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Herbert A. Rößler wurde 1955 geboren und verbrachte eine glückliche Kind-heit in der Pfalz. Nach dem Abitur studierte er zunächst katholische Theologie in Deutschland, dann fünf Jahre lang Schauspiel, Gesang und Sprachen in den USA. Nach seinem Abschluss lehrte er Englisch an einer Universität in Taiwan und verbesserte seine Kenntnisse in Mandarin. Während eines weiterführen-den Studiums an der Universität von Iowa wurde er als Steward bei der deut-schen Lufthansa angenommen. Er nahm darüber hinaus Gesangsunterricht und erlernte weitere Fremdsprachen. Wenige Jahre später schloss er erfolgreich die Heilpraktikerausbildung ab und praktizierte einige Zeit mit dem Schwerpunkt Hypnose. Seine große Liebe gilt dem Musiktheater, insbesondere dem Musical. Von Herbert A. Rößler sind bislang die Romane »Mach uns keine Schand’«, »Neuland« (beide 2009) und »Am anderen Ufer« (2010) erschienen.

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Herbert A. Rößler

Der MesserwerferRoman

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Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unterwww.buchmedia.de

April 2013© 2013 Buch&media GmbH, München

Umschlaggestaltung: Kay Fretwurst, Freienbrink unter Verwendung eines Fotos von © Marko Schoeneberg – Fotolia.com

Printed in Germany · isbn 978-3-86520-467-7

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Inhalt

1. Kapitel Neustadt an der Weinstraße, 1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2. Kapitel Pfälzer Wald, 1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 3. Kapitel Pfälzer Wald – Hamburg, 1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 4. Kapitel Hamburg, 1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 5. Kapitel Hamburg, 1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 6. Kapitel Hamburg – Frankfurt, 1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 7. Kapitel Frankfurt, 1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 8. Kapitel Frankfurt, 1975 / 1976 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 9. Kapitel Frankfurt – Hamburg, 1977 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 10. Kapitel Hamburg, 1977 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 11. Kapitel Hamburg – Nordatlantik, 1977 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 12. Kapitel Atlantik – Rio de Janeiro, 1977 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 13. Kapitel Südatlantik, 1977 / 1978 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 14. Kapitel Acapulco , 1978 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 15. Kapitel Acapulco, 1978 bis 1980 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

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16. Kapitel Acapulco – Mexico City, 1980 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 17. Kapitel Mexico City – Xochimilco, 1980 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 18. Kapitel Mexico City, 1980 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 19. Kapitel Mexiko, 1980 / 1981 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 20. Kapitel Tijuana – San Diego, 1981 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 21. Kapitel Phoenix – Salt Lake City, 1981 / 1982 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 22. Kapitel Provo – Columbus, 1982 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 23. Kapitel Columbus , 1982 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 24. Kapitel Columbus, 1982 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 25. Kapitel Columbus, 1982 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 26. Kapitel Columbus, 1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 27. Kapitel Columbus – Grand Canyon, 1988 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 28. Kapitel Grand Canyon, 1988 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 29. Kapitel Arizona – Columbus, 1988 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 30. Kapitel Columbus, 1988 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 31. Kapitel Columbus – Tucson, 1988 / 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

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1. Kapitel

Neustadt an der Weinstraße

1975

S tarr vor Entsetzen, die linke Hand auf den Mund gepresst, die Rechte von sich gestreckt, stand Heinrich Henkes völlig regungslos da. Am Boden vor

ihm lag seine Frau Gerlinde. Das große Küchenmesser, das gerade noch auf dem Esstisch in der Mitte gelegen hatte, steckte bis zum Griff in ihrem Bauch, genau in der Kuhle unter dem Brustbein. Erstaunt nahm Heinrich wahr, wie wenig Blut aus der Wunde sickerte. Aus ihrem Mundwinkel suchte sich ein rotes Rinnsal seinen Weg zum Kinn und tropfte gemächlich auf das Linoleum, wo sich bereits eine kleine Pfütze zu bilden begann. Gerlindes Augen waren ge-schlossen, in ihrem bleichen Gesicht klaffte der Mund und die blassen Lippen schienen wie zu einem erstaunten »Oh« geöffnet. Ihr Rock war hochgerutscht und über den Rand ihrer Nylonstrümpfe quollen die weißlichen Oberschenkel schwammig hervor.

Eine Viertelstunde zuvor waren sie vom Weinfest nach Hause gekommen. Gerlinde, die ihren um einige Jahre jüngeren Mann normalerweise herrisch und bestimmend behandelte, war nach dem Genuss einiger Kerwe-Schop-pen entspannt und zu Scherzen aufgelegt gewesen. Sie hatten sich, nachdem Gerlindes Mutter, die auf ihre neunjährige Adoptivtochter aufgepasst hatte, gegangen war, wie häufig in der Vergangenheit, um den Küchentisch gejagt und sich zum Spaß Beleidigungen an den Kopf geworfen. Es handelte sich um eine Art Vorspiel, da Samstag war, und Heinrich, sobald er sie gefangen hatte, auf Geschlechtsverkehr hoffen durfte. Sex zwischen den beiden war bestenfalls ein wöchentliches Ereignis, bei dem Heinrich im Dunkeln auf dem Rücken lag und Gerlinde, die einen Kopf größer war und im Vergleich zu ihrem eher schmächtigen, wenn auch muskulösen Mann fast grobschlächtig erschien, im Nachthemd auf ihm saß. Ihre Brüste durfte er nur durch den Stoff berühren, und ganz nackt hatte er seine Frau noch nie gesehen.

Es war Gerlindes Mutter gewesen, die das große Messer auf dem Küchentisch hatte liegen lassen. Und nun steckte es mitten in Gerlindes Oberbauch, wie in einem Laib Brot.

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Später fragt er sich, wie er ihren Tod hätte verhindern können, warum er das Messer überhaupt in die Hand genommen hatte. Er erinnerte sich an ihr Lachen, als sie den Küchentisch zum wiederholten Mal umrundete und langsamer wur-de. Er hatte nach dem Messer auf dem Tisch gegriffen, damit rumgefuchtelt und gerufen: »Wenn du nicht parierst, dann schneide ich dir die Ohren ab.« Sie hat-te den Kopf in den Nacken geworfen, sich abrupt umgedreht und war auf ihn zugegangen, während er der Trägheit folgend weiter gelaufen war. Sie hatte die Arme ausgebreitet und gerade etwas sagen wollen. Noch lange spürte er in seiner rechten Hand, wie das Messer in ihr Fleisch eingedrungen war, erst gegen einen kleinen Widerstand, dann plötzlich tiefer, wie er die Finger gespreizt hatte und statt dem Klappern des Messers auf dem Boden nur hörte, wie ein lebloser Kör-per mit einem dumpfen Geräusch auf das Linoleum traf.

Heinrich verspürte plötzlich eine schmerzhafte Enge in seinem Kopf und ihm war, als hätte ihm jemand einen dunklen Schleier übergeworfen. Er wank-te nach draußen. Es war dunkel, die Straßenlaternen schienen nur ein schwa-ches Licht zu produzieren. In der Ferne rief jemand nach Hilfe und er erkannte erst nach einigen Augenblicken, dass es seine eigene Stimme war, die er hörte. Verzweifelt rannte er die kleine Gasse hinauf, durch das Winzerdorf, in dem schon alles schlief. In den Schlafzimmern der rechtschaffenen Winzerleute gin-gen die ersten Lichter an. Dieses Geschrei hatte nichts mehr mit der Ausgelas-senheit übermäßigen Weinkonsums zu tun. Keiner schrie »Ruhe«, aber einige Nasen wurden an Fensterscheiben platt gedrückt und einige Vorhänge wurden um wenige Zentimeter aufgezogen.

