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WE DO LOVE BRAND EXPERIENCES VOLUME 06 Identität

Identität - Walbert-Schmitz...Wer in Zeiten der Digitalisierung seiner Marke Authentizität und ein Gesicht verleihen will, steht vor ebenso vielen Möglichkeiten wie Herausforderun

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W E D O L O V E B R A N D E X P E R I E N C E SV O L U M E 0 6

Identität

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Liebe Leserin, lieber Leser,

Ihr Burkhardt MohnsGeschäftsführender Gesellschafter der Walbert-Schmitz GmbH & Co. KG

W . D O / E D I T O R I A L W . D O / E D I T O R I A L

love brandexperiences Was macht uns aus? Was macht uns einzigartig?

Was, also, ist unsere Identität? Auf dem Cover der diesjährigen W.DO stellt der Künstler Ralf Peters genau diese Frage und nutzt dazu eine Tankstelle: Wie viele Merkmale eines vertrauten Ortes kann man entfernen, bis das Wiedererkennen unmöglich ist?

Für Unternehmen mag die Identität beim Logo beginnen, ihrer Bedeutung ist damit aber längst nicht Genüge getan. Wer in Zeiten der Digitalisierung seiner Marke Authentizität und ein Gesicht verleihen will, steht vor ebenso vielen Möglichkeiten wie Herausforderun-gen. Und auch ein Gebäude ist Ausdruck der Unterneh-mens-Identität, einer Haltung und einer Vision.

Nicht zuletzt wird die Identität eines Unternehmens entscheidend von Men schen geprägt. Wie aber finden Arbeitgeber und Arbeitnehmer zueinander, die nicht nur

auf dem Papier, sondern auch in ihren Wertvorstellun-gen zueinander passen? Und kann man die Identität von Marken mit der von Personen vergleichen? Zu all diesen Fragen haben wir Gespräche geführt, die noch lange nachwirkten: mit der Personalberaterin Gisela Veltens, mit Christian Denk von PlayStation und mit Thierry Brunfaut, Partner und Creative Director bei Base Design in Brüssel.

So richtig herausfordernd wird das Nachdenken über Identität, wenn es um die eigene Person geht. Deshalb haben wir uns in diesem Heft Hilfe geholt: von Künst-lern, von großen Denkern und von kleinen Menschen, die ganz und gar unvoreingenommen und mit entwaffnen-der Klarheit an die Antwort auf die vermeintlich schwie-rige Frage „Wer bist Du?“ herangehen. Wir freuen uns, dass Sie die Herausforderung ebenfalls annehmen, und wünschen Ihnen eine spannende Lektüre.

„Man nimmt sich mit, wohin man geht.“

Ernst Bloch (1885–1977)

Cover: Ralf Peters, Tankstelle blau-rot-gelb, 1998, C-Print, 20 x 27 cm

Ralf Peters ist bildender Künstler und studierte in Braunschweig, Nîmes und München. Seine fotografische Serie„Tankstellen“ entstand in konzeptio-neller Anlehnung an Künstler wie Ed Ruscha und Edward Hopper. Petersinszeniert die Tankstellen als Skulpturen, isoliert, ohne Logos und Schriften. Die Tankstelle ist Ikone eines Alltags der Fortbewegung, einer Gesellschaft, die hauptsächlich vom Öl getrieben wird. Sie ist Teil eines ma-terialisierten Glaubens an Fortschritt durch Technik. So stellt die Arbeit gleichzeitig Bezüge zur Identität des Menschen und seiner Beziehung zu Märkten und Marken her. Das unna-türliche Neonlicht wirkt in diesem menschenleeren Szenario wie eine Nachricht ohne Zielgruppe. Und doch erkennen wir diesen Ort sofort. Auch ohne lesbare Botschaft.

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54 W . D O / I N H A L T W . D O / I N H A L T

Architektur mit Gesicht

Anstatt-Staaten

Über Sein und Schein

Wer ist Glenn Ligon?

Die kommunikative Kraft derCoporate Architecture

Aussteigen? Reicht nicht!

Identitätsbildungund JugendkulturEin Blick auf Jugendkulturen im Wandel der Zeit

Wie definieren berühmte Köpfe Identität?

Porträt des amerikanischen Künstlers

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Passen wir zueinander?Wie Unternehmen und Arbeitnehmer zueinander finden

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Inhalt

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Und wer bist du?Identität? Kinderleicht!

Marken sind auch nur MenschenDer besondere Ansatz des Designbüros Base

Das Selfie – ein Selbstbildnis?

Markenidentität für GenießerSony PlayStation und die Community

Ausblick W.DOWas erwartet Sie in der nächsten Ausgabe?

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Identitätsbildungund Jugendkultur

EIN WANDERVOGEL BIN ICH AUCH,MICH TRÄGT EIN FRISCHER LEBENSHAUCHWer waren eigentlich die Ersten? 1896 etablierte sich in Berlin die erste Jugendkultur weltweit: die „Wandervögel“. Der Industrialisierung in den Städten überdrüssig, zogen die Gruppen raus in die Natur, um neue Lebensformen aus Freikörperkultur, Umweltbewusstsein und Naturnähe zu entwickeln. In ganz Deutschland brachen Jugendliche aus Elternhäu-sern aus, in denen sie körperlich gezüchtigt wurden. Sie sangen, wan-derten oder saßen am Lagerfeuer. Sie wollten politisch unabhängig, frei sein und selbstständig denken. Von den Nationalsozialisten verboten, gründeten sich die Vereine in der Nachkriegszeit neu und bestehen bis heute. Also: Augen auf im Wald!

Die Werte und Ideale, die wir in unserer Jugend für uns ausloten, entwickeln und verteidigen, tragen zur Identitätsbildung bei und beeinflussen unsere weitere Entwicklung. Protest und Widerstand gegen das Elternhaus und gegen ein gesellschaftliches Korsett finden von Generation zu Generation sehr unterschied- liche Antworten und neue Formen der Rebellion. Will Jugend heute noch die Welt verändern? Sind Idealismus und Radikalität immer Randerscheinun- gen – und können Subkulturen wirklich einen Einfluss auf das Zeitgeschehen haben?

Online mehr entdecken:w-l.ink/pli

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MASSGESCHNEIDERTE JUGENDKULTURNasse Straßen, rauchende Kamine: Die Mods – eine Kurzform für Modernists – waren Jugendliche aus der „Working Class“ Englands. In maßgeschnei-derten Anzügen wollten sie sich von ihrer Herkunft abgrenzen. In Peckham, South London, stellten im Mai 1964 einige der Mods ihre üppig ausgestat-teten Lambrettas zur Schau – ihr ganzer Stolz. Parkas schützten die teure Kleidung vor dem Schmutz, doch für eine Prügelei mit den „Rockern“ waren die Kinder der Beat-Generation dennoch immer zu haben.

OI, MATE! Wir sind im Londoner East End, dem Ein-wanderer-Viertel der Stadt. Early Reggae, Soul und Ska schallen aus den Küchen jamaikanischer Familien. Mit Einflüssen der jamaikanischen Jungs des Viertels, der „Rude Boys“, und der englischen Mods, entsteht eine neue Stilrichtung: die Skins. Auch wenn der Name anderes vermuten lässt, trugen die Skins der ers-ten Stunde „Meckis“ und keine Glatzen. Die Entstehungsgeschichte der Skins ist bunt und eher links bis unpolitisch. Der Ausdruck „Oi, mate!“ geht auf die Band Cockney Rejects zurück, die ihre Songs mit „Oi! Oi! Oi!“ statt mit „One, Two, Three“ anzuzählen pflegte.

