umständenein an den Käufer gerichtetes Provisionsverlangenzum Ausdruck gebracht hat, bleibt eine weitere Unge-reimtheit, die ihrem Anspruch entgegensteht. Wie dieKlägerin in ihrer Klageschrift ausdrücklich hervor-gehoben und in der Berufungsbegründung bekräftigthat, nimmt sie die Beklagten auf Zahlung einer Provi-sion für den Nachweis der Gelegenheit zum Abschlusseines Grundstückskaufvertrages in Anspruch. In dervon der Klägerin vorgelegten Anzeige ist jedoch voneiner „ Vermittlungsprovision “ die Rede. Eine Ver-mittlung, die in § 652 Abs. 1 BGB als eigenständigeFallgruppe dem Nachweis gegenübergestellt ist, setztprinzipiell voraus, dass der Makler bewusst und aktivauf die Willensentschließung des Vertragspartners desAuftraggebers einwirkt, um dessen Bereitschaft zumAbschluss des beabsichtigten Hauptvertrages zu för-dern (vgl. BGH, NJW-RR 2009, S. 1282, 1283; Sprau,in: Palandt, BGB, 69. Aufl., § 652, Rn. 27, jeweils m.w. N.). Eine derartige Einwirkung auf die Verkäufer-seite ist hier weder vorgetragen noch sonst erkennbar.Selbst wenn der Beklagte zu 1) sich also konkludentzur Zahlung einer Vermittlungsprovision verpflichtethätte, müsste das Entstehen einer derartigen Provisionverneint werden.[56] Nach alledem ist keine rechtliche Grundlage er-sichtlich, auf die die Klägerin einen Provisions-anspruch gegen den Beklagen zu 1) stützen könnte.

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Standort: ZPO Problem: Isolierte Drittwiderklage

BGH, BESCHLUSS VOM 30.09.2010

XA ARZ 191/10 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

Problemdarstellung:

Die Kl. klagte aus abgetretenem Recht auf Zahlungvon Zahnbehandlungskosten i.H.v. 13.000 i vor demLandgericht Landshut gegen den Bekl., der seinenWohnsitz im Bezirk dieses Landgerichts hat. Die For-derung hatte die Kl. (Zessionarin) durch Abtretung(vom Zedenten) erhalten. Daraufhin erhob der Bekl.gegen den Zedenten, der in Regensburg wohnt, Dritt-widerklage auf Feststellung, dass diesem Ansprücheaus zahnärztlicher Behandlung nicht zustehen. Derdrittwiderbeklagte Zedent rügte die Unzuständigkeitdes Landgerichts Landshut für die Widerklage. DerBekl. hat gem. § 36 I Nr. 3 ZPO beantragt, das Land-gericht Landshut als gemeinsam zuständiges Gerichtfür Klage und Drittwiderklage zu bestimmen. DasOLG München hat die Sache gemäß § 36 Abs. 3 ZPOdem BGH zur Bestimmung des zuständigen Gerichtsvorgelegt.

Prüfungsrelevanz:Auf Anregung des OLG München ändern mit der vor-liegenden Entscheidung gleich zwei Senate des BGHihre Rechtsprechung zur isolierten Drittwiderklage.

Gem. § 33 ZPO kann beim Gericht der Klage eine Wi-derklage erhoben werden, wenn der Gegenanspruchmit dem in der Klage geltend gemachten Anspruchoder mit den gegen ihn vorgebrachten Verteidigungs-mitteln in Zusammenhang steht (sog. Konnexität). Un-geklärt ist immer noch, ob es sich bei § 33 ZPO umeine Regelung der örtlichen Zuständigkeit oder umeine besondere Sachurteilsvoraussetzung handelt(Nachweise bei Musielak, § 33 Rn. 3). Die Relevanzder Frage ist gering: Als Zuständigkeitsregelungkommt im Falle einer nicht-konnexen Widerklage einerügelose Einlassung gem. § 39 ZPO in Frage; alsSachurteilsvoraussetzung bleibt die Möglichkeit derHeilung gem. § 295 ZPO. In der Klausur wird das Pro-blem daher nur selten zur Unzulässigkeit der Wider-klage führen, da die Bearbeitung anderenfalls früh-zeitig beendet wäre. Vorliegend geht der BGH selbst-verständlich von der Prämisse aus, dass es sich umeine Regelung über die örtliche Zuständigkeit handelt.

Neben der Widerklage existiert das Instrument dersog. Drittwiderklage. Eine solche liegt vor, wenn derBekl. und Widerkläger seine Widerklage nicht gegenden Kl., sondern gegen einen bisher am Rechtsstreitnicht beteiligten Dritten erhebt. Die Rechtsprechungerkennt dies als grundsätzlich zulässig an, sofern derbislang unbeteiligte Dritte und der Kläger Streitgenos-

sen i.S.d. §§ 59, 60 ZPO ist (sog. streitgenössische,parteierweiternde Drittwiderklage; BGHZ 40, 185[188]; 131, 76 [79]; NJW 1991, 2838). Sind der ur-sprüngliche Kl. und der Drittwiderbeklagte nicht we-nigstens als Streitgenossen miteinander verbunden,handelt es sich um eine sog. isolierte Drittwiderklage.Diese ist nach Ansicht der Rechtsprechung nur inAusnahmefällen zulässig, z.B. bei einer Drittwider-klage gegen den Zedenten der Klageforderung, wenndie Gegenstände von Klage und Widerklage tatsäch-lich und rechtlich eng miteinander verbunden sind.Ein solcher Fall lag hier vor.

Problematisch war jedoch, dass für Klage und isolierteDrittwiderklage unterschiedliche Gerichtsstände gege-ben waren (LG Landshut für die Klage; LG Regens-burg für die Drittwiderklage). § 33 ZPO, der im Falleeiner Widerklage (nicht einer Drittwiderklage!) hier-für einen gemeinsamen Gerichtsstand schafft, war je-doch nicht anwendbar. Denn ausweislich seines Wort-lauts, greift § 33 ZPO nur bei einer Widerklage gegenden Kläger (vgl. „Bei dem Gericht der Klage“, „mitdem in der Klage geltend gemachten Anspruch“).

Zu Recht entscheidet der Senat jedoch, dass in diesenFällen eine analoge Anwendung des § 33 ZPO ange-zeigt ist. Andernfalls würde die Vorschrift in zahlrei-chen Fällen der ausnahmsweise zulässigen, isoliertenDrittwiderklage leerlaufen. Außerdem sei es für denZedenten zumutbar, sich vor dem Gericht der Klageauf die Verhandlung und Entscheidung zusammenhän-gender Ansprüche einzulassen. Denn ohne die Abtre-tung der Klageforderung hätte der Zedent selbst Klagegegen den Beklagten erheben und mit einer Wider-klage am Gerichtsstand der Klage rechnen müssen.

Interessant für eine mündliche Prüfung wird die Ent-scheidung auch durch das verfahrensrechtliche Vorge-hen: § 36 I Nr. 3 ZPO eröffnet für derartige Streitfälledie Möglichkeit, die Zuständigkeitsfrage vom Gerichtdes nächsthöheren Rechtszugs klären zu lassen. Dashierzu angerufene OLG München hat wiederum vonder Möglichkeit des § 36 III ZPO gebrauch gemachtund die Frage dem BGH vorgelegt.

Vertiefungshinweise:

“ Zur Widerklage im Allgemeinen: Schreiber, Jura2010, 31; Huber, JuS 2010, 1079

“ Zur (isolierten) Drittwiderklage: BGH, NJW 2007,1753; OLG Karslruhe, NJOZ 2004, 1307; Korte, JA2005, 534; Dräger, MDR 2008, 1373

Kursprogramm:

“ Examenskurs: “Die gestohlene Jacke“

“ Examenskurs: “Selbst ist die Frau“

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“ Assessorkurs: “Der undankbare Neffe“

Leitsatz: Die Bestimmung über den besonderen Gerichts-stand der Widerklage ist auf Drittwiderklagen ge-gen den bisher nicht am Verfahren beteiligten Ze-denten der Klageforderung entsprechend an-zuwenden (Abweichung von BGH, 5. April 2001,VII ZR 135/00 = BGHZ 147, 220, 223).

Sachverhalt:Die Klägerin ist ein zahnärztliches Rechenzentrum mitSitz in Stuttgart. Sie macht aus abgetretenem Rechtvor dem Landgericht Landshut gegen den Beklagten,der seinen Wohnsitz im Bezirk dieses Landgerichtshat, einen Zahlungsanspruch in Höhe von 12.999,83Euro aus zahnärztlicher Behandlung in der Praxis desDrittwiderbeklagten (Zedenten) in Regensburg gel-tend. Der Beklagte hat gegen den Zedenten Drittwi-derklage auf Feststellung erhoben, dass diesem An-sprüche aus zahnärztlicher Behandlung nicht zustehen.Der Drittwiderbeklagte hat die Unzuständigkeit desLandgerichts Landshut für die Widerklage gerügt. DerBeklagte hat beantragt, das Landgericht Landshut alsgemeinsam zuständiges Gericht für Klage und Dritt-widerklage zu bestimmen. Der Drittwiderbeklagte hatbeantragt, den Antrag auf Bestimmung des zuständi-gen Gerichts zurückzuweisen. Das OberlandesgerichtMünchen hat die Sache gemäß § 36 Abs. 3 ZPO demBundesgerichtshof zur Bestimmung des zuständigenGerichts vorgelegt.

Aus den Gründen:

A. Zulässigkeit der Vorlage[3] Gemäß § 36 Abs. 3 ZPO hat ein Oberlandesge-richt, das mit der Zuständigkeitsbestimmung befasstist, die Sache dem Bundesgerichtshof vorzulegen,wenn es in einer Rechtsfrage von der Entscheidungeines anderen Oberlandesgerichts oder des Bundes-gerichtshofs abweichen will. Diese Voraussetzungenliegen vor. Nach der bisherigen Rechtsprechung desBundesgerichtshofs begründet § 33 ZPO für den bis-her am Verfahren nicht beteiligten Drittwiderbeklag-ten keinen Gerichtsstand am Gericht der Klage. Da-nach ist das Gericht der Klage für eine Drittwiderkla-ge örtlich nur zuständig, wenn ein allgemeiner oderbesonderer Gerichtsstand bei dem Gericht der Dritt-widerklage besteht, durch rügelose Einlassung begrün-det wird oder das übergeordnete Gericht den Gerichts-stand nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO bestimmt (BGH,Beschluss vom 24. Juni 2008 - X ARZ 69/08,NJW-RR 2008, 1516, 1517 mN; so auch BAG, NZA1997, 1071; anders nur BGH, Beschluss vom 4. März1966 - Ib ARZ 52/66, NJW 1966, 1028). Bei isolierten

Drittwiderklagen kommt eine Gerichtsstandsbestim-mung nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO nach bisherigerRechtsprechung nicht in Betracht, weil es an einergegen mehrere Streitgenossen gerichteten Widerklagefehlt (BGH, Beschluss vom 22. Februar 2000 - X ARZ522/99, NJW 2000, 1871; BGH, Urteil vom 6. Mai1993 - VII ZR 7/93, NJW 1993, 2120). Demgegenüberhält das vorlegende Oberlandesgericht die ent-sprechende Anwendung des § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO beiisolierten Drittwiderklagen gegen den Zedenten fürgeboten (so bereits OLG München, Beschluss vom 31.März 2009 - 31 AR 90/09, NJW 2009, 2609).

B. Begründetheit der Vorlage[4] Der Gerichtsstandsbestimmungsantrag ist unbe-gründet. Für eine Gerichtsstandsbestimmung ist keinRaum, da das Gericht der Klage auch für die Wider-klage zuständig ist. § 33 ZPO ist auf Drittwiderklagengegen den bisher nicht am Verfahren beteiligten Ze-denten der Klageforderung entsprechend anzuwenden.An der abweichenden bisherigen Rechtsprechung desBundesgerichtshofs hält der Senat nicht fest.[5] In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs istdas Institut der parteierweiternden Widerklage aner-kannt.

I. Parteierweiternde Drittwiderklage grundsätzlichzulässig[6] Erhebt der Beklagte eine mit der Klage im recht-lichen Zusammenhang stehende Widerklage sowohlgegen den Kläger als auch gegen einen bisher amRechtsstreit nicht beteiligten Dritten als Streitgenos-sen im Sinne der §§ 59, 60 ZPO, ist diese streitgenös-sische Drittwiderklage unter den Voraussetzungen derals Klageänderung behandelten Parteierweiterung zu-lässig (BGH, Urteil vom 17. Oktober 1963 - II ZR77/61, BGHZ 40, 185, 187 ff.; BGH, Urteil vom 12.Oktober 1995 - VII ZR 209/94, BGHZ 131, 76, 79 f.;BGH, Beschluss vom 28. Februar 1991 - I ARZ711/90, NJW 1991, 2838). Hierdurch sollen die Ver-vielfältigung und Zersplitterung von Prozessen ver-mieden, zusammengehörige Ansprüche einheitlichverhandelt und entschieden werden (BGH, Urteil vom17. Oktober 1963 - II ZR 77/61, BGHZ 40, 185, 188).

II. Isolierte Drittwiderklage nur ausnahmsweise zuläs-sig[7] Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofsist eine Drittwiderklage hingegen grundsätzlich un-zulässig, wenn sie sich ausschließlich gegen einen amProzess bislang nicht beteiligten Dritten richtet (BGH,Urteil vom 8. Dezember 1970 - VI ZR 111/69, NJW1971, 466 f.). Unter Berücksichtigung des prozess-ökonomischen Zwecks der Widerklage, eine Verviel-fältigung und Zersplitterung von Prozessen über eineneinheitlichen Lebenssachverhalt und die damit einher-

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gehende Gefahr sich widersprechender Entscheidun-gen zu vermeiden und eine gemeinsame Verhandlungund Entscheidung über zusammengehörende Ansprü-che zu ermöglichen, hat der Bundesgerichtshof jedochAusnahmen von diesem Grundsatz zugelassen. DieZulässigkeit einer isolierten Drittwiderklage ist in derRechtsprechung des Bundesgerichtshofs unter ande-rem dann bejaht worden, wenn sie gegen den Zeden-ten der Klageforderung gerichtet ist und die Gegen-stände der Klage und der Drittwiderklage tatsächlichund rechtlich eng miteinander verknüpft sind: Die iso-liert gegen den am Prozess bislang nicht beteiligtenZedenten erhobene Drittwiderklage ist auch dann zu-lässig, wenn sich deren Gegenstand mit dem Gegen-stand einer hilfsweise gegenüber der Klage des Zes-sionars zur Aufrechnung gestellten Forderung deckt(BGH, Urteil vom 5. April 2001 - VII ZR 135/00,BGHZ 147, 220, 222 ff.) oder wenn die abgetreteneKlageforderung und die mit der Drittwiderklage gel-tend gemachte Forderung aus einem einheitlichenSchadensereignis resultieren (BGH, Urteil vom 13.März 2007 - VI ZR 129/06, NJW 2007, 1753 f.).Schließlich ist sie auch dann zulässig, wenn mit ihr dieFeststellung begehrt wird, dass dem Zedenten keineAnsprüche zustehen (BGH, Urteil vom 13. Juni 2008 -V ZR 114/07, NJW 2008, 2852, 2854 f.). Ausschlag-gebend ist demnach stets, dass die zu erörternden Ge-genstände der Klage und der Drittwiderklage tatsäch-lich und rechtlich eng miteinander verknüpft sind unddurch die Einbeziehung des Drittwiderbeklagten inden Rechtsstreit dessen schutzwürdige Interessennicht verletzt werden.

III. § 33 ZPO nicht direkt auf Drittwiderklage an-wendbar[8] Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundes-gerichtshofs begründet die den besonderen Gerichts-stand für die Widerklage regelnde Vorschrift des § 33ZPO für den bisher am Verfahren nicht beteiligtenDrittwiderbeklagten keinen Gerichtsstand am Gerichtder Klage; das Gericht der Klage ist danach für eineDrittwiderklage örtlich nur zuständig, wenn ein all-gemeiner oder besonderer Gerichtsstand bei dem Ge-richt der Drittwiderklage besteht, durch rügelose Ein-lassung begründet wird oder das übergeordnete Ge-richt den Gerichtsstand nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPObestimmt (BGH, Beschluss vom 24. Juni 2008 - XARZ 69/08, NJW-RR 2008, 1516, 1517 mN). Auf derGrundlage dieser Rechtsprechung wird die mit derAnerkennung der Drittwiderklage angestrebte Verfah-renskonzentration in den Fällen nicht erreicht, bei de-nen ein allgemeiner oder besonderer Gerichtsstand desDrittwiderbeklagten bei dem Gericht der Klage wederbesteht noch durch rügelose Einlassung begründetwird und eine Gerichtsstandsbestimmung durch dasübergeordnete Gericht nicht möglich ist. Bei einer

streitgenössischen Drittwiderklage kommt eine Ge-richtsstandsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPOnicht in Betracht, sofern die widerbeklagten Streitge-nossen einen anderweitigen gemeinsamen Gerichts-stand haben (BGH, Beschluss vom 22. Februar 2000 -X ARZ 522/99, NJW 2000, 1871, 1872). Der Beklagtehat dann nur die Wahl, auf die Widerklage zu verzich-ten, um beide Streitgenossen in einem weiterenRechtsstreit gemeinsam in Anspruch zu nehmen, odervon der gemeinsamen Klage gegen beide Streitgenos-sen Abstand zu nehmen, um gegen den Kläger mit derWiderklage und in einem weiteren Verfahren gegenden Dritten vorzugehen. Bei einer isolierten Drittwi-derklage ist dem übergeordneten Gericht nach demWortlaut des § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO eine Gerichts-standsbestimmung versagt, weil es an einer gegenmehrere Streitgenossen gerichteten Widerklage fehlt(BGH, Beschluss vom 22. Februar 2000 - X ARZ522/99, NJW 2000, 1871; BGH, Urteil vom 6. Mai1993 - VII ZR 7/93, NJW 1993, 2120). Die Rechtspre-chung, nach der eine isolierte Drittwiderklage aus-nahmsweise zulässig ist, liefe daher in einer Vielzahlvon Fällen leer.

IV. Analoge Anwendbarkeit des § 33 ZPO [12] Die Vorschrift des § 33 ZPO ist aber ent-sprechend auf eine Drittwiderklage anzuwenden, diesich gegen den bisher nicht am Verfahren beteiligtenZedenten der Klageforderung richtet. Der besondereGerichtsstand des § 33 ZPO hat seinen Grund darin,dass bei Bestehen eines Sachzusammenhangs die Ver-fahrenskonzentration gefördert und zugleich ein pro-zessuales Gleichgewicht hergestellt werden sollen(Roth in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., § 33 Rn. 1mwN).[13] Zum einen sollen zusammenhängende Ansprücheeinheitlich verhandelt und entschieden werden, umeine Vervielfältigung und Zersplitterung von Prozes-sen über einen einheitlichen Lebenssachverhalt unddie damit einhergehende Gefahr sich widersprechen-der Entscheidungen zu vermeiden (BGH, Urteil vom17. Oktober 1963 - II ZR 77/61, BGHZ 40, 185, 188).Dieses Bedürfnis besteht auch und gleichermaßen inden Fällen, in denen der Bundesgerichtshof schon bis-her eine Drittwiderklage für zulässig gehalten hat.[14]Zum anderen kann der Beklagte seine Gegenansprü-che in einem laufenden Prozess auch dann geltendmachen, wenn das Gericht bei isolierter Klage dafürörtlich unzuständig wäre. Hierdurch wird zwar derdem Schutz eines Beklagten dienende Grundsatz der§§ 12 ff. ZPO eingeschränkt, wonach eine Klagegrundsätzlich an seinem Wohn- oder Geschäftssitz zuerheben ist. Diese Einschränkung ist aber sachlich da-durch gerechtfertigt, dass der Kläger den Beklagtenvor dem Gericht der Klage angegriffen hat und es fürihn daher zumutbar ist, sich dort auf die Verhandlung

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und Entscheidung zusammenhängender Ansprücheeinzulassen. Ob dieser Grund auch generell die Ge-währung eines besonderen Gerichtsstands für eineDrittwiderklage gegen nur materiell beteiligte Dritteträgt (so OLG Dresden, Beschluss vom 17. April 2002- 1 AR 17/02, OLG NL 2003, 65 ff.; Voll-kommer/Vollkommer, WRP 2000, 1062, 1067; Zöl-ler/Vollkommer, ZPO, 28. Aufl., § 33 Rn. 24), bedarfim vorliegenden Fall keiner Entscheidung. Er recht-fertigt jedenfalls die Gewährung eines besonderenGerichtsstands für eine Drittwiderklage gegen denbisher nicht am Verfahren beteiligten Zedenten derKlageforderung (Zöller/Vollkommer, aaO, § 33 Rn.24). Für den Zedenten einer Klageforderung ist es zu-mutbar, sich vor dem Gericht der Klage auf die Ver-handlung und Entscheidung zusammenhängender An-sprüche einzulassen. Ohne die Abtretung der Klage-forderung hätte der Zedent selbst Klage gegen denBeklagten erheben und mit der Erhebung einer Wider-klage am Gerichtsstand der Klage rechnen müssen.Erst die Abtretung der Klageforderung schafft für denBeklagten einen Anlass, zur umfassenden Entschei-dung aller zusammenhängenden Ansprüche eine Dritt-widerklage gegen den Zedenten zu erheben. Für die-sen ist es daher zumutbar, sich vor dem Gericht derKlage auf die Verhandlung und Entscheidung der da-

mit zusammenhängenden Ansprüche einzulassen.Hierdurch werden lediglich der vorherige Rechtszu-stand und damit das prozessuale Gleichgewicht wiederhergestellt. Dass der Zessionar nach § 35 ZPO einenGerichtsstand gewählt haben mag, der dem Zedentennicht genehm ist, ändert hieran nichts. Mit der Abtre-tung hat der Zedent die Ausübung des Wahlrechtsnach § 35 ZPO durch den Zessionar in Kauf genom-men.

V. Zustimmung des VII. Senats [15] Die Anwendbarkeit des § 33 ZPO auf Drittwider-klagen gegen den bisher nicht am Verfahren beteilig-ten Zedenten der Klageforderung ist bislang vom VII.Zivilsenat des Bundesgerichtshofs verneint worden(BGH, Urteil vom 5. April 2001 - VII ZR 135/00,BGHZ 147, 220, 223; BGH, Urteil vom 6. Mai 1993 -VII ZR 7/93, NJW 1993, 2120). Auf Anfrage hat derVII. Zivilsenat erklärt, er halte an dieser Rechtsauf-fassung nicht mehr fest.

C. Ergebnis[16] Sowohl für die Klage als auch für die Drittwider-klage ist deshalb hier das Landgericht Landshut ört-lich zuständig, ohne dass es zur Herbeiführung derZuständigkeit einer gerichtlichen Entscheidung bedarf.

IMPRESSUM

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Strafrecht

Standort: § 212 StGB Problem: Rechtfertigender Behandlungsabbruch

BGH, BESCHLUSS VOM 10.11.2010

2 STR 320/10 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

Problemdarstellung:Die 82jährige Schwiegermutter des Angeklagten warwegen einer Lungenentzündung in ein künstliches Ko-ma versetzt worden. In einer Patientenverfügung hattesie fünf Jahre zuvor festgelegt, dass sie keine lebens-erhaltenden Maßnahmen wünsche, wenn sie sich ineinem unmittelbaren Sterbeprozess befände. Der An-geklagte hatte von dem genauen Inhalt der Verfügungseiner Schwiegermutter keine Kenntnis und war vonden behandelnden Ärzten darüber informiert worden,dass deren Zustand zwar ernst aber nicht hoffnungslossei. Dennoch bestand er darauf, dass die Geräte, dieseine Schwiegermutter insb. mit dem für sie lebens-wichtigen Adrenalin versorgten, abgeschaltet würden.Als die Ärzte sich mit der Begründung weigerten, diePatientenverfügung müsse jedenfalls erst noch geprüftwerden, schaltete der Angeklagte eigenmächtig dieentsprechenden Maschinen aus. Diese wurden bereitswenige Sekunden später wieder eingeschaltet. DieSchwiegermutter verstarb kurz darauf, wobei nichtgeklärt werden konnte, ob das Abschalten der Gerätedurch den Angeklagten hierfür kausal war.

Das Landgericht Köln hatte den Angeklagten aufgrunddes Abschaltens der Geräte wegen versuchten Tot-schlags, §§ 212 I, 22, 23 I StGB, verurteilt. Die hier-gegen gerichtete Revision des Angeklagten, mit derdieser sich insbesondere darauf berief, sein Verhaltensei als Behandlungsabbruch auf Grundlage des Patien-tenwillens der Schwiegermutter gerechtfertigt, wiesder BGH als unbegründet zurück. Zwar sei es tatsäch-lich möglich, dass ein (versuchter) Totschlag als Be-handlungsabbruch gerechtfertigt sei; die entsprechen-den Voraussetzungen lägen jedoch im vorliegendenFall nicht vor.

Prüfungsrelevanz:Im Rahmen der in beiden Exame immer wieder zuprüfenden Tötungsdelikte ist die Sterbehilfe ein klassi-scherProblembereich. Nachdem gerade erst ein BGH-Urteil (RA 2010, 505 = NJW 2010, 2963) insofern fürAufsehen gesorgt hatte, befasst sich der BGH in dervorliegenden Entscheidung wieder mit der Möglich-keit eines rechtfertigenden Behandlungsabbruchs und

den entsprechenden Voraussetzungen. Insbesonderedeshalb, weil der BGH vorliegend starke Parallelenzwischen zivil- und strafrechtlichen Voraussetzungenzieht und solche themenübergreifenden Überlegungenals besonders anspruchsvoll gelten, ist davon auszu-gehen, dass auch der vorliegende Fall für Examens-aufgaben (Klausuren, Kurzvorträge und Prüfungsge-spräche) verwertet werden wird.

Die verschiedenen denkbaren Konstellationen der sog.Sterbehilfe und ihre rechtliche Behandlung (vgl. hier-zu die Darstellung bei Fischer, Vor §§ 211-216, Rn.32 ff. und Schönke/Schröder-Eser, Vorbem §§ 211 ff.Rn. 21 ff.) stellen ein für den Examenskandidaten nurschwer überschaubares Thema dar. Während teilweiseversucht wird, Fälle der Sterbehilfe bereits im objekti-ven Tatbestand (vgl. LK-Jähnke, Vor § 211 Rn. 15,17) oder über eine Verneinung des Vorsatzes (vgl.Goll, AR 1980, 321) zu lösen, hat sich mittlerweile alsherrschender Ansatz herausgebildet, die Sterbehilfeauf der Ebene der Rechtswidrigkeit einzuordnen. Der -in solchen Fällen nahe liegende - Rückgriff auf denRechtfertigungsgrund der (mutmaßlichen) Einwilli-gung (vgl. § 228 StGB) stellt sich allerdings alsschwierig dar, da dem Tatbestand des § 216 I StGBdie Wertung zu entnehmen ist, dass das Leben keindisponibles Rechtsgut darstellt und somit eine recht-fertigende Einwilligung des Opfers in eine Fremdtö-tung ausscheidet. Aus dieser “Einwilligungssperre”wird teilweise abgeleitet, dass die Tötung eines Men-schen - selbst wenn sie mit dem Willen des Opferserfolgt - nie gerechtfertigt, sondern allenfalls entschul-digt sein könne (Dreier, JZ 2007, 317, 322). Teilweisewird versucht, diese Einwilligungssperre durch einenRückgriff auf § 34 StGB als Rechtfertigungsgrund(vgl. Kutzer, NStZ 1994, 110 ff.; Schreiber, NStZ1986, 337, 340) oder durch eine ein Kombination ver-schiedener Rechtfertigungs- und Entschuldigungs-gründe (vgl. MüKo (StGB)-Schneider, Vor § 211 Rn.90; Dölling, MedR 1987, 7; Leonardy, DRiZ 1986,286) zu umgehen. Der BGH hingegen betont zur Be-gründung der Möglichkeit einer Rechtfertigung durchSterbehilfe - in Übereinstimmung mit einem Großteilder Literatur -, dass innerhalb der durch das GG ge-prägten Werteordnung nicht das Leben das höchsteRechtsgut sei, sondern die Menschenwürde (vgl. Art.1 I GG). Wenn aber das Weiterleben für das Opfermenschenunwürdig sei, dann müsse der - an sich un-

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verzichtbare - Schutz des Lebens u.U. zurücktreten,um dem Opfer einen menschenwürdigen Tod zu er-möglichen. Auch ergebe sich aus der Straflosigkeit derBeihilfe zum Suizid, dass die Mitwirkung am Todeeines Menschen nicht in jedem Falle eine Strafbarkeitnach sich ziehen und deshalb auch im Bereich derSterbehilfe eine Straflosigkeit zumindest denkbar seinmüsse (BGH NJW 1995, 204; Helgerth, JR 1995, 338,339 f.; Vogel, MDR 1995, 337, 338). Um nicht bereitssprachlich in einen Konflikt mit der o.g. Einwil-ligungssperre zu geraten, spricht der BGH in solchenFällen mittlerweile lieber von einem rechtfertigendenBehandlungsabbruch als von einer Einwilligung desPatienten.

In seiner letzten Entscheidung zur Sterbehilfe (RA2010, 505 = NJW 2010, 2963) hat der BGH erstmaligklargestellt, dass ein solcher rechtfertigender Behand-lungsabbruch sowohl bei einer Sterbehilfe durch akti-ves Tun als auch bei einer solchen durch Unterlassenmöglich ist. Zur Begründung dieses Ergebnisses hatteder BGH die neuen Regelungen des Betreuungsrechtsdes BGB, insb. § 1901a BGB, herangezogen, aus de-nen sich ergibt, dass der Betreuer bei der Prüfung, obbestimmte Maßnahmen für den Betreuten anzuordnenoder zu unterlassen sind, maßgeblich den (mutmaßli-chen) Willen des Betreuten berücksichtigen muss.Dieser Wille des Betreuten ist so wichtig, dass er auchfür die Entscheidungen des Vormundschaftsgerichtsverbindlich ist, § 1904 III BGB.

In jener Entscheidung hatte der BGH zwar klar-gestellt, dass diese Regelungen keine unmittelbareWirkung im Strafrecht entfalten, gleichzeitig aber be-tont, dass die entsprechenden zivilrechtlichen Wertun-gen auch dort zu berücksichten seien. Im vorliegendenUrteil führt der BGH diesen Gedanken fort: Damit einTäter sich auf einen rechtfertigenden Behandlungs-abbruch berufen könne, müsse er dasselbe Verfahreneinhalten wie im Zivilrecht, d.h. zunächst müsse derBetreuer oder der gem. § 1901a V BGB Bevollmäch-tigte die Übereinstimmung der Patientenverfügung mitder aktuellen Lebens- und Behandlungssituation desPatienten prüfen, § 1901a I 1, 2 BGB. Weil darüberhinaus die Entscheidung über einen Behandlungsab-bruch gem. § 1901b I BGB zwingend ein Zusammen-wirken von Betreuer bzw. Bevollmächtigtem und Arztvoraussetze, müsse der behandelnde Arzt in eigenerVerantwortung prüfen, welche ärztliche Behandlungim Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognosedes Patienten indiziert ist und dies mit dem Betreuerunter Berücksichtigung des Patientenwillens alsGrundlage für die zu treffende Entscheidung erörtern.