Wenige Minuten später kam Heinrich am Haus des Arztes an. Sprechstun-de Montag bis Freitag 8–12 und 15–18 Uhr. Mittwochnachmittag geschlossen. Er klingelte Sturm, aber nichts tat sich. Er klingelte weiter, immer wieder, bis endlich jemand im Obergeschoss ein Licht anschaltete. Auch dieses nahm er nur gedämpft war, so wie zuvor das Schellen im Haus. Ein Fenster öffnete sich.

»Was um alle Welt ist denn los?«, rief ein älterer Mann. Heinrich rieb sich die Augen. Er konnte das Gesicht des Mannes kaum ausmachen.

»Doktor Schwarz?«, Heinrichs Stimme klang unsicher.»Wer denn sonst«, kam es mürrisch zurück.»Hilfe!«, flüsterte Heinrich. »Hilfe! Die Gerlinde. Das Messer.« Er musste

sich am Pfosten des Schwarzwaldzaunes abstützen.»Bist du das, Heinrich?« Die Frau des Arztes war hinzugekommen und musterte Heinrich mit neugie-

rigem Blick über die Schulter ihres Manns hinweg. »Die Gerlinde. Schnell. Das Brotmesser.«»Hat sie sich geschnitten? Hätt sie nicht selber kommen können?«, grummel-

te die Arztgattin und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »So schlimm wird’s schon nicht sein.«

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»Ich komme gleich. Geh schon mal vor.« Dr. Schwarz schloss das Fenster. Die Kirchturmuhr schlug. Gerlinde und Heinrich waren das, was man gute Katholiken nennt: jeden Sonntag in der Messe, Frauengemeinschaft, Kolping-verein, regelmäßige Beichte. 1 Uhr morgens. Schlagartig hob sich der Schleier und Heinrich war wieder im Vollbesitz seiner Sinne. Das Licht der Straßen-lampe blendete, ebenso wie das Licht aus dem Schlafzimmer des Arztes und die Sichel des Mondes. Und plötzlich wirbelten seine Gedanken wild, aber voll-kommen klar durch seinen Schädel. Er hatte seine Frau umgebracht. Sie lag tot auf dem Küchenboden. Nebenan schlief die Adoptivtochter. Man würde sie ihm wegnehmen. Schon als kleiner Junge war er immer geflüchtet, wenn er etwas ausgefressen hatte und ihm der Zorn des Vaters gewiss war. Er war immer weggerannt, hatte sich in Weinbergen, Scheunen oder Ställen versteckt, einmal war er sogar per Anhalter zu einer Tante gefahren, die ihn postwendend wieder zurückgebracht hatte. Also rannte er jetzt auch. Er rannte los, ohne nachzudenken.

Die Nachtluft Ende August war mild und klar. Das Haus des Arztes stand direkt am Ortsrand und er verschwand in einem der Weinberge. Das Laub stand hoch und bis der Arzt aus dem Haus kam, war Heinrich schon längst auf einem der Feldwege, die sich durch die Weinberge schlängelten. Es ging leicht bergan und er erkannte, dass er sich dem Pfälzer Wald näherte. Der Wald war gut. Er konnte sich verstecken bis … Bis was?, fragte er sich. Bis ich Hunger habe, wie früher, und doch wieder nach Hause gehe? Oder bis mir kalt wird und mich die Mutter trotz aller Wut mit einem heißen Kakao wieder aufwärmt? Sein Vater würde ihn nicht erwischen. Der war schon tot und konnte ihn nicht mehr ver-prügeln. Dennoch rannte Heinrich weiter. Eine Tracht Prügel von seinem Vater wäre ein Kinkerlitzchen im Vergleich zu dem, was ihm drohte. Wenig später umgab ihn der Wald.

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2. Kapitel

Pfälzer Wald

1975

W er hätte das je gedacht. Ich, Heinrich Henkes, bin ein Mörder und auf der Flucht. Wieso bin ich denn einfach davon gelaufen? Wie ein kleines

Kind hab ich mich benommen, nachdem ich die schlimmste aller Sünden be-gangen hab. Ich hab nur an mich gedacht. Nicht an meine tote Frau, nicht an unsere Tochter im Nebenzimmer und nicht an meine Mutter, meine Schwieger-eltern. Wie ein kleiner Junge bin ich weggerannt und dieses Mal wird es keine Heimkehr des verlorenen Sohnes geben.

Ausgerechnet in den Wald bin ich gerannt, vor dem ich doch in der Dunkel-heit eine unnatürliche Angst hab. Wie oft hatte mein Vater mir gedroht, mich wie Hänsel tief in den Wald zu führen, aber ohne eine Gretel, und mich dort zurückzulassen. Eine Zeitlang hab ich sogar klitzekleine Kieselsteine in meiner Hosentasche herumgetragen, falls er seine Drohung wahrmachen sollte, bis sie eines Tages aus Versehen in die neue Waschmaschine meiner Mutter geraten sind, was mir eine weitere Tracht Prügel meines Vaters eingebracht hat.

Überall sehe ich Geister und Dämonen oder noch schlimmer: entflohene Sträflinge, die nur darauf aus sind zu morden. Der Gedanke, dass ich eben-falls ein Verbrecher auf der Flucht bin, spendet keinen Trost. Ich kämpfe mich weiter. Etwa drei Stunden kann ich mich auf den Waldwegen aufhalten. Ich kenne mich aus. Doch dann dämmert es und ich beschließe, querfeldein zu marschieren. Es gibt kaum ein Dickicht, kaum Unterholz, wo ich mich ver-stecken kann. Noch nie ist mir bei unseren sonntäglichen Ausflügen aufgefal-len, wie verdammt aufgeräumt unser Wald ist.

Dann finde ich am Fuß eines stillgelegten Steinbruchs eine Stelle, die der Ordnungswut des Forstamtes entgangen ist und mir Sichtschutz bietet. Ich zie-he meine Hose aus, denn ich werde wahrscheinlich längere Zeit keinen Ersatz dafür bekommen, und auch mein Hemd lege ich beiseite. Schon jetzt riecht es nicht mehr besonders frisch. Hinter einem Wall dichter Sträucher lege ich mich auf den Boden, spreche still mein Nachtgebet und frage mich an der Stelle und hab ich Unrecht heut getan, sieh es lieber Gott nicht an, ob so ein Wunsch über-

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haupt erfüllt werden kann. Ich habe meine Frau ganz gewiss nicht absichtlich erstochen. Ich hätte alles getan, um es rückgängig zu machen, aber keine Wün-sche und keine noch so innigen Gebete werden sie wieder zum Leben erwe-cken. Ich bin ein Mörder.

Erschöpft schlafe ich ein und träume von dem Augenblick, in dem aus einem anständigen Ehemann wie mir ein Verbrecher und Flüchtiger geworden ist. Ich sehe meine Frau am Küchenboden liegen. Ihre fahle Haut, die bleichen Lippen und das Blut in ihrem Mundwinkel sagen mir, dass sie tot ist. Plötzlich bewegt sie ihren rechten Arm und ich kann mein Glück kaum fassen. Sie lebt noch. Langsam hebt sie den Arm und ihre Augen öffnen sich. Ihre Hand umfasst das Messer in ihrer Brust und sie lächelt mich kalt an. »Das hätte nicht passieren dürfen«, sagt sie und zieht das Messer mit einem Ruck aus ihrem Bauch. Deut-lich höre ich das schmatzende Geräusch, als das Fleisch den Stahl frei gibt. »Komisch«, fährt sie fort, »es hat überhaupt nicht weh getan. Wenn ich es mir recht überlege, war es sogar ganz angenehm. Willst du auch mal probieren?« Ich schrecke zurück und schüttle den Kopf. »Doch«, beharrt sie, »du musst es probieren. Es wird dir gefallen.« Sie erhebt sich wie ein Zombie vom Boden, leckt die Blutspur aus dem Mundwinkel und kommt auf mich zu. Ich weiche bis zur Küchenwand zurück. Plötzlich scheint der Raum klein und stickig. Mein ganzer Körper kribbelt und brennt. Ich stürze der Länge nach hin und sie beugt sich über mich. »Es wird dir gefallen«, ruft sie ein weiteres Mal und ein Schwall Blut ergießt sich aus ihrem Mund, als sie auf mich fällt. Ich schreie laut und heftig atmend wache ich in meinem Waldversteck auf. Auf meinem Körper krabbeln zahlreiche Ameisen. Sie haben das Brennen auf meiner Haut hervorgerufen. Ich hoffe, dass mich niemand gehört hat.