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IN DEN STRASSEN DER BRONXPrivate Partys in Wohnzimmern und im Untergrund: Eine Revolution bahnt sich an in der New Yorker Bronx – und Grandmaster Flash ist ihr Prophet. Hip Hop ist bis heute eine der stärksten Jugendkulturen weltweit. Dass es so weit einmal kommen würde, hätte der Master womöglich nicht vermutet. Parallel begannen die Straßen der Bronx zu beben: B-Boying entwickelte sich seit seinen An-fängen 1968 als Tanz und mauserte sich zum weltweit anerkannten Tanzsport, dem Breakdance.

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IMMER NOCH FRIEDLICHFalls sich jemand fragt, wo all die Hippies hin sind: Die sind im Wald. Die Vorreiter der Kultur aus dem indischen Goa sind längst im Rentenalter und eine neue Generation von sogenannten Neo-Hippies findet sich auf Wiesen und Festivals wieder, wie in Michigan auf dem Electric Forest Festival. Hier strömen Patchouli-Jünger zu Tausenden in den Wald und feiern ihre Kultur – mit weniger Drogen als früher, dafür mit mehr Naturschutz, gepaart mit elektroni-scher Musik und viel Liebe – natürlich.

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TANZ UND MUSIK WERDEN POLITISCHEs fällt schwer, bei Swingmusik nicht direkt im Takt mitzuschnipsen. Man pfeift den locker sitzenden Ton fröhlich mit und schon ist man drin, im Swing-Universum – vor 80 Jahren ein risikoreiches Szenario. Hamburg war in den 1930er Jahren eine Hochburg der sogenannten Swings, die hier ein kühnes Leben lebten: Denn die deutsche Swing-Jugend war hochpolitisch und hinter der tänzerischen Lockerheit eröffnete sich eine neue jugendliche Identität, fernab der damaligen deutschen Gesellschaft. Anzug, Trenchcoat, Ringelsocken und der Regenschirm für den Herrn waren ihre individuellen Uniformen – nach den Vorbildern amerikanischer Filmhelden und eleganter englischer Staatsmänner.

13W . D O / J U G E N D K U L T U R W . D O / J U G E N D K U L T U RVERWEIGERUNG ALS GRUNDHALTUNGEin Berliner Punk-Mädchen in einem Leipziger Hinterhof, 1983: In der DDR eckten Punks besonders an, denn sie verweigerten sich gesellschaftlichen Normen und Autoritäten und verhielten sich provokativ und unbeugsam. Es entstand eine Art Gegenkultur, in der Hässlich das neue Schön und die Musik rau, schnell, laut und dilettantisch war.

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UND HEUTE?Auf den Buchmessen füllen sie ganze Hallen, im Internet tummeln sie sich in Scharen, ebenso wie auf eigens kreierten Messen: Cosplayer. Hinter dem scheinbar bloßen Zeitvertreib des Cosplays steckt wohl auch der Wunsch nach Eskapismus – der jedoch meist im Zusammenspiel mit dem dazugehörigen Konsumgenuss serviert wird. Die Jugend der Gegen-wart bedient sich aus einem großen Fundus an Jugendkulturen, die einst erfunden und erkämpft wurden – Freiheit und Bürde gleichermaßen?

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Aussteigen, ohne fortzulaufen: Rund um den Globus kehren Menschen bestehenden Systemen den Rücken, weil sie sich in ihnen nicht aufgeho-ben fühlen. Zur Verwirklichung ihrer Ideen von Freiheit und Selbstbestim-mung gründen sie sogenannte Mikro-nationen.

AnstattStaaten

Der Eiggianer Craig Lovatt arbeitet als Guide für Touristen. Er ist nicht nur Einwohner der sturmumtosten Insel im Nordatlantik, sondern auch einer ihrer Eigentümer.

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1919

„Es ist wie der Unterschied zwischen Schwarz- Weiß- und Farbfernsehen“, beschreibt Brian Greene die Möglichkeiten, die sich ihm und den anderen Bewohnern der Insel Eigg bieten, seit sie ihr Zu-hause gekauft haben. 20 Jahre nach dem Erwerb hat das kleine Eiland vor der Küste Schottlands erstmals mehr als 100 Einwohner – und inzwischen sogar ein eigenes Stromnetz. Für Greene und seine Mitstreiter war das Lossagen vom bestehenden System der logische Weg hin zur vollständigen Selbstbestimmung, zu mehr Freiheit und somit zu zwei wichtigen, identitätsstiftenden Grundpfeilern. Natürlich hätten er und die anderen Eigg auch ein-fach verlassen können. Es wäre bequemer gewesen, hätte aber etwas zurückgelassen, das ebenfalls immens wichtig für das Seelenheil ist: Heimat.

Rückzugsort für Gleichgesinnte

Wie auf Eigg ist es auch andernorts der Widerstand gegen nicht hinzunehmende Umstände, der zur Gründung von eigenen Verwaltungseinheiten führt. Zu Mikronationen, wie diese kleinen Staaten im Staat per definitionem heißen, die keinerlei völkerrechtli-che Anerkennung genießen. Seit die jagenden und sammelnden Nomaden im Neolithikum sesshaft wurden, dürstet es den Menschen nach diesem einen Ort, an dem er ganz er selbst sein kann. Gründungen von Mikronationen sind ein weltweit zu beobachtendes Phänomen. Natürlich treibt diese Sehnsucht auch Protestler um. Wer gegen ungewoll-te Veränderungen seiner Umgebung kämpft, agiert sicherer, wenn es dafür einen Rückzugsort gibt, an dem er sich mit Gleichgesinnten zusammentun kann. Und das Bedürfnis, Gemeinsamkeiten durch Gebietsmarkierung zu unterstreichen, steckt offen-bar tief in uns allen.

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Vielfach ist es eben auch dieser Ort selbst, um den es beim Ringen mit „denen da oben“ geht – mal um die Wahrung eines in Gefahr geratenen Status quo, mal um eine Wendung zum Besseren. Wie etwa auf Eigg: Über Jahre mussten die Inselbewohner mit ansehen, wie der damalige Besitzer ihr Zuhause ver-kommen ließ. Nach zähen Verhandlungen kauften sie dem ebenso spleenigen wie windigen deutschen Spekulanten ihre Insel ab, um sie fortan zu hegen und zu pflegen.

Das Kollektiv als Prinzip

Um einiges radikaler präsentiert sich da die parallel-gesellschaftliche Idee in der Freistadt Christiania. Im September 1971 besetzten Bewohner umliegen-der Viertel das damals verlassene Militärgelände mitten in Kopenhagen. Ihr Protest gegen den Mangel an be zahlbarem Wohnraum mündete in der Grün-

Auf dem ehemaligen Kasernengelände von Christiania wird man nicht nur von grellen Graffitis und rostiger Unordnung begrüßt, der Freistaat bietet auch ein Sammel-surium an obs kuren und phantasievollen Bauten.

dung der Freistadt. Bis heute wird das 34 Hektar große Ge lände mit seinen rund 900 Bewohnern von den dänischen Behörden als autonome Gemeinde geduldet.