Da der Angeklagte diese Anforderungen nicht einmalansatzweise erfüllt hatte, hatte der BGH eine Recht-fertigung im vorliegenden Fall abgelehnt.

Vertiefungshinweise:“ Zur Sterbehilfe: BGHSt 40, 257; BGH, RA 2010,505 = NJW 2010, 2963; Dreier, JZ 2007, 317; Führ,JURA 2006, 265; Kühl, JURA 2009, 881; Kusch,NJW 2006, 261; Otto, NJW 2006, 2217; Schreiber,NStZ 2006, 473

Kursprogramm:

“ Examenskurs: “Koma”

Leitsatz:Zum rechtfertigenden Behandlungsabbruch aufder Grundlage des Patientenwillens nach denGrundsätzen der Senatsentscheidung vom 25. Juni2010 (2 StR 454/09 - NJW 2010, 2963).

Sachverhalt:Die Schwiegermutter des Angeklagten, die damals82-jährige A.K., wurde am 26. Juni 2009 wegen desVerdachts auf Lungenentzündung und Herzinsuffi-zienz in das H-Hospital in K. eingeliefert. Sowohl beider Aufnahme ins Krankenhaus auf der Normalstationals auch in den beiden darauf folgenden Tagen war siebei Bewusstsein, ansprechbar und mit der Behandlungeinverstanden. Nachdem am 28. Juni 2009 eine Ver-schlechterung ihres Befindens eingetreten war, infor-mierte sie die Zeugin Dr. H darüber, dass sie bei einerweiteren Verschlechterung gegebenenfalls auf die In-tensivstation verlegt werden müsse, was Frau K ruhigund ohne Widerspruch hinnahm. Am Montag, den 29.Juni 2009 wurde Frau K gegen 5.00 Uhr morgens we-gen einer infolge einer durch die Lungenentzündungentstandenen Sepsis auf die Intensivstation des Kran-kenhauses verlegt. Dort wurde sie sediert, ins künst-liche Koma versetzt und an medizinische Geräte an-geschlossen. Sie erhielt u.a. über so genannte Perfuso-ren Adrenalin, Antibiotika, Blutpuffer und Flüssigkeit.Außerdem war sie intubiert und wurde zu 100% mitSauerstoff beatmet. Ohne diese Behandlung, insbeson-dere ohne die kontinuierliche Gabe von Adrenalin,wäre Frau K in einen unmittelbar zum Tode führendenZustand geraten. Sie war nach Einschätzung der be-handelnden Ärzte in einem ernsten Zustand, der zwarzum Tode führen konnte, aber aus medizinischer Sichtnicht hoffnungslos war. Als ihre Tochter, Frau A.B.,telefonisch über den kritischen Zustand ihrer Mutterinformiert wurde, erklärte sie, sie könne nicht selbstkommen, da sie Kinder zu versorgen habe, werde aberihren Ehemann, den Angeklagten, vorbeischicken.Dieser erschien nach Arbeitsschluss am Nachmittagdes 29. Juni 2009 im Krankenhaus und äußerte gegen-über einem Krankenpfleger, der Frau K versorgenwollte, er brauche gar nichts mehr zu machen, weil“gleich sowieso alles abgestellt” werde. Die ZeuginDr. P informierte den Angeklagten, der sich in unge-

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haltener, gereizter und aggressiver Stimmung befand,darüber, dass der Zustand von Frau K ernst, aber nichthoffnungslos sei, zumal sich die Blut-Gas-Werte derPatientin verbessert hatten. Im Verlaufe des Gesprächserwähnte der Angeklagte, dass eine Patientenverfü-gung seiner Schwiegermutter existiere, die zusammenmit dem Testament in einem verschlossenen Um-schlag bei seiner Ehefrau hinterlegt sei. Der Inhaltdieser Patientenverfügung war dem Angeklagten un-bekannt. Der Angeklagte telefonierte mit seiner Ehe-frau, die ihm lediglich mitteilte, dass ihre Mutter keine“lebensverlängernden Maßnahmen” wünsche. Ihm warklar, dass sich dies nicht auf jede medizinische Be-handlung bezog, sondern nur dann gelten sollte, wenndiese aus ärztlicher Sicht keinen Erfolg mehr verspra-chen. Dennoch gab er seiner Ehefrau zu verstehen,dass er die “lebensverlängernden Maßnahmen” selbstbeenden werde, falls die Ärzte hierzu nicht bereit sei-en, worauf diese antwortete, er wisse schon, was ertue.Der Angeklagte beschloss nunmehr, unter Berufungauf die Patientenverfügung, deren Inhalt ihm unbe-kannt war, bei den ungeliebten “Besserwissern” vonÄrzten das Abstellen der medizinischen Geräte zu er-zwingen und, falls dem nicht nachgegeben werdensollte, selbst Hand anzulegen und Perfusoren sowieSauerstoffgerät abzuschalten. Für diesen Entschlusswar sowohl maßgebend, dass er im Krankenhaus nichtunnötig weiter “rumsitzen” und warten wollte, alsauch insgeheim seine Besorgnis, dass eine nach er-folgreichem Krankenhausaufenthalt etwa pflegebe-dürftige Schwiegermutter ihm und seiner Familie zurLast fallen könne, was sie - wie er sich einredete - niegewollt habe.Der Angeklagte forderte die Stationsärztin unter Hin-weis auf die Patientenverfügung mehrfach in aggressi-vem Ton und schließlich ultimativ auf, sofort alle Ge-räte abzustellen. Diese kam dem Verlangen des Ange-klagten nicht nach und verlangte von ihm nach Rück-sprache mit einer Oberärztin die Vorlage der Patien-tenverfügung. Kurz nach 20.00 Uhr ging die Patien-tenverfügung per Fax auf der Intensivstation ein. Dasmit Datum vom 3. Juli 2004 versehene Schriftstückhatte auszugsweise folgenden Wortlaut:

“PatientenverfügungFür den Fall, dass ich nicht mehr in der Lage bin, mei-ne Angelegenheiten selbst zu regeln, verfüge ich:An mir sollen keine lebensverlängernden Maßnahmenvorgenommen werden, wenn festgestellt ist,- dass ich mich im unmittelbaren Sterbeprozess befin-de, bei dem jede lebenserhaltende Maßnahme dasSterben oder Leiden ohne Aussicht auf erfolgreicheBehandlung verlängern würde, oder - dass es zu einem nicht behebbaren Ausfall lebens-wichtiger Funktionen meines Körpers kommt, der zum

Tode führt.Ärztliche Begleitung und Behandlung sowie sorgsamePflege sollen in diesen Fällen auf die Linderung vonSchmerzen, Unruhe und Angst gerichtet sein, selbstwenn durch die notwendige Schmerzbehandlung eineLebensverkürzung nicht auszuschließen ist [...]Maßnahmen aktiver Sterbehilfe lehne ich ab.Ich unterschreibe diese Verfügung nach sorgfältigerÜberlegung und als Ausdruck meines Selbstbestim-mungsrechts. Ich wünsche nicht, dass mir in der aku-ten Situation eine Änderung meines hiermit bekunde-ten Willens unterstellt wird. Sollte ich meine Meinungändern, werde ich dafür sorgen, dass mein geänderterWille zum Ausdruck kommt [...]Für den Fall, dass ich außerstande bin, meinen Willenzu bilden oder zu äußern, benenne ich hiermit als Per-son meines besonderen Vertrauens A.B. geb. K. [...]und erteile ihr hiermit Vollmacht, an meiner Stelle mitder behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arztalle erforderlichen Entscheidungen abzusprechen.Die Vertrauensperson soll meinen Willen einbringenund in meinem Namen Einwendungen vortragen, diedie Ärztin oder Arzt berücksichtigen soll [...]”

Der Angeklagte, der den Text der Patientenverfügungnicht zur Kenntnis genommen hatte, verlangte unterHinweis darauf zu wissen, wann die Geräte endlichabgestellt würden. Die Zeugin Dr. P erwiderte erneut,sie dürfe die Geräte nicht abschalten, weil sie sichsonst wegen Sterbehilfe strafbar mache; außerdemmüsste die gerade erst eingegangene Patientenverfü-gung zunächst geprüft und bewertet werden, zumal diePatientin, obwohl die beiden ersten Tage wach und an-sprechbar, eine solche Verfügung weder erwähnt,noch in ihren Unterlagen mitgeführt habe. Auf dieWeigerung der Zeugin reagierte der Angeklagte mitden Worten: “Gut, dann mach ich das jetzt selbst!”Dann begab er sich zu den Perfusoren und betätigtegegen 20.15 Uhr die Ausschalter der Bedienelementeder Geräte vom oberen beginnend bis zum unteren.Dadurch unterbrach er die Zufuhr von fünf Medika-menten, darunter das für Frau K zur Aufrechterhaltungder Kreislauffunktionen lebenswichtige Adrenalin.Der Angeklagte wollte durch das Abschalten der Per-fusoren und der Sauerstoffzufuhr unter Berufung aufderen angeblichen Willen den alsbaldigen Tod vonFrau K herbeiführen. Er stellte sich vor, dass durchseine Maßnahmen die Sterbephase unumkehrbar ein-treten werde. Das Abschalten der Geräte bewirkte in-nerhalb von Sekunden einen dramatischen Abfall desBlutdrucks und der Herzfrequenz von Frau K. Sodannwollte der Angeklagte das hinter dem Bett stehendeBeatmungsgerät abschalten. Hieran wurde er jedochdurch den Zeugen S, zur Tatzeit Krankenpfleger aufder Intensivstation, gehindert, der sich schützend vordie Sauerstoffpumpe stellte und sich auch durch Dro-

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hungen des Angeklagten, handgreiflich zu werden,nicht beeindrucken ließ. In der Zwischenzeit schaltetedie Zeugin He auf Anweisung der Stationsärztin diePerfusoren, die durch das Eingreifen des Angeklagtenmindestens zehn Sekunden außer Betrieb gewesenwaren und bereits Alarm gegeben hatten, wieder ein.Die Adrenalindosis musste massiv erhöht werden, umdie Blutdruckwerte von Frau K zu stabilisieren. FrauK verstarb um 23.49 Uhr an einem septischen Schockals Folge einer schweren, eitrigen Pneumonie. Daskurzfristige Abschalten der Perfusoren durch den An-geklagten war hingegen nicht nachweisbar todesur-sächlich.

Aus den Gründen:

1. Entscheidung des Landgerichts[1 - 7] Das Landgericht hat den Angeklagten wegenversuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe vonzwei Jahren verurteilt und die Vollstreckung der Stra-fe zur Bewährung ausgesetzt. Die auf die Sachrügegestützte Revision des Angeklagten ist unbegründet.[...]

2. Entscheidung des BGH[8] Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen desLandgerichts tragen die Verurteilung des Angeklagtenwegen versuchten Totschlags (§§ 212, 22, 23 StGB).Der Angeklagte stellte sich vor, dass er durch die Un-terbrechung der Zufuhr lebenserhaltender Medikamen-te und das beabsichtigte Kappen der Sauerstoffzufuhrdie Sterbephase unumkehrbar einleiten würde undwollte dadurch den Tod von Frau K unmittelbar her-beiführen.[9] Eine Tötung auf Verlangen im Sinne von § 216StGB hat das Landgericht zutreffend schon deshalbverneint, weil nach den Feststellungen ein ausdrückli-ches und ernstliches Verlangen im Sinne dieser Vor-schrift nicht vorlag. Vielmehr hatte Frau K in ihrerPatientenverfügung zum Ausdruck gebracht, dass sieaktive Sterbehilfe ablehne, also ärztlich behandeltwerden wolle, solange noch eine Chance auf Gene-sung bestand. Außerdem hat sie zu einem Zeitpunkt,als sie noch ansprechbar war, auf die Nachricht, dasssie bei einer Verschlechterung ihres Gesundheitszu-standes auf die Intensivstation verlegt werden müsse,ruhig und ohne Widerspruch reagiert. Dies hat dasLandgericht rechtlich zutreffend als stillschweigendeEinwilligung zumindest in die Verlegung auf die In-tensivstation und die dort zunächst veranlassten ärzt-lichen Maßnahmen interpretiert.[10] Das Vorgehen des Angeklagten war auch nichtals Behandlungsabbruch auf der Grundlage des Pa-tientenwillens nach den Grundsätzen der Ent-scheidung des Senats vom 25. Juni 2010 gerechtfertigt(2 StR 454/09 - NJW 2010, 2963). Danach ist zwar

Sterbehilfe durch Unterlassen, Begrenzen oder Been-den einer begonnenen medizinischen Behandlung ge-rechtfertigt, wenn dies dem tatsächlichen oder mut-maßlichen Patientenwillen entspricht (vgl. § 1901aBGB) und dazu dient, einem ohne Behandlung zumTode führenden Krankheitsprozess seinen Lauf zulassen. Keine der danach für eine Rechtfertigung derversuchten Tötung erforderlichen Voraussetzungenwar jedoch im vorliegenden Fall gegeben.[11] Der Angeklagte kann sich schon nicht darauf be-rufen, er habe den Willen von Frau K umgesetzt. Diesergibt sich ohne weiteres bereits daraus, dass er nachden rechtsfehlerfreien Feststellungen ihren Willennicht im Einzelnen kannte und auch nicht bereit war,ihn zur Kenntnis zu nehmen. Außerdem lagen die inder Patientenverfügung vorgesehenen Bedingungenfür einen Behandlungsabbruch nicht vor. Aus medizi-nischer Sicht befand sich Frau K weder im unmittelba-ren Sterbeprozess noch war es bei ihr zu einem nichtmehr behebbaren Ausfall lebenswichtiger Funktionendes Körpers gekommen, der zum Tode führt. Dieswusste der Angeklagte. Von den behandelnden Ärztenwar er darüber informiert worden, dass der Zustandvon Frau K zwar ernst, aber nicht hoffnungslos war.Insofern kann der Angeklagte auch nicht geltend ma-chen, er habe sich im Irrtum über den Zustand vonFrau K befunden und sei davon ausgegangen, ihremWillen Geltung zu verschaffen.[12] Im Übrigen weist der Senat darauf hin, dass inFällen, in denen zukünftig ein rechtfertigender Be-handlungsabbruch auf der Grundlage des Patienten-willens nach den Grundsätzen der Senatsentscheidungvom 25. Juni 2010 in Rede steht (2 StR 454/09 - NJW2010, 2963), die Voraussetzungen der §§ 1901a,1901b BGB - eingefügt durch Gesetz vom 29. Juli2009 mit Wirkung vom 1. September 2009 und damitnach dem festgestellten Tatgeschehen - zu beachtensein werden. Diese Vorschriften enthalten verfahrens-rechtliche Absicherungen, die den Beteiligten bei derErmittlung des Patientenwillens und der Entscheidungüber einen Behandlungsabbruch Rechts- und Verhal-tenssicherheit bieten sollen (vgl. Beschlussempfeh-lung des Rechtsausschusses BT-Drucksache 16/13314,S. 3 f. u. 7 f.) und bei der Bestimmung der Grenze ei-ner möglichen Rechtfertigung von kausal lebensbeen-denden Maßnahmen auch für das Strafrecht Wirkungentfalten (vgl. Senat BGH NJW 2010, 2966). Sie die-nen zum einen der Verwirklichung des verfassungs-rechtlich garantierten Selbstbestimmungsrechts vonPatienten, die selbst zu einer Willensäußerung nicht(mehr) in der Lage sind (Senat aaO). Hierin erschöpftsich ihre Funktion jedoch nicht. Vielmehr tragen siezum anderen gleichgewichtig dem von Verfassungswegen gebotenen Schutz des menschlichen LebensRechnung, indem sie die notwendigen strengen Be-weisanforderungen an die Feststellung eines behand-

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lungsbezogenen Patientenwillens verfahrensrechtlichabsichern (vgl. Senat aaO 2967).[13] Unter letzterem Gesichtspunkt ist zunächst si-cherzustellen, dass Patientenverfügungen nicht ihremInhalt zuwider als Vorwand benutzt werden, um ausunlauteren Motiven auf eine Lebensverkürzungschwer erkrankter Patienten hinzuwirken. Darüberhinaus muss in der regelmäßig die Beteiligten emo-tional stark belastenden Situation, in der ein Behand-lungsabbruch in Betracht zu ziehen ist, gewährleistetsein, dass die Entscheidung nicht unter zeitlichemDruck, sondern nur nach sorgfältiger Prüfung der me-dizinischen Grundlagen und des sich gegebenenfallsin einer Patientenverfügung manifestierenden Patien-tenwillens erfolgt. Dass es solcher das Verfahren re-gelnder Vorschriften bedarf, um einen missbräuch-lichen und/oder vorschnellen Abbruch lebenserhalten-der Maßnahmen zu verhindern, macht gerade der vor-liegende Sachverhalt deutlich. Frau K hatte zunächstin die Verlegung auf die Intensivstation und die damitverbundene lebenserhaltende Behandlung konkludenteingewilligt. Die weiter gehenden medizinischen Maß-nahmen und das Versetzen in ein künstliches Komanach der Verschlechterung ihres Gesundheitszustan-des waren erst am Morgen des Tages vorgenommenworden, an dem nach der Vorstellung des Angeklagtenunmittelbar und ohne nähere Prüfung, ob der tatsäch-liche Gesundheitszustand dem in der Patientenverfü-gung vorausgesetzten entsprach, die Entscheidungüber einen Behandlungsabbruch herbeigeführt werdensollte. Der Angeklagte ließ sich dabei nach den Fest-stellungen auch von der Besorgnis leiten, seine nacherfolgreicher Behandlung etwa pflegebedürftigeSchwiegermutter könne ihm finanziell zur Last fallen.[14] Für die Feststellung des Patientenwillens als

Grundlage für den rechtfertigenden Abbruch lebens-erhaltender medizinischer Maßnahmen sehen die §§1901a und 1901b BGB daher grundsätzlich folgendesVerfahren vor: Gemäß § 1901a Abs. 1 Satz 1 und 2BGB ist nur der Betreuer bzw. Bevollmächtigte (§1901a Abs. 5 BGB) befugt, die Übereinstimmung derFestlegungen in der Patientenverfügung mit der aktu-ellen Lebens- und Behandlungssituation des Patientenzu prüfen und auf dieser Grundlage dem Willen desPatienten gegebenenfalls Geltung zu verschaffen. Da-rüber hinaus setzt die Entscheidung über einen Be-handlungsabbruch gemäß § 1901b Abs. 1 BGB zwin-gend ein Zusammenwirken von Betreuer bzw. Bevoll-mächtigtem und Arzt voraus. Danach prüft der behan-delnde Arzt in eigener Verantwortung, welche ärzt-liche Behandlung im Hinblick auf den Gesamtzustandund die Prognose des Patienten indiziert ist und erör-tert dies mit dem Betreuer unter Berücksichtigung desPatientenwillens als Grundlage für die zu treffendeEntscheidung.[15] Auch diese verfahrensrechtlichen Vorgaben wä-ren hier nicht einmal ansatzweise erfüllt. Der Ange-klagte war weder als Betreuer noch als Bevollmächtig-ter zur Ermittlung und gegebenenfalls Durchsetzungdes Patientenwillens befugt. Er war darüber hinausnicht bereit, den Inhalt der Patientenverfügung zurKenntnis zu nehmen und sich mit ihm auseinander-zusetzen. Außerdem verweigerte er jede Zusammen-arbeit mit den zuständigen Ärzten. Vielmehr setzte ersich eigenmächtig und in selbstherrlicher Weise überdie medizinische Einschätzung des Zustandes vonFrau K durch die behandelnden Ärzte hinweg undhandelte bei dem Abschalten der Geräte gegen derenentschiedenen Widerstand. [...]

Standort: § 250 II Nr. 1 StGB Problem: “Neutrale” Gegenstände

BGH, URTEIL VOM 05.08.2010

3 STR 190/10 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

Problemdarstellung:Die Angeklagten K, H und T hatten vereinbart, dasOpfer (einen Freier der als Prostituierten tätigen K)mit einer ungeladenen Schusswaffe zu bedrohen undauszurauben. Deswegen ließ sich K unter einem Vor-wand vom Opfer an einen dunklen Platz fahren, wo Hauf den Rücksitz des Autos stieg und dem Opfer - ent-gegen dem ursprünglichen Plan - ein Kunststoffbandvon hinten um den Hals legte, das dieser jedoch weg-reißen konnte. Da das Opfer jedoch von T verbal ein-geschüchtert wurde, ließ es sich von den AngeklagtenHandy, Armbanduhr und Geldbörse wegnehmen.

Das Landgericht Stade hatte die Angeklagten aufgrunddes von ihnen begangenen Überfalls wegen mittäter-

schaftlichen schweren Raubes gem. §§ 249 I, 250 I Nr.1b, 25 II StGB verurteilt. Die Qualifikation des be-sonders schweren Raubes gem. § 250 II Nr. 1 StGBhatte das LG mit der Begründung abgelehnt, dass essich bei dem Kunststoffband nicht um ein anderes ge-fährliches Werkzeug im Sinne dieser Vorschrift han-dele, da dieses nicht generell gefährlich sei. Auchhätten die Angeklagten das Werkzeug nicht verwen-det, da das Opfer damit nicht gewürgt worden sei. Aufdie Revision der Staatsanwaltschaft und des Ange-klagten T hin hob der BGH dieses Urteil auf. Entge-gen der Auffassung des LG könne auch ein an sichungefährlicher (“neutraler”) Gegenstand ein anderesgefährliches Werkzeug i.S.v. § 250 II Nr. 1 StGB dar-stellen, wenn er bestimmungswidrig in einer Weisegebraucht werde, die geeignet sei, erhebliche Verlet-zungen zuzufügen. Auch setze eine Verwendung i.S.v.

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§ 250 II Nr. 1 StGB nicht voraus, dass mit dem Werk-zeug Gewalt gegen das Opfer angewendet werde. Aus-reichend sei insofern auch eine Verwendung desWerkzeugs im Rahmen einer - ggf. konkludenten -Drohung. Allerdings sei es nicht selbstverständlich,dass K und T hinsichtlich der von H verwirklichtenQualifikation als Mittäter zu bestrafen seien, da dasLG nicht geprüft hatte, ob die Verwendung des Kunst-stoffbandes durch H von dem gemeinsamen Plan derdrei Angeklagten gedeckt war.

Prüfungsrelevanz:Die Tatbestände des 20. Abschnitts (§§ 249 ff. StGB)entwickeln sich in beiden Examen zu einem absoluten“Standardthema” (s. zu den entsprechenden Deliktenauch das Urteil in Fallstruktur in diesem Heft). Hier-bei sind nicht nur “klassische” Probleme wie das Ver-hältnis von Raub, § 249 I StGB, und räuberischer Er-pressung, §§ 253 I, 255 StGB, anzusprechen. Geradeauch die Prüfung der Qualifikationstatbestände des §250 StGB wird häufig in den Mittelpunkt entsprechen-der Sachverhalte gestellt. Da die vorliegende Entschei-dung zusätzlich noch Anlass zur Diskussion des klas-sischen AT-Problems des Mittäterexzesses bietet, eig-net sie sich hervorragend als Grundlage vom Exa-mensaufgaben.

Sehr streitig ist i.R.v. § 250 I Nr. 1a StGB die Frage,unter welchen Voraussetzungen ein Gegenstand ein“anderes gefährliches Werkzeug” darstellt. Dies ent-spricht - wegen des insoweit identischen Wortlauts derTatbestände - dem Streit um die Voraussetzungen des§ 244 I Nr. 1a StGB (vgl. hierzu BGH, RA 2008, 508= NStZ 2008, 512). Das Problem bei der Auslegungder §§ 244 I Nr. 1a, 250 I Nr. 1a StGB besteht darin,dass der Gesetzgeber bei der Neufassung dieser Tat-bestände im Rahmen des 6. StrRG (1998) davon aus-ging, dass hier für die Definition des Begriffs des an-deren gefährlichen Werkzeugs auf die Definition desgleichlautenden Begriffs aus dem Tatbestand der ge-fährlichen Körperverletzung (§ 223a StGB a.F., § 224I Nr. 2 StGB n.F.) zurückgegriffen werden könne (BT-Drucks. 13/9064, S. 18). Ein anderes gefährlichesWerkzeug i.S.v. § 224 I Nr. 2 StGB ist ein Gegen-stand, der nach seiner objektiven Beschaffenheit undder Art seiner Benutzung im konkreten Einzelfall dazugeeignet ist, erhebliche Verletzungen zuzufügen(BGH, NStZ 1999, 616; 2007, 95; Fischer, § 224 Rn.9; Lackner/Kühl, § 224 Rn. 5). Da jedoch die Definiti-on des anderen gefährlichen Werkzeugs i.R.v. § 224 INr. 2 StGB vor allem auf die konkrete Verwendungdes Werkzeugs abstellt und die §§ 244 I Nr. 1a, 250 INr. 1a StGB eine Verwendung des Werkzeugs garnicht voraussetzen (sondern nur ein Beisichführen),lässt sich diese Definition nicht ohne weiteres über-tragen, sodass nunmehr zahlreiche Auffassungen zu

den entsprechenden Voraussetzungen bestehen (vgl.hierzu die Darstellung im Skript StrafR BT I, Rn. 126sowie RA 2008, 508, 511 ff.).

Im Rahmen von § 250 II Nr. 1 StGB stellt sich diesesProblem jedoch nicht. Da hier das gefährliche Werk-zeug tatsächlich verwendet werden muss, kann zurBestimmung der Gefährlichkeit auf die Kriterien des §224 I Nr. 2 StGB zurückgegriffen werden. Dies siehtauch der BGH im vorliegenden Urteil so, in dem er inÜbereinstimmung mit der herrschenden Literatur (vgl.Fischer, § 250 Rn. 21; Wessels/Hillenkamp, BT II,Rn. 345) betont, dass auch ein an sich ungefährlicher(“neutraler”) Gegenstand zu einem gefährlichenWerkzeug i.S.v. § 250 II Nr. 1 StGB werden kann,wenn er bestimmungswidrig in einer Weise verwendetwird, die geeignet ist, erhebliche Verletzungen zuzufü-gen (ebenso bereits BGH, NStZ-RR 1999, 15; NStZ2002, 86).

Allerdings stellt sich i.R.v. § 250 II Nr. 1 StGB weiterdie Frage, welche Anforderungen an ein “Verwenden”zu stellen sind. Nach herrschender Meinung, insb.auch der Rechtsprechung, ist Verwenden i.S.v. § 250II Nr. 1 StGB jeder zweckgerichtete Gebrauch derWaffe oder des Werkzeugs als Nötigungsmittel(BGHSt 26, 176, 180; Fischer, § 250 Rn. 18;Schönke/Schröder-Eser, § 250 Rn. 29; Rengier, BT I,§ 8 Rn. 9). Hierbei ist es unbeachtlich, ob der Täterdas Werkzeug im Rahmen einer Gewaltanwendungoder einer Drohung verwendet (BGH, NStZ-RR 1999,102; NStZ 1999, 301; Schönke/Schröder-Eser, § 250Rn. 29). Beim Verwenden des Werkzeugs im Rahmeneiner Drohung ist zu beachten, dass die Drohung i.R.v.§§ 249 I; 253 I, 255 StGB ausdrücklich oder konklu-dent geäußert werden kann (BGH, NJW 1990, 1055;Fischer, § 249 Rn. 4; § 240 Rn. 31). Das vollendeteVerwenden eines Werkzeugs zur Drohung setzt aller-dings - auch bei einer konkludenten Drohung - voraus,dass das Opfer das Nötigungsmittel als solches er-kennt und die Androhung seines Einsatzes wahrnimmt(BGH, NJW 2004, 3437). Kein Verwenden ist näm-lich das bloße Mitsichführen des Werkzeugs - auchdann nicht, wenn es offen erfolgt (BGH, NStZ-RR1997, 7; 2004, 169; Fischer, § 250 Rn. 18a). Bedientsich der Täter zur Drohung eines objektiv ungefähr-lichen Gegenstandes, so verwendet er ihn dann alsgefährliches Werkzeug, wenn er ankündigt, ihn in ei-ner Weise zu benutzen, die geeignet ist, erheblicheVerletzungen zu verursachen (BGHSt 51, 276, 278;LK-Vogler, § 250 Rn. 32).

Der BGH betont in der vorliegenden Entscheidung,dass es für das Vorliegen der Qualifikation gem. § 250II Nr. 1 StGB nicht darauf ankommt, ob der Angeklag-te H das Opfer tatsächlich mit dem Kunststoffband ge-würgt (das Band also im Rahmen einer Gewaltanwen-dung verwendet) hat. Denn jedenfalls habe das Opfer

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den Einsatz des Bandes als Drohung verstanden, dasser im Falle des Leistens von Widerstand damit ge-würgt würde, sodass zumindest eine Verwendung desBandes im Rahmen einer Drohung vorliege.

Bei einer mittäterschaftlichen Begehung (wie im vor-liegenden Fall) ist es zwar - auch hinsichtlich der Ver-wirklichung von Qualifikationstatbeständen - nichterforderlich, dass jeder Mittäter den Tatbestand selbstverwirklicht, da Handlungen eines Mittäters über § 25II StGB den anderen Mittätern zugerechnet werdenkönnen. Insofern ist jedoch zu berücksichtigen, dassder gemeinsame Tatplan der Mittäter die Grenze dergegenseitigen Zurechnung von Beiträgen darstellt(BGHSt 39, 236; 48, 189; Fischer, § 25 Rn. 17 f.; Al-tenhain, NStZ 2003, 437). Nimmt ein Mittäter Hand-lungen vor, die vom gemeinsamen Tatplan nicht ge-deckt sind, so haften die anderen Mittäter für diesenExzess nicht (BGH, NStZ-RR 2005, 71 f.; 2006, 37;Seher, JuS 2009, 304, 306; vgl auch die Darstellungim Skript StrafR AT II, Rn. 60 ff.).

Die Angeklagten hatten zwar ursprünglich vereinbart,dass das Opfer mit einer ungeladenen Schusswaffebedroht werden sollte. Zu einem gemeinsamen Tat-plan der Angeklagten hinsichtlich der Verwendungdes Plastikbandes hatte das LG jedoch keine Feststel-lungen getroffen, sodass der BGH auch nicht beurtei-len konnte, ob die Verwendung des Plastikbandesdurch H für dessen Mittäter einen Exzess darstellt,und somit zur Durchführung weiterer Feststellungenhinsichtlich des gemeinsamen Tatplans an das LG zu-rückverweisen musste.