Ich lausche in den Wald, aber ringsum vernehme ich nur die Geräusche der Natur. In der Ferne schlägt eine Kirchturmuhr. Ich schaue auf meine Arm-banduhr und breche in Tränen aus. Mein Vater hat sie mir vor Jahren zu Weih-nachten geschenkt. Es bleibt mir ein Rätsel warum, wo ich sonst nur Prügel und Häme von ihm abbekommen habe. Wie jeden Tag drehe ich an der Krone und ziehe die Uhr auf. In dem goldenen Gliederarmband haben sich ein paar Baumnadeln verfangen und ich zupfe sie sorgfältig heraus. Gelegentlich wische ich Ameisen von meinen Armen und Beinen und frage mich, wie es weiter-gehen soll. Allein bei dem Gedanken, nach Hause zurückzukehren und mich der Polizei zu stellen, fange ich schon zu zittern an. Nicht nur das Bild einer engen, düsterer Zelle, in der ich auf Jahre gefangen sein würde, lässt Panik in mir hochsteigen, sondern auch die Vorstellung, wie mich danach meine Fami-lie, die Nachbarn, der Pfarrer, die Kirchengemeinde und die Bewohner meines Heimatortes anschauen würden. Sie würden nur den Mörder in mir sehen, den Mann, der seine Frau getötet hat.

Ich kauere mich zusammen und drücke meinen Rücken an die Sandstein-

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wand des Steinbruchs. Das Zittern will nicht aufhören, obwohl die Wärme des heißen Augusttags durch die Büsche bis an mein Gesicht gedrungen ist. Ich kann auf keinen Fall zurück. Ich kann mich diesen Menschen nicht stellen. Besonders nicht meinem Meister, Schreiner Willmann. Er wäre so enttäuscht von mir, nachdem er mir trotz meiner schlechten Schulzeugnisse eine Chance gegeben hat. Immerhin habe ich bei ihm gute Arbeit geleistet. Er war ein gedul-diger und einfühlsamer Chef und nicht so streng und furchteinflößend wie mein Vater oder meine Lehrer. Meine Tochter würde ich bestimmt nicht sehen dürfen. Sie ist gerade neun geworden und wird erfahren, dass ich ihr ihre Mut-ter genommen habe. Sie würde ohne Eltern aufwachsen. Gerlindes Eltern sind gute Katholiken und ich bin überzeugt, dass sie Martina gut behandeln werden.

Wieder beißt mich eine Ameise und es klatscht, als ich auf meinen Ober-schenkel schlage. In der Ferne kläfft ein Hund. Erschrocken halte ich den Atem an und das Zittern beginnt wieder. Ich stelle mir vor, wie gleich ein neugieri-ger Vierbeiner durch das Gestrüpp gestöbert kommt und mich anbellt. Aber bald ist nichts mehr zu hören und ich entspanne ein wenig. Mir wird jedoch bewusst, wie gefährlich es ist, noch länger in der Gegend zu bleiben. Ich muss schnellstmöglich verschwinden. Ich unterdrücke ein Lachen. Niemand, nicht einmal ich selbst, hätte mir je so viel Initiative zugetraut. Hätte man am Tag zuvor die Menschen in meinem Heimatort gefragt, hätte bestimmt so gut wie jeder geschworen, dass der Heinrich nie und nimmer ein Verbrechen begehen könne und erst recht nicht fliehen würde.

In Unterhose, Unterhemd und Socken sitze ich in meinem Versteck und überlege die nächsten Schritte. Der Klügste wäre ich nicht, hat man mir immer gesagt, obwohl meine Mutter anderer Meinung war, und ich habe keine Idee, wie ich mich auf Dauer der Polizei und meiner gerechten Strafe entziehen kann. Eine Großstadt scheint mir der beste Ort zum Untertauchen. Am besten so weit weg wie möglich. Aber schon in Mannheim mit den vielen Menschen und dem Verkehr fühle ich mich ich mich unwohl. Wie würde es wohl erst in Frankfurt oder Hamburg sein? Ich ertappe mich beim Summen einer Melodie. Seemann, lass das Träumen war das Lied, das leise über meine Lippen kommt und schlagartig wird mir klar, dass ich in den Norden gehen muss, wo mich niemand kennt und auch keiner fragt.

Ich greife nach meiner Hose, ziehe meine Brieftasche heraus und mache Kas-sensturz. Für den Kerwe-Abend habe ich großzügig Geld abgehoben, aber nur für einige Schoppen bezahlt. Außerdem habe ich das Geld für die fällige Miete auch noch einstecken. Ich zähle über 530 Mark in Scheinen und Münzen. Mein Personalausweis steckt glücklicherweise ebenfalls in der Brieftasche, aber unter meinem eigenen Namen kann ich bestimmt nicht weiterleben. Ich bin froh, dass ich seit meiner Jugend Jerry-Cotton-Romanheftchen verschlungen habe und mich mit kriminellen Gedankengängen daher auskenne. Ich reiße ein gefiedertes

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Blatt von einem Akazienschössling und zupfe die einzelnen Blättchen ab. Ham-burg, Bremen, Hamburg, Bremen. Zwischen diesen beiden Städten will ich mich entscheiden. Von dort aus kann man vielleicht als Schiffsjunge anheuern. Wie das genau geht, weiß ich nicht, aber noch bin ich nicht dort. Hamburg, Bremen, Hamburg. Das letzte Blättchen ist erreicht und das Ziel steht fest. Ich werde zu Fuß nach Kaiserslautern gehen und einen Zug nach Mannheim nehmen. Von Mannheim aus kann man überall hinfahren.

Es schlägt sieben Mal auf der fernen Kirchturmuhr und ein Blick auf mei-ne Armbanduhr bestätigt die Zeitangabe. Wenn ich gerade noch so etwas wie Erleichterung verspürt habe, einen Plan zu haben und zu wissen, wie es weiter-geht, brechen plötzlich die Erinnerung an den Vorabend und die ganze Trag-weite meines Handelns über mich herein. Aber ich kann nur noch nach vorne schauen.

Ich ziehe Hose und Hemd wieder an und krieche vorsichtig aus meinem Versteck hervor. Ich hoffe, dass um diese Zeit keine Spaziergänger mehr unterwegs sind. Von der Lichtung aus kann ich die Sonne sehen und ungefähr die Himmelsrichtungen bestimmen. Ich wage es, mich wieder auf einen Wald-weg zu begeben, und zucke dennoch bei jedem Geräusch zusammen. Würde die Polizei im Wald nach mir suchen? Würden sie Hunde auf mich hetzen? In einer Jerry-Cotton-Folge waren entflohene Sträflinge ein Bachbett entlang gewatet, um den Spürhunden zu entgehen. Ich mache mich auf die Suche nach einem Bach. Inzwischen sind mein Mund und die Lippen ausgetrocknet und ich habe einen Bärenhunger. Ich bin jetzt schon fast 24 Stunden ohne Nah-rung und kaum weniger ohne Trinken. Als ob Gott mir ein Zeichen geben will, dass er mich noch nicht verlassen hat, stolpere ich über ein paar Heidel-beerbüsche. Als ich mich bücke, um die süßen blauen Früchte zu pflücken, erblicke ich einen ganzen Hang voll von diesen Lebensrettern. Gierig laufe ich von Pflanze zu Pflanze, habe anfänglich keine Geduld, die einzelnen Bee-ren zu ernten, sondern rupfe ganze Zweige ab und ziehe sie durch die Zähne, wobei Beeren und Blättchen gleichermaßen im Mund landen. Beides schlucke ich gierig und spüre wie Hunger und Durst langsam weichen. Bald kann ich mich soweit beherrschen, jeweils nur eine Hand voll Beeren zu ernten, bevor ich sie in den Mund werfe.