Ideologisch zwischen Hippietum und Anarchismus angesiedelt, werden hier Entscheidungen seit je im Kollektiv getroffen. Polizei gibt es nicht. Jeder Be-wohner ist angehalten, sich an die einfachen Regeln zu halten: Keine Gewalt, keine Waffen und keine Autos lauten drei von ihnen. Der alternative Lebens-ansatz funktioniert nach über viereinhalb Jahrzehn-ten in Christiania immer noch, auch wenn Kritiker anmerken, dass alles sehr viel konsumorientierter geworden sei als noch in den Hippie-Anfangstagen. Ähnlich wie auf Eigg kauften auch hier die Bewohner ihr Zuhause, um noch mehr Freiheit zu erlangen. Gleichzeitig erkannten sie mit dem Kauf die Bau- vorschriften der dänischen Behörden an.

Das Rezept scheint einfach: Wer der Steuerer-höhung, eines neuen Gesetzes oder gar des ganzen Systems müde ist, gründet einfach

seine eigene Mikronation.

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Eine solche Möglichkeit des Kaufs bot sich den Bürgern der neuseeländischen Gemeinde Whan-gamomona nicht, als eine Verwaltungsreform im Jahr 1989 die Teilung ihres Ortes verfügte. Um die bestehende, gemeinsame Struktur und das wichtige Gefühl des Miteinanders zu erhalten, blieb ihnen nur die Lossagung von der kommunalen Verwaltung und von Neuseeland. Sie erklärten deshalb den Fortbestand ihres ungeteilten Dorfes unter der unabhängigen Flagge der Republic of Whangamo-mona. Am 1. November 1989 wurden aus insgesamt 178 Neuseeländern Whangamomonians – jeder mit brandneuem, eigenem Pass.

Rund 400 Unterstützer aus ganz Neuseeland waren angereist, um diesen Tag mit ihnen zu feiern, der

fortan als Republic Day begangen werden sollte – in Prä-Social- Media-Zeiten allein durch Mundpro-paganda zusam-mengekommen, eine stolze Zahl. Doch das Beispiel

Whangamomona zeigt auch, dass es gar nicht so einfach ist, Widerstand über einen langen Zeitraum ernsthaft aufrechtzuerhalten – wenn eine Rückkehr zum erwünschten Zustand nahezu unmöglich ist, wenn der erste Zorn mit den Jahren verraucht und alle Unterstützer längst anderen Ideen zujubeln.

Eine Ziege als Präsident

Fast 30 Jahre nach ihrer Gründung ist die Repu-blic of Whan gamomona zum Touristen-Spektakel verkommen. Der Republic Day wird gefeiert, wenn es gerade gut in den Kalender passt, und den Pass kann jeder einigermaßen Interessierte für nicht einmal vier neuseeländische Dollar als Souvenir kaufen. Über haupt wird die ganze Angelegenheit nicht mehr allzu ernst genommen. So ließen sich die Whangamomonians über einige Jahre von einer Zie-ge regieren, die die Stimmzettel bei der Präsidenten-wahl gefressen hatte. Die Lebensrealität mit zwei getrennten Orten hat sich am Ende durchgesetzt.

Die drei Beispiele zeigen: Auch in der schützenden Blase einer Mikronation ist man nicht vor den Einflüssen der Welt „da draußen“ gefeit. Vielleicht ist es aber auch gerade der kontrollierte Austausch mit der Außenwelt statt der totalen Abschottung, der außergewöhnliche Lebensräume wie Christiania oder Eigg nach vielen Jahren noch zeitgemäß er-scheinen lässt. Ob „normal“ oder „alternativ“: Die Welt befindet sich ständig im Wandel. Und mit ihr verändert sich – wenn auch oft nur in Nuancen – die eigene Idee von Identität. Da ist es nur logisch, auch den Ort nicht zu starr zu formulieren, an dem man diese Idee leben möchte.

DIE FAKTEN

Freie Volksrepublik Eigg: Teil der schottischen Inneren Hebriden; Partnerschaft mit Highland Council und dem Scottish Wildlife Trust; Gemeinnützige Stiftung 'Isle of Eigg Heritage Trust' ist seit 1997 Inseleigentümer Motiv: u. a. Erhalt der gälischen Sprache und ein naturnahes Leben Autonomie: Selbstverwaltet, weitestgehend selbstversorgend, basisdemokratisches Insel-System, Teil des United Kingdom, Land: Schottland

Freistadt/Freistaat Christiania: Gegründet 1971 Motiv: Mangel an bezahlbarem Wohnraum in Kopenhagen Autonomie: Im Februar 2011 wurde Entzug der Selbstständigkeit Christianias höchstrichterlich bestätigt; im April desselben Jahres stimmten die Bewohner dem Regierungs-Angebot zu, Grundstück und Gebäude für 150 Millionen Kronen zu kaufen; seither handelt es sich aus Sicht der dänischen Behörden um eine staatlich geduldete autonome Gemeinde

Whangamomona: Seit 1989 Republik im Westen der Nordinsel Neuseelands mit 40 Einwohnern Motiv: Protest gegen die Verwal-tungsreform der Regierung in Wellington, die die Gemeinde je zur Hälfte in zwei unterschiedliche Verwaltungsregionen teilen wollte Autonomie: Theoretisch nach wie vor selbstverwaltet, faktisch zwei getrennte Orte, die wieder unter kommunaler Verwaltung stehen

Im Whangamomona Hotel riefen empörte Bürger 1989 die Unab-hängigkeit des kleinen Ortes aus.

Den Pass kann jeder einigermaßen Inte -ressierte für nicht einmal vier neusee-ländische Dollar als Souvenir kaufen.

Heute mehr Touristenattraktion als ernst zu nehmender souve-räner Staat: Graffiti in Whanga-momona.

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Für Erving Goffman (1922 – 1982), einen der einflussreichsten kanadisch-amerikanischen Soziologen des letzten Jahrhunderts, spielen alle Menschen Theater. Für die Darstellung seiner Rolle habe jeder Mensch zwei Ausdrücke zur Verfügung: Den, den er sich selbst gibt (u. a. die Sprache), und den Ausdruck, den er ausstrahlt (Klei-dung, Mimik, Gestik, Verhalten etc.).

Der deutsche Nihilist Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) wird posthum mit seinen philosophischen Schriften berühmt. In seiner Autobiografie „Ecce homo“ setzt er als Untertitel hinzu: „Wie man wird, was man ist“ und zitiert Pindars „Werde, der du bist“ aus den Pythischen Oden. Nietzsches Individuum bejaht das Ganze der Welt, auch sein Leiden. Dabei strebt es ein über-sich-Hinauswachsen an, das gleichzeitig dem „werde, der du Bist“, also der Erfüllung seines eigentlichen Seins, ent-spricht. So beschreibt er auch die Idee vom Übermenschen, die von den Nationalsozialisten instrumentalisiert wurde.

Werde, derdu bist

Ein Individuum besitzt mehrere Identitäten und kann diese gezielt zum Ausdruck bringen.