Vertiefungshinweise:

“ Zum gefährlichen Werkzeug i.S.v. § 250 II Nr.1StGB bei “neutralen” Gegenständen: BGHSt 48, 365;BGH, NStZ-RR 1999, 15; NStZ 2002, 86; Boetti-cher/Sander, NStZ 1999, 292

“ Zum Verwenden des Werkzeugs i.S.v. § 250 II Nr.1 StGB: BGHSt 26, 176, 180; BGH, JR 1999, 33;NStZ-RR 1997, 7; NStZ-RR 1999, 102; 2004, 169;NStZ 1999, 301; Hörnle, JURA 1998, 174; Küper, JZ1999, 189

“ Zum Mittäterexzess, insb. bei Qualifikationen:BGHSt 39, 236; BGH, NStZ 2001, 143; 2002, 598;2008, 280; RA 2009, 809 = NStZ 2010, 33; Altenhain,NStZ 2003, 437; Seher, JuS 2009, 304

Kursprogramm:“ Examenskurs: “Der Bankräuber”

Leitsätze (der Redaktion):1. Ein gefährliches Werkzeug i.S.v. § 250 II Nr. 1StGB wird nicht nur dann benutzt, wenn der Täterein generell gefährliches Tatmittel einsetzt, son-

dern auch, wenn sich die objektive Gefährlichkeiteines an sich ungefährlichen (neutralen) Gegen-standes erst aus seiner konkreten Verwendung er-gibt, weil diese geeignet ist, erhebliche Verletzun-gen zuzufügen; die Gefährlichkeit kann sich geradedaraus ergeben, dass ein Gegenstand be-stimmungswidrig gebraucht wird.2. Der Begriff des Verwendens umfasst bei § 250 IINr. 1 StGB jeden zweckgerichteten Gebrauch.Nach der Konzeption der Raubdelikte bezieht ersich auf den Einsatz des Nötigungsmittels imGrundtatbestand, so dass das Verwenden immerdann zu bejahen ist, wenn der Täter zur Wegnah-me einer fremden beweglichen Sache eine Waffeoder ein gefährliches Werkzeug gerade als Mittelentweder der Gewalt gegen eine Person oder derDrohung mit gegenwärtiger Gefahr für deren Leiboder Leben gebraucht.3. Das vollendete Verwenden eines Werkzeuges zurDrohung setzt voraus, dass das Opfer das Nöti-gungsmittel als solches erkennt und die Androhungseines Einsatzes wahrnimmt. Bedient sich der Tä-ter zur Drohung eines objektiv ungefährlichen Ge-genstandes, so verwendet er ihn dann als gefähr-liches Werkzeug, wenn er androht, ihn in einerWeise zu benutzen, die geeignet ist, erhebliche Ver-letzungen zu verursachen. Dabei kann die Drohungausdrücklich oder konkludent geäußert werden.

Sachverhalt:Die Angeklagten und ein weiterer, anderweitig ver-folgter Beteiligter entschlossen sich, einem Freier derals Prostituierte tätigen Angeklagten K Geld wegzu-nehmen und diesen dabei mit einer ungeladenen Waf-fe zu bedrohen. Dem gemeinsamen Tatplan entspre-chend veranlasste die Angeklagte K das spätere Tat-opfer, sich mit ihr zu treffen. Unter dem Vorwand, erkönne sie mit seinem Pkw in die Nähe ihrer Wohnungbringen, dirigierte sie den arglosen Zeugen zu einemdunklen Platz, wo die beiden Mitangeklagten und derweitere Tatgenosse warteten. Nachdem das Opfer sei-nen Pkw angehalten hatte, stieg der Angeklagte H ab-sprachegemäß durch eine der hinteren Türen in dasKraftfahrzeug ein, umfasste den Überfallenen mit ei-nem Arm am Hals, hielt ihm mit der anderen Hand dieAugen zu und sagte ihm, er solle ruhig bleiben undseine Arme auf das Lenkrad legen. Sodann legte derAngeklagte H - entgegen der ursprünglichen Planung -ein etwa 60 Zentimeter langes, stabiles Kunststoff-band in der Art eines Schnürsenkels mit einem Holz-anhänger, das er zuvor als Armband getragen hatte,um den Hals des Tatopfers, um dieses zu fixieren undan einer Gegenwehr zu hindern. Dem Überfallenengelang es jedoch, eine Hand unter das Band zu schie-ben und es wegzureißen, sodass es auf der Mittelkon-sole des Pkw zu liegen kam. Nachdem der nunmehr an

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der geöffneten hinteren rechten Autotür stehende An-geklagte T den Zeugen verbal eingeschüchtert hatte,nahm er dessen Mobiltelefon und Jacke an sich, ließsich dessen Armbanduhr aushändigen und nahm demOpfer sodann auch die Geldbörse weg, in der sich un-ter anderem 60,- i Bargeld befanden. Entgegen derErwartung der Täter hatte der Zeuge indes an diesemAbend - anders als am Tag zuvor, als er für die Ange-klagte K wahrnehmbar 33.000,- i mit sich geführthatte - keinen größeren Bargeldbetrag bei sich. Daherließen die Täter nach einer Durchsuchung des Pkwvon ihrem Opfer ab und entfernten sich mit ihrer Beu-te, die zunächst der Angeklagte T an sich nahm. DasMobiltelefon des Opfers verblieb schließlich bei derAngeklagten K. Das weggenommene Geld teilten dieTäter unter sich auf.Dass bei der Tat - wie ursprünglich geplant - eine (un-geladene) Waffe verwendet oder - wie vom Angeklag-ten T nach der Tat behauptet - von diesem ein Messermitgeführt wurde, vermochte die Kammer nicht fest-zustellen.

Aus den Gründen:[1] Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils des“gemeinschaftlichen” schweren Raubes gemäß § 249Abs. 1, § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b, § 25 Abs. 2StGB schuldig gesprochen. Die Angeklagte K hat eszur Jugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monatenverurteilt, gegen die Angeklagten T und H hat es Frei-heitsstrafen von fünf Jahren bzw. drei Jahren undsechs Monaten verhängt.[2] Die zu Ungunsten der Angeklagten eingelegte,vom Generalbundesanwalt vertretene Revision derStaatsanwaltschaft rügt die Verletzung sachlichenRechts. Die Beschwerdeführerin beanstandet insbe-sondere, dass das Landgericht die festgestellte Tatnicht als besonders schweren Raub gemäß § 249 Abs.1, § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB gewürdigt hat. Das Rechts-mittel hat Erfolg und hat hinsichtlich des AngeklagtenT die Aufhebung des Urteils auch zu dessen Gunstenzur Folge (§ 301 StPO).[3] Die Angeklagten wenden sich mit ihren Revisio-nen jeweils mit der Rüge der Verletzung sachlichenRechts gegen das Urteil des Landgerichts, wobei dieAngeklagte K ihr Rechtsmittel wirksam auf die Über-prüfung des Strafausspruchs beschränkt hat. Die Revi-sion des Angeklagten T ist erfolgreich; die Rechtsmit-tel der Angeklagten K und des Angeklagten H sindhingegen unbegründet.

I. Entscheidung des Landerichts[4 - 6] Das Landgericht hat im Wesentlichen folgendeFeststellungen und Wertungen getroffen: [...][7] Das Landgericht hat diese Tat als - gemeinschaft-lich begangenen (§ 25 Abs. 2 StGB) - schweren Raubgemäß § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StGB gewürdigt.

Die Strafkammer ist der Ansicht, dass die Vorausset-zungen des § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB nicht erfüllt sei-en. Ein anderes gefährliches Werkzeug im Sinne die-ser Vorschrift sei nur ein generell und nicht erst durchdie konkrete Art seiner Anwendung gefährlicher Ge-genstand. Diese Voraussetzung erfülle das eingesetzteKunststoffband nicht. Ferner habe der Angeklagte Hdas Werkzeug auch nicht verwendet im Sinne diesesQualifikationstatbestandes. Zwar wäre das Bandgrundsätzlich zum Strangulieren geeignet gewesen. Eshabe aber nicht festgestellt werden können, dass eshierzu auch benutzt worden sei. Der Angeklagte habedem Zeugen das Band lediglich über den Kopf gewor-fen bzw. um den Hals gelegt. Er habe auch nicht damitgedroht, den Zeugen damit zu strangulieren. Dass beider Tat das Kunststoffband und nicht - wie ursprüng-lich geplant - eine ungeladene Waffe verwendet wor-den sei, stelle eine unwesentliche Abweichung destatsächlichen vom geplanten Kausalverlauf dar, densich die Angeklagten K und T zurechnen lassen müss-ten.

II. Revision der Staatsanwaltschaft

1. Zur Verwirklichung der Qualifikation gem. § 250 IINr. 1 StGB[8, 9] Die rechtliche Würdigung des Landgerichts hältauf der Grundlage der Feststellungen der Nachprüfungnicht stand. Zwar ist die Ansicht des Landgerichts,dass es sich bei dem von dem Angeklagten H verwen-deten Band nicht um ein objektiv gefährliches Werk-zeug im Sinne des § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a StGBhandelt, nicht zu beanstanden. Rechtsfehlerhaft istdagegen die Auffassung der Strafkammer, auch derkonkrete Einsatz des Bandes durch den Angeklagten Hkönne nicht als Verwenden eines gefährlichen Werk-zeugs nach § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB gewertet werden.

a) Zu den Voraussetzungen des § 250 II Nr. 1 StGB[10] Ein gefährliches Werkzeug im Sinne dieses Qua-lifikationstatbestandes wird nach der Rechtsprechungdes Bundesgerichtshofs nicht nur dann benutzt, wennder Täter ein generell gefährliches Tatmittel einsetzt,sondern auch, wenn sich die objektive Gefährlichkeiteines an sich ungefährlichen (neutralen) Gegenstandeserst aus seiner konkreten Verwendung ergibt, weildiese geeignet ist, erhebliche Verletzungen zuzufügen;die Gefährlichkeit kann sich gerade daraus ergeben,dass ein Gegenstand bestimmungswidrig gebrauchtwird (vgl. - je mwN - Fischer, StGB, 57. Aufl., § 250Rn. 6 f. und 20 f.; MünchKomm-StGB/Sander, § 250Rn. 60 f.).[11] Der Begriff des Verwendens umfasst jeden zwec-kgerichteten Gebrauch. Nach der Konzeption derRaubdelikte bezieht er sich auf den Einsatz des Nöti-gungsmittels im Grundtatbestand, so dass das Verwen-

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den immer dann zu bejahen ist, wenn der Täter zurWegnahme einer fremden beweglichen Sache eineWaffe oder ein gefährliches Werkzeug gerade als Mit-tel entweder der Gewalt gegen eine Person oder derDrohung mit gegenwärtiger Gefahr für deren Leiboder Leben gebraucht (BGH, Urteil vom 11. Mai 1999- 4 StR 380/98, BGHSt 45, 92, 94 f. mwN; BGH, Ur-teil vom 8. Mai 2008 - 3 StR 102/08, NStZ 2008, 687;Sander, aaO, Rn. 58 ff.). Die Drohung kann ausdrüc-klich oder konkludent geäußert werden (vgl. Fischer,aaO, § 240 Rn. 31 mwN). Das (vollendete) Verwen-den eines Werkzeuges zur Drohung setzt voraus, dassdas Opfer das Nötigungsmittel als solches erkennt unddie Androhung seines Einsatzes wahrnimmt (BGH,Beschluss vom 1. September 2004 - 2 StR 313/04,NJW 2004, 3437). Bedient sich der Täter zur Drohungeines objektiv ungefährlichen Gegenstandes, so ver-wendet er ihn dann als gefährliches Werkzeug, wenner ankündigt, ihn in einer Weise zu benutzen, die ge-eignet ist, erhebliche Verletzungen zu verursachen(vgl. BGH, Urteil vom 4. April 2007 - 2 StR 34/07,BGHSt 51, 276, 278; LK-Vogler, 12. Aufl., § 250 Rn.32).

b) Zum Vorliegen dieser VoraussetzungenDanach kann der Angeklagte H den Tatbestand des §250 Abs. 2 Nr. 1 StGB entgegen der Ansicht desLandgerichts verwirklicht haben. Dabei kann dahins-tehen, ob er dadurch, dass er dem Opfer zu dessen Fi-xierung das - nach den Feststellungen des Land-gerichts zum Strangulieren generell geeignete - Bandvon hinten um den Hals legte, dieses - insbesondereauch wegen erwarteter Abwehr- oder Fluchtreaktionen- zu einer Gewaltausübung nutzte, die geeignet war,erhebliche Verletzungen zu verursachen; denn naheliegend hat er durch sein Verhalten dem Überfallenenobjektiv und subjektiv jedenfalls mit einer konkretgefährlichen Verwendung des Bandes gedroht, näm-lich konkludent damit, dieses am Hals zuzuziehen,falls der Zeuge sich der beabsichtigten Wegnahme-handlung widersetzen sollte. Nach seiner wehrhaftenReaktion hat der Genötigte das Band als Nötigungs-mittel wahrgenommen und dessen Einsatz wohl auchals Drohung mit einer Strangulation verstanden. Ent-gegen der Auffassung des Landgerichts kommt esnicht darauf an, dass der Angeklagte den Zeugen tat-sächlich nicht stranguliert hat. Für die Verwirklichungdes Tatbestandes ist weiter ohne Belang, dass derÜberfallene das Band wegreißen konnte und es imweiteren Fortgang der Tat nicht mehr verwendet wur-de; denn die Qualifikation ist verwirklicht, wenn dasWerkzeug - wie hier - im Zeitraum vom Ansetzen zumVersuch bis zur Beendigung der Tat eingesetzt wird(Fischer, aaO, § 250 Rn. 18 mwN).

2. Aufhebung und Zurückverweisung[13] Diese Rechtsfehler zum Vorteil des AngeklagtenH betreffen auch die Verurteilungen der anderen An-geklagten als Mittäter. Die Sache bedarf daher umfas-send neuer Verhandlung und Entscheidung. Für denFall einer Verurteilung gemäß § 249 Abs. 1, § 250Abs. 2 Nr. 1 StGB wäre auf “besonders schwerenRaub” zu erkennen, da die von § 260 Abs. 4 Satz 1StPO geforderte rechtliche Bezeichnung der Straftatdie Kennzeichnung der jeweils gegebenen Qualifikati-on notwendig macht (vgl. BGH, Urteil vom 18. Febru-ar 2010 - 3 StR 556/09 mwN).

3. Zur Aufhebung bzgl. der Angeklagten K[14] Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisi-on der Staatsanwaltschaft hat keinen Rechtsfehler zumNachteil der Angeklagten K ergeben (§ 301 StPO). Sieführt indes wegen eines den Angeklagten T belasten-den Rechtsfehlers auch zu dessen Gunsten zur Auf-hebung des Urteils (vgl. unten III. 1.).

III. Revisionen der Angeklagten

1. Zur Revision des Angeklagten T[15, 16] Die Revision des Angeklagten T hat Erfolg.Die getroffenen Feststellungen des Landgerichts sindunzureichend und belegen - auch in ihrem Gesamt-zusammenhang - nicht seine Mittäterschaft an dem(gegebenenfalls besonders) schweren Raub des Ange-klagten H. Es fehlen zunächst Feststellungen dazu, auswelchen Gründen es nicht zu dem ursprünglichgeplanten Einsatz einer ungeladenen Waffe kam undob der Angeklagte T Kenntnis davon hatte, dass derAngeklagte H statt dessen das Kunststoffband alsNötigungsmittel einsetzen wollte. Die getroffenenFeststellungen lassen weiterhin offen, ob der hinzutre-tende Angeklagte T das anfängliche - nur kurz andau-ernde - Legen des Bandes um den Hals des Opfersdurch den Angeklagten H gesehen oder sonst wahr-genommen hat; solches versteht sich auch nach densonstigen Umständen der Tat nicht von selbst. DerSenat ist daher nicht in der Lage zu überprüfen, obhinsichtlich des Angeklagten T - wie das Landgerichtannimmt - die Voraussetzungen einer (eventuell suk-zessiven) mittäterschaftlichen Beteiligung an demschweren Raub des Angeklagten H gemäß § 250 Abs.1 Nr. 1 Buchst. b StGB gegeben sind oder die Ver-wendung des Kunststoffbandes einen nicht zurechen-baren Exzess dieses Angeklagten darstellte (vgl. Fi-scher, aaO, § 25 Rn. 20).

2. Zu den Revisionen der Angeklagten K und H[17] Die Rechtsmittel der Angeklagten K und H sindhingegen aus den Gründen der Antragsschriften desGeneralbundesanwalts unbegründet.

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Standort: § 263 I StGB Problem: Täuschung durch “Ping-Anruf”

OLG OLDENBURG, BESCHLUSS VOM 20.08.2010

1 WS 371/10 (JUS 2010, 1119)

Problemdarstellung:

Die Angeschuldigten hatten kostenpflichtige 0137-Nummern angemietet. Sie hatten dann mittels einesComputers zahlreiche Personen anrufen lassen, wobeijeweils nur ein einziges Klingeln erzeugt wurde (sog.“Ping-Anruf”). Die Angerufenen sahen auf dem Dis-play ihres Telefons nur die Nummer des Anrufers,woraufhin zahlreiche von ihnen diese Nummer anrie-fen, um zu erfahren, von wem sie angerufen wordenwaren. Bei der angerufenen Nummer lief jedoch le-diglich eine automatische Ansage mit der Mitteilung“Ihr Anruf wurde gezählt.” Offiziell diente dieseNummer zur Durchführung einer Abstimmung übereine geplante Mehrwertsteuererhöhung. Für den Anrufbei dieser Nummer wurde ein Betrag von 0,98 i ab-gerechnet. Innerhalb einer Woche erwirkten die An-geschuldigten so fast 800.000 Anrufe auf die von ih-nen betriebenen Rufnummern.

Aufgrund dieses Verhaltens hatte die Staatsanwalt-schaft Oldenburg beim Landgericht Oldenburg An-klage erhoben wegen Betruges in einem besondersschweren Fall, §§ 263 I, III 2 Nr. 1, 2 StGB. Das LGhatte die Eröffnung des Hauptverfahrens gem. § 204StPO abgelehnt, da das den Angeschuldigten vorge-worfene Verhalten (das Veranlassen der “Ping-Anru-fe”) keine Täuschungshandlung i.S.v. § 263 I StGBdarstelle und deshalb kein hinreichender Tatverdachtgegen die Angeklagten hinsichtlich der Begehung ei-nes Betruges bestünde. Gegen diesen Beschluss desLG hatte die Staatsanwaltschaft gem. § 210 II StPOsofortige Beschwerde beim OLG Oldenburg eingelegt.Das OLG gab der Beschwerde mit der Maßgabe statt,dass das Verhalten der Angeschuldigten zwar eineTäuschung darstelle und somit einen hinreichendenTatverdacht begründe, aber - da sich nicht feststellenlasse, ob die entsprechenden Telefongebühren tatsäch-lich bei den Anrufern abgebucht worden waren unddadurch bei diesen ein Vermögensschaden eingetretenwar - nur wegen eines versuchten Betrugs. Des Weite-ren sei auch ein hinreichender Tatverdacht bzgl. desVorliegens eines besonders schweren Falles nicht ge-geben.

Prüfungsrelevanz:

Der Betrug, § 263 I StGB, zählt zu den Delikten, diein Examensaufgaben in beiden Examen besondershäufig zu prüfen sind. Insbesondere aufgrund der imRahmen dieses Tatbestandes bestehenden zahlreichenDetailprobleme, deren Kenntnis in der Prüfung als

selbstverständlich vorausgesetzt wird, ist somit beimExamenskandidaten ein umfassendes Wissen zum Be-trug unerlässlich. In der vorliegenden Entscheidungbefasst sich der BGH mit der klassischen Frage, unterwelchen Voraussetzungen eine Täuschung i.S.v. § 263I StGB angenommen werden kann. Die etwas unge-wöhnliche prozessuale Einleitung dieser materiell-rechtlichen Prüfung über eine Beschwerde derStaatsanwaltschaft gegen einen die Eröffnung desHauptverfahrens ablehnenden Beschluss des Tatsa-chengerichts kann auch vom Prüfer - zumindest imzweiten Examen - dazu aufgegriffen werden, in einermündlichen Prüfung weiter führende Fragen hinsicht-lich des Verfahrensgangs und der möglichen Rechts-behelfe der Staatsanwaltschaft zu stellen.

Der Tatbestand des Betruges, § 263 I StGB, setzt alsTathandlung eine Täuschung über Tatsachen voraus.Täuschung in diesem Sinne ist jede intellektuelle Ein-wirkung auf das Vorstellungsbild eines anderen, diegeeignet ist, eine Fehlvorstellung über Tatsachen her-vorzurufen (Fischer, § 263 Rn. 14; Joecks, § 263 Rn.22; Schönke/Schröder-Cramer/Perron, § 263 Rn. 11).Tatsachen sind hierbei alle vergangenen oder gegen-wärtigen Zustände oder Geschehnisse, die dem Be-weis zugänglich sind (Fischer, § 263 Rn. 6;Schönke/Schröder-Cramer/Perron, § 263 Rn. 8). All-gemein anerkannt ist, dass eine Täuschung nicht nurdurch eine ausdrückliche Erklärung erfolgen kann,sondern auch durch eine konkludente Erklärung oderdurch ein garantenpflichtwidriges Unterlassen. Da essich bei einer Täuschung durch konkludente (alsoschlüssige) Erklärung um eine Täuschung durch akti-ves Tun handelt ist hier - anders als bei einer Täu-schung durch Unterlassen - eine Garantenstellung desTäters nicht erforderlich. Ob einem tatsächlichen Ver-halten des Täters ein schlüssiger Erklärungsgehalt bei-zumessen ist, richtet sich nach der Verkehrsanschau-ung (Schönke/Schröder-Cramer/Perron, § 263 Rn.14/15; Rengier, BT I, § 13 Rn. 5).

Das LG hatte einen hinreichenden Tatverdacht bzgl.einer Täuschung der Angerufenen durch die An-geschuldigten abgelehnt, weil es sich auf den Stand-punkt gestellt hatte, dass es sich bei einem “Ping-An-ruf”, durch den lediglich die Rufnummer des Anrufersan das Telefon oder die Telefonanlage des Angerufe-nen übermittelt werde, um einen bedeutungslosenVorgang handele. Dieser enthalte insbesondere keiner-lei tatsächliche Informationen, sodass hierdurch nicht- auch nicht konkludent - über Tatsachen getäuschtwerden könne. Das OLG Oldenburg hingegen geht indem vorliegenden Beschluss davon aus, dass ein ein-gehender Anruf einen Vorgang darstelle, der über dasdamit verbundene Signal hinaus die konkludente Er-

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klärung beinhalte, der Anrufer wolle inhaltlich kom-munizieren. Da die Angeschuldigten aber bei den vonihnen veranlassten Anrufen gar nicht mit den angeru-fenen Personen kommunizieren, sondern diese ledig-lich zu einem kostenpflichtigen Rückruf veranlassenwollten, stelle ihr Verhalten somit eine Täuschungüber das Bestehen eines Kommunikationsbegehrensdar.

Vertiefungshinweise:

“ Zur konkludenten Täuschung i.S.v. § 263 I StGB,insb. durch Telefonanrufe: BGHSt 47, 1; BGH, NStZ2007, 151; Ellbogen/Erfurth, CR 2008, 635; Kasiske,GA 2009, 360

Leitsatz:In automatisiert durchgeführten, nach Herstellungder Verbindung sogleich wieder abgebrochenenTelefonanrufen (sogenannte Ping-Anrufe), die nurdazu dienen, die Angerufenen zu einem kosten-pflichtigen Rückruf zu veranlassen, liegt eine be-trugsrelevante Täuschung der Angerufenen.

Sachverhalt:Am 14. Dezember 2006 stellte der Angeschuldigte Oden Kontakt zu dem Zeugen B her, der für die Firma Itätig war. Diese hatte von [einem] Netzbetreiber 0137-Nummern erhalten. Im Folgenden kam es dann zuVerhandlungen zwischen B und dem AngeschuldigtenT über die Anmietung von 01377-Nummern (0,98 ije Anruf). Schließlich kam es am 22. Dezember zueinem entsprechenden Vertragsschluss zwischen der Iund der Firma M, die durch den vom AngeschuldigtenT dazu veranlassten Zeugen A geführt wurde. Der An-geschuldigte O sorgte mit Hilfe der Firma T für dieEinspeisung der Mobiltelefonnummern auf einemSQL-Datenserver und das Anpingen über einen Teilder ihm zur Verfügung stehenden PMX-Anschlüsse.Der andere Teil der zur Verfügung stehenden An-schlüsse war für den eingehenden Verkehr eingerich-tet. Hierüber wurde ebenfalls ein Vertrag mit der Fir-ma M abgeschlossen.Am 22. Dezember 2006 kam es von diesen Anschlüs-sen aus erstmals zu sogenannten PingAnrufen. Insge-samt erfolgten dann bis zum 28. Dezember 2006 ins-gesamt 786.850 Rückrufe, bei denen die Anrufer je-weils nur die automatisch generierte Mitteilung “IhrAnruf wurde gezählt” erhielten.Die Angeschuldigten T und O erhofften sich aus denvon den Anrufern zu zahlenden Beträgen, die abzüg-lich der Entgelte der jeweiligen Netzbetreiber der Fir-ma M zufließen sollten, eine erheblichen finanziellenVorteil. Zu einer Auszahlung kam es jedoch nicht,weil die Bundesnetzagentur am 28. Dezember 2006bzw. 2. Januar 2007 eine Abschaltung der Nummern

und am 3. Januar 2007 ein Rechnungslegungs- undInkassierungsverbot angeordnet hatte und die Firma Ideshalb eine Auszahlung verweigerte.Die Angeschuldigte R, die um die geplante Ping-Akti-on wusste, sorgte auf Veranlassung des Angeschuldig-ten O für die Platzierung eines Hinweisbanners auf dieAbstimmungsseite auf anderen Webseiten, nachdemder Angeschuldigte T, um gegenüber der Firma I dieAnmietung der Nummern rechtfertigen zu können,durch den Zeugen K [eine] Internetseite hatte einrich-ten lassen, auf der über die gemieteten 0137-Nummernzur Abstimmung über die zum 01. Januar 2007 ge-plante Erhöhung der Mehrwertsteuer aufgefordertwurde, tatsächlich aber eine Abstimmung gar nichtstattfand. Für ihre Bemühungen, die tatsächlich erstam 28. Dezember 2006, aber noch vor Abschaltungder Nummern, zur Einstellung eines Werbebannersführten, erhoffte sich die Angeschuldigte R eine an-gemessene Entlohnung.

Aus den Gründen:

I. Verfahrensgang; Entscheidung des LGDas Landgericht Osnabrück hat mit Beschluss vom26. Mai 2010, auf dessen Inhalt verwiesen wird, diegegen die Angeschuldigten gerichtete Anklage derStaatsanwaltschaft Osnabrück vom 29. Dezember2009 nicht zur Hauptverhandlung zugelassen und dieEröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt.Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde derStaatsanwaltschaft. Gegenstand der Anklage ist der Vorwurf, die Ange-schuldigten T, O und W hätten in der Weihnachtszeit2006 in mindestens 785.000 Fällen durch sogenanntes“Anpingen”, also kurzzeitiges Anwählen, durch dashöchstens ein einmaliges Klingeln verursacht wurde,und Hinterlassen einer Mehrwertdienstenummer alsNummer des Anrufers, Mobiltelefonkunden inDeutschland vorgetäuscht, eine andere Person habeein wichtiges Kommunikationsanliegen, und diese sodazu gebracht, die angezeigte Mehrwertdienstenum-mer anzurufen, wobei diese dort lediglich die für sienutzlose Tonbandansage “Ihr Anruf wurde gezählt”erreicht, für den Anruf aber mindestens 98 Cent zuzahlen gehabt hätten, die nach Abzug der Kosten desNetzbetreibers und für die Miete der Mehrwertdienste-nummern ihnen hätten zufließen sollen. Die An-geschuldigte R habe, nachdem der Angeschuldigte Tzur Tarnung und Verschleierung u.a. gegenüber demNetzbetreiber eine Webseite einrichten ließ, in derzum Zwecke einer Abstimmung über die zum 1. Janu-ar 2007 bevorstehende Mehrwertsteuererhöhung aufdie Mehrwertdienstenummern hingewiesen wurde, inKenntnis des Tatplanes der übrigen Angeschuldigtenin der Erwartung, hierfür entlohnt zu werden, auf an-deren Webseiten Werbebanner mit einem Hinweis auf

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die durch Veranlassung des Angeschuldigten T einge-richtete Webseite platziert.Wegen der Einzelheiten wird auf die Anklageschriftverwiesen.Das Landgericht hat die Eröffnung des Hauptverfah-rens aus tatsächlichen Gründen abgelehnt und ausge-führt, es fehle an einer Täuschungshandlung. Die An-nahme, mit dem Ping-Anruf werde zugleich die Er-klärung übermittelt, der Anrufer habe den Angerufe-nen mit einem aus Sicht des Anrufers sinnvollen Kom-munikationsanliegen angerufen, gehe aus tatsächli-chen Gründen fehl. Der Vorgang des Ping-Anrufes er-schöpfe sich in der kurzzeitigen Verbindungsherstel-lung und des Hinterlassens der aufgeschalteten Ruf-nummer in dem Telefon oder der Telefonanlage desAngerufenen als entgangener oder als nicht angenom-mener Anruf. Ein Anruf ohne Rufnummernübermitt-lung sei ein bedeutungsloser Vorgang, der keinerleiInformation enthalte. Eine Bedeutung könne dem Vor-gang nur unter Heranziehung weiterer, außerhalb desAnrufs liegender Umstände beigelegt werden. Die An-nahme eines Kommunikationsinteresses stelle einewillkürliche Unterstellung dar.Selbst wenn ein solches dem Anruf beigemessen wer-den könne, stelle dieses aus Sicht des Anrufers keineTäuschung vor, weil dieser gerade den Rückruf wolle.Aus Sicht des Angerufenen ließe sich keine nähereinhaltliche Bestimmung zugunsten oder zuungunsteneines sinnvollen Kommunikationsverlangens begrün-den. Der Ping-Anruf unterscheide sich vom äußerenVorgang nicht vom Anruf eines Teilnehmers, der sichverwählt habe, und damit relativ zum Angerufenenkein sinnvolles Kommunikationsverlangen verfolge.Dass ein bestimmter Lebensvorgang - ohne Erklärunggegenüber dem Adressaten - zu einem Irrtum beimAdressaten führe, reiche zur Begründung der Betrugs-strafbarkeit nicht aus.Für diese Ansicht spreche auch die Neuregelung desTKG, wonach es Anrufenden bei Werbung mit einemTelefonanruf untersagt sei, ihre Rufnummer zu unter-drücken. Nach dem Willen des Gesetzgebers erschöp-fe sich die Übermittlung der Telefonnummer in derMöglichkeit der Identifizierung des Anrufers.

II. Entscheidung des OLGDie zulässige sofortige Beschwerde der Staatsanwalt-schaft hat in der Sache den sich aus dem Tenor erge-benden Erfolg.

1. Ergebnis der Prüfung des OLGDie Angeschuldigten T und O sind des versuchtenBetruges, die Angeschuldigte R der Beihilfe zum ver-suchten Betrug hinreichend verdächtig. [...]