In meiner Gier habe ich ganz vergessen, dass ich auf der Flucht bin, aber nie-mand überrascht oder stört mich bei meinem köstlichen Mahl. Mein nächstes Ziel muss jedoch ein Bachlauf sein, den ich entlang waten kann, sollten Hunde auf mich angesetzt worden sein. Etwa zwei Stunden später, es ist schon fast dunkel im Wald, höre ich es plätschern und finde einen klaren Bach, der breit und tief genug ist, einigen Forellen eine Heimat zu bieten. Ich ziehe meine Schuhe und Socken aus und genieße, wie das kühle Wasser meine heißen Füße umspült. Der Rest meines Körpers sehnt sich ebenfalls nach Abkühlung, den-

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noch wate ich erst einige 100 Meter weiter, bevor ich anhalte und mich meiner gesamten Kleidung entledige. Ich setze mich in eine der Vertiefungen, wobei ich zwei Forellen verdränge, und genieße nicht ganz ohne Scham das Wohlge-fühl, das sich einstellt, als das kühle Wasser meine Geschlechtsteile umspült. Ich wasche mich notdürftig und versuche erfolglos, einige Heidelbeerflecken aus meiner Hose zu entfernen. Meine Unterhose tauche ich komplett ins Was-ser ein und reibe sie an einem Stein, wie ich es schon häufig in Western oder in Filmen über frühere Zeiten gesehen habe – mit wenig Erfolg. Ich wringe die Unterhose aus und hänge sie zum Trocknen an einen Ast. Inzwischen ist es ganz dunkel geworden und splitterfasernackt in einem Bachbett fühle ich mich umso mehr den Attacken möglicher Feinde ausgesetzt. Widerwillig erhebe ich mich aus meinem kühlen Sitzbad, ziehe die nasse Unterhose an, mein Unter-hemd darüber und nach weiteren 100 Metern im Bach verlasse ich das Wasser und komme in Schuhen und Socken wieder zügiger voran. Ich bin fest davon überzeugt, Kaiserslautern am folgenden Tag zu erreichen.

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3. Kapitel

Pfälzer Wald – Hamburg

1975

Z u Heinrichs Freude erreichte er nach einem weiteren Tag im Wald eine Bahnlinie, die sich zwischen den Hügeln entlangschlängelte. Er war nur

langsam vorangekommen, denn die nasse Unterhose hatte ihn zwischen den Oberschenkeln wund gescheuert und bei jedem Schritt brannte es jetzt wie Feuer. Erleichtert atmete er auf und ließ sich zu Boden fallen, als er die Schie-nen im Mondlicht glänzen sah. Inzwischen hatte er seinen Plan, in Kaiser-lautern zum Bahnhof zu gehen und eine Fahrkarte nach Hamburg zu lösen, verworfen. Bestimmt lag schon eine Fahndung nach ihm vor. Er befürchtete, dass Plakate mit seinem Bild an den Bahnhofstüren hingen. Aber selbst wenn er unerkannt eine Fahrkarte kaufen konnte, würden die Bahnbeamten bei ei-ner späteren Befragung Auskunft über sein Reiseziel geben können. Noch war ihm allerdings keine Alternative eingefallen. Er hatte schon wieder Hunger und Durst, obwohl er ein paar Pilze aus dem Wald roh gegessen und mit Was-ser aus einem weiteren Bach seinen Durst gestillt hatte. Er sehnte sich nach der Ringelblumensalbe seiner Mutter, die bei allen Arten von Ausschlägen und Hautirritationen lindernd und pflegend gewirkt hatte. Er zog sich hinter eine Baumreihe zurück, als das Singen der Gleise einen herannahenden Zug ankün-digte. Ein roter Schienenbus, im Innern hell erleuchtet, rollte an ihm vorbei. Die meisten Fahrgäste dösten oder unterhielten sich und keiner hatte den Blick nach draußen gewendet. Heinrich fühlte sich sicher in seinem kleinen Versteck. Mit leerem Magen und leerem Kopf blieb er sitzen und wartete auf eine Einge-bung. Er war nicht verhungert, nicht verdurstet und keiner hatte ihn entdeckt. Vielleicht würde sich auch eine Lösung für sein Weiterkommen finden.

Wieder summten die Gleise, dieses Mal jedoch tiefer als zuvor, was auf eine geringere Geschwindigkeit des Zuges hinzudeuten schien. In der Ferne tauch-ten die drei Scheinwerfer einer Dampflok auf und gegen den schwach erleuch-teten Nachthimmel erschien der Rauch aus dem Schornstein bedrohlich und unheilverkündend. Die Lok stampfte lauthals näher. Fast schien es, als wolle

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es ihr nicht gelingen, ihre Last weiter zu ziehen. Es dauerte Minuten, bis sie an Heinrichs Versteck vorbeikroch. Das Ende der Waggonschlange war nicht zu sehen. Im Schritttempo quälte sie sich die Steigung hoch, die der Schienenbus kurz zuvor noch mit Schwung genommen hatte. Bilder aus Filmen tauchten in Heinrichs Erinnerung auf, in denen Männer, sogenannte Hobos, auf Güter-züge sprangen und kostenlos quer durch Amerika fuhren. Meist war es ein leerer Waggon mit offener Schiebetür, der ihnen Schutz bot, und häufig trafen sie andere Hobos, die ebenfalls unterwegs waren. Allerdings gab es im vor-beifahrenden Zug nur offene Waggons, einer nach dem anderen bis oben hin voll mit Zuckerrüben. Einem plötzlichen Impuls folgend, rannte Heinrich die wenigen Meter zu den Schienen, war erstaunt, wie schnell die Wagen dennoch rollten, lief einige Meter neben dem Zug her und schwang sich, ohne lange nachzudenken, auf eine Metallsprosse, wobei er sich an einem der Haltegrif-fe für Rangierarbeiter festhielt. Mehrere Sprossen führten zur Oberkante des Waggons, und Sekunden später lag Heinrich bäuchlings auf den Rüben. Er war etwas außer Atem, aber erstaunt über seine eigene Courage und seinen Erfolg. Er warf so viele Rüben über den Rand, bis eine längliche Kuhle entstanden war, in der er einigermaßen von Blicken geschützt liegen konnte. Eine Rübe haute er wiederholt auf die Kante des Waggons, bis das gelbliche Fleisch zum Vorschein kam. Gierig biss er hinein und genoss die leichte Süße und den erdi-gen Geschmack. Auf dem Rücken liegend spürte er den kühlen Fahrtwind auf seinem Gesicht, am Himmel funkelten die Sterne, und der Mond kam gerade wieder hinter einer Wolke hervor. Es waren kaum 48 Stunden vergangen, seit er seine Frau umgebracht hatte, und dennoch fühlte er sich erstaunlich wohl. Doch schlagartig wurde es stockdunkel um ihn und beißender Rauch nahm ihm den Atem. Er dachte, Gottes Strafe hätte ihn ereilt, aber was er wenige Momente lang für den Höllenschlund gehalten hatte, waren ein Tunnel, dessen Decke kurz über seiner Nase entlang rauschte, und Rauch von der Dampflok, der ihn zu ersticken drohte. Seine Augen brannten, er begann zu husten, und dann hatte Gott ein Einsehen. Der Tunnel endete und frische Nachtluft umgab ihn erneut. Die Euphorie war verschwunden und er fühlte sich wieder genau als das, was er war: ein flüchtiger Mörder. Er drehte sich auf den Bauch, ignorier-te die Schmerzen seiner wunden Schenkel und den unangenehmen Druck der Rüben unter ihm. Zum ersten Mal seit dem Unglück weinte er.