„Erkenne dich selbst!“ – mit dieser Inschrift am Apollon-Tempel in Delphi wurde im antiken Grie-chenland zur Selbsterkenntnis aufgefordert: die eigene menschliche Begrenztheit und Hinfälligkeit einzusehen – im Gegensatz zur Unsterblichkeit der gehuldigten Götter. Der Urheber der Inschrift, Chilon von Sparta, einer der „Sieben Weisen“, schuf damit eine Basis für jedes sinnvolle Denken über Gott und die Welt.

Identität basiert beim Menschen auf zwei Prozes-sen: der Selbsterkenntnis und der Selbstgestaltung. Seit der Antike wurde der Identitätsbegriff ständig weiterentwickelt, wurde umgedacht und hinterfragt. Im 15., 16. und 17. Jahrhundert zeichnete sich in Europa ein Wandel ab: Unter der Schirmherrschaft der Renaissance hielt autonomes Denken Einzug in die Köpfe der Menschen. Bis dahin waren kirchliche und weltliche Autoritäten maßgebend für die Ant-worten auf die großen Fragen des Lebens.

Charakteristisch für das sich wandelnde Denken war René Descartes (1596 – 1650). Sein erster Grundsatz „Ich denke, also bin ich“ zeigt den Über-gang zu einer neuen Stufe der Selbsterkenntnis. Doch war er wahrlich nicht der einzige Denker, der zum Ich, zum Selbst, zur Identität reflektierte und dazu beigetragen hat, das Geheimnis um das, was wir sind, zu lüften.

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Über

Der Mensch tut alle-zeit nur, was er will ... Das liegt aber daran, dass er schon ist, was er will.Arthur Schopenhauer (1788 – 1860), deutscher Philosoph, will Immanuel Kants Lehre vollenden und orientiert sich dabei sowohl an Platon als auch an östlichen Philosophien, insbesondere am Buddhismus. Innerhalb der Philosophie des 19. Jahrhunderts entwickelt er eine eigene Position des subjektiven Idealismus – also der Annahme, dass alle Erkenntnis abhängig von uns selbst sei und es keine subjek-tunabhängige Perspektive auf die Realität gebe. Er vertritt als einer der ersten Philosophen im deutschsprachigen Raum die Überzeugung, dass der Welt ein irrationales Prinzip zugrunde liege, dass die menschliche Vernunft also keine ausreichende Erkenntnis der Welt erreichen könne. Damit ebnet er Freud und der modernen Psychologie den Weg.

Sein und Schein

Wie lässt sich Identität erklären? Ist „Wer bin ich?“ möglicherweise die schwierigste Frage der Welt? Wir nähern uns dem schwer Erklär-baren mithilfe acht großer Denker.

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„Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt“, sagt der französi-sche Philosoph Jean Paul Sartre (1905 – 1980). Er sieht den Menschen als Entwurf seiner selbst, der nur in dem Maße existiere, in dem er sich entfalte. „Der Mensch ist sich als einziges Lebewesen seiner Existenz bewusst, frei und verantwortlich, sich selbst zu definieren. Denn das eigene Leben kann durch keine andere, höhere Instanz, wie einen Gott, entschuldigt werden“, so der Existenzialist.

Der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich selbst macht.

Sigmund Freud (1856 – 1939) bringt mit der Verbreitung seiner psychoanalytischen Werke die Einheit des Ichs ins Wanken. Freuds Unterteilung der Person in ein „Ich“, ein „Über-Ich“ und ein „Es“ wird rasch einem breiten Publikum zugänglich: Er beschreibt mit dem „Über-Ich“ das Wissen um Wertvorstellungen, Verbote und Gebote, mit dem „Ich“ den kritischen Verstand mit seinem Triebverzicht und mit dem „Es“ ein Lustprinzip, das durch äußere Reize gefordert werde. Damit gibt die Psychoanalyse den Anstoß zur Ent-deckung des modernen Identitätsbegriffs.

Das Ich ist nicht der unumschränkte Herrscher in seinem eigenen Heim.

Identität ist unser inneres Kapital, das subjektive Vertrauen in die eigene Kompetenz zur Wahrung von Kontinuität und Kohärenz. Der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erik Homburger Erikson (1902 – 1994) vertritt die psychoanalytische Ich-Psycholo-gie. Als Neofreudianer sieht er Identität als Stufenmodell, die sich im Laufe des Lebens entwickle und definiere, wer man sei und wie man in diese Gesellschaft passe.

Das Individuum erhält seine Identität aus-schließlich durch die Interaktion mit anderen Individuen. Herbert Mead (1863 – 1931), US-amerikanischer Philosoph, Soziologe und Psychologe, sagt über Identität: „Nur die Orientierung an anderen Mitgliedern einer sozialen Gruppe befähigt das Individuum, sich als solches wahrzunehmen. Kommunikation ist der Faktor, der die Entwicklung des Menschen als soziales Wesen bedingt. Von der Identität des Einzelnen kann auf gesellschaftliche Verhaltensmuster und auf die Identität der Gruppe geschlossen werden.“

Der deutsche Philosoph Richard David Precht (*1964) meint, dass das Individuum mehr sei als seine aktuelle Erscheinung. Nicht das Wesen gäben wir uns selbst, sondern wir spielten viele Rollen, die wir uns aneigneten. Unseren Wert jedoch besäßen wir unabhängig vom Urteil der anderen. So erweitert Precht den Grundgedanken Sartres.

Wir sind nicht das, was wir sind, sondern das, was wir zu sein vorgeben!

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Architekturmit GesichtCorporate Architecture ist Corporate Identity im Raum: Die maßgeschneiderte Hülle sorgt für Wiedererkennung einer Unternehmensphilosophie und schafft eine emotionale und räumliche Erlebbarkeit der Marke. Im besten Fall ist sie ein einladender Raum für Mitarbeiter und Kunden gleichermaßen.

Bauen ist Teil unserer Kultur. Kultur wiederum un-terliegt einem stetigen Wandel durch den Zeitgeist: Was in den 60ern noch als schick galt, ist heute vielleicht als Bausünde verschrien.

Ob Unternehmenszentrale, Produktionsstätte, Flag-ship-Store oder Messestand: Das identitätsstiften-de Bauen ist für Unternehmen seit je wichtig. Es berührt zahlreiche Aspekte der Unternehmenskul-tur und macht die Marke räumlich wahrnehmbar. Messeauftritte nehmen dabei eine Sonderstellung in der Welt der Corporate Architecture ein: Der phy-sisch erfahrbare Raum muss die Marke besonders schnell und eindeutig begreifbar machen, denn der Kontext einer Messe verspricht eine hohe Dichte an konkurrierenden Reizen. Schulter an Schulter prä-sentieren sich hier Unternehmen in einer Fülle von sinnlichen Eindrücken. Da die räumliche Erfahrung oft einen besonders nachhaltigen, dauerhaften Eindruck hinterlässt, ist der Messeauftritt eine be-sonders gute Gelegenheit, dem Unternehmen und der Marke ein räumliches Gesicht zu geben. Und auch im Stadtbild begegnet uns Corporate Architec-

ture mit nachhaltigem Effekt, wie zum Beispiel die BMW-Welt in München, die zugleich Ausstellungs-, Auslieferungs-, Museums- und Eventstätte ist und in direkter Nachbarschaft zur architektonisch nicht weniger spektakulären Firmenzentrale entstand. Entscheidend für das Gelingen solcher Konzepte ist nicht nur die Bauform, sondern auch die Ortswahl und die Eingliederung in das bestehende städti-sche System.