2. Hinreichender Tatverdachts bzgl. T, O und REntgegen der Auffassung des Landgerichts erfüllt das

Verhalten, dessen die Angeschuldigten T, O und Rhinreichend verdächtig sind, den Tatbestand des - ver-suchten - gemeinschaftlichen Betruges (T und O) bzw.der Beihilfe dazu (R).

a. Zu den Anforderungen an eine Täuschungshand-lung i.S.v. § 263 I StGBDie nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaftdurch die Angeschuldigten T und O initiierten Ping-Anrufe stellen eine Täuschungshandlung dar.Tathandlung des Betruges ist eine täuschende Erklä-rung über Tatsachen. Das Herstellen einer - wenn auchnur kurzfristigen - Verbindung zur Mobilfunknummerdes Adressaten, stellt eine solche Erklärung dar.Der Einschätzung der Kammer, ein Anruf an sich (oh-ne Rufnummernübermittlung) sei ein bedeutungsloserVorgang, der keinerlei Information enthalte, vermagder Senat nicht zu folgen. Vielmehr stellt ein einge-hender Anruf - nicht anders als etwa ein Läuten an derWohnungstür - einen Vorgang dar, der über das damitverbundene Signal hinaus die konkludente Erklärungbeinhaltet, jemand wolle inhaltlich kommunizieren.Der in einer die Beschwerde gegen die Einstellungs-verfügung der Staatsanwaltschaft Hannover vom 5.Juni 2009 in einem vergleichbaren Fall betreffendenEntscheidung der Generalstaatsanwaltschaft Cellevom 24. August 2009 (2 Zs 1607/09, in AblichtungBd. XXVII Bl. 100) geäußerten Ansicht, ein ernsthaf-tes Kommunikationsverlangen setzte voraus, dass derAnrufer das Telefon mehr als einmal klingeln lasse,vermag der Senat nicht zu folgen. Denn zum einen istfür den Adressaten nicht erkennbar, aus welchemGrunde es bei dem einmaligen Anklingeln gebliebenist. Zum anderen erfolgt die Anzeige der Mehrwert-dienstrufnummer auch dann, wenn der Anruf in Ab-wesenheit des Adressaten eingegangen ist und dieserüberhaupt nicht feststellen kann, wie oft das Telefongeläutet hat (so im Ausgangsfall des Zeugen KOK S,Bd. I Bl. 4).Auch der Hinweis der Strafkammer darauf, dass einPing-Anruf sich vom äußeren Vorgang nicht vom An-ruf eines Teilnehmers unterscheide, der sich verwählthabe, und damit relativ zum Angerufenen kein sinn-volles Kommunikationsverlangen verfolge, geht fehl.Denn aus der Sicht des Angerufenen - wie auch ausSicht des Anrufers - liegt durchaus ein ernsthaftesKommunikationsverlangen zu Grunde. Die Annahmeeiner Täuschung scheitert in einem solchen Fall viel-mehr daran, dass der Anrufende selbst eine solche Er-klärung nicht abgeben wollte (etwa weil er sich ver-wählt hat oder eine unzutreffende Rufnummer gespei-chert hatte).Schließlich lässt sich auch aus der Neuregelung desTKG, wonach es Anrufenden bei Werbung mit einemTelefonanruf untersagt sei, ihre Rufnummer zu unter-drücken, nicht ableiten, dass sich die Übermittlung der

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Telefonnummer in der Möglichkeit der Identifizierungdes Anrufers erschöpfe. Denn abgesehen davon, dassdas Bestehen oder Nichtbestehen eines Erklärungs-inhaltes nicht, wie das Landgericht meint, vom Willendes Gesetzgebers abhängen kann, verfolgt die Neu-regelung des TKG auch eine andere Zielrichtung,nämlich - worauf die Staatsanwaltschaft in ihrer Be-schwerdebegründung zu Recht hingewiesen hat - dasVerbot missbräuchlicher Benutzung von Telekommu-nikationsdiensten durch Unterdrückung der Rufnum-mer des tatsächlichen (Werbe)Anrufers.

b. Zum Vorliegen einer Täuschung durch T und ODie Angeschuldigten T und O sind auch hinreichendverdächtig, über diese Tatsache getäuscht zu haben.Denn durch das Anwählen seiner Rufnummer wirddem Mobilfunkteilnehmer ein nicht vorhandenerKommunikationswunsch, also das über das Herstelleneiner Kommunikationsverbindung hinausgehende In-teresse an einer Gesprächsführung, vorgespiegelt (vgl.Ellbogen/Erfurth, CR 2008, 635).Täuschung ist jedes Verhalten, das objektiv irreführtoder einen Irrtum unterhält und damit auf die Vorstel-lung eines anderen einwirkt. Sie setzt die Einwirkungauf die Vorstellung des Getäuschten voraus, nämlichein Verhalten des Täters, das objektiv geeignet undsubjektiv bestimmt ist, beim Adressaten eine Fehlvor-stellung über tatsächliche Umstände hervorzurufen.Der Einsatz einer inhaltlich richtigen Erklärung, diegeeignet ist, einen Irrtum hervorzurufen, wird dannzur Täuschung, wenn dieses Verhalten planmäßig er-folgt und damit unter dem Anschein äußerlich ver-kehrsgerechten Verhaltens gezielt die Schädigung desAdressaten verfolgt wird. Für die Annahme einer ob-jektiven Täuschung kommt es auf die auf Seiten desErklärungsadressaten zu erwartende - typisierte -Sorgfaltspflicht an. Eine Täuschung liegt deshalb auchvor, wenn die Adressaten auf Grund der typischerwei-se durch die Situation bedingten mangelnden Auf-merksamkeit irren und dieses nach dem vom Täterverfolgten Tatplan auch sollen (BGH, Urteile v.26.04.2001, 4 StR 439/00, BGHSt 47, 1, sowie v.04.12.2003, 5 StR 308/03, NStZ-RR 2004, 110). Ebendieses ist vorliegend der Fall. Der Angeschuldigte That dieses sogar ausdrücklich zum Ausdruck gebracht,indem er gegenüber dem Zeugen A erklärt hat, es gebePhasen im Jahr, in denen die Leute bereit seien, aufBotschaften zu reagieren, nämlich (wie vorliegend) zuWeihnachten oder zum Jahreswechsel (Bd. IX Bl. 8).

c. Zum Tatentschluss von T und O bzgl. der übrigenTatbestandsmerkmaleDurch die Täuschung sollten die jeweiligen Inhaberder Mobilfunkanschlüsse zu einem entsprechendenIrrtum und auf Grund dessen zu einer schädigendenVermögensverfügung veranlasst werden. Denn der

von den Angeschuldigten beabsichtigte Rückruf überdie 0137er Nummern hätte (ohne Berücksichtigungder Entgelte des eigenen Mobilfunkbetreibers) jeden-falls Kosten in Höhe von 0,98 i verursacht. Dass die-sem Vermögensabfluss durch die dadurch bewirkteautomatische Ansage 'Ihr Anruf wurde gezählt' eingleichwertiges Äquvalent nicht gegenüberstand, liegtauf der Hand. Da nach der Vorstellung der Angeschul-digten T und O ihnen eben der von den Anrufern zuzahlende Betrag abzüglich der Entgelte der jeweiligenNetzbetreiber zufließen sollte, ist der durch sie er-strebte Vorteil auch unmittelbare Folge der Vermö-gensverfügung und damit insoweit stoffgleich. Demsteht nicht entgegen, dass - auch nach der Vorstellungder Angeschuldigten - möglicherweise einzelne Ange-rufene die Täuschung durchschauen und - etwa ausNeugier - gleichwohl den kostenpflichtigen sinnlosenRückruf tätigen würden.Im Hinblick darauf, dass die Angeschuldigten davonausgingen, dass jedenfalls der Großteil der angerufe-nen Teilnehmer im Vertrauen auf ein ernsthaftesKommunikationsinteresse die angezeigte Rufnummerwählen und die damit für sie verbundenen Kosten ver-anlassen würden, liegt der durch die Angeschuldigtenerstrebte Vermögensvorteil mindestens im fünfstel-ligen Eurobereich und wird gegebenenfalls durch dieStrafkammer zu schätzen sein.

d. Zum Fehlen eines vollendeten BetrugsAllerdings lässt sich nach den bisherigen Ermittlungennicht hinreichend sicher feststellen, wie oft und beiwelchen Angerufenen es auf Grund täuschungsbeding-ter Vermögensverfügungen auch zu einem Schadender Angerufenen gekommen ist. Denn die Bundesnetz-agentur hatte bereits am 28. Dezember 2006 bzw. 2.Januar 2007 eine Abschaltung der Nummern angeord-net (Bd. XXV 82, 88) und am 3. Januar 2007 einRechnungslegungs- und Inkassierungsverbot an allepotentiellen Netzbetreiber erlassen (Bd. XXVI Bl. 44),auf Grund dessen beispielsweise die Firma A - alsTeilnehmernetzbetreiberin - von einer Rechnungsstel-lung Abstand nahm (vgl. Bd XV, Bl. 184).Zwar ist es jedenfalls in ca. 100 der in den Fallaktendokumentierten Fällen zu einer Belastung der An-schlussteilnehmer gekommen (vgl. Bd. XXII Bl. 219).Darüber hinaus kam es auch in weiteren Fällen zuRückzahlungen durch die Teilnehmernetzbetreiber aufGrund von Kundenbeschwerden, wobei eine konkreteZuordnung zu bestimmten Kunden nicht mehr erfol-gen konnte (vgl. z.B. Mitteilung der Dt. Telekom v.08.10.2009, Bd. XXVII Bl. 1).Indes steht - was Voraussetzung für die Annahme ei-nes vollendeten Betruges wäre (vgl. BGH, Urteil v.15.08.2002, 3 StR 11/02, NJW 2002, 3415) - nichtausreichend fest, dass es gerade in diesen Fällen tat-sächlich zu täuschungsbedingten Rückrufen seitens

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des Anschlussinhabers oder eines sonstigen Berechtig-ten gekommen ist. In den - nicht vollends auszuschlie-ßenden - Einzelfällen, in denen entgegen der Täu-schungsabsicht die Anschlussinhaber die angegebeneRufnummer gewählt haben, obwohl sie erkannten,dass dem ein ernsthaftes Kommunikationsverlangennicht zu Grunde lag, fehlte es jedenfalls an derTäuschungsbedingheit der Verfügung.Der Senat schließt aus, dass dahingehende Ermittlun-gen annähernd 4 Jahre nach den vorgeworfenen Tatennoch erfolgversprechend wären, zumal in den Fällen,in denen es zu Rückzahlungen auf Grund von Kunden-beschwerden gekommen ist, nach Ermittlung des be-troffenen Anschlusses aller Voraussicht nach nichteinmal feststehen würde, wer den die Gesprächskostenauslösenden Anruf getätigt hat.

e. Zum Fehlen eines besonders schweren Falles Da mithin den Angeschuldigten T und O ein vollende-ter Betrug nicht zur Last gelegt werden kann, kommtdie Anwendung des § 263 Abs. 3 Nr. 2, 1. Alt. StGBnicht in Betracht. Denn die Voraussetzungen des Re-gelbeispieles des Herbeiführens eines Vermögensver-lustes großen Ausmaßes sind beim Versuch des Betru-ges nicht erfüllt (BGH, NStZ-RR 2009, 206).Auch hinsichtlich des Regelbeispiels der Gewerbs-mäßigkeit (§ 263 Abs. 3 Nr. 1, 1. Alt. StGB) bestehtkein hinreichender Tatverdacht. Die Angeschuldigtensind jeweils eines (versuchten) Betruges verdächtig.Zwar kann auch bereits bei Begehung einer Tat imRechtssinne gewerbsmäßig gehandelt werden, wenndabei künftige Einnahmen beabsichtigt werden. DieAnnahme von Gewerbsmäßigkeit setzt nicht voraus,dass zur Gewinnerzielung mehrere rechtlich selbstän-dige Einzeltaten gleicher Art verwirklicht werden sol-len. Im Fall eines sog. unechten Organisationsdeliktesreicht es vielmehr aus, wenn eine Mehrzahl tatsächlichjeweils selbständiger Handlungen begangen wird,auch wenn diese konkurrenzrechtlich als eine Tat an-zusehen sind (vgl. BGH, Urteil v. 17.06.2004, 3 StR344/03, NStZRR 2006, 106). Vorliegend sind die An-geschuldigten jedoch - anders als die durch eine Viel-zahl von strafbaren Einzelakten tätig gewordenen Be-schuldigten in dem der Senatsentscheidung vom 14.Februar 2006 (1 Ws 33/06, NStZ 2006, 467) zu Grun-de liegenden Fall - nur zu Beginn der “Ping-Aktion”einmalig tätig geworden. Die Anwahl zahlreicher Mo-bilfunkteilnehmer erfolgte selbstständig auf Grund desin Gang gesetzten Verfahrens. Dass seitens der An-geschuldigten darüber hinaus die Begehung weiterergleichartiger Taten beabsichtigt wurde, lässt sich nichthinreichend sicher feststellen.Da eine fortgesetzte Begehung nicht angenommenwerden kann, kommt schließlich auch der Versuch des

Regelbeispiels des § 263 Abs. 3 Nr. 2, 2 Alt. StGBnicht in Betracht.

III. Fehlen eines hinreichenden Tatverdachts bzgl. WBezüglich des Angeschuldigten W hat das Landgerichtdie Eröffnung des Hauptverfahrens im Ergebnis zuRecht abgelehnt.Ein hinreichender Tatverdacht gegen den Angeschul-digten W besteht nicht. Zwar war der Angeschuldigtenach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft an frü-heren Werbeaktionen beteiligt. Auch war er auf eini-gen E-Mails der Angeschuldigten R als Empfängeraufgeführt (vgl. Bd. VIII, Bl. 98, 100, 104, 108, 110).Diese Umstände vermögen zwar einen Anfangsver-dacht zu begründen. Sie sind aber nicht geeignet, eineVerurteilung wegen täterschaftlicher Beteiligung odereiner Beteiligung als sonstiger Teilnehmer hinrei-chend wahrscheinlich erscheinen lassen. Ein konkreterTatbeitrag wird dem Angeschuldigten W anders alsden Angeschuldigten T, O und R in der Anklage nichtvorgeworfen. Allein der Umstand, dass er aus voran-gegangenen ähnlichen Aktionen über das für die Tat-begehung erforderliche Wissen verfügte und mit denAngeschuldigten bekannt war, begründet eine Tatbe-teiligung nicht. Auch die Tatsache, dass er Empfängerder von der Angeschuldigten R versandten E-Mailsbezüglich ihrer Bemühungen um die Bewerbung derWebseite war, führt nicht zur Annahme eines hinrei-chenden Tatverdachts. Nach den Ermittlungen ist dieAngeschuldigte R auch nicht durch ihn, sondern durchden Angeschuldigten O zum Tätigwerden veranlasstworden.

IV. Zum Unterbleiben der Eröffnung vor einer ande-ren Kammer gem. § 210 III 1 StPODie Eröffnung des Hauptverfahrens vor einer anderenKammer gemäß § 210 Abs. 3 Satz 1 StPO ist nichtveranlasst. Eine solche Entscheidung soll nur dannerfolgen, wenn zu erwarten ist, dass sich die Kammerdie Auffassung des Beschwerdegerichts innerlichnicht voll zu eigen machen kann (vgl. MeyerGoßner,StPO, 53. Aufl., § 210 Rz. 10). Derartige Bedenkenhat der Senat indes nicht. Denn die 10. große Straf-kammer hat in der ablehnenden Beschwerdeentschei-dung vom 22. Oktober 2007 (Bd. XV Bl. 10) betref-fend den Durchsuchungsbeschluss des AmtsgerichtsOsnabrück vom 15. Juni 2007 (Bd. X Bl. 28) bei imHinblick auf die Frage der Täuschungshandlung imVergleich zum jetzigen Zeitpunkt unveränderten Um-ständen selbst das Vorliegen eines Tatverdachts be-jaht. Der Senat hat deshalb keinen Zweifel daran, dassdie Kammer unter Berücksichtigung der dargelegtenErwägungen zu seiner ursprünglichen Auffassung zu-rückzukehren in der Lage ist. [...]

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Urteile in Fallstruktur

Standort: Öffentliches Recht Problem: Nachbarrechtschutz im Gaststättenrecht

VG HALLE, URTEIL VOM 23.04.2010

4 A 6/10 (NVWZ-RR 2010, 974)

Problemdarstellung:

Im vorliegenden Fall wehrte sich eine Anwohneringegen die alljährliche gaststättenrechtliche Gestattungeines gewerblichen Maifestes auf dem Nachbargrund-stück durch die beklagte Stadt. Durch die Gäste würdeunzumutbarer Lärm verursacht und die Nachbarn hät-ten mit einer Reihe weiterer Belästigungen (Verkehr,Müll usw.) zu kämpfen, so die Klägerin. RechtlicherHintergrund war folgender:

A. Nach § 12 I GastG können “aus besonderem An-lass” erlaubnisbedürftige gaststättenrechtliche Tätig-keiten vorübergehend gestattet werden. Das VG Hallestufte die Feste zum 1. Mai als derartige Veranstaltun-gen ein.

B. Im konkreten Fall stellte sich die Frage, welcheAbwehrrechte Nachbarn gegen die Gestattung solcherVeranstaltungen haben. Das Gericht meint, “schädli-che Umwelteinwirkungen” i.S.d. §§ 4 I Nr. 3 GastGi.V.m. 3 BImSchG vermittelten Drittschutz. In der Taterwähnt § 3 BImschG auch die “Nachbarschaft”.Demgegenüber seien “sonstige Belästigungen der All-gemeinheit” i.S.d. § 4 I Nr. 3 GastG nicht drittschüt-zend. Auch dies erscheint zutreffend, soll durch dasPopularklageverbot doch gerade verhindert werden,dass Einzelne sich zum Hüter der Allgemeinheit auf-schwingen. Im Ergebnis konnte sich die Kl. daher ge-gen den Lärm als “schädliche Umwelteinwirkung”,nicht aber gegen die sonstigen Belästigungen wie Mülloder Verkehr wehren.

C. Wie das VG weiter ausführt, hat die Behörde beiGestattungen nach § 12 I GastG durch geeignete Auf-lagen nach § 12 III GastG sicherzustellen, dass dieNachbarrechte geschützt werden. Im vorliegenden Fallwar eine solche Lärmschutzauflage zwar ergangen,diese war jedoch zu unbestimmt und floskelhaft (siewiederholte nur den Gesetzeswortlaut, statt z.B.Grenzwerte vorzugeben) und daher rechtswidrig.

D. Prozessual interessant war, dass die Kl. nicht nureine bereits erteilte, durch Zeitablauf erledigte Gestat-tung angriff, sondern der Behörde für die Zukunft jeg-liche weitere Gestattung gerichtlich untersagen lassenwollte. Das VG bejaht in diesem Fall die Zulässigkeiteiner “vorbeugenden Unterlassungsklage”, wobei es

zutreffend erkennt, dass diese nur in besonderen Aus-nahmefällen zulässig sein kann, da der gesamteRechtsschutz der VwGO ansonsten repressiv ausge-staltet ist. Nur wenn repressiver Rechtsschutz als un-effektiv ausscheidet, kommt die Zulassung des in derVwGO ungeregelten vorbeugenden Rechtsschutzes inBetracht. Weniger überzeugend war allerdings die Be-jahung einer solchen Situation im vorliegenden Fall(siehe dazu die nachstehende Lösung).

Prüfungsrelevanz:Dieser Fall eignet sich besonders gut für Klausuren,weil er eine nachbarrechtliche Streitigkeit einmal au-ßerhalb des sonst gängigen Baunachbarrechts zumInhalt hat. Die im Nachbarrechtsstreit geltendenGrundsätze, namentlich die Beschränkung des Prü-fungsmaßstabs auf drittschützende Normen, geltenaber hier wie dort.

Hinzu kommt, dass der Fall gleich mit zwei hochinter-essanten prozessualen Problemen gespickt ist, nämlichder Fortsetzungsfeststellungsklage in analoger Anwen-dung des § 113 I 4 vwGO bei Erledigung des Verwal-tungsakts vor Klageerhebung, und der Zulässigkeitvorbeugenden Rechtsschutzes.

Vertiefungshinweise:“ Nachbarrechtsschutz gegen Gaststättenkonzession:VGH Kassel, NVwZ-RR 1997, 159

“ Zum Widerruf einer Gaststättenerlaubnis: BVerwG,NVwZ 2003, 603; VG Gießen, NVwZ-RR 2005, 245;BayVGH, NVwZ-RR 2005, 32; OVG Lüneburg, RA2005, 641 = NVwZ-RR 2005, 712; OVG Koblenz, RA2005, 642 = NVwZ-RR 2005, 713

“ Schließung eines erlaubnispflichtigen Gewerbes:VG Gießen, RA 1999, 371 = NJW 1999, 1800

“ Vorbeugender Rechtsschutz gegen zu erlassendenVA: VG Gießen, RA 2004, 242 = NVwZ-RR 2004,177

Kursprogramm:“ Examenskurs : “Ausgespielt”

“ Examenskurs : “Stuckateurgewerbe”

Leitsätze:1. Für eine Fortsetzungsfeststellungsklage des

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Nachbarn gegen eine durch Zeitablauf erledigteGestattung gemäß § 12 GastG besteht regelmäßigein berechtigtes Interesse wegen Wiederholungs-gefahr, wenn zu erwarten ist, dass in Zukunft einvergleichbarer Sachverhalt wieder zur Entschei-dung anstehen wird. Etwas anderes gilt nur dann,wenn die zuständige Behörde eine wesentliche Än-derung der Verwaltungspraxis hinsichtlich der Be-scheidgestaltung vorgenommen hat.2. Die „erleichterten Voraussetzungen“ im Sinnedes § 12 Abs. 1 GastG beziehen sich auf den Schutzvor schädlichen Umwelteinwirkungen im Sinne des§ 4 Abs. 1 Nr. 3 GastG, so dass bei besonderem An-lass und nur vorübergehendem Betrieb die bei derErteilung der Erlaubnis zu beachtenden Vorschrif-ten weniger streng zu handhaben sind als bei einemDauerbetrieb. Bei der Bestimmung der Erheblich-keits- bzw. Zumutbarkeitsschwelle sind daher dieSeltenheit des Anlasses und seine Besonderheit zuberücksichtigen.3. Bei sehr seltenen Ereignissen können selbst Lär-mimmissionen, die die Richtwerte der Frei-zeitlärm-Richtline überschreiten, ausnahmsweisenoch unwesentlich sein.4. Eine gaststättenrechtliche Gestattung ist rechts-widrig, soweit die beigefügten Auflagen nicht ge-eignet sind, die auf den Nachbarn einwirkendenLärmbeeinträchtigungen auf ein zumutbares Maßzu begrenzen.5. Die Beifügung von Lärmschutzauflagen zu einergaststättenrechtlichen Gestattung ist erforderlich,soweit die nicht ganz entfernte Möglichkeit besteht,dass die unter Nr. 4.4 der Lärmschutz-Richtliniefür seltene Störereignisse geregelten Immissions-richtwerte überschritten werden. In derartigenFällen ist für seltene Ereignisse ein Maximalpegelvorzusehen, dessen Überschreitung mit einerWohnnutzung generell unverträglich ist.6. Einer Auflage fehlt die erforderliche Bestimmt-heit, wenn diese nur die gesetzlichen Vorausset-zungen wiederholt, unter denen sie ergehen kann,ohne ihr Vorliegen im konkreten Fall festzustellenund ohne die Grenzen zwischen dem im EinzelfallUntersagten und dem weiterhin Erlaubten festzu-stellen.7. Eine vorbeugende Unterlassungsklage zur Ver-hinderung zukünftiger Verwaltungsakte ist zuläs-sig, wenn die für Gaststätten mit Musikdarbietun-gen in der unmittelbaren Nachbarschaft des Klä-gers erteilten Gestattungen nach § 12 Abs. 1 GastGregelmäßig nicht rechtzeitig bekannt gegeben odererst so kurz vor der geplanten Veranstaltung be-antragt und erlassen werden, dass ihre Überprü-fung vor Durchführung der Veranstaltung auch ineinem vorläufigen Rechtsschutzverfahren nichtmehr möglich ist.

8. Die Versagung einer Gaststättenerlaubniskommt nicht in Betracht, wenn die Behörde den zubefürchtenden Gefahren durch eine Auflage begeg-nen kann.

Sachverhalt:Die Klägerin (Kl.) ist Eigentümerin eines Grundstücksim Außenbereich der beklagten A-Stadt. Auf demNachbargrundstück betreibt die Beigeladene (B) einenBiergarten. Beide Grundstücke liegen im Landschafts-schutzgebiet “Blütengrund”.Seit mehreren Jahren führt B jeweils am 1. Mai aufder Wiese neben dem Biergarten in einem Zelt eineMusikveranstaltung mit Schank- und Speisewirtschaftdurch, für die sie stets Gestattungen auf der Basis von§ 12 GastG erhielt. Bereits in den Jahren 2006 und2007 hatte sich die Kl. bei der beklagten A-Stadt überden Lärm beschwert, der von diesen Veranstaltungenausging. Zudem seien nie genügend Parkplätze undToiletten vorhanden gewesen. Hierdurch seien für dieNachbarschaft unzumutbare Belästigungen durch wildparkende Autos und herumliegende Fäkalien entstan-den. Durch einige Besucher der Veranstaltung, diesich betrunken und mit brennender Zigarette in dieumliegenden Hänge zur Verrichtung der Notdurft be-geben hätten, sei zudem eine erhebliche Brandgefahrentstanden. Die zum Blütengrund führende Straße seifür den Verkehr zu schmal, so dass es zu erheblichenVerkehrsbehinderungen gekommen sei.Für das Jahr 2008 erteilte die beklagte A-Stadt der Bmit Bescheid vom 30. April 2008 erneut eine Erlaub-nis zur Durchführung des Maifestes, der - mit Blickauf die Beschwerden der Kl. - folgende Auflage bei-gefügt war: “Es ist dafür zu sorgen, dass keine schädli-chen Umwelteinwirkungen und sonst erheblicheNachteile, Gefahren oder Belästigungen für die Be-wohner des Betriebsgrundstückes oder der Nachbar-grundstücke sowie der Allgemeinheit entstehen.”Am 9. Juni 2008 erhob die Kl. Klage vor dem Ver-waltungsgericht, da es bei der Veranstaltung am 1.Mai 2008 erneut zu den bereits in den Vorjahren be-klagten Verfehlungen gekommen sei. Die B habe sichoffenbar von der Auflage in keinster Weise beeidru-cken lassen, was kein Wunder sei, da die Beklagte sieauch nicht kontrolliert habe. Die Nichtbefolgung derAuflage lasse schon die grundsätzliche Frage nach dergewerberechtlichen Zuverlässigkeit der B aufkommen.Jedenfalls müsse aber die Nachbarschaft vor weiterenStörungen geschützt werden. Im Übrigen sei es eine Unverschämtheit seitens derBeklagten, dass B die Gestattung erst am 30.4.2008erteilt und ihr - der Kl. - nicht bekannt gegeben habe;infolgedessen habe sie keine Möglichkeit gehabt, sichnoch vor dem 1. Mai gerichtlich zu wehren. Die Kl.beantragt daher,

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1. festzustellen, dass die Gestattung des Maifestes2008 im Bescheid vom 30.4.2008 rechtswidrig warund 2. die beklagte A-Stadt zu verurteilen, es zu unterlas-sen, in den Folgejahren weitere derartige Gestattungenzu erteilen.

Die beklagte A-Stadt meint, die Klagen seien bereitsunzulässig, da die Maifeier 2008 schon vorüber seiund für die Folgejahre noch keine Belastung der Kl.erkennbar sei. Diese könne sich zudem nicht auf dieangebliche Unzuverlässigkeit der B oder die Beein-trächtigung des Landschaftsschutzgebietes berufen.Darüber, zu welchem Zeitpunkt die Stadt gaststätten-rechtliche Gestattungen zu erteilen habe, habe die Kl.auch nicht zu befinden. Zu einer Bekanntgabe gegen-über der Kl. sei die Stadt nicht verpflichtet gewesen,da die Kl. nicht Adressatin gewesen sei. Zu einer Kon-trolle von Auflagen sei die Stadt auch nicht verpflich-tet, die Kl. hätte sich ja an die Polizei wenden können.

Haben die Klagen Erfolg?

[Anm.: Es ist zu unterstellen, dass keine Lärmmessun-gen vor Ort stattgefunden haben, sodass sich nichtmehr klären lässt, ob die Lärmgrenzwerte der für Ver-anstaltungen der geschilderten Art einschlägigen“Freizeitlärm-Richtlinie” vom 4. Mai 1995 (NVwZ1997, 469) überschritten wurden oder nicht.]

Lösung:Die Klagen haben Erfolg, soweit sie zulässig und be-gründet sind. Diesbezüglich ist zwischen den beidenBegehren der Klägerin zu unterscheiden:

1. Teil: Klage gegen den Bescheid vom 30.4.2008

A. Zulässigkeit

I. VerwaltungsrechtswegDer Verwaltungsrechtsweg ist nach § 40 I 1 VwGOeröffnet. Es handelt sich um eine öffentlich-rechtlicheStreitigkeit über eine Gestattung nach § 12 GastG, diezudem nichtverfassungsrechtlicher Art ist und für diekeine abdrängenden Sonderzuweisungen bestehen.

II. Statthafte KlageartDas Klagebegehren (§ 88 vwGO) richtet sich gegenden Bescheid vom 30.4.2008 und die darin gegenüberB ausgesprochene Gestattung der Maifeier 2008.Nachdem sich dieser Bescheid bereits mit Ablauf desMaifeiertages - also vor der am 9.6.08 erhobenen Kla-ge - durch Zeitablauf erledigt hatte (§ 43 II VwVfG),kann er nicht mehr nach § 42 I VwGO angefochtenwerden. Statt dessen hält das VG eine Fortsetzungs-feststellungsklage in analoger Anwendung des § 113 I

4 VwGO für statthaft: “Gemäß § 113 I 4 VwGO spricht das Gericht auf An-trag durch Urteil aus, dass der Verwaltungsakt rechts-widrig gewesen ist, wenn sich der Verwaltungsaktvorher durch Zurücknahme oder anders erledigt undder Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Fest-stellung hat. Die Klage auf Feststellung, dass eine inder Zwischenzeit erledigte gaststättenrechtliche Ge-stattung rechtswidrig war, ist eine Fortsetzungsfest-stellungsklage im Sinne des § 113 I 4 VwGO. DerenVoraussetzungen liegen hier vor. Die Klage richtetsich gegen die Gestattung der Beklagten vom 30.April. Hierbei handelt es sich um [einen] Ver-waltungsakt, [der] sich vor Klageerhebung durch Zeit-ablauf erledigt [hatte]. Die Vorschrift des § 113 I 4VwGO ist auf derartige Fälle entsprechend anwendbar(BVerwGE 26, 161 <165>).”

[Anm.: Eine unmittelbare Anwendung des § 113 I 4VwGO kommt bei Erledigung vor Klageerhebung we-gen der systematischen Stellung des § 113 VwGO im10. Abschnitt der VwGO (“Urteile und andere Ent-scheidungen”) und seiner Bezugnahme auf § 113 I 1VwGO hingegen nicht in Betracht. Beides verdeut-licht, dass § 113 I 4 VwGO eine bereits erhobene An-fechtungsklage voraussetzt. Wenn § 113 I 4 VwGOdavon spricht, dass der VA sich “vorher” erledigt ha-ben muss, ist damit also zwar vor dem Urteil, abernach Klageerhebung gemeint.]