Er hatte tief geschlafen und es war helllichter Tag, als er klatschnass aufwachte. Regen peitschte auf seinen Rücken und bald waren sein Hemd und auch die Hose durchnässt. Der Zug hatte die Berge verlassen und rauschte auf gerader Strecke durch die oberrheinische Tiefebene. Anfangs drückte sich Heinrich weiterhin flach auf die Rüben, aber außerhalb der nächsten Ortschaft wagte er, seinen Kopf zu heben und Ausschau zu halten. Der Regen prasselte 1000

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Nadeln gleich in sein Gesicht. Es war schwer zu sagen, wo sich der Zug gerade befand, aber sie hatten den Streifen von Weinbergen, der sich entlang des Pfälzer Waldes erstreckt, verlassen und waren von Ackerland umgeben. Auf der Gegen-spur kam ein Schnellzug angerauscht und er legte sich wieder flach hin, auch um den Wirbeln der Fahrtluft zu entgehen, die allenthalben an ihm zerrten. Ihn fröstelte in seiner nassen Kleidung.

Der Rübenzug verlangsamte seine Fahrt und der Regen hörte schlagartig auf. Die Strahlen der Sonne taten ihm wohl und er blieb vorerst liegen. Als der Zug jedoch noch langsamer wurde und der Rhythmus der Räder sich ver-änderte, riskierte er einen Blick nach vorne. Er erkannte das Stahlgebilde der Eisenbahnbrücke zwischen Ludwigshafen und Mannheim. Heinrich war also, während er geschlafen hatte, durch Neustadt gekommen, wo er seine Frau tot zurückgelassen hatte. Obwohl sich die Luft wieder erwärmt hatte, überlief ihn ein Schauer.

Langsam überquerten sie den Rhein und Heinrich erhob sich zum Schneider-sitz, um in beide Richtungen des Flusses blicken zu können. Behäbig schoben sich Frachtkähne flussaufwärts. Andere nutzten die Strömung flussabwärts auf ihrem Weg in den Norden, vielleicht sogar in die Niederlande. Auf der anderen Rheinseite beschleunigte der Zug nicht mehr und Heinrich legte sich wieder flach hin. Er war plötzlich mutlos und wünschte sich, sein Waggon möge ewig nur weiterfahren.

Quietschend kam der Zug zum völligen Halt. In der Ferne hörte er Männer-stimmen, die laut Anordnungen schrien. Vorsichtig hob er den Kopf, konnte jedoch niemanden sehen. Kurz darauf wurde die Lokomotive abgekoppelt und es schien, als würde sie erleichtert davonfahren. Nachdem er eine Zeitlang keine Stimmen mehr gehört hatte, setzte er sich auf und schaute umher. Links und rechts, vorne und hinten, überall waren Güterwagen geparkt. Er schätzte, dass etwa 20 bis 30 Schienenstränge nebeneinander lagen und Hunderte von Waggons beherbergten. Langsam robbte er sich über die erdigen Rüben zum Rand des Waggons, bis er den Bereich zwischen den Zügen einsehen konnte. Soweit das Auge reichte, war niemand zu sehen. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es 12 Uhr 15 war. Vermutlich machten die Arbeiter Mittagspause. Pflichtbewusst zog er seine Uhr auf und stieg vom Wagen herunter. Vorsichtig erkundete er die anderen Züge, kletterte unter Wagen durch, quetschte sich zwischen anderen Waggons vorbei, ohne genau zu wissen, was er suchte. Auf den Rüben konnte er nicht bleiben. Die landeten bald in einer der Raffinerien in der Gegend.

An einigen Wagenenden hingen Frachtpapiere hinter Gitternetzen und mit etwas Glück konnte man den Zielort daraus ersehen. Heinrich huschte von Anzeige zu Anzeige. Stuttgart, München, Karlsruhe, Rastatt, eine Stadt nach der anderen entzifferte er und fast schien es, als wären alle Züge für den Süden bestimmt.

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Er schaute auf die Uhr. Es war viertel vor eins. Wie lange hatten die Arbeiter Mittagspause und noch wichtiger, wo verbrachten sie diese? Gerade kniete er unter einem Waggon, als sich auf dem nächsten Gleis die Tür eines orange-farbenen Wagens öffnete und drei Männer nacheinander zwischen die Gleise sprangen. Heinrich entschloss sich, still liegen zu bleiben.

»Mensch«, sagte einer der Männer, die er etwa bis zur Gürtellinie sehen konnte, »ich muss brunze wie än Brauereigaul.«

»Des kummt vunn dem viele Bier wu mer de ganze Tag saufen.«»Ich nur Wasser trinken«, sagte der Dritte in gebrochenem Deutsch, »awwer

ich auch muss brunzen.« Ausgerechnet vor Heinrichs Versteck stellten sie sich nebeneinander hin und

knöpften ihre Hosen auf. Heinrich hielt den Atem an. Kein Meter trennte ihn von den Arbeitern und es war ihm mehr als peinlich zu beobachten, wie sie vor seinen Augen ihre Penisse heraus holten und sich erleichterten. Wie ein Reh im Scheinwerferlicht eines Autos war er erstarrt und bemerkte mit Entsetzen, dass er Spritzer abbekam. Sein Magen drehte sich um und es kostete seine gesamte Willenskraft, ein Würgen zu unterdrücken. Ein Mann furzte laut und die ande-ren lachten.

»Des kummt devunn, weil ihr de ganze Tag nur so komisch Zeich esst, ihr Türke«, sagte einer, während er abschüttelte. Heinrich öffnete seine Augen und nur ein Mann stand noch da. Schnell schloss Heinrich die Augen wieder, aber es wurde ihm bewusst, dass er zum ersten Mal einen beschnittenen Penis gesehen hatte. Das war nicht verwunderlich, denn außer seinem eigenen hatte er noch nie ein anderes männliches Glied gesehen. Wenn er an seine Mutter dachte, die ihn immer ermahnt hatte, sich nicht unkeusch zu berühren und keine unkeuschen Gedanken zu haben, dann war das wohl eine Sünde. Es hatte eine Zeit in seiner Jugend gegeben, wo es ihn sehr interessiert hätte, wie andere Jungs untenherum aussahen, aber bald interessierte ihn die Körper von Mädchen viel mehr. Als er dann endlich mit Gerlinde verheiratet war und die Hochzeitsnacht stattfand, war er voller Neugier gewesen. Aber Gerlinde hatte sich im Bad ein Nachthemd angezogen und im Schlafzimmer das Licht ausgemacht.

»Net dass du meinscht, du kannscht wie du willscht«, hatte sie gesagt, als er sich zu ihr hinüber rollte, das Pochen in seinen Lenden fast unerträglich. »Ich bestimm, was passiert und wie.« Keiner hatte Heinrich aufgeklärt und das wenige, was er von Schulkameraden wusste, hatte ihn schlecht vorbereitet. Gerlinde hatte ihn zurückgedrängt, bis er flach auf dem Rücken lag, ihr Nacht-hemd hochgerafft und sich rittlings auf ihn gesetzt. Leicht und ohne Wider-stand hatte sie ihn in sich eingeführt und es dauerte keine drei Bewegungen ihrer Hüften, bis er stöhnend zum Höhepunkt kam.

»Ihr sinn doch alle gleich«, hatte sie gemurmelt, als sie von ihm abstieg.

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Verwirrt blieb Heinrich auf dem Rücken liegen, während sie ihr Nachthemd gerade zog. War es das gewesen? Sie hatten sich nicht geküsst, er hatte ihre Brüste nur durch das Nachthemd berühren dürfen, und auch sonst war alles so schnell und unspektakulär gewesen. Gerlinde hatte sich zur Seite gelegt und schnarchte bereits leise. Während ihrer gesamten Ehe hatte er sie nie nackt gesehen, während sie seine Nacktheit als selbstverständlich erachtete. Er muss-te um Geschlechtsverkehr betteln, wohlwissend, dass er nur im Dunkeln mit ihm auf dem Rücken stattfinden würde, wohingegen sie ungeniert ins Zim-mer kam, während er badete. Reagierte er auf ihre körperliche Nähe, so waren schmerzhafte Hiebe auf sein Gesäß keine Seltenheit. Gerne hätte er sich jeman-dem anvertraut, aber mit seiner Mutter konnte er darüber nicht sprechen und mit dem Pfarrer noch weniger.