In Zeiten der Digitalisierung ist Corporate Architec-ture die große Geste des Persönlichen und Schnitt-stelle zwischen dem virtuellen und dem realen Arbeitsplatz. Eine gute Unternehmensarchitektur wertet den Lebens- und Qualitätsraum Arbeitsplatz auf und bietet Mitarbeitern, Kunden und Besuchern Frei- und Denkräume.

Die folgenden Beispiele veranschaulichen, auf welch unterschiedliche Weise Architektur unseren Lebensraum gestaltet und wie Unternehmen und Marken sich dabei einbringen.

Ein Effekt, der Stadtgrenzen sprengt

„Der Bilbao-Effekt“ – schon mal gehört? Dieser Effekt bezeichnet den Mehrwert, den ein architek-tonisches Projekt auf ein ganzes Stadtviertel haben kann: In diesem Fall handelt es sich um ein Projekt der Museumsmarke „Guggenheim“. 1997 wurde das Museum des US-amerikanischen Architekten Frank O. Gehry im nordspanischen Bilbao fertiggestellt. Der Bau und die neu geplante Umgebung verhalfen dem Viertel und der Stadt Bilbao zu einem spürba-ren wirtschaftlichen Aufschwung. Die mittelgroße Stadt hatte jährlich auf eine halbe Million Besucher gehofft, tatsächlich kamen doppelt so viele Neugie-rige und Kunstinteressierte. Und nicht nur der neue Arbeitgeber „Museum“ schaffte neue Beschäftigung: Mehr Tourismus bedeutet auch mehr Arbeit für eine ganze Stadt. Damit wird die soziale Verantwortung deutlich, die ein Markenbau innerhalb einer Stadt haben kann. Gut umgesetzt, kann eine ikonische Corporate Architecture einen Standort fördern und stärken. Eine weitere „Urban-Regeneration“, also die Wie-derbelebung eines Viertels, hat das 2003 errichtete Kunsthaus Graz bewirken können. Es brachte das Stadtquartier deutlich nach vorne.

Damit wird die Fülle an Marketing-Instrumenten deut-lich, die Unternehmen wie die AEG bereits in früher Zeit nutzen konnten – und für wichtig erachteten. Man leis-tete sich sogar ganz offiziell einen Künstlerischen Bei-rat: eben jenen Peter Behrens, der seither als Prototyp des interdisziplinären Designers gilt. Die Außenansicht dieser Montagehalle für Turbinen der AEG-Turbinenfabrik (Entwurf: Peter Behrens, Statik: Karl Bernhard) wurde am 25.02.1928 aufgenommen.

Der erste Corporate Architect

Eine oder einer muss immer den Anfang machen: In diesem Fall ist es der 1940 verstorbene deut-sche Architekt, Maler, Designer und Typograf Peter Behrens. In seinem Architekturbüro arbeiteten Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe und Le Corbusier – quasi zeitgleich, und bevor sie allesamt weltberühmt wurden.

Für AEG gestaltete Behrens vor dem Ersten Weltkrieg Drucksachen, Produkte und mehrere Gebäude – alles aus einer Hand. Die Bandbreite an Gestaltungsschritten beschrieb ein Wegbegleiter Behrens, der Architekt und Mitbegründer des Deut-schen Werkbundes Hermann Muthesius, so: „Vom Sofakissen bis zum Städtebau“.

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Sinnlichkeit in vier Wänden

Unternehmensarchitektur kann sämtliche Sin-ne ansprechen, sie dirigieren und innere Bilder, sogenannte „Imageries“, erzeugen. Eine multisen-sorische Inszenierung verknüpft beim Besucher Gefühle und körperliche Erfahrungen miteinander, und das kann das Marketing sich auch in der Architektur zunutze machen: Gleichzeitiges Fühlen, Hören und Sehen erzeugt einen 90-prozentigen Er-innerungseffekt. Gelangen Reize gar über alle fünf Sinne in unser Gehirn, so hat dies eine zehnfach höhere Wirkung auf uns, als einzeln angesteuerte Sinne. Diese Einflüsse erweitern das Spielfeld der Gestalter um einen wichtigen Faktor in der Abgren-zung zu anderen Unternehmen.

Melissa Shoes eröffnete 2017 im New Yorker Viertel Soho einen multisensorischen Flagship-Store. Schon der farbenprächtige Eingang fesselt Augen und Ohren: Bildschirme zeigen eine kunstvolle urbane Szenerie und bringen sie auch zu Gehör, sie ist den Straßen New York Citys nachempfun-den. Eigentlich schon im Inneren, wähnt man sich immer noch mitten auf der Straße. Drinnen hängen Schuhe vor einer duftenden, begrünten Wand und vermitteln so die umweltfreundliche Produkti-onsweise des Unternehmens. Die stilistisch sehr verschiedenen Räume ergänzen sich zu einem Gesamtkunstwerk, inspiriert von feministischen und ökologischen Themen.

Vom kritischen Punkt zum grünen Punkt?

„Waren wir hier nicht schon mal?“ – Architekto-nische Markenführung und die damit einherge-hende optische Identität im Wortsinn hat auch Schattenseiten. Das Phänomen ist bekannt: Von der Abwesenheit architektonischer Alleinstellungs-merkmale kann man als Reisender in Großstäd-ten ein Globalisierungs-Lied singen. Am Beispiel von Fast-Food-Ketten wurde in den vergangenen Jahrzehnten besonders deutlich, dass Corporate Architecture eine öde Kehrseite haben kann. Der Wille zur Wiedererkennung spitzte sich mitunter derart zu, dass regionale Besonderheiten eines Landstrichs vollständig hinter gestalterischen Vorgaben und markenstrategischen Dogmen ver-schwanden. Die Folge war eine Uniformierung der Stadtbilder und ein Anblick, der die Sinne ermüdet. Die menschliche Natur mit ihrem Verlangen nach Orientierung erkennt hier zwar wieder, wird aber vorsätzlich desorientiert.

Diesen kritischen Punkt haben mittlerweile viele Unternehmen erkannt und als Wendepunkt genutzt: McDonalds ist nur ein Beispiel für einen Unternehmensriesen, der von einer uniformen auf eine dem Standort angepasste, individuelle Architektur umgestiegen ist. Man berücksichtigt zunehmend lokale Besonderheiten und setzt auf eine möglichst nachhaltige Architektur. In Singapur beispielsweise baute McDonalds im Jurong Central Park ein „grünes“ Restaurant mit bepflanztem Dach und zahlreichen weiteren Maßnahmen zur Verbes-serung der Energie effizienz. Ein kluger Schachzug, der Teil einer lang fristig angelegten Markenstrate-gie ist, die die Identität um die Aspekte der Nach-haltigkeit und Umweltfreundlichkeit zu erweitern sucht – Eigenschaften, die man bislang weder mit dem Unternehmen noch mit seinen Produkten in Verbindung brachte.