[Anm.: Auf die m.M., welche bei Erledingung vor Kla-geerhebung statt einer Analogie zu § 113 I 4 VwGOdie Feststellungsklage nach § 43 VwGO anwendenwill, geht das VG überhaupt nicht ein. In einem Gut-achten sollte die Klageart jedoch streitig dargestelltwerden (vgl. zu diesem Problem ausführlich BVerwG,RA 1999, 592 = DVBl 1999, 1660 sowie die Vertie-fungshinweise oben). Allerdings ist der h.M. zu fol-gen: Ein konkretes Rechtsverhältnis i.S.d. § 43 IVwGO zwischen den Parteien besteht nicht (mehr),und es ist auch nicht einzusehen, warum der u.U. reinzufällige Erledigungszeitpunkt die statthafte der Kla-geart ändern sollte.]

III. KlagebefugnisFraglich ist die Klagebefugnis der Kl. analog § 42 IIVwGO. Sie ist nicht Adressatin der Gestattung vom30.4., sondern als Nachbarin Dritte. Die Möglichkeiteiner Verletzung eigener subjektiv-öffentlicher Rech-te, wie von § 42 II VwGO gefordert, hängt also davonab, ob sich die Kl. auf eine drittschützende Norm be-rufen kann. Das VG erblickt diese in §§ 4 I Nr. 3GastG i.V.m. 3 I BImschG:

1. Schädliche Umwelteinwirkungen“Die Klägerin ist auch gemäß § 42 II VwGO klagebe-

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fugt, denn sie macht eine Verletzung des § 4 I Nr. 3GastG geltend. Diese Vorschrift hat hinsichtlich zubefürchtender schädlicher Umwelteinwirkungen imSinne des § 3 I BImSchG drittschützende Wirkung(OVG Koblenz, Urteil vom 4. Februar 1998 - 11 A11942/96 - juris). Einem betroffenen Nachbarn kanndaher gemäß § 4 I Nr. 3 GastG ein Anspruch auf Ver-sagung bzw. Aufhebung einer gaststättenrechtlichenErlaubnis bzw. Gestattung zustehen, wenn der beab-sichtigte Gaststättenbetrieb im Hinblick auf seine ört-liche Lage oder auf die Verwendung der Räume nichtohne Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriftenerlaubt werden kann, es insbesondere nicht möglichist, die auf die Nachbarschaft etwa durch Lärmimmis-sionen einwirkenden schädlichen Umwelteinwirkun-gen durch Nebenbestimmungen auf ein zumutbaresMaß zu begrenzen (VGH Kassel, Beschluss vom 8.Oktober 1996 - 14 TG 3852/96 - juris Rn. 30). Hier-nach kann die Klägerin als Nachbarin der von der Bei-geladenen im Mai 2008 vorübergehend betriebenenGaststätte einen Verstoß gegen nachbarschützendeVorschriften gerichtlich geltend machen, aus dem sichinfolge der inzwischen eingetretenen Erledigung durchZeitablauf ein Anspruch auf Feststellung der Rechts-widrigkeit ergibt.”

Dies gilt namentlich für den von der Veranstaltungerzeugten Lärm. Dieser kommt als schädliche Um-welteinwirkung im o.g. Sinne in Betracht und begrün-det somit die Möglichkeit einer Verletzung der Kl. inihren subjektiv-öffentlichen Rechten durch die ange-griffene Gestattung vom 30. April.

2. Sonstige Belästigungen der AllgemeinheitDemgegenüber entfalten die in § 4 I Nr. 3 GastG eben-falls genannten “sonstigen Belästigungen der Allge-meinheit” keinen Drittschutz. Sie sind daher unbeacht-lich:“Die von der Klägerin weiterhin gerügten Belästigun-gen, insbesondere das Fehlen ausreichender Parkmög-lichkeiten und Toiletten, die zu geringe Breite derStraße, der herumliegende Müll sowie die durch rau-chende Besucher hervorgerufene Brandgefahr, führennicht zu einer Verletzung nachbarschützender Vor-schriften des GastG, die zu einem Erfolg der Drittan-fechtungsklage führen können. Es handelt sich hierbeinicht um Immissionen im Sinne des § 3 I BImSchGund damit nicht um schädliche Umwelteinwirkungenim Sinne des § 4 I Nr. 3 GastG, sondern um sonstigeBelästigungen. Immissionen im Sinne des BImSchGsind gemäß § 3 II BImSchG auf Menschen, Tiere undPflanzen, den Boden, das Wasser, die Atmosphäresowie Kultur- und sonstige Sachgüter einwirkendeLuftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen,Licht, Wärme, Strahlen und ähnliche Umwelteinwir-kungen. Hierzu zählen die von der Klägerin beanstan-

deten Begleiterscheinungen der Veranstaltungen derBeigeladenen, abgesehen von den Geräuschen, nicht.Soweit die Erlaubnis gemäß § 4 I Nr. 3 GastG zu ver-sagen ist, wenn der Gewerbebetrieb “sonst erheblicheNachteile, Gefahren oder Belästigungen für die All-gemeinheit” befürchten lässt, liegt die Vorschrift aus-schließlich im öffentlichen Interesse (Metzner, a. a.O., § 4 Rn. 348).”

3. Unzuverlässigkeit der BEntsprechendes gilt für die von der Kl. gerügte gewer-berechtliche Unzuverlässigkeit der B:“[Ferner] ist nicht zu prüfen, ob die Gestattung unterVerletzung von § 4 I Nr. 1 GastG erteilt wurde, wo-nach die Erlaubnis zu versagen ist, wenn der Antrag-steller die erforderliche Zuverlässigkeit nicht besitzt,denn diese Vorschrift hat keinen nachbarschützendenCharakter (BVerwG, Urteil vom 4. Oktober 1988 -BVerwG 1 C 72.86 - a.a.O. Rn. 28 und Beschluss vom18. März 1988 - BVerwG 1 B 33.98 - a. a. O.).“

[Anm.: Keinen drittschützenden Charakter hat übri-gens auch die Frage, ob ein besonderer Anlass vor-liegt, der Voraussetzung für die Erteilung einer Ge-stattung gemäß § 12 I GastG ist (BVerwG, Urteil vom4. Juli 1989 - BVerwG 1 C 11.88 - juris).]

IV. Vorverfahren“Hat sich der Verwaltungsakt - wie hier - vor Ablaufder Widerspruchsfrist erledigt, bedarf es keinerDurchführung eines Vorverfahrens nach §§ 68 ff.VwGO (BVerwG, Urteil vom 9. Februar 1967 -BVerwG 1 C 49.64 - a. a. O. S. 167).”

[Anm.: Auch dies ist nicht völlig unstreitig. In einerKlausur sollte die m.M. durchaus erwähnt werden,welche die Durchführung eines Vorverfahrens analog§ 68 I VwGO für sinnvoll und erforderlich hält, weildie Behörde auch nach Erledigung des VA noch einenSelbstreinigungsprozess durchführen könne (Schoch,Jura 2003, 752, 753). Zu folgen wäre aber wiederumder h.M.: Das Vorverfahren ist jedenfalls primärRechtsbehelf des Bürgers, nicht Selbstreinigungsin-strument der Verwaltung, und diese Funktion - Auf-hebung des angegriffenen Verwaltungsakts - kann esnach Erledigung nicht mehr erfüllen. Mangels ver-gleichbarer Interessenlage scheidet eine Analogie zu§ 68 I VwGO bei Erledigung vor Klageerhebung da-her aus.]

V. FristFraglich ist die Fristwahrung. § 74 I 2 VwGO sieht fürAnfechtungsklagen eine Monatsfrist vor. Diese wäream 9. Juni - Tag der Klageerhebung - abgelaufen, dader Verwaltungsakt am 30. April erlassen wurde undsich am 1. Mai erledigte. § 74 VwGO wäre aber auf

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die Fortsetzungsfeststellungsklage allenfalls analoganwendbar (vgl. den Wortlaut und die systematischeStellung im 8. Abschnitt der VwGO). Das VG stelltdazu in einem Satz fest:“Auch eine Klagefrist ist in diesen Fällen nicht ein-zuhalten (BVerwG, Urteil vom 14. Juli 1999 -BVerwG 6 C 7.98 - BVerwGE 109, 207).”

[Erneut: Dies ist streitig (a.A. z.B. VG Frankfurt,NVwZ 1988, 381), aber dennoch richtig: Fristen die-nen der Rechtssicherheit. Fristgebunden sind dahernur Klagen, die i.E. die Rechtslage ändern können,wie z.B. die Anfechtungsklage durch Aufhebung einesVerwaltungsakts. Die Fortsetzungsfeststellungsklageist retrospektiv - sie stellt nur fest, wie die Rechtslagein der Vergangenheit war, ändert sie aber nicht mehr.Und es ist auch nicht zu befürchten, dass die Gerichteewig mit erledigten Fällen belastet werden, wenn manmit dem BVerwG (E 109, 207) eine Verwirkung an-nimmt, die analog § 58 II VwGO nach ca. einem Jahrdenkbar ist. Mangels vergleichbarer Interessenlagescheidet also auch eine Analogie zu § 74 VwGO aus.]

VI. Fortsetzungsfeststellungsinteresse“Ein berechtigtes Interesse an der beantragten Fest-stellung gemäß § 113 I 4 VwGO ist wegen Wiederho-lungsgefahr regelmäßig anzunehmen, wenn zu erwar-ten ist, dass in Zukunft ein vergleichbarer Sachverhaltwieder zur Entscheidung anstehen wird (OVG Ko-blenz, Urteil vom 14. September 2004 - 6 A 10949/94- juris Rn. 13). Etwas anderes gilt nur dann, wenn diezuständige Behörde eine wesentliche Änderung derVerwaltungspraxis hinsichtlich der Bescheidgestal-tung vorgenommen hat mit der Folge, dass die Fest-stellung der Rechtswidrigkeit des erledigten Beschei-des keine Richtschnurfunktion mehr haben kann(VGH München, Urteil vom 22. Oktober 1998 - 22 B98.602 - juris Rn. 28). Hiernach hat die Klägerin ein berechtigtes Feststel-lungsinteresse, denn [es] ist in nächster Zeit wiedermit einer Entscheidung der Beklagten über die Ertei-lung von Gestattungen für vergleichbare Veranstaltun-gen wie in der Vergangenheit zu rechnen, ohne dassdie Beklagte eindeutig zu erkennen gegeben hätte,dass sie von ihrer bisherigen Verwaltungspraxisgrundlegend abweichen wird.”

VII. KlagegegnerDie Klage ist analog § 78 I Nr. 1 VwGO gegen denRechtsträger zu richten, hier also gegen die A-Stadt.Dies ist geschehen.

Die Klage íst somit zulässig.

B. BeiladungB war gem. § 65 II VwGO notwendig beizuladen.

C. BegründetheitDie Klage ist begründet, soweit der Verwaltungsaktrechtswidrig war und die Klägerin in ihren Rechtenverletzte, §§ 113 I 1, 4 VwGO.

I. Rechtswidrigkeit des VAWie bereits zur Klagebefugnis ausgeführt, ist bei Kla-gen Dritter darauf zu achten, dass sich eine Rechts-verletzung nur aus der Verletzung drittschützenderNormen ergeben kann. Dies führt zu einem modifizier-ten Prüfungsmaßstab: Nicht die gesamte Rechtmäßig-keit des Verwaltungsakts interessiert, sondern nur dieVerletzung drittschützender Normen. Dies erkenntund erwähnt auch das VG:“Die Überprüfung einer gaststättenrechtlichen Erlaub-nis oder Gestattung ist im Rahmen einer Nachbarklagenur in dem Umfang vorzunehmen, in dem die Verlet-zung nachbarschützender Vorschriften (§ 4 I Nr. 3GastG) in Rede steht (BVerwG, Urteil vom 4. Oktober1988 - BVerwG 1 C 72.86 - juris Rn. 27; Metzner,GastG, 6. Aufl. 2002, § 4 Rn. 347).”Fraglich ist also (nur), ob die Gestattung vom 30.April gegen subjektive Rechte der Klägerin verstieß.Solche könnten sich - wie unter der Klagebefugnisausgeführt - hier nur aus einer Verletzung von §§ 4 INr. 3 GastG i.V.m. 3 I BImschG ergeben, wobei auchdiesbezüglich nur auf die “schädlichen Umwelteinwir-kungen”, also den von der Veranstaltung ausgehendenLärm, nicht aber auf sonstige Belästigungen wie Ver-kehr, fehlende Toiletten usw. einzugehen ist (s.o.).

1. Begriff der schädlichen Umwelteinwirkung“Rechtsgrundlage der Gestattungen ist § 12 I GastG.Nach dieser Vorschrift kann aus besonderem Anlassder Betrieb eines erlaubnispflichtigen Gaststättenge-werbes unter erleichterten Voraussetzungen vorüber-gehend auf Widerruf gestattet werden. Im Rahmen derErteilung einer solchen Gestattung hat die Behörde dieSchutzgüter des § 4 Abs. 1 GastG, insbesondere des §4 Abs. 1 Nr. 3 GastG, zu beachten (VG Gießen, Be-schluss vom 2. Juli 2004 - 8 G 2673/04 - juris Rn. 24).Hiernach darf der Gewerbebetrieb im Hinblick aufseine örtliche Lage oder auf die Verwendung der Räu-me dem öffentlichen Interesse nicht widersprechen,insbesondere keine schädlichen Umwelteinwirkungenim Sinne des BImSchG [...] befürchten lassen. [...]Schädliche Umwelteinwirkungen im Sinne des § 3 IBImSchG sind Immissionen, die nach Art, Ausmaßoder Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nach-teile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemein-heit oder die Nachbarschaft herbeizuführen. Die Beur-teilung, ob schädliche Umwelteinwirkungen hervor-gerufen werden, richtet sich danach, inwieweit diefestzustellenden Beeinträchtigungen als erheblichbzw. wesentlich im Sinne von § 906 I BGB einzustu-fen sind. Die Zumutbarkeitsgrenze wird überschritten,

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wenn die Nachteile oder Belästigungen den Grad desErheblichen überschreiten. Hierbei ist auf das Empfin-den eines verständigen Durchschnittsmenschen abzu-stellen.”

2. SubsumtionFraglich ist, ob der von der Veranstaltung ausgehendeLärm eine schädliche Umwelteinwirkung in diesemSinne darstellte.

a. Gestattung insgesamtDas VG meint zunächst, dass die Lärmbelastungennicht die Gestattung der Maifeier insgesamt in Fragestellten:“Bei besonderem Anlass und nur vorübergehendemBetrieb [sind] die bei der Erteilung der Erlaubnis zubeachtenden Vorschriften weniger streng zu handha-ben sind als bei einem Dauerbetrieb (BGH, Urteil vom26. September 2003 - V ZR 41/03 - juris Rn. 17). Dasbedeutet insbesondere, dass bei der Bestimmung derErheblichkeits- bzw. Zumutbarkeitsschwelle die Sel-tenheit des Anlasses und seine Besonderheit, d.h. sei-ne Bewertung unter den Gesichtspunkten der Her-kömmlichkeit, der Sozialadäquanz und der allgemei-nen Akzeptanz, zu berücksichtigen sind (VGH Mün-chen, Urteil vom 22. Oktober 1998 - 22 B 98.602 - a.a. O. Rn. 29). Da genauere normative Vorgaben fürdie Beurteilung der Zumutbarkeit der von einem Gast-stättenbetrieb mit Musikdarbietungen hervorgerufenenImmissionen fehlen, kann als Orientierungs- und Ent-scheidungshilfe auf die einschlägigen technischen Re-gelwerke zurückgegriffen werden, die jedoch nur ei-nen “groben Anhalt” bieten und nicht schematischangewandt werden dürfen. Hiernach sind als Orientie-rungshilfe für die Frage nach der Erheblichkeit dervon ihnen ausgehenden Immissionen grundsätzlich diein der Freizeitlärm-Richtlinie genannten Immissions-richtwerte einschlägig. Da keine Messungen vorge-nommen wurden, kann nicht festgestellt werden, obdiese Richtwerte eingehalten wurden. NachträglicheMessungen sind nicht mehr möglich. Damit kann eineÜberschreitung der nach der Freizeitlärm-Richtlinievorgesehenen Immissionsrichtwerte nicht festgestelltwerden. Dies geht zu Lasten der Klägerin.”

[Anm.: Die Freizeitlärm-Richtlinie ist nur eine Ver-waltungsvorschrift, also reines Innenrecht, das grds.keine Bindungswirkung außerhalb der Verwaltungentfaltet. Wäre unter die dort genannten Grenzwertezu subsumieren gewesen, hätte man sich zuvor aus-führlicher mit ihrer Verbindlichkeit für das Gerichtbefassen müssen. Diese wird - ähnlich wie bei denTechnischen Anleitungen (“TA Lärm”, “TA Luft”)von der ganz h.M. ausnahmsweise bejaht, sei es we-gen ihrer normkonkretisierenden Wirkung (BVerwGE72, 300, 320) oder weil sie einem antizipierten Sach-

verständigengutachten gleichkommen (BVerwGE 55,250, 255).]

b. AuflageDas Gericht fordert gleichzeitig aber den Erlass ge-eigneter Auflagen zum Schutz der Nachbarschaft, wo-bei es die hier von der Beklagten erlassene Auflage alsungeeignet - weil zu unbestimmt - einstuft:“Eine gaststättenrechtliche Gestattung ist wegen Ver-letzung des § 4 I Nr. 3 GastG, soweit diesem nachbar-schützender Charakter zukommt, rechtswidrig, soweitdie gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 3 GastG beigefügten Aufla-gen nicht hinreichend geeignet sind, die auf den Nach-barn einwirkenden Lärmbeeinträchtigungen auf einunter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfal-les zumutbares Maß zu begrenzen (VGH Kassel, Be-schluss vom 8. Oktober 1996 - 14 TG 3852/96 - a. a.O. Rn. 29). Das ist der Fall, wenn Anlass zur Erteilungvon Auflagen zur Lärmbegrenzung besteht und dieAuflage inhaltlich nicht hinreichend bestimmt ist.Durch die Unbestimmtheit einer unverzichtbaren Auf-lage zur Begrenzung von Lärmbeeinträchtigungenwerden die hiervon betroffenen Nachbarn auch in ih-ren Rechten verletzt, denn die Auflagen sind geradedazu bestimmt, dem Schutz der Nachbarn zu dienen(VG Meinigen, Urteil vom 8. Mai 1995 - 5 K235/94.Me - juris Rn. 27).”

aa. Erforderlichkeit“Rechtsgrundlage der Auflage war § 12 III in Verbin-dung mit § 5 I Nr. 3 GastG. Hiernach können Gewer-betreibenden, die einer Erlaubnis bedürfen, jederzeitAuflagen zum Schutze gegen schädlichen Umweltein-wirkungen im Sinne des BImSchG und sonst gegenerhebliche Nachteile, Gefahren oder Belästigungen fürdie Bewohner des Betriebsgrundstückes oder derNachbargrundstücke sowie der Allgemeinheit erteiltwerden. Die Beifügung von Lärmschutzauflagen zueiner gaststättenrechtlichen Gestattung ist erforder-lich, soweit die nicht ganz entfernte Möglichkeit be-steht, dass die [in] der Lärmschutz-Richtlinie für selte-ne Störereignisse geregelten Immissionsrichtwerte ammaßgeblichen Immissionsort durch die von der erlaub-ten Veranstaltung ausgehenden Geräusche überschrit-ten werden. In derartigen Fällen ist es geboten, fürseltene Ereignisse Maximalpegel vorzusehen, derenÜberschreitung mit einer Wohnnutzung generell un-verträglich ist (VGH Kassel, Urteil vom 25. Februar2005 - 2 UE 2890/04 - a. a. O. S. 534; vgl. auch OVGKoblenz, Urteil vom 14. September 2004 - 6 A10949/94 - a. a. O. Rn. 21; BGH, Urteil vom 26. Sep-tember 2003 - V ZR 41/03 - a. a. O. Rn. 22).”

bb. Geeignetheit der erlassenen Auflage “Die erforderliche Bestimmtheit fehlt jedoch, wenneine Auflage nur die gesetzlichen Voraussetzungen

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wiederholt, unter denen sie ergehen kann, ohne ihrVorliegen im konkreten Fall festzustellen und ohnedie Grenzen zwischen dem im Einzelfall Untersagtenund dem weiterhin Erlaubten festzustellen (Mi-chel/Kienzle/Pauly, GastG, 13. Aufl. 1999, § 5 Rn.25). Nach diesen Grundsätzen waren die den Gestat-tungen beigefügten - unverzichtbaren - Auflagen zumSchutz der Nachbarn vor schädlichen Umwelteinwir-kungen, insbesondere vor unzumutbarem Lärm, zuunbestimmt und damit ungeeignet. Nach den ernst zunehmenden Beschwerden der Klägerin über unzumut-baren Lärm aufgrund der Veranstaltungen in den Vor-jahren bestand für die Beklagte Anlass, der Beigelade-nen zur Bewältigung der Lärmproblematik Auflagenzu erteilen. Die hierzu verfügten Auflagen enthieltenjedoch [...] lediglich eine Wiederholung des Wortlautsdes § 5 I Nr. 3 GastG. Dies wird den Anforderungenan eine sachgerechte Lärmschutzauflage zum Schutzder Nachbarn nicht gerecht.”

c. ZwischenergebnisDie Gestattung der Maifeier mit Bescheid vom 30.April ohne geeignete Lärmschutzauflagen war rechts-widrig.

II. Rechtsverletzung der Kl.Wie bereits oben ausgeführt, stellen übermäßigeLärmemissionen eine “schädliche Umwelteinwirkung”i.S.d. §§ 4 I Nr. 3 GastG i.V.m. 3 I BImschG dar. Wieebenfalls bereits erwähnt, schützen diese Normenauch die Kl. in ihren Rechten.

III. ErgebnisDie Klage gegen den Bescheid vom 30. April ist auchbegründet. Sie hat Erfolg.

2. Teil: Klage auf zukünftiges Unterlassen

A. Zulässigkeit

I. VerwaltungsrechtswegAuch bezüglich der Klage auf Unterlassen müsste derVerwaltungsrechtsweg eröffnet sein. Nach der Gene-ralklausel des § 40 I 1 VwGO setzt dies zunächst eineöffentlich-rechtliche Streitigkeit voraus. Diesbezüg-lich kann hier nicht auf das GastG abgestellt werden,da dieses keine vorbeugenden UnterlassungsansprücheDritter gegen zukünftige Erlaubnisse regelt. Jedochkann die sog. “Kehrseitentheorie” fruchtbar gemachtwerden: Wenn die Erteilung von Erlaubnissen auf demGastG beruht und damit öffentlich-rechtlicher Naturist, gilt dies auch für die Abwehr derselben als Kehr-seite des Erlasses.Dass die Streitigkeit auch nichtverfassungsrechtlicherArt ist und keine abdrängenden Sonderzuweisungenexistieren, unterliegt keinem Zweifel.

II. Statthafte KlageartDas VG hält im vorliegenden Fall eine vorbeugendeUnterlassungsklage für statthaft:“Verwaltungsrechtsschutz ist grundsätzlich nachgän-giger Rechtsschutz. Vorbeugende Klagen sind dahernur zulässig, wenn ein besonderes schützenswertesInteresse gerade an der Inanspruchnahme vorbeugen-den Rechtsschutzes besteht, wenn mit anderen Wortender Verweis auf den nachgängigen Rechtsschutz - ein-schließlich des einstweiligen Rechtsschutzes - mit fürden Kläger unzumutbaren Nachteilen verbunden wäre(BVerwG, Urteil vom 25. September 2008 - BVerwG3 C 35.07 - juris Rn. 26). Eine vorbeugende Unterlassungsklage zur Verhinde-rung zukünftiger Verwaltungsakte kommt etwa dannin Betracht, wenn die für Gaststätten mit Musikdarbie-tungen in der unmittelbaren Nachbarschaft des Klä-gers erteilten Gestattungen nach § 12 I GastG regel-mäßig nicht rechtzeitig bekannt gegeben oder erst sokurz vor der geplanten Veranstaltung beantragt underlassen werden, dass eine Überprüfung ihrer Recht-mäßigkeit vor Durchführung der Veranstaltung auchin einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren nichtmehr möglich ist (VGH Kassel, Urteil vom 25. Febru-ar 2005 - 2 UE 2890/04 - a. a. O. S. 532). So liegt eshier. In der Vergangenheit wurden die der Beigelade-nen erteilten Gestattungen der Klägerin von der Be-klagten vor den jeweiligen Veranstaltungen gar nichtbekannt gegeben. [...] Es ist auch nicht mit Sicherheitmit ihrer Ablehnung zu rechnen. Vor diesem Hinter-grund ist das Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin füreine vorbeugende Unterlassungsklage gegen etwaigeGestattungen [zukünftig] geplanter Veranstaltungender Beigeladenen gegeben.”

[Anm.: Diese Begründung ist äußerst angreifbar. DieFortsetzungsfeststellungsklage gegen den Bescheidvom 30. April sollte doch gerade bewirken, dass dieBehörde zukünftig keine rechtswidrigen Gestattungenmehr erlässt. Dies hätte eigentlich auch dem VG auf-fallen müssen, immerhin hat es selbst das Fortset-zungsfeststellungsinteresse aus Wiederholungsgefahrhergeleitet. In einem Rechtsstaat ist auch zu erwarten,dass sich die Behörde an die gerichtlichen Feststel-lungen halten, d.h. künftig keine Gestattungen ohnehinreichende Lärmschutzauflagen mehr erlassen wird.Jedenfalls bis zum Beweis künftiger Rechtsuntreuedürfte einer vorbeugenden Leistungsklage - auch un-ter Berücksichtigung ihres Ausnahmecharakters - da-her sehr wohl das Rechtsschutzinteresse fehlen. Je-denfalls erscheint dies sehr gut vertretbar.]

III. KlagebefugnisDas zur Klagebefugnis bei einer Leistungsklage ana-log § 42 II VwGO erforderliche subjektiv-öffentlicheRecht der Klägerin wird hier über den gewohnheits-

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rechtlich anerkannten öffentlich-rechtlichen Unterlas-sungsanspruch begründet. Dieser wird überwiegendaus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GGund/oder der Abwehrfunktion der Freiheitsgrundrech-te hergeleitet und dient u.a. der Abwehr zukünftigerBeeinträchtigungen durch Emissionen.

IV. KlagegegnerRichtiger Klagegegner ist nach dem allgemeinenRechtsträgerprinzip wiederum die beklagte Stadt A.

B. Objektive Klagehäufung, BeiladungDie Klagen können nach § 44 VwGO miteinander ver-bunden werden, da sie in Zusammenhang stehen. B istgem. § 65 II VwGo auch zur vorbeugenden Leistungs-klage notwendig beizuladen.

C. BegründetheitDie Klage ist begründet, soweit die Kl. den von ihrgeltend gemachten Anspruch auf Unterlassung künfti-ger Gestattungen hat.

I. AnspruchsgrundlageAls Anspruchsgrundlage kommt - wie erwähnt - dergewohnheitsrechtlich anerkannte öffentlich-rechtlicheUnterlassungsanspruch in Betracht.

II. TatbestandDieser setzt zunächst einen Eingriff in subjektiv-öf-fentliche Rechte der Klägerin durch hoheitliches Han-deln voraus.

1. Hoheitliches HandelnAls hoheitliches Handeln kommt hier der Erlass weite-rer Gestattungen von Maifesten zugunsten der B inBetracht. Diese Gestattungen sind Verwaltungsakte(s.o.) und daher offensichtlich hoheitlich (vgl. § 35 S.1 VwVfG).

2. Eingriff in subjektiv-öffentliche Rechte der Kl.Allerdings wurde oben auch schon ausgeführt, dassder von den Maifesten der B verursachte Lärm dieGestattungen nicht insgesamt in Frage stellt, sondernnur zum Erlass geeigneter Auflagen zwingt. Das VGbleibt insofern konsequent, als es den geltend gemach-ten Anspruch der Kl. auf Unterlassen jeglicher Ge-stattungen daher ablehnt:“Der von der Klägerin geltend gemachte Unterlas-sungsanspruch ist jedoch unbegründet, denn die von

der Klägerin befürchteten Gefahren und Belästigun-gen können durch geeignete Auflagen und sonstigeMaßnahmen der Beklagten und anderer Behörden be-wältigt werden, ohne dass es der vollständigen Unter-sagung der von der Beigeladenen geplanten Veranstal-tungen bedarf. Die Versagung einer Gaststättenerlaub-nis kommt nicht in Betracht, wenn die Behörde den zubefürchtenden Gefahren durch eine Auflage begegnenkann (BVerwG, Beschluss vom 7. Mai 1996 -BVerwG 1 B 79.96 - juris). So liegt es hier. Die zu befürchtenden Geräuschimmis-sionen könne - wie oben ausgeführt - durch geeignete,insbesondere inhaltlich hinreichend bestimmte Aufla-gen zum Schutz der Anwohner vor unzumutbaremLärm ausreichend begrenzt werden, indem Im-missionsrichtwerte vorgeschrieben und Maßnahmenzur Lärmüberwachung angeordnet werden.”

III. ErgebnisDie vorbeugende Unterlassungsklage ist unbegründet,sie hat keinen Erfolg.

[Anm.: Weniger konsequent und überzeugend sind dieweiteren Ausführungen des VG, wonach auch diesonstigen Belästigungen durch Auflagen abgewehrtwerden könnten:“Für eine ausreichende Zahl an Toiletten kann durcheine entsprechende Auflage gesorgt werden, die sichan der Richtlinie über den Bau und Betrieb von Gast-stätten (GastBauR) und einer realistischen Einschät-zung der Besucherzahl zu orientieren hat. Die Beseiti-gung des nach der Veranstaltung herumliegendenMülls kann der Beigeladenen über eine Reinigungs-auflage aufgegeben werden. Die Verkehrs- und Park-platzprobleme im Blütengrund können durch die Sper-rung des Blütengrundes für den Straßenverkehr fürdie Dauer der Veranstaltungen der Beigeladenen undAusschilderung der vorhandenen Parkmöglichkeitenbewältigt werden. Zur Verbesserung des vorbeugen-den Brandschutzes kann der Beigeladenen aufgegebenwerden, ein Rauchverbot an ihre Gäste auszuspre-chen.”Das VG hätte erkennen müssen, dass nach seinen ei-genen, zutreffenden Ausführungen zur ersten Klageinsoweit gar keine subjektiven Rechte der Kl. betrof-fen sind, sie mithin auch keinen Anspruch auf Schutzvor solchen Belästigungen hat. Ob zu ihrer AbwehrAuflagen erteilt werden können oder nicht, ist daherfür die vorliegende Klage völlig irrelevant.]