Als auch der dritte Mann verschwunden war, wischte er notdürftig die Feuchtigkeit weg und machte sich auf den Weg zur anderen Seite. Tatsächlich fand er dort Waggons, die für den Norden bestimmt waren. Hannover, Düs-seldorf, Köln entdeckte er und dann einen ganzen Zug nach Hamburg. Stets auf der Ausschau nach Bahnarbeitern ging er von einem Wagen zum andern. Die meisten waren randvoll mit Gütern oder versiegelt. Entmutigt suchte er weiter und fand zu seiner großen Freude dann doch noch einen, dessen Schie-betür einen Spalt weit offen stand. Das Quietschen der Tür beim weiteren Auf-ziehen erschreckte ihn und er duckte sich unter den Waggon, aber niemand schien es zu kümmern. Heinrich schwang sich hoch und befand sich in der Dunkelheit eines nur teilweise beladenen Waggons. Zur einen Seite standen Stapel hölzernen Weinkisten, wie von den Aufklebern ersichtlich für ein Lokal in Hamburg-Fuhlsbüttel bestimmt. Heinrich erinnerte sich, dass der dortige Flughafen so hieß. Er quetschte sich an den Weinkisten vorbei und fand einen kleinen leeren Bereich, der perfekt als Versteck geeignet war. Er erkundete die andere Seite des Wagens, der mit Pappkartons ohne Inhaltsangabe bis unter die Decke angefüllt war.

Er schickte ein Dankgebet zum Himmel und nachdem er die Schiebetür wieder in ihre ursprüngliche Position gebracht hatte, machte er es sich in sei-nem Versteck gemütlich. Trotz des harten und grob gezimmerten Holzbodens schlief er ein, bis er durch das Geräusch lauter Stimmen hochschreckte. Zwei Männer unterhielten sich vor dem Wagen und Heinrich hielt wieder die Luft an. Es schien sich um ein dienstliches Gespräch zu handeln. Wenige Minuten später wurde die Schiebetür geschlossen und von außen verriegelt. Nur wenig Licht drang durch die Ritzen zwischen den Holzplanken der Wände, aber in seinem Versteck hinter den Weinkisten fühlte sich Heinrich geborgen. Er schaute auf die Uhr. Es war kurz vor 5 Uhr nachmittags und er hätte in einer halben Stunde Feierabend, wenn er noch eine Arbeitsstelle hätte. Er suchte eine bequeme Position und wartete.

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Ein Ruck ging durch den Wagen, aber dann herrschte wieder Stille. Die Rufe von draußen konnte er nicht verstehen, aber er vermutete, dass eine Lokomotive angekoppelt worden war. Geraume Zeit später setzte sich der Zug endlich in Bewegung, in Richtung Hamburg, wie Heinrich hoffte. Er lehnte an der Wand und überlegte. Sein Geld würde eine Zeit lang reichen, aber früher oder später brauchte er eine Arbeit. Würden sein Name und sein Verbrechen in Norddeutschland schon bekannt sein oder konnte er mit sei-nem Personalausweis eine Stelle suchen? Wie konnte er das herausfinden? Und wo sollte er wohnen? Auf Dauer konnte er nicht im Wald oder auf der Straße herumlungern. So viele Fragen, auf die er so schlecht vorbereitet war. Aber wer plante je eine Flucht nach einem Mord? Er jedenfalls hätte noch vor zwei Tagen geschworen, nie in diese Situation zu kommen. Und jetzt saß er in einem dunklen Eisenbahnwaggon. In dieser Phase der Ruhe überkam ihn plötzlich wieder die Angst. Angst vor rationalen Dingen wie der Ent-deckung, dem Gefängnis oder dem Verhungern und Verdursten. Aber auch Angst vor der Hölle, vor dem Teufel, vor Geistern und Verbrechern. Er hat-te schrecklichen Durst und lachte laut auf. Verdursten würde er in diesem Wagen bestimmt nicht. Aus einer Kiste holte er eine Literflasche Silvaner Kabinett, drückte den Korken in die Flasche und ließ den lauwarmen Wein in seinen Mund laufen. So gierig war er, dass die Flüssigkeit ihm links und rechts aus dem Mundwinkel lief. Sofort öffnete er eine weitere. Diese trank er jetzt langsam, aber dennoch leerte er sie auch. Sein Magen rebellierte und er legte sich wieder hin. Heinrich bemerkte nicht, wie der Zug einige Stunden später irgendwo hielt und rangiert wurde, ein weiteres Mal hielt und neue Wagen angekoppelt wurden, während andere zurückblieben.

Ein lautes Kreischen der Bremsen weckte ihn am folgenden Morgen. Er hatte einen üblen Geschmack im Mund, seine Zunge und die Lippen waren belegt und seine Blase drohte zu platzen. Er schälte sich aus seinem Versteck, zwängte sich zu den Türen durch und versuchte, seinen Strahl möglichst genau auf eine der Ritzen im Boden zu richten. Kaum hatte er angefangen, hörte er Stimmen von draußen. Der rheinländische Akzent sagte ihm, dass er eine Distanz zwi-schen sich und der Pfalz geschaffen hatte.

»Schau mal da«, rief einer, »was läuft denn da aus dem Waggon?«»Ich weiß auch nicht«, antwortete jemand, »aber gut ist das nicht.« Heinrich

stand da wie angefroren, konnte jedoch seinen Urinstrahl nicht unterbrechen. Er war sich sicher, dass er entdeckt worden war.

»Schau mal in den Papieren nach, was geladen ist.«»60 Kisten Wein und 100 Kartons Ochsenschwanzsuppe«, sagte die andere

Stimme nach geraumer Zeit.»Da ist bestimmt eine Weinkiste umgefallen und ein paar Flaschen sind zer-

brochen.«

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»Sollen wir nachschauen?«»Bist du jeck?«, rief ein Mann empört. »Das ist ein verplombter Wagen.

Weißt du, was das für ein Aufwand ist, wie viel Papierkram das nach sich zieht? Kaputt sind die eh schon. Da ändern wir auch nichts dran, wenn wir jetzt auf-machen. Lass doch die in Hamburg sich drum kümmern.«

»Ach und guck«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, »es hat ja schon aufge-hört. Das war bestimmt nur eine Flasche.«

»Schade«, erwiderte der andere. »Wenn wir schnell genug gewesen wären, hätten wir uns drunter legen und von dem Wein probieren können.« Sie ent-fernten sich lachend.

Im Innern stand Heinrich regungslos da. Sein Strahl war versiegt, aber er traute sich nicht, auch nur eine Bewegung zu machen. Er war überaus erleich-tert, dass die Bahnarbeiter eine Erklärung für die Flüssigkeit sowie ihr Ver-siegen gefunden hatten, entspannte sich aber erst, als der Zug wieder fuhr. Er riss einen der Pappkartons auf und fand tatsächlich Konserven mit Ochsen-schwanzsuppe. Gerne hätte er sie auch kalt gegessen oder getrunken, aber es gelang ihm nicht, eine der Dosen zu öffnen. Er schlug sie aneinander, an die Wand, an den Boden, an eine Weinkiste. Er sprang darauf, aber außer Beulen an den Dosen und Schmerzen in seinen Füßen erzielte er keine Resultate.

Die Reise dauerte einen weiteren Tag und eine Nacht. Der Wein in einer der Kisten ging der Neige zu und Heinrichs Hunger hielt sich in Grenzen. Aller-dings konnte er seinen Stuhldrang nicht weiter hinausschieben und legte im Türbereich Pappe aus, um den Boden nicht direkt zu beschmutzen. Er wusch sich mit Wein notdürftig ab, rümpfte die Nase wegen des unangenehmen Geruchs und sehnte sich nach einer Waschmöglichkeit.