Das 7.200 qm (Geschossfläsche) große Bürogebäude passt sich seiner Geländeumgebung

nahtlos und genuin an: „Mit dem Neubau schaffen wir eine moderne Arbeitsatmosphäre, die den Dialog, die Zusammenarbeit und den Wissensaustausch fördert“, so Andreas Engelhardt, persönlich haftender Gesell-schafter von Schüco. Doch das Unternehmen ist nicht nur sichtbar, sondern auch hörbar: Bei Schüco dreht sich alles ums Material – warum also nicht auch den Corporate Sound daraus schöpfen? Die Auditive Identi-tät von Schüco ist auf das Sounddesign von der Peter Schmidt Group und den Soundexperten von Blut Con-ceptual Audio Design zurückzuführen. Der Instrumen-tenbauer Nicolai Anatol Baginsky baute hierfür zwei Instrumente aus Schüco Kernmaterialien: Das „Schüco Phon“, ein aus Aluminium profilen bestehendes Melodie-instrument, und die „Schüco Kaskade“, ein Percussion- Instrument aus Kunststoffverbund als Rhythmusgeber. Der Corporate Sound differenziert Schüco akustisch im Markt, ist einprägsam und wiedererkennbar.

Der neue Klang von Architektur

Seit 1951 ist viel passiert im Hause Schüco. Heinz Schürmann gründete das Unternehmen als kleinen Metallbau-betrieb für Schaufenster. Aus der Firma mit ursprünglich sechs Mitarbeitern ist ein internationaler Systemlieferant für Fenster, Türen und Fassaden geworden, der heute 4.900 Mitarbeiter beschäftigt und einen Jahresumsatz von 1,575 Milliarden Euro erwirtschaftet. Heute vertreibt die Schüco Gruppe Produkte für Wohn- und Arbeitsgebäude und bietet Beratung und digitale Lösungen für alle Phasen eines Bauprojektes. Mit dem Hauptsitz in Bielefeld hat sich das Unternehmen nicht weit von seinem Entstehungsort Porta Westfalica entfernt: Über Jahrzehnte ist hier nun ein ganzer Schüco Campus gewachsen. Zuletzt durfte das renommierte dänische Architekturbüro 3XN für den Campus einen weiteren Mosaikstein entwerfen.

Ein Gebäude, das den Austausch von Wissen fördert.

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Tradition und Marke

Naoto Fukasawa entwarf den neuen Flagship-Store der Modemarke Issey Miyake in Kyoto in besonde-rer Behausung: in einem 132 Jahre alten hölzernen Stadthaus. Ein solches Haus, auch „Machiya“ ge-nannt, besteht traditionsgemäß aus zwei Räumen: einem Geschäftsraum und einer „Kura“, dem Lagerraum. Die Kura wurde hier auf kleinster Fläche wirkungsvoll in einen kleinen Galerieraum umfunk-tioniert. Handwerker aus Kyoto schufen eigens für den Shop einen mattgrauen Wandanstrich aus einem Gemisch aus Holzkohlepigmenten und Gips. Damit ergänzt der historische Farbton seinen archi-tektonischen Gastgeber: Die japanische Sumi-Farbe schafft eine ruhige Atmosphäre, die auf kleinster Fläche eine Symbiose aus Tradition und Innovation ermöglicht.

Eine ganze Stadt für Prada

Ob große Welle im Innenraum oder gleich eine ganze Stadt mit Goldturm: Prada sprengt mit seiner Corporate Architecture sichtlich Grenzen. Verant-wortlich für Pradas Räume ist Rem Koolhaas. Er baute für die Fondazione Prada 2015 in einer als eher unluxuriös geltenden Peripherie außerhalb der Luxusmetropole Mailand ein ganzes Kulturzentrum: mit Bibliothek, Kino, Café und diversen Museen. Eine kleine Modestadt in der großen Modestadt. Und inmitten des neuen urbanen Modequartiers steht ein Turm – aus Gold.

Anders im New Yorker Shop. Hier setzte Koolhaas eine gestalterische Klammer durch eine Zeb-ra-Holzwelle im Verkaufs- und Eventbereich. Vom Straßenniveau bis zum unteren Stockwerk reicht der wellenförmige Boden und hält sogar eine ausklappbare Bühne für besondere Anlässe bereit. Hängende, motorisierte Display-Käfige sorgen für eine flexible Szenografie neuer Kollektionen.

Form follows Material?

Für den amerikanischen Möbelhersteller Herman Miller entwickelte Charles Eames 1956 den Lounge Chair, der bekannterweise Karriere machte. Das Eames-Stück war zur Zeit seiner Entwicklung ein echtes Novum, eine Ode an das Material: Eames erforschte zusammen mit seiner Frau Ray die Wirkung von Kontrasten, von Masse und Leere, von konkav und konvex. Für den Lounge Chair setzten sie eine fließende, gewölbte Sperrholzplatte ein und nutzten dazu eine spezielle Produktionstechnik zur Verformung von Sperrholz, um Absplitterung des geschichteten Holzes zu verhindern.

Ausgehend von Material, Technik und Formsprache des Sessels, entwickelte der Designer Pan Yi-Cheng einen Pavillon als Herman Miller Shop-in-Shop im Flagship-Store des Möbelhändlers XTRA in Singa-pur. Pan und sein Team machten den Weg zum Ziel: Sie entwickelten eigens für den Pavillon in einem experimentierfreudigen Prozess ein innovatives Materialsystem. Dazu bedienten sie sich einer branchenfremden Technik aus dem klassischen Schneiderhandwerk: Die Sperrholzplatten wurden miteinander „vernäht“, um so aus Einzelteilen eine flexible, dreidimensionale Gesamtfläche entstehen zu lassen. Anders als in üblichen Projektabläufen, steht bei diesem Projekt das Experimentieren mit dem Material im Fokus: „Wir haben versucht, einen experimentellen Prozess, anstelle eines Endproduk-tes zu entwerfen“, so Pan. Und das Ergebnis kann sich sehen lassen.

Der Pop-up-Zeitgeist

Als vor rund zwanzig Jahren das japanische Modelabel comme des garçons seinen ersten „Guerilla-Store“ in Berlin öffnet, revolutioniert es damit den Einzelhandel. Laut und schrill ge-staltete Plakate kündigen die Shops auf Zeit an völlig unerwarteten, günstigen Orten in Metro-polen an. Alte und aktuelle Kollektionen werden schnell und günstig an die begeisterte Kund-schaft gebracht. Das Vermarktungskonzept ist transparent, doch bislang nahezu ungesehen. Die Warenpräsentation ist der Marke entspre-chend ungewöhnlich, wirken doch konsequent hochkarätige Designer bei der Raumgestaltung mit. Diese wiederum verleihen den Orten und ihrer Schnelllebig- und Vergänglichkeit eine ganz eigene, neue Ästhetik und Authentizität, angelehnt an die Ein- und Aufbruchstimmung der Hausbesetzerszene.

Damals dem Zeitgeist vorauseilend, macht das Konzept schnell Schule und ist heute nicht mehr wegzudenken aus dem ABC des Marketings. Seine Kurzlebigkeit entspricht dem Bedürfnis der Marken, risikoarm, schnell und international zu agieren. Und sie kommt dem volatilen Urbanismus mit seinen ständig wechselnden Leerständen in den Metropolen entgegen. Marken können ihrer Beweglichkeit Ausdruck verleihen, mit neuen Produkten und Märkten experimentieren und damit bares Geld verdienen. So kann Kanye Wests „I feel like Pablo“-Kollektion in 21 Metropolen gleichzeitig aufpoppen und das California Café an TUPACs 20. Todestag auftauchen. Wer einfach so auf-poppt, hat automatisch etwas zu erzählen – hier und demnächst anderswo.