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Standort: Zivilrecht Problem: § 622 II 2 BGB

BAG, URTEIL VOM 01.09.2010

5 AZR 700/09 (NJW 2010, 3740)

Problemdarstellung:

Der am 09.11.1972 geborene Kl. war seit dem01.08.1995 bei der Bekl. als Tankstellenmitarbeiterbeschäftigt. Mit Schreiben vom 22.04.2008 kündigtedie Bekl. das Arbeitsverhältnis ordentlich zum31.07.2008. Ab dem 01.08.2008 bezog der Kl. Ar-beitslosengeld in Höhe von ca. 50 % seines vorherigenGehalts. Mit seiner am 11.11.2008 beim Arbeitsge-richt eingegangen Klage begehrt der Kl. die Zahlungseines vorherigen Gehalts für die Monate August undSeptember 2008 als Annahmeverzugsvergütung. Erbegründet dies damit, dass die Berechnung der Kündi-gungsfrist, die die Bekl. auf der Grundlage von § 622II BGB vorgenommen hat, zu kurz bemessen sei.

Prüfungsrelevanz:Selten dürfte ein arbeitsrechtliches Urteil derartigeKlausurrelevanz besessen haben, wie das vorliegende.Das ist wieder einmal damit zu begründen, dass nebenarbeitsrechtlichen Themen auch andere Aspekte be-handelt werden und so von den Klausurbearbeiterneine (hier anspruchsvolle!) Transferleistung verlangtwird. Die Entscheidung setzt Kenntnisse desEuGH-Urteils zur Unionsrechtswidrigkeit des § 622 II2 BGB voraus (RA 2010, 79 = NJW 2010, 427).

Auch der Kl. scheint die genannte EuGH-Entschei-dung registriert zu haben, denn anders ist kaum zu er-klären, dass er erst am 11.11.2008 - also rund sechsMonate nach Ablauf der Klagefrist des § 4 S. 1KSchG - seine Klage auf Annahmeverzugvergütungeingereicht hat.

Die Grundlage für das Begehren von Annahmever-zugslohn ist in § 615 S. 1 BGB i.V.m. § 611 I BGB zufinden. Nach überwiegender Ansicht stellt § 615 S. 1BGB keine eigene Anspruchsgrundlage dar, sondernhält den Anspruch auf Lohn zugunsten des Arbeitneh-mers im Falle des Annahmeverzugs des Arbeitgebersaufrecht (Palandt/Weidenkaff, § 615 Rn. 3;ErfK/Preis, § 615 Rn. 1; Staudinger/Richardi, § 615Rn. 8). Die tatbestandlichen Voraussetzungen sind inder Norm allerdings nicht enthalten; insoweit ist einRückgriff auf die §§ 293 ff. BGB erforderlich(ErfK/Preis, § 615 Rn. 3). Jedenfalls kann der Arbeit-geber sich mit der Entgegennahme der Arbeitsleistungnur dann im Verzug befunden haben, wenn er hierzuüberhaupt noch verpflichtet war, d.h. wenn ein Ar-beitsvertrag bestand. Dies war vorliegend fraglich.

Da eine ordentliche Kündigung regelmäßig keinesGrundes bedarf, war hier zunächst zu überprüfen, ob

die Kündigungsfrist des § 622 II BGB korrekt berech-net worden war. Offensicht hatte die Bekl. gem. § 622II 1 Nr. 3 BGB eine Frist von drei Monaten zum Mo-natsende zugrunde gelegt und war so zum 31.07.2008als Kündigungstermin gelangt.

Der Senat stellt heraus, dass diese Berechnung inzweifacher Hinsicht falsch ist. Zunächst ergibt sichunter Berücksichtigung von § 622 II 2 BGB, dass derKl. nach seinem 25. Lebensjahr (d.h. nach dem9.11.1997) mehr als zehn, aber weniger als zwölf Jah-re im Betrieb gearbeitet hat. Somit käme § 622 II 1 Nr.4 BGB zur Anwendung und das Ende der Kündi-gungsfrist fiele auf den 31.08.2008.

Allerdings hat der EuGH die Vorschrift des § 622 II 2BGB wegen Verstoßes gegen die Richtlinie2000/78/EG für unionsrechtswidrig erklärt. Der Senatlässt § 622 II 2 BGB vorliegend unangewendet undberücksichtigt zur Berechnung der Kündigungsfristdie volle Arbeitszeit des Kl., also auch die vor dem 25.Lebensjahr erbrachte Leistung (zum Anwendungsvor-rang des EU-Rechts in diesem konkreten Fall EuGH,RA 2010, 79 = NJW 2010, 427). Mithin waren demKl. mehr als 12 Arbeitsjahre im Betrieb der Bekl. an-zurechnen, so dass § 622 II 1 Nr. 5 BGB anzuwendenwar – korrektes Fristende war demnach am30.09.2008. Die Kündigung zum 31.07.2008 war alsounwirksam.

Eine Auslegung als ordentliche Kündigung zumnächstmöglichen Zeitpunkt kam nicht in Betracht,denn eine solche hatte die Bekl. weder ausdrücklicherklärt, noch waren irgendwelche Anhaltspunkte füreinen entsprechenden Willen der Bekl. erkennbar.Vielmehr hatte die Bekl. das ausgesprochene Fristen-de zum „integralen Bestandteil“ ihrer Willenserklä-rung gemacht.

Interessant sind nun die Ausführungen des Senats zurMöglichkeit einer Umdeutung der Kündigung gem. §140 BGB. Eine solche ist denkbar, wenn die eigentli-che Kündigung unwirksam wäre, da § 140 BGB dieNichtigkeit eines Rechtsgeschäfts verlangt. Die hierausgesprochene Kündigung war unwirksam (s.o.). Je-doch greift § 7 KSchG ein, wonach auch eine an sichunwirksame Kündigung in Wirksamkeit erwächst,wenn sie nicht binnen drei Wochen im Klagewegeangegriffen wird. Das hatte der Kl. versäumt, so dassdie Kündigung mit Ablauf der Klagefrist als wirksamgilt. Dementsprechend entfiel der Anwendungsbereichfür eine Umdeutung gem. § 140 BGB.

Auch der sog. effet utile verhilft der EuGH-Rechtspre-chung zu § 622 II 2 BGB hier nicht zum Vorrang vorder Wirkung des § 7 KSchG: Die Festsetzung ange-messener Ausschlussfristen dient dem grundlegenden

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Prinzip der Rechtssicherheit und ist nach ständigerRechtsprechung des EuGH mit dem Unionsrecht ver-einbar (zuletzt EuGH, NZA 2010, 869). Demnachkonnte der Kl. keinen Annahmeverzugslohn verlan-gen.

Vertiefungshinweise:“ Zur Unanwendbarkeit des § 622 II 2 BGB: EuGH,RA 2010, 79 = NJW 2010, 427

“ EuGH-Rechtsprechung zum Verbot der Altersdis-kriminierung: EuGH, NJW 2010, 3767 (Altersgren-zenregelungen – in diesem Heft); NZA 2010, 1341(Entlassungsabfindung); NJW 2008, 3417; NZA 2006,1276 (betriebliche Altersvorsorge); NJW 2005, 3596(„Mangold“).

“ Arbeitsrechtliche Bestandsschutzverfahren: Stens-lik, JuS 2011, 15; Helml, JuS 2009, 151 (Assessorexa-mensklausur); Jaroschek/Lüken, JuS 2001, 64; Meyer,JuS 2000, 1085 (Referendarexamensklausur)

Kursprogramm:

“ Examenskurs: “Die überflüssige Frieda“

Leitsatz: Eine vom Arbeitgeber mit zu kurzer Kündigungs-frist erklärte ordentliche Kündigung des Arbeits-verhältnisses kann nur dann in eine Kündigungzum richtigen Kündigungstermin umgedeutet wer-den (§ 140 BGB), wenn sie nicht gemäß § 7 KSchGals rechtswirksam gilt.

Sachverhalt: Der am 9.11.1972 geborene Kläger (K) war seit dem1. August 1995 bei der Beklagten (B) beschäftigt, zu-letzt als Tankstellenmitarbeiter gegen eine Vergütungvon 1.376,00 Euro brutto monatlich. Im Arbeitsvertragheißt es: „§ 13 Beendigung des Arbeitsverhältnisses:Die Kündigung des unbefristet abgeschlossenen Ar-beitsvertrages unterliegt den gesetzlichen Kündi-gungsfristen.“Mit Schreiben vom 22.04.2008 kündigte die Beklagtedas Arbeitsverhältnis ordentlich zum 31.07.2008,nachdem sie am 10.04. 2008 den Betriebsrat angehörthatte. Das Kündigungsschreiben nannte als Fristendeausschließlich den 31.07.2008; ein weiterer Zusatzwar nicht enthalten. Ab August 2008 bezog der KlägerArbeitslosengeld in Höhe von 649,50 Euro monatlich.Mit seiner am 11.11.2008 beim Arbeitsgericht einge-reichten Klage hat der Kläger Annahmeverzugsvergü-tung für die Monate August und September 2008 gel-tend gemacht und die Auffassung vertreten, die Kün-digung der Beklagten habe das Arbeitsverhältnis erstzum 30. September 2008 beendet. Die Kündigungs-frist betrage nach § 622 II 1 Nr. 5 BGB fünf Monate

zum Monatsende, weil bei der Berechnung der Be-schäftigungsdauer auch die vor der Vollendung des25. Lebensjahrs liegende Beschäftigungszeit zu be-rücksichtigen sei. Mit Ablauf der unzutreffend ge-wählten Kündigungsfrist sei die Beklagte in Annah-meverzug geraten, eines besonderen Arbeitsangebotshabe es nicht bedurft.Mit seiner Klage begehrt der Kläger von der Beklag-ten Zahlung von 1453,00 Euro an sich, sowie Zahlungvon 1299,00 Euro an die Bundesagentur für Arbeit.

Prüfen Sie die Erfolgsaussichten der Klage.

Lösung: Die Klage wird Erfolg haben, soweit sie zulässig undbegründet ist.

A. Zulässigkeit Die Klage müsste zunächst zulässig sein.

[Anm.: Der Sachverhalt enthält nicht sämtliche Da-ten, die für eine vollständige Zulässigkeitsprüfung er-forderlich wären. Daher darf sich die Prüfung aufdiejenigen Punkte beschränken, die mit den Angabenaus dem Sachverhalt sinnvoll zu erörtern sind. Gene-rell unterliegt der Umfang einer Zulässigkeitsprüfungdem Gebot der Zweckmäßigkeit.]

I. Rechtsweg zur Arbeitsgerichtsbarkeit K hat seine Klage zum (gem. § 46 II ArbGG i.V.m. §§12 ff. ZPO örtlich zuständigen) Arbeitsgericht erho-ben. Der Rechtsweg zur Arbeitsgerichtsbarkeit ist –anders als der ordentliche Rechtsweg – nicht ohneweiteres einschlägig, sondern muss sich aus der Zu-weisung in § 2 ArbGG ergeben. Gem. § 2 I Nr. 3 a)ArbGG sind die Arbeitsgerichte zuständig für bürger-liche Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitnehmernund Arbeitgebern aus dem Arbeitsverhältnis. Hierun-ter fallen alle Fragen des Entgelts (BeckOK/Clemens,§ 2 ArbGG Rn. 18), mithin auch die vorliegende Strei-tigkeit über Annahmeverzugsvergütung. Der Rechts-weg ist eröffnet.

II. Voraussetzungen der gewählten KlageartObwohl K mit der Klage inzident eine Wirksamkeits-prüfung der Kündigung verlangt, lautet das Begehrennach dem Klageantrag auf Zahlung ausstehender An-nahmeverzugsvergütung. Mithin liegt eine Leistungs-klage und keine Kündigungsschutzklage (als besonde-re Form der Feststellungsklage, vgl. § 256 ZPO) vor.Die Leistungsklage setzt keine besonderen Sachur-teilserfordernisse voraus.

III. ProzessführungsbefugnisK müsste prozessführungsbefugt sein. Prozess-führungsbefugt ist, wer ein behauptetes Recht als eige-

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nes in Anspruch nimmt bzw. gegen wen eine Rechts-pflicht als eigene geltend gemacht wird oder wemkraft Gesetzes, kraft Hoheitsakts oder kraft besonde-ren Verwaltungs- und Verfügungsrechts die Befugniszur Verfolgung fremder Rechte zusteht (Musielak, §51 Rn. 16).

1. Prozessführungsbefugnis hinsichtlich der Klage-forderung über 1453,00 iHinsichtlich der Klageforderung über 1453,00 imacht K ein behauptetes Recht im eigenen Namengeltend. Er ist insoweit prozessführungsbefugt.

2. Prozessführungsbefugnis hinsichtlich der Klage-forderung über 1299,00 iHinsichtlich der Klageforderung über 1299,00 imacht K ein Recht der Bundesagentur für Arbeit imeigenen Namen geltend. Denn nachdem die Bundes-agentur dem K in den Monaten August und September2008 Arbeitslosengeld in Höhe von je 649,50 i (ins-gesamt also 1299,00 i) zahlte, ist ein eventuell be-stehender Annahmeverzugsanspruch des K in dieserHöhe gem. § 115 I SGB X auf sie übergegangen. DerVerlust der Anspruchsinhaberschaft führt jedoch zumVerlust der Prozessführungsbefugnis.K wäre allenfalls aktivlegitimiert, wenn die Bundes-agentur ihn im Wege der gewillkürten Prozessstand-schaft analog § 185 BGB zur Prozessführung ermäch-tigt hätte. Dies ist nicht der Fall. Insofern ist die Klagehinsichtlich des Teilantrags über 1299,00 i nicht zu-lässig:„[10] Die Prozessführungsbefugnis ist als Prozessvor-aussetzung in jeder Lage des Verfahrens von Amtswegen zu prüfen. Die gerichtliche Geltendmachungeines fremden Rechts im eigenen Namen (gewillkürteProzessstandschaft) setzt neben einem eigenen schutz-würdigen Interesse des Klägers eine wirksame Er-mächtigung durch den Berechtigten voraus (BAG 19.März 2008 - 5 AZR 432/07 - Rn. 10, BAGE 126, 205;19. März 2002 - 9 AZR 752/00 - zu B III 2 a der Grün-de, BAGE 100, 369). Letztere Voraussetzung ist imStreitfalle nicht erfüllt. Nach seinem eigenen Vorbrin-gen hat der Kläger im streitgegenständlichen ZeitraumArbeitslosengeld iHv. 649,50 Euro monatlich bezo-gen. Damit wäre in Höhe der erbrachten Soziallei-stung ein evtl. Annahmeverzugsanspruch nach § 115Abs. 1 SGB X auf den Leistungsträger übergegangen.Der Anspruchsübergang führt zum Verlust der Aktiv-legitimation und der Klagebefugnis (allgemeine Auf-fassung, vgl. nur von Hoyningen-Huene/Linck KSchG14. Aufl. § 11 Rn. 53). Der Arbeitnehmer kann zwargrundsätzlich Vergütungsansprüche, die wegen derZahlung von Arbeitslosengeld auf die Bundesagenturfür Arbeit übergegangen sind, im Wege der gewill-kürten Prozessstandschaft für die Bundesagentur gel-tend machen (BAG 19. März 2008 - 5 AZR 432/07 -

Rn. 11, aaO). Dass der Kläger von der Bundesagenturfür Arbeit zur gerichtlichen Geltendmachung der über-gegangenen Vergütungsansprüche ermächtigt wäre,ergibt sich aber weder aus seinem Sachvortrag nochden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts.“

IV. ZwischenergebnisDer Klageantrag hinsichtlich der Zahlung von 1453,00i ist zulässig.

B. Objektive Klagenhäufung K hat zwei Begehren geäußert, nämlich die Zahlungeines Betrags von 1453,00 i an sich und von 1299,00i an die Bundesagentur für Arbeit, so dass zwei Kla-geanträge vorliegen (objektive Klagenhäufung). Diesekönnen in einer Klage verfolgt werden, wenn die Vor-aussetzungen des § 46 II ArbGG i.V.m. § 260 ZPOvorliegen. Demnach muss für die Klageforderungendas selbe Prozessgericht zuständig sein, es muss sichum den selben Beklagten handeln und die Anträgemüssen im selben Verfahren behandelt werden kön-nen. Für beide Anträge ist hier gem. § 2 I Nr. 3 a)ArbGG das angerufene Arbeitsgericht zuständig, dasüber die Anträge im Urteilsverfahren entscheidet. Zu-dem richten sich die Anträge gegen denselben Beklag-ten. Die Voraussetzungen des § 260 ZPO sind gege-ben.

C. BegründetheitDie Klage müsste begründet sein. Das ist der Fall,wenn dem K ein Anspruch auf Zahlung von Annahme-verzugslohn gegen B zusteht. Ein solcher Anspruch könnte sich aus § 615 S. 1i.V.m. § 611 BGB und dem Arbeitsvertrag ergeben.Das setzt voraus, dass B mit der Annahme der Dienstedes K gem. §§ 293 ff. BGB in Verzug ist.

[Anm.: Nach überwiegender Ansicht ist zur Bestim-mung des Verzugsbegriffs in § 615 S. 1 BGB auf dieVorschriften der §§ 293 ff. BGB zurückzugreifen, Pa-landt/Weidenkaff, § 615 Rn. 3; ErfK/Preis, § 615 Rn.1; Staudinger/Richardi, § 615 Rn. 8.]

Gem. § 293 BGB kann nur der „Gläubiger“ in Verzuggeraten, d.h. Annahmeverzug ist nur denkbar, wenndie Parteien sich noch als Gläubiger und Schuldnergegenüberstehen und folglich durch ein Schuldverhält-nis miteinander verbunden sind. Dieses könnte hier imArbeitsvertrag zwischen B und K bestehen.

I. Ursprünglicher ArbeitsvertragZwischen den Parteien bestand seit dem 01.08.1995ein Arbeitsvertrag.

II. Bestand des Arbeitsvertrag über den 31.07.2008hinaus

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Der Arbeitsvertrag müsste auch im maßgeblichenZeitraum, d.h. im August und September 2008 nochbestanden haben. Das wäre der Fall, wenn die Kündi-gung der B vom 22.04.2008 unwirksam wäre und dasArbeitsverhältnis über den 31.07.2008 hinaus fortbe-stehen würde.

1. Allgemeine Anforderungen an die Kündigungser-klärung Es müssten zunächst die allgemeinen Anforderungenan die Kündigung als Willenserklärung erfüllt sein;insbesondere müsste das Schriftformerfordernis gem.§§ 623, 126 BGB eingehalten und die Kündigungs-erklärung gem. § 130 BGB wirksam geworden sein. InErmangelung gegenteiliger Anhaltspunkte ist hiervonauszugehen.

2. Anhörung des Betriebsrates gem. § 102 BetrVGVor dem Ausspruch der Kündigung muss gem. § 102 I1 BetrVG eine Anhörung des Betriebsrates erfolgen,sofern ein Betriebsrat eingerichtet ist. B hat den Be-triebsrat vor der Kündigungserklärung angehört. Überdie Reaktion des Betriebsrates schweigt der Sachver-halt. Hierauf kommt es indes auch nicht an, da gem. §102 I 3 BetrVG nur die Anhörung, nicht jedoch dessenZustimmung Wirksamkeitsvoraussetzung für die Kün-digung ist. Sollte sich der Betriebsrat nicht innerhalbvon einer Woche (§ 102 II 1 BetrVG) zur Absicht derordentlichen Kündigung geäußert haben, so gilt seineZustimmung gem. § 102 II 2 BetrVG als erteilt.

3. Eingreifen von Sonderkündigungsschutz Es ist nicht ersichtlich, dass zugunsten des K Sonder-kündigungsschutz eingreift.

4. Richtige Berechnung der Kündigungsfrist gem. §622 II BGBDie ordentliche Kündigung bedarf keines Grundes,soweit nicht das Kündigungsschutzgesetz gewisse Er-fordernisse einer soziale Rechtfertigung der Kündi-gung vorschreibt (Ascheidt, Kündigungsrecht, Grund-lagen E Rn. 3). Zunächst ist jedoch fraglich, ob die Kündigungsfristseitens B korrekt berechnet wurde. Bei einer Fehlbe-rechnung würde sich schon aus diesem Grund eineUnwirksamkeit der Kündigung zum ausgesprochenenDatum (31.07.2008) ergeben. a) Fristberechnung gem. § 622 II BGB unter Berücks-ichtigung von § 622 II 2 BGB„[14] Unabhängig von der von den Parteien aus-schließlich thematisierten Frage der Anwendbarkeitdes § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB betrug die Kündigungs-frist nach § 622 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 BGB vier Monatezum Ende eines Kalendermonats. Das ist der 31. Au-gust 2008. Nach nicht angegriffener Feststellung des

Landesarbeitsgerichts war der Kläger seit dem 1. Au-gust 1995 bei der Beklagten bzw. ihren Rechtsvorgän-gerinnen beschäftigt. Nach Vollendung seines 25. Le-bensjahrs (9. November 1997) betrug die Beschäfti-gungsdauer bei Ausspruch der Kündigung im April2008 mehr als zehn und weniger als zwölf Jahre. Dievon der Beklagten gewählte Kündigungsfrist von dreiMonaten zum Ende eines Kalendermonats, die diezutreffende gesetzliche Kündigungsfrist wäre, wenndas Arbeitsverhältnis mindestens acht, aber wenigerals zehn Jahre bestanden hat (§ 622 Abs. 2 Nr. 3BGB), lässt sich nur damit erklären, dass die Beklagtelediglich die sich aus dem Arbeitsvertrag des Klägersmit ihrer unmittelbaren Rechtsvorgängerin, der ShGmbH, ergebende Beschäftigungsdauer ab 1. Januar1999 berücksichtigt, diejenige aus dem Arbeitsvertragdes Klägers mit der S, einer weiteren Rechtsvorgänge-rin, jedoch außer Betracht gelassen hat.“Damit ist selbst bei Berücksichtigung von § 622 II 2BGB das von B ausgesprochene Fristende fehlerhaft.Die Kündigung zum 31.07.2008 ist also schon aus die-sem Grunde zunächst unwirksam.

b) Fristberechnung gem. § 622 II BGB unter Berücks-ichtigung der aktuellen Rechtsprechung des EuGH

aa) EU-Rechtswidrigkeit des § 622 II 2 BGBAußerdem ist zu erkennen, dass die Vorschrift des §622 II 2 BGB, die die Beschäftigungsjahre vor dem25. Lebensjahr des Arbeitnehmers bei der Fristberech-nung ausschließt, gegen das EU-Verbot der Altersdis-kriminierung verstößt und damit rechtswidrig ist:„[16] § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB, der bei der Berech-nung der Beschäftigungsdauer Zeiten, die vor derVollendung des 25. Lebensjahrs des Arbeitnehmersliegen, nicht berücksichtigt, ist nicht anzuwenden.[17] Der Gerichtshof der Europäischen Union hat er-kannt, dass das Unionsrecht, insbesondere das Verbotder Diskriminierung wegen des Alters in seiner Kon-kretisierung durch die Richtlinie 2000/78/EG des Ra-tes vom 27. November 2000 zur Festlegung eines all-gemeinen Rahmens für die Verwirklichung derGleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf dahinauszulegen ist, dass es einer Regelung wie § 622 Abs.2 Satz 2 BGB entgegensteht, nach der vor Vollendungdes 25. Lebensjahrs liegende Beschäftigungszeiten desArbeitnehmers bei der Berechnung der Kündigungs-frist nicht berücksichtigt werden (19. Januar 2010 -C-555/07 - [Kücükdeveci] Rn. 43, AP Richtlinie2000/78/EG Nr. 14 = EzA Richtlinie 2000/78EG-Vertrag 1999 Nr. 14).(…)“

bb) Rechtsfolge: Unanwendbarkeit Dies wirft die Frage auf, wie die unionsrechtswidrigeVorschrift zu behandeln ist. Dies hängt von der Quali-tät des Rechtssatzes ab, gegen den verstoßen wird.

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Zwar ist der Grundsatz des Verbots der Altersdiskri-minierung in der Richtlinie 2000/78/EG enthalten,doch ist er dort nicht verwurzelt. Vielmehr handelt essich um eine Ausprägung des Gleichbehandlungs-grundsatzes mit übergeordnetem Geltungsanspruchund primärrechtlichem Charakter. Wird gegen Primär-recht der EU verstoßen, greift der Anwendungsvor-rang des EU-Rechts. In solchen Fällen sind die natio-nalen Gerichte befugt, die als unionsrrechtswidrig er-kannte Vorschrift aus eigenem Ermessen unangewen-det zu lassen, ohne dass es einer Vorlage zum EuGHgem. Art. 267 II AEUV bedarf. Das gilt auch für Kündigungen, die vor dem Urteil desEuGH zu § 622 II 2 BGB am 19.01.2010 ausgespro-chen wurden, denn der Gerichtshof gewährt in diesemFall keinen Vertrauensschutz:„[17] (…) Dabei obliegt es dem nationalen Gericht,bei dem ein Rechtsstreit über das Verbot der Diskrimi-nierung wegen des Alters in seiner Konkretisierungdurch die Richtlinie 2000/78/EG anhängig ist, im Rah-men seiner Zuständigkeiten den rechtlichen Schutz,der sich für den Einzelnen aus dem Unionsrecht er-gibt, sicherzustellen und die volle Wirksamkeit desUnionsrechts zu gewährleisten, indem es erforderli-chenfalls jede diesem Verbot entgegenstehende Be-stimmung des nationalen Rechts unangewendet lässt(EuGH 19. Januar 2010 - C-555/07 - [Kücükdeveci]Rn. 51, aaO; 22. November 2005 - C-144/04 - [Man-gold] Rn. 77, Slg. 2005, I-9981).[18] Daran ist der Senat gebunden. Wegen des An-wendungsvorrangs des Unionsrechts ist § 622 Abs. 2Satz 2 BGB nicht anzuwenden (BVerfG 6. Juli 2010 -2 BvR 2661/06 - Rn. 53, NZA 2010, 995; vgl. auchBVerfG Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senatsvom 18. November 2008 - 1 BvL 4/08 - Rn. 12, EzABGB 2002 § 622 Nr. 6).[19] Die Unanwendbarkeit des § 622 Abs. 2 Satz 2BGB gilt auch für Kündigungen, die - wie hier - vorder Entscheidung des Gerichtshofs vom 19. Januar2010 ausgesprochen worden sind. Der Gerichtshof hatden Tenor seiner Entscheidung zeitlich nicht begrenztund damit keinen Vertrauensschutz gewährt. Die Ent-scheidung ist deshalb für alle Kündigungen maßgeb-lich, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist für dasMerkmal Alter der Richtlinie 2000/78/EG (2. Dezem-ber 2006) ausgesprochen wurden (vgl. EuGH 15.März 2005 - C-209/03 - [Bidar] Rn. 66, Slg. 2005,I-2119; zu den Voraussetzungen einer zeitlichen Be-schränkung durch den Gerichtshof EuGH 12. Februar2009 - C-138/07 - [Cobelfret] Rn. 68, Slg. 2009,I-731; 20. September 2001 - C-184/99 - [Grzelczyk]Rn. 50 ff., Slg. 2001, I-6193).”

cc) Zwischenergebnis Für die Berechnung der Beschäftigungsdauer sind da-her sämtliche Beschäftigungsjahre des K bei seinem

Arbeitgeber zu berücksichtigen, mithin mehr als zwölfJahre. Somit ist § 622 II 1 Nr. 5 BGB einschlägig, wo-nach die Kündigungsfrist fünf Monate zum Ende einesKalendermonats beträgt. Richtiges Fristende wäre da-mit der der 30.09.2008 gewesen.Die Kündigung der B vom 22.04.2008 war jedenfallszum 31.07.2008 unwirksam.

5. Auslegung als Kündigung zum nächstmöglichenTerminEs ist jedoch zu überprüfen, ob die Kündigung nichtals solche zum nächstmöglichen Termin ausgelegtwerden kann:„[23] Die Kündigung der Beklagten vom 22. April2008 zum 31. Juli 2008 kann nicht als eine Kündigungzum 30. September 2008 ausgelegt werden.[24] Die vom Landesarbeitsgericht unterlassene Aus-legung dieser atypischen Willenserklärung kann derSenat selbst vornehmen, weil der erforderliche Sach-verhalt vollständig festgestellt und kein weiteres tat-sächliches Vorbringen der Parteien zu erwarten ist(ständige Rechtsprechung, vgl. nur BAG 11. Juli 2007- 7 AZR 501/06 - Rn. 35, AP HRG § 57a Nr. 12 = EzATzBfG § 15 Nr. 2; 15. Dezember 2005 - 8 AZR106/05 - zu II 1 a der Gründe mwN, AP BGB § 611Haftung des Arbeitgebers Nr. 36 = EzA BGB 2002 §611 Arbeitgeberhaftung Nr. 4).[25] Gegen eine Auslegung als Kündigung zum 30.September 2008 spricht zunächst der Wortlaut derKündigungserklärung, die ausdrücklich zum 31. Juli2008 erfolgte, ohne dass die Kündigungserklärungselbst Anhaltspunkte dafür enthielte, die Beklagte ha-be die Kündigung (auch) zu einem anderen Termingewollt oder das angegebene Datum sei nur das Er-gebnis einer vorangegangenen Berechnung anhandmitgeteilter Daten. Außerhalb der Kündigungserklä-rung liegende Umstände dafür, die Beklagte habe eineKündigung zum 30. September 2008 in für den Klägererkennbarer Weise gewollt, haben die Parteien wedervorgetragen noch das Landesarbeitsgericht fest-gestellt.[27] Im Übrigen muss sich aus der Kündigungserklä-rung ergeben, zu welchem Zeitpunkt das Arbeitsver-hältnis beendet werden soll (BAG 15. Dezember 2005- 2 AZR 148/05 - Rn. 24, BAGE 116, 336). Ist eineordentliche Kündigung ohne weiteren Zusatz zu einembestimmten Datum erklärt worden, steht deshalb inFällen wie dem vorliegenden auch das Bestimmtheits-gebot der Auslegung der Kündigungserklärung zu ei-nem anderen Termin entgegen. Es ist nicht die Auf-gabe des Arbeitnehmers, darüber zu rätseln, zu wel-chem anderen als in der Kündigungserklärung angege-benen Termin der Arbeitgeber die Kündigung gewollthaben könnte.“Eine Auslegung als Kündigung zum nächstmöglichenTermin ist damit nicht möglich.