Es war dunkel draußen, als der Waggon zum letzten Mal zum Stehen kam. Obwohl es Nacht war, kamen Stimmen näher und er sah den Strahl einer Taschenlampe über die Wagenwände huschen.

»Das ist der Waggon mit dem Wein. Der ist einen Tag verspätet. Deshalb hocken wir jetzt auch um 3 Uhr morgens hier«, sagte eine Stimme mit nord-deutschem Akzent.

»Na, dann sind wir ja früh genug fertig für den Fischmarkt«, antwortete ein anderer.

»Na denn los.« Heinrich hörte ein Kratzen und Klappern an der Tür, gefolgt von einem lauten Knacken. Anscheinend war die Plombe durchtrennt worden. Heinrich stand an die Wand gepresst in dem schmalen Bereich neben den Wein-kisten. Er wusste nicht, ob es ihm gelingen würde, die beiden Männer zur Seite zu stoßen und das Weite zu suchen, aber er musste es darauf ankommen lassen. Laut ratternd wurde die Schiebetür geöffnet und kühle Luft drang ins Innere. Für Heinrich roch sie ungewohnt, anders als in der Pfalz, nicht unbedingt bes-ser, aber fremdartig mit einem Hauch von Ferne.

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»Pfui Teufel!«, schrie einer der Arbeiter. »Was ist das denn für einen Sauerei? Die können was erleben, diese süddeutschen Schweine.«

»Was ist denn?«, fragte die andere Stimme.»Alles vollgeschissen haben sie. Schau dir das nur an. Auf einen Pappkarton,

wie ein Geschenk. Und der Gestank erst. Und das wahrscheinlich nur, weil wir den Waggon als überfällig angemahnt haben. Was für Deppen!« Im Hinter-grund hörte man, wie sich jemand übergab.

»Na, Jens. Zum Fischmarkt wirst du heute nicht mehr mitkommen wollen. Ich geh jedenfalls nicht hier rein und lad ab. Und du ja wohl erst recht nicht. Komm, wir holen ein paar Eimer Wasser und waschen das Gröbste weg. Und morgen früh sag ich dem Chef Bescheid. Damit kommen die nicht durch, diese Mannheimer.« Der Schotter knirschte, als sich die beiden entfernten.

Sorgfältig stieg Heinrich über seine eigenen Ausscheidungen, die ihn wahr-scheinlich vor der Entdeckung gerettet hatten, und kletterte nach draußen. Nach einer Nacht auf Zuckerrüben und zwei Tagen und Nächten in einem Waggon genoss Heinrich die frische, fremde Nachtluft. Für einen Augenblick wähnte er sich am Ziel und verspürte Erleichterung, aber gleich wurde ihm bewusst, dass seine Schwierigkeiten erst anfingen. Immerhin hatte er es aber nach Hamburg geschafft und damit eine kleine Chance errungen, weiter auf freiem Fuß zu bleiben.

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4. Kapitel

Hamburg

1975

Das erste, was mir auffällt, ist die frische Luft. Sie ist einfach ganz anders als bei uns. Ist das die berühmte Seeluft? Ich nehme mal an, dass Hamburg am

Meer liegt, wenn es schon so einen großen Hafen hat. Nachdem ich aus dem Waggon gesprungen bin, versuche ich, mich so schnell wie möglich von dem Bahngelände zu entfernen. Ich will nicht riskieren, wegen unbefugten Betretens der Bahnanlagen aufzufallen. Ich komme auf eine kleine Nebenstraße und halte den Blick gesenkt. Einerseits befürchte ich, erkannt zu werden, falls man mein Foto im Fernsehen oder einer Zeitung veröffentlicht hat, andererseits schäme ich mich meines Aufzugs. Meine Hose hat immer noch Blaubeerflecken und braune Streifen von den Rüben, mein Hemd strotzt ebenfalls nur so von Dreck und ich befürchte, dass der Geruch von Schweiß, Urin, Kot und Wein jeder-manns Aufmerksamkeit auf mich ziehen wird. Die wenigen Menschen, denen ich begegne, beachten mich jedoch nicht. Allenfalls machen sie einen kleinen Bogen um mich herum. Ich irre ziellos umher, überlege mir, wie es weiter gehen soll, und bin gleichzeitig ein bisschen aufgeregt. Ich habe es ganz alleine bis nach Hamburg geschafft. Ich bin in einer richtigen Großstadt angelangt und zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, dass mir die Welt offen steht.

Als wäre es wiederum ein Zeichen Gottes, gelange ich nach einem längeren Fußmarsch an eine Stelle, von der aus ich direkten Blick auf Elbkanal und Hafen habe. Mir stockt der Atem. Vor mir erstreckt sich eine riesige Wasserfläche. Dampfer von ungeahnter Größe liegen an den Docks, fahren langsam vorbei oder warten mitten im Hafenbecken darauf, gelöscht zu werden. Dazwischen tuckern kleine Schiffe, Fähren und Lotsenboote. Einige wenige Segelschiffe suchen sich ihren Weg durch den Tumult und die Luft ist vom Krächzen der Seemöwen erfüllt. Ich sehe zum ersten Mal Möwen und dann gleich so viele. Meine Beine werden weich, ich sinke zu Boden und schaue dem Treiben zu. Es ist um einige Grad kälter als in der Pfalz, aber noch kann man es in Hemd und Hose gut aushalten.

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Ein Mann mit struppigem, grauem Haar und mehreren Taschen in den Hän-den schlurft mir entgegen. Trotz der sommerlichen Temperaturen trägt er Hemd, Pullover und einen Mantel. Seine Hose ist an den Knien schmutzig und zerrissen. Bald steht er vor mir und starrt mich an. Ich lächle und grüße.

»Haste Stoff?«, fragt er.»Stoff?«, frage ich zurück.»Stoff. Egal was für welchen. Wein, Schnaps, Bier tut’s auch.«»Ach so. Nää, den hawwich net.«»Wirklich nicht?«»Nein, wirklich net.«»Du bist nicht von hier!«, nuschelt der Fremde. »Ist eh schon so voll hier.

Such dir eine andere Stadt!« Er wühlt in einer seiner Taschen herum, zieht einen Flachmann hervor und nimmt einen Schluck. »Am Altonaer Bahnhof brauchste nicht zu betteln. Da ist schon alles belegt. Dammtor vielleicht, aber das ist ein ganzes Stück weg.« Er setzt ein weiteres Mal die Flasche an und macht einen tiefen Zug. Anschließend schnäuzt er auf den Boden, ohne sich von mir weg zu drehen. Ich springe empört hoch, was ihn zusammenzucken lässt. Er beginnt leise zu murmeln und schlägt sich mehrmals mit der flachen Hand auf die Stirn. Ich bin unsicher, was ich tun soll, aber er hört gleich wieder damit auf und nimmt einen weiteren Schluck.

»Wo kann ich mich denn hier waschen?«, frage ich und denke in Anbetracht des Zustandes meines Gegenübers sofort, dass eine blödsinnige Frage ist. Sehr zu mei-ner Überraschung erklärt der Fremde mir den Weg zu einem Friedhof in der Nähe, in dem man in der Nacht an einer der Wasserstellen seine Toilette machen könne.

»Mit einer der Gießkannen dort kann man ein richtiggehendes Brausebad nehmen«, erklärt er. »Und du kannst wirklich eines gebrauchen.« Er rümpft die Nase. »Und du hast wirklich keinen Stoff?«, fragt er erneut. »Oder ein paar Pfennig?« Ich zögere, meine Brieftasche aus der Hose zu ziehen. Immer-hin bin ich in einer Großstadt, in Anwesenheit eines Fremden, aber wenn ich mir den Alten so recht ansehe, dann glaube ich nicht, dass er gefährlich ist. Ich nehme ein Zweimarkstück aus dem Geldbeutel und reiche es ihm. Seine Augen werden groß. »Zwei Mark«, flüstert er. »Nicht übel.« Wieder klopft er sich auf die Stirn, bevor er das Geldstück in seiner Hosentasche verschwin-den lässt. Dann bietet er mir einen Schluck aus seinem Flachmann an, den ich ablehne. »Viel Glück«, sagt er, bevor er sich umdreht und sich langsam humpelnd entfernt.