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Das Selfie – ein Selbstbildnis? In Zeiten des demokratisierten Selfies kann ein künstlerisches Selbstporträt kaum noch jemanden vom Hocker reißen. Oder gerade doch?

Ob die Lust am Voyeurismus, der Drang zur Selbstdarstellung oder ein kollek t iver Narzissmus dahinterstecken: Der Einzelne scheint immer mehr unterzugehen. In der Flut seiner eigenen Abbil-der, der seiner vielen Millionen Mitdarsteller und der vielen anderen miteinander konkurrierenden Informationen unserer digitali sierten Kommuni-kationskultur. Wenn Selbstdarstellung gleichzeitig Selbstvermarktung ist, setzt das voraus, dass die Identität zur Ware wird. Und das trifft auf Künstler im ganz Besonderen zu.

Die künstlerische Auseinandersetzung mit der Selbstdarstellung im Laufe der Jahrhunderte spiegelt die Entwicklung des Verhältnisses des Menschen zu sich selbst wider und kann auch heute aufschlussreich sein. Findet jenseits der Nostalgie gar eine Rückbesinnung auf ein altes Wissen um das letztlich Unzeigbare statt?

Der Fotograf Richard Prince inszeniert Screenshots aus den sozialen Medien als großformatige Drucke auf Leinwand. Ivanka Trump erwirbt ihr eigenes Selfie, von Prince signiert, zum Preis von 36.000 Dollar. Auch wenn der Künstler die Autorenschaft später aus moralischen Gründen revidiert und das Geld zurücküberweist: Für den Kunstmarkt mindert dies nicht den Sammlerwert. Man spekuliert gar auf eine gegenteilige Entwicklung.

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Selbstbildnisse im Wandel der Zeit

Die Abbildung einer Hand ist das älteste Zeugnis früher Kunst, in der der Mensch sich selbst darstellt. Sie ist mindestens 40.000 Jahre alt. Eine weiße Fläche, die im Negativbild eine Hand erkennen lässt – kein Gesicht ist abgebildet, nur ein Körperteil. Dieser eine Körperteil, der den Menschen, seine Geschicklichkeit und seine Handlungsfähigkeit, seinen Abstand zu anderen Lebewesen, seine Besonderheit und Identität darstellt. Sehen wir mit diesem Blick weit zurück in die Geschichte der Kunst, das erste Selbstporträt der Menschheit?

Viel später, im 15. Jahrhundert, in der Malerei der italienischen Renaissance, ist die Selbstdarstellung des Malers noch verpönt und der Künstler schum-melt sich allenfalls versteckt in eine Menschenmas-se. Wenig später werden immer mehr Maler zu ihren eigenen Modellen: Zu Werbezwecken. Sie zeigen damit ihre ausgefeilte Technik, ihren erlesenen Stil, und überzeugen so solvente Auftraggeber von ihren Fähigkeiten. Doch je weiter wir in den Jahrhunder-ten fortschreiten und je mehr die Individualität an Bedeutung gewinnt, desto stärker prägt sich auch die Neigung der Künstler zur bildlichen Selbstdar-

Wer sind wir und wie sehen wir uns selbst? Auf den Spuren der ersten Darstellungen des Menschen von sich selbst stößt man unweigerlich auf Höhlenmalereien. Die ältestens sind jedoch nicht die schematischen Darstel lungen in der Rolle des Jägers, sondern diese 40.000 Jahre alten Negativbilder von Händen auf einer Höhlenwand in Sulawesi, Indonesien.

stellung aus künstlerischem Antrieb heraus aus. Die Selbstbildnisse sind nicht länger nur Zeugen des eigenen Könnens. Sie vermitteln eine Botschaft, zei-gen den Maler als Menschen: ernst, nachdenklich, traurig, seltener stolz, noch seltener fröhlich, häufig umgeben von einer Aura des genialen Wahnsinns.

Von der Ewigkeit zur Schnelllebigkeit

Während diese Art des Selbstbildnisses in ver-gangenen Jahrhunderten auch dazu diente, dem Dargestellten eine gewisse Unsterblichkeit zu ver-leihen, ist es um das heutige Selfie anders bestellt: Aus den warholschen „15 minutes of fame“ sind Sekunden geworden. Das Selfie ist aus dem Moment und für den Moment geschaffen. Authentizität spielt dabei längst nicht immer eine Rolle. Erfolgreiche Instagrammer inszenieren ihr Leben als durchge-stylte Soap-Opera, in der von morgens bis abends die Frisur perfekt sitzt und ein Farbschema und Bildstil sich – scheinbar – durch das ganze Leben ziehen. Was einst Künstlern vorbehalten war – sich eine Gemeinde von Bewunderern zu schaffen und sich im Bildnis seiner selbst zu versichern –, hat sich demokratisiert. Mit mehr Selbstbestimmung und Freiheit geht diese Entwicklung allerdings nicht einher, denn das so veröffentlichte Leben setzt eine enorme Selbstkontrolle voraus. Wir haben gelernt, uns selbst zu überwachen, uns selbst darzustellen, uns selbst zu vermarkten – im Umkehrschluss fühlen wir uns auch unentwegt beo bachtet, bewer-tet und beurteilt, denn unsere Interessen werden aufgezeichnet, unsere Daten gesammelt und unser Wert in Kaufkraft gemessen.

Ganz Mensch – nur im Geheimen?Die zeitgenössische Kunstwelt muss sich in diesem Spannungsfeld positionieren. Sie kann diese Mecha nismen sichtbar machen – sie zitieren, persiflieren oder unterwandern. Doch ist auch die Unterwanderung der Selbstdarstellung eine Form von Selbstdarstellung, mit der sich wiederum viel Geld verdienen lässt. Denn auch der Künstler ist Teil seines Kontextes. Aus diesem heraus geschaffen, kann sein Werk – von einem ebenso zeitgenössi-schen Publikum – nicht losgelöst davon betrachtet werden. Eine kritische wie humorvolle Gegenposi-tion zur Selfieflut bezieht beispielsweise Thomas Brinkmann, indem er der realistischen Nachbildung seines Unterkörpers selbst einen Karton über den Kopf stülpt. Lässig und doch ein wenig unsicher an der Wand lehnend im Raum inszeniert, ist die Skulp-tur eine kindlich-trotzig anmutende Gegenposition

zu der unüberschaubare Vielzahl zum Verwechseln ähnlicher Selfies. Der Künstler Florian Heisenberg wählt einen anderen Standpunkt und macht in einer Installation seine Chats, E-Mails und Einkäufe im Netz für den Besucher zugänglich. So kann der Besucher auch die Auflösung von Heisenbergs eigenem Ich im digitalen Datenfluss in Echtzeit verfolgen. Dass mit der Selfieflut anderer auch Künstler Geld verdienen können, beweist Richard Prince, indem er Instagram-posts isoliert, auf Leinwand zieht und zu Kunst erklärt. Doch auch diese Inszenierung bewegt sich unweigerlich im wohlig-gruseligen Spannungsfeld zwischen Authentizität und Darstellung, zwischen Wahrheit und Lüge, Wunsch und Wirklichkeit. Das ha-ben nahezu alle Selbstbildnisse gemeinsam, daraus ziehen sie ihre Kraft. Indem sie einzelne Aspekte des Individuums hervorheben, verschleiern sie andere, die der gewünschten Aussage nicht entsprechen. Das Individuum als Ganzes bleibt wohl nicht darstellbar. Oder lebt nur im nicht Gezeigten, nicht Zeigbaren. Denn ist und bleibt der Mensch nicht, jenseits aller Bilder, nur im Geheimen ganz Mensch?