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6. UmdeutungFraglich ist, ob eine Umdeutung der Kündigung gem.§ 140 BGB in eine ordentliche Kündigung zumnächstmöglichen Termin in Betracht kommt. „[30] Im Streitfalle scheidet eine Umdeutung aus, weil§ 140 BGB ein nichtiges Rechtsgeschäft und damit dieUnwirksamkeit der erklärten Kündigung erfordert.Eine Umdeutung kommt deshalb nur in Betracht,wenn der Arbeitnehmer die fehlerhafte Kündigungs-frist mit der fristgebundenen Klage nach § 4 Satz 1KSchG angegriffen hat und nicht die Fiktionswirkungdes § 7 KSchG eingetreten ist.[31] Dass die Fiktionswirkung des § 7 KSchG auchdie Unwirksamkeit einer Kündigung wegen einer auf-grund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts zukurzen Kündigungsfrist erfasst, verstößt nicht gegenden Effektivitätsgrundsatz.[32] Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofsder Europäischen Union ist die Festsetzung angemes-sener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung alsAnwendungsfall des grundlegenden Prinzips derRechtssicherheit mit dem Unionsrecht vereinbar, so-fern damit die Ausübung eines Rechts nicht praktischunmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird (8.Juli 2010 - C-246/09 - [Bulicke] Rn. 36, 42, NZA2010, 869; 12. Februar 2008 - C-2/06 - [Kempter] Rn.58, Slg. 2008, I-411; 24. September 2002 - C-255/00 -[Grundig Italiana] Rn. 34, Slg. 2002, I-8003).[33] Bereits das Kündigungsschutzgesetz vom 10. Au-gust 1951 (BGBl. I S. 499) hat den allgemeinen Kün-digungsschutz an das Erfordernis geknüpft, die Sozial-widrigkeit einer Kündigung innerhalb von drei Wo-chen nach Zugang der Kündigung gerichtlich geltendzu machen. Mit Wirkung zum 1. Januar 2004 hat derGesetzgeber das Erfordernis einer fristgebundenenKlage auf alle Unwirksamkeitsgründe für eine schrift-lich zugegangene Kündigung erstreckt. Eine entspre-chende Klagefrist gilt seit 1. Oktober 1996 für dieGeltendmachung der Unwirksamkeit einer Befristung

des Arbeitsverhältnisses (§ 1 Abs. 5 BeschFG, § 17TzBfG). Die Befristung der Klagemöglichkeit und dienach Fristablauf eintretende Fiktion der Rechtswirk-samkeit der Kündigung bezwecken die Herstellungalsbaldiger Klarheit über Fortbestand oder Ende desArbeitsverhältnisses (allgemeine Ansicht, vgl. nurBAG 22. Juli 2010 - 6 AZR 480/09 - Rn. 8, NZA2010, 1142; von Hoyningen-Huene/Linck § 4 Rn. 4mwN). Sie erschweren den Kündigungsschutz des Ar-beitnehmers nicht übermäßig, zumal § 5 KSchG dienachträgliche Klagezulassung eröffnet, wenn ein Ar-beitnehmer nach erfolgter Kündigung trotz Anwen-dung aller ihm nach Lage der Umstände zuzumuten-den Sorgfalt verhindert war, Kündigungsschutzklageinnerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftli-chen Kündigung zu erheben.“Somit scheidet auch eine Umdeutung aus. Die Kündi-gung ist allerdings auch ohne Umdeutung bereits gem.§ 7 KSchG wirksam.

[Anm.: Wie man an der Prüfungsreihenfolge des Se-nats erkennen kann, geht die Auslegung der Umdeu-tung vor. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Aus-legung gem. §§ 133, 157 BGB den wirklichen Willendes Erklärenden nachzuvollziehen versucht, währenddie Umdeutung gem. § 140 BGB den hypothetischenWillen ermittelt. Anders als die Auslegung verlangtdie Umdeutung nach § 140 BGB außerdem ein nichti-ges Rechtsgeschäft.]

III. ErgebnisDie Kündigung zum 31.07.2008 ist wegen Verstrei-chenlassens der Klagefrist des § 4 S. 1 KSchG i.V.m.der Wirksamkeitsfiktion des § 7 KSchG als wirksamanzusehen. Folglich ist das Arbeitsverhältnis zum31.07.20089 beendet worden. Ein Anspruch auf An-nahmeverzugsvergütung gem. § 615 S. 1 i.V.m. § 611BGB und dem Arbeitsvertrag besteht daher nicht. Die Klage ist unbegründet; sie hat keinen Erfolg.

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Standort: Strafrecht Problem: Abpressen von Bankkarte und PIN

BGH, URTEIL VOM 30.09.2010

3 STR 294/10 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

Problemdarstellung:

Der Angeklagte hatte das Opfer angegriffen, um die-sem Wertgegenstände abzunehmen. Dabei hatte er dasOpfer mit einem abgebrochenen Besenstiel gewürgt,sodass sich dieses nicht mehr wehren konnte. Er hattedem Opfer dann zunächst zwei Bankkarten abgenom-men. Um diese nutzen zu können, hatte er das Opferdann durch weiteres Würgen dazu gezwungen, ihm dieentsprechenden Geheimnummern (PIN) zu verraten.Allerdings waren die Konten, zu denen die Bankkar-ten gehörten, nicht gedeckt, sodass der Angeklagteauch mit diesen dort kein Geld hätte abheben können.

Das Landgericht Aurich hatte den Angeklagten auf-grund dieses Verhaltens wegen (besonders) schwerenRaubes, §§ 249 I, 250 II Nr. 1 StGB, (besonders)schwerer räuberischer Erpressung, §§ 253 I, 255, 250II Nr. 1 StGB, und gefährlicher Körperverletzung, §§223 I, 224 I Nr. 2 StGB, verurteilt. Auf die Revisiondes Angeklagten hin änderte der BGH lediglich denSchuldspruch mit der Maßgabe, dass dieser sich hin-sichtlich der besonders schweren räuberischen Erpres-sung nicht wegen eines vollendeten, sondern nur we-gen eines versuchten Delikts strafbar gemacht habe.Zwar könne es grundsätzlich bereits einen Ver-mögensnachteil i.S.v. §§ 253 I, 255 StGB (und somiteine vollendete räuberische Erpressung) darstellen,wenn der Täter die Bankkarte des Opfers besitze unddie entsprechende PIN kenne, da die dann bestehendejederzeitige Zugriffsmöglichkeit des Täters auf dasKontoguthaben des Opfers einen Nachteil für dessenVermögen darstelle. Im vorliegenden Fall sei dies je-doch objektiv nicht gegeben, da mangels Kontode-ckung tatsächlich nicht die Möglichkeit für den Täterbestand, von den Konten des Opfers Geld abzuheben.Deswegen sei lediglich eine Versuchsstrafbarkeit ge-geben.

Prüfungsrelevanz:

Die vorliegende Entscheidung befasst sich mit einemklassischen Examensproblem, nämlich der Frage, obdie Preisgabe einer Geheimzahl durch das Opfer zueiner Strafbarkeit wegen (räuberischer) Erpressungführen kann. Zwar stellt die vorliegende Entscheidunginsofern keine Änderung der bisherigen Rechtspre-chung dar, sie präzisiert jedoch die Auffassung desBGH. Aufgrund der Tatsache, dass sich die §§ 249 ff.StGB in der jüngeren Vergangenheit als Examensthe-men einer besonders großen Beliebtheit erfreut habenund der vorliegende Fall bei einem übersichtlichenSachverhalt Anlass dazu bietet, anspruchsvolle Pro-

bleme im Rahmen dieser Delikte anzusprechen, ist esals höchst wahrscheinlich anzusehen, dass die vorlie-gende Entscheidung für verschiedenste Examensauf-gaben (Klausuren, Kurzvorträge, Prüfungsgespräche)verwertet werden wird.

Ein klassischer Streit im Rahmen des Tatbestandes der(räuberischen) Erpressung betrifft die Frage, welcheAnforderungen an die Reaktion des Opfers zu stellensind. Die Rechtsprechung und ein Teil der Literaturlassen insofern - entsprechend dem Wortlaut von §253 I StGB - jedes Handeln, Dulden oder Unterlassenausreichen (BGHSt 42, 196, 199; BGH, NJW 1995,2799; Krey/Hellmann, BT II, Rn. 305; Hecker, JA1998, 301, 305). Die herreschende Literatur hingegenverlangt - wegen der strukturellen Vergleichbarkeitder Tatbestände von Erpressung und Betrug - insoferneine Vermögensverfügung (Lackner/Kühl, § 253 Rn.3; Schönke/Schröder-Eser, § 253 Rn. 8; Rengier, BT I,§ 11 Rn. 10; Noak/Sengbusch, JURA 2005, 494, 495f.). Innerhalb dieser Auffassung ist dann wiederumstreitig, ob eine Vermögensverfügung i.S.v. § 253 IStGB - ebenso wie bei § 263 I StGB - ein Handeln,Dulden oder Unterlassen des Opfers voraussetzt, dassich unmittelbar vermögensmindernd auswirkt (sog.enge Verfügungstheorie, vgl. Schönke/Schröder-Eser,§ 253 Rn. 8; Wessels/Hillenkamp, BT II, Rn. 713; Bi-letzki, JURA 1995, 635, 637) oder ob auch ein ledig-lich mittelbar vermögensminderndes Verhalten füreine solche Vermögensverfügung genügt (sog. weiteVerfügungstheorie, Lackner/Kühl, § 253 Rn. 3; Tenc-khoff, JR 1974, 489, 493). Insofern stellt sich im vor-liegenden Fall nach den Verfügungstheorien der Lite-ratur die Frage, ob sich die bloße Preisgabe der PINdurch das Opfer überhaupt vermögensmindernd aus-wirken kann. Für den BGH hingegen ist das Vorliegeneiner tatbestandlichen Opferreaktion hier unproblema-tisch (und wird von diesem auch nicht weiter disku-tiert), da die Nennung der PIN natürlich eine Hand-lung und somit nach der Rechtsprechung eine taugli-che Opferreaktion darstellt.

Vom BGH diskutiert wird hingegen - aus letztlichdenselben Gründen - das Vorliegen des für eine Straf-barkeit wegen (räuberischer) Erpressung erforderli-chen Vermögensnachteils. Der Begriff des Ver-mögensnachteils i.S.v. § 253 I StGB entspricht dem-jenigen des Vermögensschadens i.S.v. § 263 I StGB(BGH, NStZ-RR 1998, 233; Fischer, § 253 Rn. 12);ein solcher ergibt sich aus der durch eine Gesamtsal-dierung aller Vermögenspositionen zu ermittelndennegativen Bilanz des Opfervermögens vor und nachder Tat, d.h. das Opfer muss nach der Tat wenigerVermögen haben als davor (BGH, NStZ 1997, 32;NJW 2004, 2603; Schönke/Schröder-Cramer/Perron, §

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263 Rn. 99). Insofern ist bei § 253 I StGB - ebensowie bei § 263 I StGB - anerkannt, dass auch eine kon-krete Vermögensgefährdung für einen solchen Ver-mögensnachteil ausreichend sein kann (sog. “Gefähr-dungsschaden”, BGH, NStZ-RR 2004, 333; Fischer, §253 Rn. 15a). Bereits in der Vergangenheit hatte derBGH entschieden, dass in Fällen, in denen der Tätervom Opfer die PIN erfährt, jedenfalls dann einGefährdungsschaden vorliegt, wenn der Täter bereitsim Besitz der entsprechenden Bankkarte ist und somitjederzeit auf das Konto des Opfers zugreifen kann(BGH, NJW 2001, 1508; RA 2004, 735, 740 = NStZ-RR 2004, 333, 334). Diese Rechtsprechung führt derBGH in der vorliegenden Entscheidung zwar fort,lehnt allerdings dennoch einen Vermögensnachteilbeim Opfer ab, da dessen Konten keine Deckung auf-wiesen, sodass der Täter tatsächlich dort nicht abhe-ben konnte und somit das Vermögen des Opfers auchnicht konkret gefährdet war.

Vertiefungshinweise:“ Zur erforderlichen Opferreaktion bei § 253 I StGB:BGHSt 7, 252; 42, 196; BGH, NJW 1995, 2799; Bi-letzki, JURA 1995, 635; Hecker, JA 1998, 301; No-ak/Sengbusch, JURA 2005, 494

“ Zum Vermögensnachteil i.S.v. § 253 I StGB beiPreisgabe von Zugangsdaten: BGH, NJW 2001, 1508;RA 2004, 735 = NStZ-RR 2004, 333; Graf, NStZ2007, 129; Graul, JURA 2000, 204

Kursprogramm:“ Examenskurs: “Trio mit vier Fäusten”

Leitsätze (der Redaktion):1. Die Kenntnis von den geheimen Zugangsdatenzu einem Bankkonto kann das Vermögen des Op-fers jedenfalls dann beeinträchtigen, wenn sich derTäter zudem im Besitz der zugehörigen Bankkartebefindet und ihm deshalb die jederzeitige Zugriffs-möglichkeit auf den Auszahlungsanspruch des Be-rechtigten gegenüber der die Karte akzeptierendenBank eröffnet ist.2. Voraussetzung für die Zufügung eines Vermö-gensnachteils i.S.v. §§ 253 I, 255 StGB ist in diesenFällen jedoch, dass durch die zusätzlich erlangteKenntnis von der Geheimzahl mit wirtschaftlichenNachteilen für das Vermögen des Genötigten bzw.des betroffenen Bankinstituts ernstlich zu rechnenist. Dies ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn dasKonto des Opfers keine Deckung aufweist undGeldabhebungen deshalb nicht möglich sind.

Sachverhalt:A griff S in dessen Wohnung mit einem Besenstiel an,um Bargeld oder andere Wertsachen zu erlangen, die

er bei diesem vermutete. Er versetzte ihm mit demGegenstand zunächst Schläge gegen den Kopf und inden Nacken, wodurch S eine Prellung und eine Platz-wunde erlitt, und drückte sodann einen abgebrochenenTeil des Stiels mit beiden Händen gegen die Kehle desS. Während des Würgens entnahm A das in der Ho-sentasche befindliche Portemonnaie des S. Dieses ent-hielt zwar kein Bargeld, aber zwei Bankkarten. Durchweiteres Würgen wurde der S gezwungen, die zu denBankkarten gehörenden PIN zu nennen, die A sichnotierte. Die Konten, für die die Karten ausgestelltwaren, wiesen jedoch kein Guthaben auf, sodass Bar-geldabhebungen gar nicht möglich waren.

Hat A sich durch das Verhalten in der Wohnung des Sstrafbar gemacht?

Lösung:

A. Strafbarkeit gem. §§ 249 I, 250 II Nr. 1 StGB durchdas Würgen und das Ansichnehmen des Portemonnai-esDadurch, dass A den S mit einem abgebrochenen Be-senstiel würgte und ihm dann dessen Portemonnaieabnahm, könnte A sich wegen besonders schwerenRaubes gem. §§ 249 I, 250 II Nr. 1 StGB strafbar ge-macht haben.

I. Tatbestand

1. Grunddelikt: § 249 I StGB

a. Qualifiziertes NötigungsmittelA müsste zunächst ein qualifiziertes Nötigungsmittelangewandt haben, also Gewalt gegen eine Person oderDrohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oderLeben.

aa. Gewalt gegen eine PersonDurch das Würgen könnte A Gewalt gegen eine Per-son angewendet haben.Personengewalt i.S.v. § 249 I StGB ist der unmittelbaroder mittelbar auf den Körper des Opfers bezogene,körperlich wirkende Zwang zur Überwindung geleiste-ten oder erwarteten Widerstandes (Fischer, § 249 Rn.4a; Rengier, BT I, § 7 Rn. 3).Das Würgen mit dem Besenstiel stellte einen unmittel-bar auf den Körper des S bezogenen, körperlich wir-kenden Zwang dar, durch den A auch den erwartetenWiderstand des S gegen den Verlust des Portemonnai-es überwinden wollte.A hat also Gewalt gegen eine Person angewandt.

bb. Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oderLebenDass A dem S auch mit einer gegenwärtigen Gefahr

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für dessen Leib oder Leben gedroht hat, lässt sich demSachverhalt nicht entnehmen.

b. Fremde bewegliche SacheBei dem von A erbeuteten Portemonnaie und den da-rin enthaltenen Bankkarten müsste es sich um fremdebewegliche Sachen handeln.Sache i.S.v. § 249 I StGB ist jeder körperliche Gegen-stand (Schönke/Schröder-Eser, § 249 Rn. 2, § 242 Rn.9). Beweglich ist eine Sache, wenn sie tatsächlich fort-geschafft werden kann (Schönke/Schröder-Eser, § 249Rn. 2, § 242 Rn. 11; Krey/Hellmann, BT II, Rn. 185,2). Fremd ist die Sache, wenn sie zumindest auch imEigentum eines anderen steht (Fischer, § 249 Rn. 3, §242 Rn. 5).Sowohl beim Portemonnaie als auch bei den Bankkar-ten handelt es sich um bewegliche Sachen. Da dasPortemonnaie im Eigentum des S steht und die Bank-karten - je nach konkreter Ausgestaltung des jeweili-gen Vertragsverhältnisses - entweder im Eigentum derBank oder des Kunden (also S), sind diese Sachenauch alle für A fremd.

c. WegnahmeA müsste diese Sachen weggenommen haben. Weg-nahme i.S.v. § 249 I StGB ist - ebenso wie bei § 242 IStGB - der Bruch fremden und die Begründung neuen,nicht notwendig tätereigenen, Gewahrsams (Fischer, §249 Rn. 3, § 242 Rn. 16; Schönke/Schröder-Eser, §249 Rn. 2, § 242 Rn. 22).Durch das Ergreifen des Portemonnaies hat A den bisdahin bestehenden Gewahrsam des S daran und an dendarin enthaltenen Bankkarten aufgehoben und neuen,eigenen Gewahrsam begründet. Dies müsste jedochauch einen Gewahrsamsbruch darstellen.Ebenso wie beim Diebstahl ist auch beim Raub einGewahrsamsbruch dann gegeben, wenn der Täter denfremden Gewahrsam gegen oder ohne den Willen desGewahrsamsinhabers aufhebt (Lackner/Kühl, § 249Rn. 1; § 242 Rn. 14). Ein Einverständnis des Opfers indie Gewahrsamsverschiebung schließt also die Weg-nahme aus (BGHSt 4, 199; Lackner/Kühl, § 249 Rn.1, § 242 Rn. 14). Während diese Wertung i.R.v. § 242I StGB uneingeschränkt gilt, würde der Tatbestand des§ 249 I StGB weit gehend leer laufen, wenn man hierjedes - auch ein abgenötigtes - Einverständnis des Op-fers als Tatbestandsausschluss heranziehen würde.Deshalb muss das Vorliegen des Gewahrsamsbruchsbei § 249 I StGB etwas anders geprüft werden als bei§ 242 I StGB.Nach welchen Kriterien das Vorliegen eines Gewahr-samsbruchs und somit einer Wegnahme i.R.v. § 249 IStGB zu prüfen ist, hängt letztlich von dem Verhältnisvon Raub und räuberischer Erpressung und dem füreine Erpressung erforderlichen Opferverhalten ab.Nach der Rechtsprechung und einem Teil der Literatur

kommt als Opferverhalten im Rahmen einer (räuberi-schen) Erpressung - entsprechend dem Gesetzeswort-laut - jedes Handeln, Dulden oder Unterlassen in Be-tracht. Deshalb stelle § 249 I StGB eine lex specialiszu §§ 253 I, 255 StGB dar, da jeder Raub immer aucheine räuberische Erpressung beinhalte (bei der dasOpferverhalten dann in der Duldung der Wegnahmebestehe; vgl. BGH, NStZ 2003, 604, 605; Krey/Hell-mann, BT II, Rn. 305). Eine Abgrenzung zwischenRaub und räuberischer Erpressung sei deshalb nachdem äußeren Erscheinungsbild vorzunehmen (BGHSt41, 123, 125; BGH, NStZ 1999, 350).Nach herrschender Auffassung in der Literatur mussdas Verhalten des Opfers bei einer (räuberischen) Er-pressung stets - wie beim Betrug - eine Vermögens-verfügung darstellen. Da der Raub hingegen - wie derDiebstahl - eine Wegnahme voraussetzt, stünden §§253 I, 255 StGB und § 249 I StGB - ebenso wie § 263I StGB und § 242 I StGB - in einem Exklusivitätsver-hältnis (Schönke/Schröder-Eser, § 255 Rn. 3; Wes-sels/Hillenkamp, BT II, Rn. 711). Die Abgrenzunghabe bei beiden Deliktspaaren nach der inneren Wil-lensrichtung des Opfers zu erfolgen, wobei eine Weg-nahme i.R.v. § 249 I StGB dann anzunehmen sei,wenn das Opfer glaube, dass der Täter die Beute auchohne seine Mitwirkung erlangen könne, sich also nichtin einer “Schlüsselstellung” sehe (Joecks, § 249 Rn. 9;Wessels/Hillenkamp, BT II, Rn 713, 371).Das Entnehmen des Portemonnaies aus der Hosenta-sche des S ist vom äußeren Erscheinungsbild her einNehmen. Da A den Gewahrsam an dem Portemonnaieohne jede Mitwirkung des S erlangte, ist auch davonauszugehen, dass S glaubte, dass A die Beute ohneseine Mitwirkung erlangen könne und sich deshalbnicht in einer “Schlüsselstellung” sah. Nach beidenAuffassungen ist ein Gewahrsamsbruch und somit ei-ne Wegnahme gegeben.

d. VorsatzA handelte vorsätzlich bzgl. der objektiven Tatum-stände.

e. FinalzusammenhangDer Tatbestand des Raubes setzt nach h.M. zwischenden beiden Tathandlungen einen Finalzusammenhangvoraus, d.h. der Täter muss das qualifizierte Nöti-gungsmittel einsetzen, um die Wegnahme zu ermögli-chen oder zumindest zu erleichtern (BGH, NStZ 2003,431; 2004, 153, 154; Schönke/Schröder-Eser, § 249Rn. 7; Krey/Hellmann, BT II, Rn. 192).A hat S gerade deshalb gewürgt, um diesem seinPortemonnaie leichter wegnehmen zu können, sodassder erforderliche Finalzusammenhang gegeben ist.

f. Absicht rechtswidriger ZueignungA müsste in der Absicht rechtswidriger Zueignung

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gehandelt haben.

aa. ZueignungsabsichtA müsste zunächst mit Zueignungsabsicht gehandelthaben.Der Täter handelt dann mit Zueignungsabsicht, wenner Aneignungsabsicht und einen Enteignungswillenhat. Aneignungsabsicht ist die Absicht, die Sacheselbst oder den darin verkörperten Sachwert wenigs-tens vorübergehend dem eigenen Vermögen oder demVermögen eines Dritten einzuverleiben (Fischer, §249 Rn. 19, § 242 Rn. 33a, 41; Wessels/Hillenkamp,BT II, Rn. 337, 136). Enteignungswille erfordert denWillen des Täters, den Berechtigten auf Dauer ausseiner Eigentümerposition zu verdrängen, d.h. ihm dieSache oder den in ihr verkörperten Sachwert auf Dau-er zu entziehen (Schönke/Schröder-Eser, § 249 Rn. 8,§ 242 Rn. 47).A hatte zwar nicht die Absicht, das weggenommenePortemonnaie seinem Vermögen auch nur vorüberge-hend einzuverleiben, da nicht ersichtlich ist, dass erdieses benutzen oder in anderer Weise verwerten woll-te. Hinsichtlich der Bankkarten handelte A aber in derAbsicht, diese zu benutzen, um Geld von den betref-fenden Konten abzuheben. Er hatte also die Absicht,zumindest den Sachwert der Bankkarten jedenfallsvorübergehend seinem Vermögen einzuverleiben. EineAneignungsabsicht des A liegt somit vor. Bei lebens-naher Auslegung des Sachverhaltes ist auch davonauszugehen, dass A die Bankkarten nach Gebrauchnicht etwa dem S zurückgeben, sondern diese behal-ten, wegwerfen oder auf andere Weise dem S dauer-haft entziehen wollte, sodass A auch mit Enteignungs-willen gehandelt hat.A hat also mit Zueignungsabsicht bzgl. der Bankkar-ten gehandelt.

bb. Rechtswidrigkeit der beabsichtigten ZueignungDie von A beabsichtigte Zueignung der Bankkartenmüsste auch rechtswidrig gewesen sein.Rechtswidrig ist die vom Täter beabsichtigte Zueig-nung dann, wenn dieser keinen fälligen durchsetzba-ren Anspruch auf Übereignung der weggenommenenSache und kein Aneignungsrecht an dieser hat(Schönke/Schröder-Eser, § 249 Rn. 8, § 242 Rn. 59).Da A weder einen Übereignungsanspruch noch einAneignungsrecht bzgl. der Bankkarten besaß, war dievon ihm beabsichtigte Zueignung auch rechtswidrig.

cc. Vorsatz bzgl. Rechtswidrigkeit der beabsichtigtenZueignungA wusste auch, dass er keinen Übereignungsanspruchund kein Aneignungsrecht bzgl. der Bankkarten besaß,sodass er auch den erforderlichen Vorsatz hinsichtlichder Rechtswidrigkeit der von ihm beabsichtigten Zu-eignung besaß.

2. Qualifikation: § 250 II Nr. 1 StGB

a. Waffe oder anderes gefährliches WerkzeugBei dem Besenstiel, mit dem A den S würgte, müsstees sich um eine Waffe oder ein anderes gefährlichesWerkzeug gehandelt haben.Da ein Besenstiel nicht dazu bestimmt ist, Menschenzu verletzen, stellt er keine Waffe dar (vgl. Fischer, §250 Rn. 24, § 244 Rn. 4; Schönke/Schröder-Eser, §250 Rn. 28, § 244 Rn. 3). Es könnte sich bei dem Be-senstiel jedoch um ein anderes gefährliches Werkzeughandeln. Gefährliches Werkzeug i.S.v. § 250 II Nr. 1StGB ist - ebenso wie bei § 224 I Nr. 2 StGB - jederbewegliche Gegenstand, der nach seiner Beschaffen-heit und seiner konkreten Verwendung im Einzelfalldazu geeignet ist, erhebliche Verletzungen zuzufügen(BGHSt 45, 249; BGH, NStZ 1999, 301; StV 1999,92; Fischer, § 250 Rn. 6).Ein Besenstiel, mit dem das Opfer - wie im vorliegen-den Fall - gewürgt wird, ist geeignet, erhebliche Ver-letzungen zuzufügen und stellt deshalb ein anderesgefährliches Werkzeug i.S.v. § 250 II Nr. 1 StGB dar.

b. Bei der Tat verwendenA müsste das Werkzeug bei der Tat verwendet haben.Der Täter verwendet ein gefährliches Werkzeug, wenner es zweckgerichtet als Nötigungsmittel, also zur Ge-waltausübung oder als Drohmittel, einsetzt (BGHSt26, 176, 180; Schönke/Schröder-Eser, § 250 Rn. 29;Rengier, BT I, § 8 Rn. 9). “Bei der Tat” geschieht dieVerwendung jedenfalls dann, wenn sie zwischen Ver-suchsbeginn und Vollendung erfolgt (Joecks, § 250Rn. 24; Lackner/Kühl, § 250 Rn. 4, § 244 Rn. 2), nachAuffassung der Rechtsprechung kann insofern sogareine Verwendung zwischen Vollendung und Beendi-gung genügen (BGH, RA 2008, 775, 776 = NJW2008, 3651; RA 2009, 385, 387 = NJW-Spezial 2009,312, 313).A hat den Besenstiel dazu verwendet, zwischen Voll-endung und Beendigung des Raubes das Opfer zuschlagen und zu würgen, also Gewalt damit auszu-üben. A hat somit bei der Tat ein gefährliches Werk-zeug verwendet.

c. VorsatzA handelte auch vorsätzlich hinsichtlich der qualifizie-renden Merkmale.

II. Rechtswidrigkeit und SchuldA handelte auch rechtswidrig und schuldhaft.

III. ErgebnisA ist strafbar gem. §§ 249 I, 250 II Nr. 1 StGB.

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B. Strafbarkeit gem. §§ 253 I, 255, 250 II Nr. 1 StGBdurch das Würgen und das Ansichnehmen des Porte-monnaiesDurch das Würgen mit dem Besenstiel und das An-sichnehmen des Portemonnaies könnte A sich auchwegen besonders schwerer räuberischer Erpressunggem. §§ 253 I, 255, 250 II Nr. 1 StGB strafbar ge-macht haben.Nach der Rechtsprechung und einem Teil der Literaturstellt Raub nur eine lex specialis zur räuberischen Er-pressung dar (s.o.), sodass jeder Raub immer eine räu-berische Erpressung beinhaltet und diese deshalb aufKonkurrenzebene hinter dem spezielleren Raub zurüc-ktritt (BGH, NStZ 2003, 604, 605; Krey/Hellmann,BT II, Rn. 305). Da A sich wegen besonders schwerenRaubes gem. §§ 249 I, 250 II Nr. 1 StGB strafbar ge-macht hat (s.o.), ist nach dieser Auffassung der Tat-bestand des §§ 253 I, 255, 250 II Nr. 1 StGB - selbst-verständlich - mitverwirklicht, tritt aber auf Konkur-renzebene zurück.Nach herrschender Literatur stehen Raub und räuberi-sche Erpressung in einem Exklusivitätsverhältnis(s.o.). Da A den Tatbestand des §§ 249 I, 250 II Nr. 1StGB verwirklicht haben (s.o.), kann er somit nichtgleichzeitig auch den Tatbestand der §§ 253 I, 255,250 II Nr. 1 StGB erfüllen. Nach dieser Meinung istalso bereits der Tatbestand der besonders schwerenräuberischen Erpressung durch A nicht erfüllt.

Nach beiden Auffassungen ist also eine eigenständigeStrafbarkeit des A wegen besonders schwerer räuberi-scher Erpressung nicht gegeben.

C. Strafbarkeit gem. § 239a I 1. Fall StGB durch dasWürgenDadurch, dass er S mit dem Besenstiel würgte, um soan dessen Portemonnaie zu gelangen, könnte A sichauch wegen erpresserischen Menschenraubs gem. §239a I 1. Fall StGB strafbar gemacht haben.

I. Tatbestand

1. TathandlungA müsste S entführt oder sich des S bemächtigt haben.Entführen ist das Verbringen des Opfers gegen seinenWillen an einen anderen Ort, an dem es dem unge-hemmten Einfluss des Täters ausgesetzt ist (BGH,NJW 1995, 471, 472; Fischer, § 239a Rn. 4;Krey/Hellmann, BT II, Rn. 323).Da A und S während der gesamten Tatausführung inder Wohnung des S verblieben und A das Opfer nichtan einen anderen Ort verbrachte, ist ein Entführennicht gegeben.Sichbemächtigen ist die Erlangung der physischenHerrschaftsgewalt über das Opfer (BGH, NStZ-RR2004, 33, 334; Joecks, § 239a Rn. 9; Krey/Hellmann,

BT II, Rn. 324).A hat S mit einem Besenstiel gewürgt, sodass dieserweder fliehen noch sich gegen A wehren konnte. A hatalso die physische Herrschaftsgewalt über S erlangtund sich so dessen bemächtigt.