Während ich über die eigenartige Begegnung nachdenke, schaue ich weiter-hin auf das Wasser und stellte mir vor, wie ich auf einem der riesigen Schiffe in fremde Länder reise. Früher hatte ich öfter von fernen Ländern geträumt, aber irgendwann gab es nur noch meinen Heimatort, meine Mutter, die Pfarrge-meinde, den Fußballclub und später den Meister.

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Erst gegen Abend verlasse ich meinen Platz am Hafen, obwohl ich noch Stun-den hätte da sitzen können, und mache mich auf den Weg zum beschriebenen Friedhof. Ich komme an einem Kiosk vorbei und mir läuft das Wasser im Mund zusammen, als ich Schokoladen, Kekse und Salamibrötchen in der Auslage se-he. Der Betreiber schaut mich misstrauisch an, als ich ein Brötchen, eine Pa-ckung Kekse und eine Flasche Limonade verlange. Er macht keine Anstalten, meine Wünsche zu erfüllen und ich wiederhole die Bestellung.

»Hast du überhaupt Geld?«, fragt er, und ich frage mich im Gegenzug, ob sich in Hamburg alle duzen. Ich ziehe meine Brieftasche erneut hervor und hole einen Fünfmarkschein heraus. Der Verkäufer nimmt daraufhin Brötchen und Kekse in die Hand, reicht sie aber nicht über die Theke, bevor er nicht den Geldschein in der Hand hält. Er rümpft angewidert die Nase und wendet das Gesicht zur Seite, als ich näher komme. Es ist wirklich Zeit für eine Wäsche. Ich bekomme meine Limonade und er winkt mich ungeduldig weg. Unweit des Kiosks setze ich mich auf eine Bank und verzehre gierig das Gekaufte. Wenig später bekomme ich Sodbrennen, aber zum ersten Mal, seit ich meine Frau erstochen habe, bin ich wieder einmal satt.

Ich finde den Friedhof, der noch geöffnet ist, und schleiche mehrmals um dessen Mauern. Ich bin mir nicht sicher, ob ich in der Dunkelheit den Mut haben werde, über die Mauer zu klettern und mich hineinzuschleichen. Ebenso wie mein Vater meine irrationale Angst vor dem dunklen Wald verursacht hat, war es ihm durch ständige Gruselgeschichten gelungen, eine Furcht vor Fried-höfen bei Nacht bei mir zu wecken. Ich setze mich auf eine kleine Grünfläche vor der Friedhofsmauer und lehne mich mit dem Rücken an. Auf meiner Uhr ist es 19 Uhr, als sich ein gebeugter Mann mit einem Schlüsselbund nähert.

»Hau ab!«, ruft er mir zu. »Ich will nicht noch einmal einen von euch hier erwischen. Geh zur Bahnhofsmission.« Als ich nicht sofort aufstehe, scheucht er mich mit den Händen weiter. Ich kann kaum glauben, dass ich in wenigen Tagen so tief gesunken bin, dass man mich für einen Stadtstreicher hält. Dabei bin ich Schreiner – und ein Mörder. Dennoch schlurfe ich um die Ecke und warte, bis der Mann mit den Schlüsseln weitergezogen ist.

Hoffentlich wird es bald dunkel, damit ich in den Friedhof klettern kann. Nachdem ich schon zwei Nächte im dunklen Wald überlebt habe, bin ich mir ziemlich sicher, auch den dunklen Friedhof ertragen zu können. Noch einmal geht mir der Abend durch den Sinn, der mein Leben vollständig auf den Kopf gestellt hat. Natürlich ist es schrecklich, was ich getan habe, auch wenn es ganz bestimmt keine Absicht gewesen war, aber ich kann nicht abstreiten, dass mei-ne Situation auch etwas Aufregendes hat. Ich war in meiner Ehe nicht gerade glücklich gewesen. Die Adoption war Gerlindes Idee und ich war von Anfang an mit dem kleinen Mädchen aus dem Waisenhaus überfordert. Meine Schwie-gereltern idealisierten ihre einzige Tochter und sahen in mir nur ein notwendi-

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ges Übel. Meine Mutter forderte andauernd meine Aufmerksamkeit und neben meiner Arbeit in der Werkstatt wurde ich von allen Seiten um Gefallen gebeten, wenn Holzarbeiten anstanden. Besonders in der Kirche gab es ständig etwas zu reparieren. Und nun sitze ich hier, atme frische Seeluft, kann selbst entschei-den, was ich wann tue und wo ich mein Geld ausgeben will. Ich nehme mir vor, bis ich erwischt werde, meine Zeit in der Ferne zu genießen.

Der Mond ist am Himmel aufgetaucht und die ersten Sterne werden sichtbar. Ich gehe zurück an das Friedhofstor und klettere darüber. Die Gräber liegen ordentlich in Reih und Glied und trotz der Dunkelheit kann man erkennen, dass sich die Leute viel Mühe gegeben haben, Blumen und Pflanzen akkurat auf ihnen anzuordnen und sie entsprechend zu pflegen. Der Hauptweg ist links und rechts von exakt beschnittenen Buchshecken gesäumt und einige Bäume spenden an sonnigen Tagen gewiss kühlenden Schatten. Obwohl ich versuche, vorsichtig aufzutreten, knirscht der Kies laut unter meinen Füßen und ich stelle mir vor, dass der Lärm bis in die Schlafzimmer der umliegenden Häuser dringt. Die Fenster bleiben jedoch dunkel. Wenn ich daran denke, wo ich mich befinde, stockt mir der Atem. Mitten in der Nacht wandere ich auf einem Hambur-ger Friedhof herum. Geschichten aus meiner Kindheit gehen mir durch den Sinn. Geschichten von Toten, die aus dem Grab heraussteigen, Geschichten von Lebenden, die in ausgehobene Gräber fallen und Geschichten von armen See-len, die keine Ruhe finden und umherspuken. Ich habe das ungute Gefühl, dass ich ständig beobachtet werde, aber der Drang, mich zu waschen, ist größer als meine Angst.

Ich entdecke eine Wasserstelle. Wie von dem Stadtstreicher beschrieben, hän-gen einige Gießkannen an einer Latte neben dem Steintrog mit dem Wasser-hahn. Ich schaue mich sorgfältig um und lege anschließend meine gesamte Klei-dung ab. Ich werfe sie in den Trog und beginne zu schrubben. Das Wasser fühlt sich angenehm kühl an und ich genieße jeden Spritzer an meinem Körper. Ich wasche die Kleidung so gut es geht, wringe Hose, Hemd und Unterwäsche aus und hänge sie über eine der Hecken. Ich hoffe, dass sie einigermaßen trocken werden, bevor ich sie wieder anziehen muss. Anschließend klettere ich in den Trog, der leider nicht groß genug ist, um ihn wie eine Badewanne zu benutzen. Ich fülle eine der Gießkannen am Wasserhahn und übergieße meinen Körper. Unter meinen Füßen fühlt sich der moosbedeckte Steinboden gleichzeitig glit-schig und angenehm sanft an. Ich schließe die Augen und lasse Wasser über meinen Kopf rieseln, als plötzlich direkt neben mir jemand »heh!« ruft. Ich schreie auf, werfe in Panik die Gießkanne von mir und rutsche in dem glitschi-gen Trog aus. Ich stöhne laut auf, als meine Hüfte an den Rand prallt.

»Haste ein schlechtes Gewissen?«, fragt die Gestalt neben dem Trog lachend. Nach dem ersten Schreck erkenne ich den Mann, der mir nachmittags die Emp-fehlung mit dem Friedhof gegeben hat. Seinen Mantel und Pullover hat er schon