2. VorsatzA handelte vorsätzlich.

3. AusnutzungsabsichtA müsste auch in der Absicht gehandelt haben, dieSorge des Opfers um sein Wohl oder die Sorge einesDritten um das Wohl des Opfers zu einer Erpressung(§ 253 StGB) auszunutzen.Da A nicht vorhatte, einen Dritten mit in die Tat hin-einzuziehen, kommt eine Ausnutzungsabsicht allen-falls in der Variante in Betracht, dass A “die Sorge desOpfers (S) um sein Wohl” ausnutzen wollte.Der Tatbestand des § 239a I 1. Fall StGB bedarf je-doch in solchen Zweipersonenverhältnissen einer te-leologischen Reduktion (BGHSt 39, 36, 41 f.;Krey/Hellmann, BT II, Rn. 355a). Insofern ist nämlichzu beachten, dass ohne eine solche Einschränkung invielen Fällen des Raubes und der räuberischen Erpres-sung gleichzeitig ein Fall des erpresserischen Men-schenraubes vorläge, weil in der für § 249 I StGBbzw. §§ 253 I, 255 StGB erforderlichen qualifiziertenGewalt oder Drohung auch meist ein Sichbemächtigenliegt. Bei einer uneingeschränkten Anwendung von §239a I 1. Fall StGB neben §§ 249 I; 253 I, 255 StGBwürden Raub und räuberische Erpressung, obwohldiese eigentlich in solchen Konstellationen die typi-scheren Delikte darstellen, wegen der hohen Mindest-strafe des erpresserischen Menschenraubes letztlichvöllig an Bedeutung verlieren. Deshalb kann der Tat-bestand des § 239a I 1. Fall StGB hier nicht uneinge-schränkt anzuwenden sein, sondern bedarf einer teleo-logischen Reduktion. Bei der Durchführung dieserReduktion ist zu berücksichtigen, dass es sich bei §239 a I 1. Fall StGB um ein unvollkommen zweiakti-ges Delikt handelt (BGH, NJW 1995, 471; Fischer, §239a Rn. 7; Krey/Hellman, BT II, Rn. 335d). Nebendieser Deliktsstruktur spricht auch der Wortlaut derNorm (“auszunutzen”) dafür, § 239a I 1. Fall StGB inZweipersonenverhältnissen nur in den Fällen einer“stabilisierten Zwangslage” anzuwenden. Eine solcheist jedoch nur dann anzunehmen, wenn der Täter vor-hat, nach Schaffung der Zwangslage des Opfers (durchdas Entführen oder Sichbemächtigen, den ersten Tei-lakt) erst eine gewisse Zeit zu warten, bevor er danndiese Zwangslage zu einer Erpressung ausnutzt (derzweite Teilakt).Im vorliegenden Fall hat sich A des S insbesonderedadurch bemächtigt, dass er diesen mit einem abge-brochenen Besenstiel würgte. Diese Handlung stelltjedoch auch gleichzeitig die Gewaltanwendung im

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Rahmen des von A geplanten Vermögensdeliktes (§249 I StGB bzw. §§ 253 I, 255 StGB) dar (s.o.), so-dass keine Stabilisierung der Zwangslage eintretenkonnte. Aufgrund der erforderlichen teleologischenReduktion ist § 239a I 1. Fall StGB im vorliegendenFall nicht anwendbar.

II. ErgebnisA ist nicht strafbar gem. § 239a I 1. Fall StGB.

D. Strafbarkeit gem. § 239b I 1. Fall StGB durch dasWürgenAus demselben Grunde scheidet auch eine Strafbarkeitdes A wegen Geiselnahme gem. § 239b I 1. Fall StGBaus.

E. Strafbarkeit gem. §§ 242 I; 246 I; 240 I; 239 IStGB durch das Würgen und das Ansichnehmen desPortemonnaiesDurch das Würgen des S und das Ansichnehmen desPortemonnaies hat A sich auch wegen Diebstahls gem.§ 242 I StGB, Unterschlagung gem. § 246 I StGB, Nö-tigung gem. § 240 I StGB und Freiheitsberaubunggem. § 239 I StGB strafbar gemacht. Diese Deliktetreten jedoch alle hinter dem besonders schwerenRaub (s.o.) zurück.

F. Strafbarkeit gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2, 5 StGBdurch die Schläge und das WürgenDurch die Schläge und das Würgen mit dem Besens-tiel könnte A sich auch wegen gefährlicher Körper-verletzung gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2, 5 StGB zumNachteil des S strafbar gemacht haben.

I. Tatbestand

1. Grunddelikt: § 223 I StGBA müsste zunächst den Tatbestand des Grunddeliktsgem. § 223 I StGB verwirklicht haben, d.h. er müssteS körperlich misshandelt und/oder an der Gesundheitgeschädigt haben.Körperliche Misshandlung ist jede üble unangemesse-ne Behandlung, die das körperliche Wohlbefindenoder die körperliche Integrität des Opfers nicht nurunerheblich beeinträchtigt (BGHSt 25, 277; Joecks, §223 Rn. 4; LK-Lilie, § 223 Rn. 6). Gesundheitsschädi-gung ist das Hervorrufen oder Steigern eines patholo-gischen Zustands (BGH, NJW 1960, 2253; Fischer, §223 Rn. 6; Schönke/Schröder-Eser, § 223 Rn. 5).Sowohl die Schläge mit dem Besenstiel als auch dasWürgen stellen üble unangemessene Behandlungendes S dar, die zumindest dessen körperliches Wohlbe-finden erheblich beeinträchtigten. Durch die Schlägewurden bei S auch eine Prellung und eine Platzwunde,also pathologische Zustände, hervorgerufen.A hat also den Tatbestand des § 223 I StGB verwirk-

licht.

2. Qualifikation: § 224 I StGBA könnte auch Qualifikationsmerkmale verwirklichthaben.

a.§ 224 I Nr. 2 StGBA hat S mit einem Besenstiel geschlagen und gewürgt,er hat also die Körperverletzung mittels eines gefähr-lichen Werkzeugs (s.o.) begangen und somit den Qua-lifikationstatbestand des § 224 I Nr. 2 StGB erfüllt.

b. § 224 I Nr. 5 StGBDie von A begangene Körperverletzung könnte aucheine das Leben gefährdende Behandlung i.S.v. § 224 INr. 5 StGB darstellen.Zwar ist im Rahmen von § 224 I Nr. 5 StGB streitig,ob dieser Tatbestand erst beim Vorliegen einer kon-kreten Lebensgefahr erfüllt ist (so NK-Paeffgen, § 224Rn. 27; Stree, JURA 1980, 291) oder ob bereits eineabstrakte Lebensgefährdung hierfür ausreicht (soBGH, NStZ 2005, 156, 157; 2007, 339; OLG Hamm,NStZ-RR 2009, 15; Joecks, § 224 Rn. 38; Wes-sels/Hettinger, BT I, Rn. 282). Dies bedarf jedoch imvorliegenden Fall keiner Entscheidung, da es beimWürgen mit einem Besenstiel nur vom Zufall abhängt,ob das Opfer hieran verstirbt oder nicht, sodass bereitseine konkrete Lebensgefahr für S gegeben war. A hatalso auch den Tatbestand des § 224 I Nr. 5 StGB er-füllt.

3. VorsatzA handelte vorsätzlich, sowohl bezüglich des Grund-delikts als auch hinsichtlich der qualifizierendenMerkmale.

II. Rechtswidrigkeit und SchuldA handelte auch rechtswidrig und schuldhaft.

III. ErgebnisA ist strafbar gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2, 5 StGB.

G. Strafbarkeit gem. §§ 249 I, 250 II Nr. 1 StGB durchdas Erzwingen der Nennung der PINEine Strafbarkeit des A wegen besonders schwerenRaubes gem. §§ 249 I, 250 II Nr. 1 StGB dadurch,dass A den S mit dem Besenstiel würge und ihmzwang, ihm die Geheimzahlen (PIN) zur Nutzung dervon ihm geraubten Bankkarten (s.o) zu verraten, schei-tert daran, dass es sich bei den Geheimzahlen nicht umSachen und somit nicht um taugliche Tatobjekte füreinen Raub handelt.

H. Strafbarkeit gem. §§ 253 I, 255, 250 II Nr. 1 StGBdurch das Erzwingen der Nennung der PINDadurch, dass er den S mit einem Besenstiel würgte

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und diesen so dazu zwang, ihm die PIN zur Nutzungder geraubten Bankkarten zu verraten, könnte A sichjedoch wegen besonders schwerer räuberischer Er-pressung gem. §§ 253 I, 255, 250 II Nr. 1 StGB straf-bar gemacht haben.

I. TatbestandA müsste zunächst den Tatbestand der räuberischenErpressung gem. §§ 253 I, 255 StGB verwirklicht ha-ben.

1. Qualifiziertes Nötigungsmittel: Gewalt gegen einePersonA hat S mit dem Besenstiel gewürgt und so Gewaltgegen eine Person angewandt (s.o.).

2. OpferreaktionDie Preisgabe der PIN durch S müsste eine tatbestand-liche Opferreaktion darstellen.Bei der räuberischen Erpressung ist - ebenso wie beimGrunddelikt des § 253 I StGB - streitig, welche An-forderungen an die Opferreaktion zu stellen sind.

a. Rechtsprechung und ein Teil der LehreNach der Rechtsprechung und einem Teil der Lehrekommt als Opferreaktion bei einer (räuberischen) Er-pressung - entsprechend dem Wortlaut von § 253 IStGB - jedes Handeln, Dulden oder Unterlassen inBetracht (s.o.). Dass S dem A die PIN genannt hat,stellt eine Handlung dar, sodass nach dieser Auffas-sung eine taugliche Opferreaktion gegeben ist.

b. Herrschende LiteraturNach überwiegender Auffassung in der Literatur mussdie Opferreaktion bei einer (räuberischen) Erpressungjedoch eine Vermögensverfügung darstellen. Unterwelchen Voraussetzungen eine solche Vermögensver-fügung gegeben ist, ist jedoch auch innerhalb dieserAuffassung streitig.

aa. Enge VerfügungstheorieNach der sog. engen Verfügungstheorie ist der Begriffder Vermögensverfügung bei § 253 I StGB - und da-mit natürlich auch bei der Qualifikation gem. § 255StGB - genauso zu verstehen wie beim Betrug gem. §263 I StGB, setzt also ein Handeln, Dulden oder Un-terlassen des Opfers voraus, das sich unmittelbar ver-mögensmindernd auswirkt.Fraglich ist dann jedoch, ob sich die Preisgabe derPIN durch S unmittelbar mindernd auf dessen Ver-mögen auswirkt.

(1) 1. UntermeinungInnerhalb der engen Verfügungstheorie wird eine un-mittelbare Vermögensminderung durch die Preisgabeeiner PIN teilweise mit der Begründung abgelehnt,

dass es diese Opferreaktion dem Täter nur ermögliche,dass dieser durch eine eigene weitere Handlung - dieBenutzung der Bankkarte an einem Geldautomaten -auf das Vermögen des Opfers zugreife und dieses min-dere; die Vermögensminderung des Opfers trete somitaber erst durch ein späteres deliktisches Verhalten desTäters ein und nicht unmittelbar durch die Preisgabeder PIN (Schönke/Schröder-Cramer/Perron, § 263 Rn.145; Wessels/Hillenkamp, BT II, Rn. 732; Hecker, JA1998, 300).Nach dieser Auffassung wäre also keine unmittelbareVermögensminderung und somit auch keine tauglicheOpferreaktion gegeben.

(2) 2. UntermeinungNach einer anderen Meinungsgruppe innerhalb derengen Verfügungstheorie kann die Preisgabe einerPIN doch eine unmittelbare Vermögensminderungbewirken, da hierdurch grundsätzlich - jedenfalls so-fern der Täter bereits im Besitz der entsprechendenBankkarte ist - zumindest eine konkrete Gefährdungdes Opfervermögens eintrete (Graul, JURA 200, 204,208, Seier, JA 1984, 441). Da aber i.R.v. § 263 I StGBanerkannt sei, dass für eine Vermögensverfügung aucheine konkrete Vermögensgefährdung ausreichen kön-ne (vgl. BGH. NStZ 2004, 264, 265; Rengier, BT I, §13 Rn. 83), müsse dies auch für §§ 253 I, 255 StGBgelten.Nach dieser Auffassung wäre also die Preisgabe einerPIN aufgrund der dadurch bewirkten konkreten Ge-fährdung des Vermögens des Kontoinhabers grund-sätzlich eine Vermögensverfügung und somit einetaugliche Opferreaktion für §§ 253 I, 255 StGB. Imvorliegenden Fall ist jedoch zu berücksichtigen, dassauf den zu den Bankkarten gehörenden Konten keinGuthaben mehr vorhanden war und es somit von vorn-herein ausgeschlossen war, dass A mit den erbeutetenBankkarten Abhebungen von den Konten des S tätigenwürde. Deshalb bestand aber nicht einmal eine kon-krete Gefahr für das Vermögen des S, sodass diesesdurch die Preisgabe der PIN nicht unmittelbar gemin-dert wurde und S deshalb keine Vermögensverfügungvorgenommen hat. Somit ist auch nach dieser Mei-nung eine taugliche Opferreaktion des S nicht gege-ben.

bb. Weite VerfügungstheorieNach der sog. weiten Verfügungstheorie sind bei der(räuberischen) Erpressung geringere Anforderungenan eine Vermögensverfügung zu stellen als beim Be-trug: Während bei § 263 I StGB ein Verhalten nurdann eine Vermögensverfügung darstellen könne,wenn es eine unmittelbare Vermögensminderung be-wirke, genüge bei §§ 253 I, 255 StGB insofern auchein mittelbar vermögensminderndes Verhalten (Lac-kner/Kühl, § 253 Rn. 3; Rengier, BT I, § 11 Rn. 22a;

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Tenckhoff, JR 1974, 489, 493).Normalerweise bedeutet dies bei der Preisgabe einerPIN, dass nach der weiten Verfügungstheorie eineVermögensverfügung vorliegt. Dieses Verhalten desOpfers wirkt sich normalerweise zumindest mittelbarvermögensmindernd aus, da es dem Täter die Mög-lichkeit gibt, auf das Konto des Opfers zuzugreifenund dessen Vermögen durch spätere Abhebungen vonBargeld zu mindern. Im vorliegenden Fall ist jedochzu berücksichtigen, dass eine Bargeldabhebung vonden Konten des S mangels Deckung gar nicht möglichwar. Somit ist nicht einmal eine mittelbare Minderungdes Vermögens des S gegeben. Auch nach dieser Auf-fassung ist keine Vermögensverfügung und somit kei-ne taugliche Opferreaktion des S gegeben.

c. StellungnahmeFür die herrschende Literatur spricht vor allem diestrukturelle Verwandtschaft von Betrug und (räuberi-scher) Erpressung. Beides sind Selbstschädigungsde-likte, sodass es nahe liegt, das Erfordernis einer Ver-mögensverfügung nicht nur in den Tatbestand des §263 I StGB, sondern auch in den des § 253 I StGBhineinzulesen. Für den BGH hingegen spricht derWortlaut des § 253 I StGB, der als Opferreaktion aus-drücklich jede Handlung, Duldung oder Unterlassungausreichen lässt. Auch ist zu berücksichtigen, dass derBegriff der “Vermögensverfügung” eine gewisse Frei-willigkeit impliziert, was bei einem unbewusstenSelbstschädigungsdelikt wie Betrug zwar durchauspassend ist, bei einem bewussten Selbstschädigungs-delikt wie (räuberischer) Erpressung, bei der das Op-fer gerade nicht freiwillig sondern nur aufgrund desvom Täter ausgeübten Zwangs handelt, unpassendwirkt. Schließlich kann die Literaturauffassung dannzu Strafbarkeitslücken führen, wenn der Täter vis ab-soluta einsetzt (z.B. das Opfer bewusstlos schlägt), dadieses dann nicht mehr verfügen kann, sodass nach derLiteratur insb. der Tatbestand des § 255 StGB bei die-ser besonders verwerflichen Vorgehensweise aus-scheiden würde. Da dies jedoch kriminologisch nichtwünschenswert ist, ist der Rechtsprechung zu folgen.Eine tatbestandliche Opferreaktion des S liegt somitvor.

3. VermögensnachteilS müsste auch einen Vermögensnachteil erlitten ha-ben.Der Begriff des Vermögensnachteils bei §§ 253 I, 255StGB entspricht demjenigen des Vermögensschadensbei § 263 I StGB und ist somit dann gegeben, wennder Gesamtwert des Vermögens durch die Tat verrin-gert wurde (BGHSt 34, 394, 395; Lackner/Kühl, § 253Rn. 4, § 263 Rn. 36; Schönke/Schröder-Eser, § 253Rn. 9, § 263 Rn. 99).Hierzu führt der BGH aus: “[12] Der Generalbundes-

anwalt weist zurecht darauf hin, dass die Verurteilungwegen vollendeter schwerer räuberischer Erpressung(richtigerweise auch insoweit: besonders schwererräuberischer Erpressung) keinen Bestand hat. Nachden rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen istdurch das Abpressen der PIN dem Vermögen des Ge-nötigten kein Nachteil zugefügt worden. Zwar kanndie Kenntnis von den geheimen Zugangsdaten zu ei-nem Bankkonto jedenfalls dann das Vermögen desOpfers beeinträchtigen, wenn sich der Täter zudem imBesitz der zugehörigen Bankkarte befindet und ihmdeshalb die jederzeitige Zugriffsmöglichkeit auf denAuszahlungsanspruch des Berechtigten gegenüber derdie Karte akzeptierenden Bank eröffnet ist (BGH, Be-schluss vom 17. August 2004 - 5 StR 197/04,NStZ-RR 2004, 333, 334). Voraussetzung für die Zu-fügung eines Vermögensnachteils ist jedoch, dassdurch die zusätzlich erlangte Kenntnis von der Ge-heimzahl mit wirtschaftlichen Nachteilen für das Ver-mögen des Genötigten bzw. des betroffenen Bankinsti-tuts ernstlich zu rechnen ist (vgl. BGH, Beschluss vom18. Januar 2000 - 4 StR 599/99, NStZ-RR 2000, 234,235). Nach den Feststellungen war dies nicht der Fall.Vielmehr war die Zugriffsmöglichkeit auf das Ver-mögen des Opfers oder der die Karten ausgebendenBankinstitute von vorneherein ausgeschlossen, damangels Deckung der Konten des Zeugen S Geldabhe-bungen nicht möglich waren, mithin die Gefahr einesVermögensverlusts nicht bestand.”.Ein Vermögensnachteil ist somit nicht gegeben.

II. ErgebnisA ist nicht strafbar gem. §§ 253 I, 255, 250 II Nr. 1StGB.

J. Strafbarkeit gem. §§ 253 I, 255, 250 II Nr. 1, 22, 23I StGB durch das Erzwingen der Nennung der PINDa A allerdings nicht wusste, dass die Konten des Snicht gedeckt waren, könnte er sich dadurch, dass er Smit dem Besenstiel würgte und so dazu zwang, ihmdie PIN zu verraten, wegen versuchter besondersschwerer räuberischer Erpressung gem. §§ 253 I, 255,250 II Nr. 1, 22, 23 I StGB strafbar gemacht haben.

I. VorprüfungMangels Vermögensnachteils ist eine vollendete be-sonders schwere räuberische Erpressung nicht gege-ben (s.o.). Da es sich bei der Qualifikation des § 250 IINr. 1 StGB gem. § 12 I StGB um ein Verbrechen han-delt, ist ein entsprechender Versuch strafbar, § 23 IStGB.

II. TatentschlussA müsste Tatentschluss zur Begehung einer besondersschweren räuberischen Erpressung gehabt haben.Tatentschluss ist der Wille zur Verwirklichung aller

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objektiven Tatbestandsmerkmale beim gleichzeitigenVorliegen der sonstigen subjektiven Tatbestandsmerk-male (Joecks, § 22 Rn. 3; Wessels/Beulke, AT, Rn.598).

1. Bzgl. Grunddelikt (§§ 253 I, 255 StGB)A müsste zunächst Tatentschluss zur Begehung einerräuberischen Erpressung gem. §§ 253 I, 255 StGB ge-habt haben.

a. Bzgl. Anwendung eines qualifizierten Nötigungs-mittelsA hatte den Willen, S mit dem Besenstiel zu schlagenund zu würgen und so Gewalt gegen eine Person an-zuwenden. Er hatte also Tatentschluss zur Anwendungeines der in § 255 StGB genannten qualifizierten Nöti-gungsmittel.

b. Bzgl. OpferreaktionA müsste auch Tatentschluss bzgl. einer tatbestandli-chen Opferreaktion des S gehabt haben.Als Opferreaktion i.R.d. §§ 253 I, 255 StGB kommtjedes Handeln, Dulden oder Unterlassen des Opfers inBetracht (s.o.). A hatte sich vorgestellt, dass S ihm diePIN zur Nutzung der bereits von A erbeuteten Bank-karten verraten, also eine Handlung vornehmen würde.A hatte also Tatentschluss bzgl. einer tatbestandlichenOpferreaktion.

c. Bzgl. VermögensnachteilA müsste sich auch vorgestellt haben, S einen Ver-mögensnachteil zuzufügen.A wusste nicht, dass eine Abhebung von Bargeld vonden Konten des S mangels Deckung nicht möglichwar, sondern ging davon aus, dass es ihm die Kenntnisder PIN - insb. aufgrund der Tatsache, dass er bereitsim Besitz der entsprechenden Bankkarten war - er-möglichen würde, von den Konten des S Geld abzuhe-ben. In diesem Fall wäre aber bereits allein durch diePreisgabe der PIN ein Vermögensnachteil des S gege-ben (s.o.).A hatte also Tatentschluss bzgl. eines Vermögens-nachteils bei S.

d. Bzgl. KausalitätA hatte auch Tatentschluss bzgl. der Kausalität desNötigungsmittels für die Opferreaktion und bzgl. de-ren Kausalität für den Vermögensnachteil.

e. BereicherungsabsichtA müsste in der Absicht gehandelt haben, sich odereinen Dritten zu bereichern.A hatte die Absicht, sich durch die Kenntnis der PINdie Möglichkeit zu verschaffen, auf die Konten den Szugreifen zu können. Da bereits diese Möglichkeiteinen Vermögensvorteil des A darstellt, hat dieser in

der Absicht gehandelt, sich zu bereichern.

f. Bzgl. Rechtswidrigkeit und Stoffgleichheit der be-absichtigten BereicherungA müsste sich auch vorgestellt haben, dass die vonihm beabsichtigte Bereicherung rechtswidrig undstoffgleich sei.Rechtswidrig ist die vom Täter beabsichtigte Berei-cherung dann, wenn sie im Widerspruch zur mater-iellen Rechtsordnung steht, d.h. wenn der Täter keinenfälligen durchsetzbaren Anspruch auf die beabsichtig-te Bereicherung hat (BGH, RA 2003, 706, 708 = NJW2003, 3283, 3284; Fischer, § 253 Rn. 19, § 263 Rn.191). Stoffgleich ist die beabsichtigte Bereicherung,wenn sie die Kehrseite des Vermögensnachteils beimOpfer darstellt, was der Fall ist, wenn Bereicherungund Nachteil auf derselben Opferreaktion beruhen unddie Bereicherung zu Lasten des geschädigten Vermö-gens geht (BGH, NStZ 2002, 254; Fischer, § 253 Rn.19, § 263 Rn. 187).A wusste, dass er keinen Anspruch auf die Preisgabeder PIN hatte und hatte deshalb Tatentschluss bzgl.der Rechtswidrigkeit der beabsichtigten Bereicherung.A wusste auch, dass die von ihm beabsichtigte Berei-cherung auf derselben Opferreaktion des S beruhtewie der Nachteil bei diesem und dass seine Bereiche-rung zu Lasten des Vermögens des S gehen würde,sodass er auch Tatentschluss bzgl. der Stoffgleichheitder beabsichtigte Bereicherung hatte.A hatte also Tatentschluss zur Begehung einer räuberi-schen Erpressung gem. §§ 253 I, 255 StGB .

2. Bzgl. Qualifikation (§ 250 II Nr. 1 StGB)A könnte auch Tatentschluss zur Verwirklichung desQualifikationstatbestandes gem. § 250 II Nr. 1 StGBgehabt haben.A hatte sich vorgestellt, S mit dem Besenstiel währendder Begehung der räuberischen Erpressung zu würgen.Er hatte also den Willen, bei der Tat ein gefährlichesWerkzeug zu verwenden (s.o.) und somit Tatent-schluss zur Verwirklichung des Qualifikationstatbe-standes des § 250 II Nr. 1 StGB.

II. Unmittelbares AnsetzenA müsste auch gem. § 22 StGB unmittelbar zur Ver-wirklichung des Tatbestandes angesetzt haben.Nach herrschender Meinung ist ein unmittelbares An-setzen dann gegeben, wenn der Täter die Schwellezum “jetzt geht’s los” überschreitet, was der Fall ist,wenn er Handlungen vornimmt, die nach seiner Vor-stellung von der Tat ohne wesentliche Zwischenschrit-te in die Tatbestandsverwirklichung einmünden sollenund deshalb aus Tätersicht das geschützte Rechtsgutbereits konkret gefährdet ist (BGH, wistra 2002, 263;NStZ 2007, 336; Fischer, § 22 Rn. 10; Wes-sels/Beulke, AT, Rn. 601).

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Im vorliegenden Fall hat A den Tatbestand der beson-ders schweren räuberischen Erpressung sogar schonteilweise verwirklicht, da er bereits unter Verwendungdes gefährlichen Werkzeugs Gewalt gegen S angewen-det hat. Somit hat er auf jeden Fall zur Verwirklichungdes Tatbestandes unmittelbar angesetzt.

II. Rechtswidrigkeit und SchuldA handelte auch rechtswidrig und schuldhaft. A iststrafbar gem. §§ 253 I, 255, 250 II Nr. 1, 22, 23 IStGB.

K. Strafbarkeit gem. § 240 I StGB durch das Erzwin-gen der Nennung der PINDie mitverwirklichte Nötigung gem. § 240 I StGBdurch das Erzwingen der Preisgabe der PIN tritt hinter

dem Versuch der besonders schweren räuberischenErpressung (s.o.) zurück.

L. Konkurrenzen und GesamtergebnisDa sich der vollendete besonders schwere Raub unddie versuchte besonders schwere räuberische Erpres-sung auf unterschiedliche Tatobjekte beziehen (dieBankkarten bzw. die PIN), bleiben diese nebeneinan-der bestehen. Dies gilt ebenso für die gefährliche Kör-perverletzung, die ein anderes Rechtsgut schützt als §§249 ff. StGB, nämlich die körperliche Unversehrtheit.Da alle Delikte durch eine einheitliche Handlung ver-wirklicht wurden, besteht insofern Tateinheit gem. §52 StGB. A ist somit strafbar gem. §§ 249 I, 250 II Nr.1; 253 I, 255, 250 II Nr. 1, 22, 23 I; 223 I, 224 I Nr. 2,5; 52 StGB.

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RA 2011, HEFT 1LITERATURAUSWERTUNG

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Literaturauswertung

Öffentliches Recht

Autor/Titel: Schoch, Friedrich: “Die Bekanntgabe des Verwaltungsakts”

Fundstelle: JURA 2011, 23 (Heft 1)

Inhalt: Die Bekanntgabe des Verwaltungsakts ist nicht nur Voraussetzung für seine Wirksamkeit (§43 I VwVfG), sondern zieht eine Reihe weiterer wichtiger Rechtsfolgen nach sich (man denkenur an den Fristbeginn nach §§ 70 I und 74 I 2 VwGO). Trotz dieser immensen Bedeutungwerden Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Bekanntgabe von vielen Studierenden nichtsicher beherrscht. Der Autor widmet sich daher zunächst den Grundlagen wie Definition undRechtsfolgen. Sodann geht er auf Problemfälle ein, etwa die Bekanntgabe durch Zustellung,die Bekanntgabe von Verkehrszeichen, die öffentliche Bekanntgabe und vieles mehr. Ein um-fassender, Dank vieler Beispiele sehr anschaulicher Beitrag.

Autor/Titel: Jaeckel, Liv: “Die Simulation des Urknalls vor dem BVerfG”

Fundstelle: DVBl 2011, 13 (Heft 1)

Inhalt: Hinter diesem vorwitzigen Titel verbirgt sich ein lesenswerter Beitrag zur Reichweite staatli-cher Schutzpflichten, verfasst anhand der BVerfG-Entscheidung über Rechtsschutz gegen denCERN-Teilchenbeschleuniger in der Schweiz. Die RA hatte hierüber bereits berichtet(BVerfG, RA 2010, 378 = NVwZ 2010, 702). Die Autorin widmet sich besonders der vomBVerfG a.a.O. offen gelassenen Frage, ob nationale Grundrechte auch gegenüber internationa-len Organisationen staatliche Schutzpflichten auslösen können.

Zivilrecht

Autor/Titel: Bernhard, Jochen: „Holschuld, Schickschuld, Bringschuld - Auswirkungen auf Gerichtsstand,Konkretisierung und Gefahrübergang“

Fundstelle: JuS 2011, 9 (Heft 1)

Inhalt: Alle Examenskandidaten kennen die Begrifflichkeiten „Hol-, Schick- und Bringschuld“, abernicht allen ist klar, welche konkreten Auswirkungen diese nach sich ziehen. Der Beitragbringt hier anhand zahlreicher Beispiele und Kurzfälle Licht ins Dunkel und vernachlässigtdabei auch prozessuale Gesichtspunkte nicht.

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RA 2011, HEFT 1 LITERATURAUSWERTUNG

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Strafrecht

Autor/Titel: Kühl, Kristian: “Die sonst niedrigen Beweggründe des § 211 II StGB”

Fundstelle: JuS 2010, 1041 (Heft 12)

Inhalt: Gerade im Hinblick darauf, dass die “sonst niedrigen Beweggründe” i.R.v. § 211 StGB einer-seits als Auffangtatbestandmerkmal sprachlich bewusst weit gehalten wurden, andererseitsaber die Mordmerkmale stets restriktiv auszulegen sind, erweist sich ihre Prüfung in Gutach-ten häufig als sehr schwierig. Der Verfasser liefert nicht nur die insofern vertreten Definitio-nen und erläutert diese, er geht insbesondere auch auf typische Problemkonstellationen (Ei-fersucht, Terrorismus, abweichende Wertvorstellungen anderer Kulturkreise) ein und liefertgute Anhaltspunkte für deren Lösung in einer konkreten Falllösung. Sehr hilfreich.

Autor/Titel: Huber, Michael: “Grundwissen - Strafprozessrecht: Beweismittel in der Hauptverhandlung”

Fundstelle: JuS 2010, 1056 (Heft 12)

Inhalt: In diesem - kurzen - Beitrag stellt der Verfasser die vier formellen Beweismittel im Strafpro-zess (Zeugen, Sachverständige, Augenschein und Urkunden) gegenüber, definiert sie undgrenzt sie voneinander ab. Zu den examenstechnisch wichtigeren Beweismitteln Zeuge undUrkunde liefert er noch weitere Details und geht auch auf mögliche Fallkonstellationen, gera-de im Zusammenhang mit Beweisverwertungsverboten, ein. Das ist zwar alles recht ober-flächlich, da aber hinsichtlich der StPO zumindest im ersten Examen auch nur Grundkennt-nisse verlangt werden, wohl auch ausreichend für eine entsprechende Vorbereitung.

Autor/Titel: Frisch, Wolfgang: “Objektive Zurechnung des Erfolgs”

Fundstelle: JuS 2011, 19 (Heft 1)

Inhalt: Die objektive Zurechnung des Erfolgs wird zumindest von der herrschenden Literatur beiErfolgsdelikten als Korrektiv im Tatbestand geprüft. Im ersten Beitrag einer Reihe von Auf-sätzen geht der Verfasser zunächst einmal auf die dogmatische Herleitung dieses Kriteriums,seine Entwicklung und alternative Lösungsansätze ein. Das ist zwar lehrreich, für die Lösungeines konkreten Klausurfalles aber nur bedingt interessant. Wichtiger wäre insofern eine Dar-stellung der einzelnen Fallgruppen, in denen eine objektive Erfolgszurechnung problematischist. Diese bleibt allerdings wohl einem späteren Aufsatz vorbehalten.