Es ist dies mitnichten Dürers erstes Selbstporträt. Schon im Alter von 13 Jahren zeichnete er sich zum ersten Mal selbst und es folgten eine Reihe weiterer Selbstbildnisse, mit denen er zum Vorbild für folgende Künstler generationen wurde. Doch dieses Selbstporträt aus dem Jahr 1500 ist eines der ungewöhnlichsten Bilder in der Geschichte der Porträts. Frontal schaut Dürer den Betrachter an, gelassen und vor allem selbstbewusst. Alles an ihm ist ideal, seine Haltung erinnert gar an Christusdarstellungen, das Bild ist handwerklich perfekt, die Details atemberaubend genau. Mit dieser Selbstdarstellung setzte Dürer nicht nur sein Können in Szene, er machte auch deutlich, dass er den Künst-ler als „zweiten Genius“, also als zweiten Schöpfer nach Gott betrachte-te. Dieses Selbstbewusstsein wird noch deut licher in der lateinischen Inschrift des Bildes: „So schuf ich, Albrecht Dürer aus Nürnberg, mich selbst mit charakteristischen Farben im Alter von 28 Jahren.“

Thorsten Brinkmann wollte sich als Künstler nie in den Vorder- grund stellen, hat diesen Umstand während seiner künstlerischen Lauf bahn zwangsläufig als Dilemma begriffen. Möchte er die Auf merksamkeit doch stets auf sein Werk und nicht auf sich als Künstler und Person lenken. So schafft er mit seinem Selbstporträt eine Mischung aus Mensch und Gegenstand und gleichzeitig seinen Kommentar zur Selbstdarstellung. The artist is present. In jedem seiner Werke.

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Worauf lohnt es sich bei der Suche nach einem neuen Arbeitnehmer oder einem neuen Arbeitgeber zu achten? Ein Gespräch mit der Personalberaterin Gisela Veltens über berufliche Identität, harte Fak-ten, Bauchgefühl und Erfahrung als Methode.

W.DO: Frau Veltens, welchen Stellenwert hat Ihr Beruf für Sie?

Gisela Veltens: Ich habe festgestellt, dass sich der Stellenwert über das gesamte Leben immer wieder verändert. In der Ausbildung, im Studium, spielt das für die meisten noch überhaupt keine Rolle. Der Beruf ist noch weit weg, irgendwann wird man damit mal ein bisschen Geld verdienen. Das ändert sich, wenn die Leute nach dem Studium so richtig einsteigen: Dann wird der Beruf bei vielen sehr wichtig und ist identitätsstiftend. Man beginnt, sich mit anderen zu vergleichen: Sind die schon einen Schritt weiter als ich? Der Klassiker ist das Klas-sentreffen mit der obligatorischen Einstiegsfrage: Und, was machst Du so?

Das ändert sich wieder, wenn man die fünfziger erreicht. Für mich war mein Beruf über Jahrzehnte das Thema schlechthin, das Wichtigste überhaupt.

Jetzt gehe ich auf die sechzig zu, und mein Beruf ist gar nicht mehr so wahnsinnig wichtig. Ich ma-che das noch gerne und aus Leidenschaft, aber ich schaue sehr genau, dass ich Freiräume habe – das beobachte ich auch in meinem Umfeld. Da spüren Leute im Topmanagement mit Mitte fünfzig zuneh-mend, dass der Beruf nicht mehr so wichtig ist. Man könnte vielleicht sogar ohne leben, identitäts-stiftend sind dann andere Dinge.

Der eine sucht den perfekten Arbeitgeber, der andere den perfekten Arbeitnehmer. Dazwischen stehen Sie. Welche Möglichkeiten bieten sich Ihnen, den Passwert der beiden Parteien abzu-gleichen?

Wenn Sie damit psychologische Tests meinen: Das machen wir nicht. In dem Markt, in dem wir tätig sind, haben wir in der Regel zu wenige Kandidaten. Bei manchem Auftrag sind wir für jeden Kandidaten dankbar, mit dem wir überhaupt ein Gespräch führen können, denn das sind gesuchte Leute. Und wenn ich diesen Kandidaten sagen würde: „So, und jetzt machen wir mal Test A, Test B und Test C“, dann bekäme ich als Antwort sicher einen Hinweis auf die zehn Headhunter, die sich pro Woche bei ihnen melden.

Passen wir zueinander?

Wie findet man heraus, ob man in Zukunft ein gutes Team sein wird? Gisela Veltens vermittelt seit mehr als 20 Jahren zwischen Unternehmen und Arbeitnehmern.

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Okay, psychologische Tests scheiden aus. Wie gestalten Sie den Prozess stattdessen?

In der Regel sagt unser Gesprächspartner: „Der Wunschkandidat soll sich hier gut einfinden, er soll nicht so konzernmäßig denken“ und so weiter – wir werden oft mit Soft Skills überschüttet, mit Wün-schen, wie derjenige sein oder nicht sein soll. Und da muss ich dann sagen: „Ja, das ist alles schön, aber zuallererst müssen wir jemanden überhaupt hier am Tisch sitzen haben, um das alles festzustellen.“ Das ist der erste Schritt: Anhand der Hard Skills denjeni-gen zu finden, den wir suchen. Mit der Definition die-ser Fakten tun sich viele Kunden allerdings schwer. Das muss man oft mühsam aus den Gesprächen herausarbeiten.

Weshalb, glauben Sie, ist es für den Auftraggeber so schwierig, diese Fakten zu benennen?

Unsere Kunden sind Profis, die ihre Leute eigentlich selbst finden und auswählen können. Wenn wir ins Spiel kommen, ist die Lage ernst: Das Unterneh-men hat es schon selbst versucht und niemanden gefunden. Häufig ist das ein internes Thema, denn zumeist gibt es ja mehrere Entscheider. Dann sitzen zwei oder drei Leute mit uns am Tisch, die eigentlich zwei oder drei verschiedene Mitarbeiter suchen. Da ist es nicht ganz einfach herauszufinden, wen die Entscheider nun eigentlich suchen. Natürlich spielen die Soft Skills eine wahnsinnig große Rolle, doch die Fakten sollten zuerst definiert werden. Nehmen Sie die Eventbranche als Beispiel: Wenn der Bewerber zuvor noch nie in diesem Bereich gearbeitet hat, dann brauche ich ihn als Projektmanager nicht an-zubieten. Das kann der tollste Typ sein, das ist dann aber egal, weil bestimmte Grundvoraussetzungen gegeben sein müssen.

Welche Rolle spielt Ihre Menschenkenntnis und Erfahrung innerhalb des Auswahlverfahrens?

Da muss ich mich manchmal sogar ein bisschen zügeln. Kürzlich stellte sich hier zum Beispiel eine Kandidatin für eine Stelle vor, und nach zwei Minuten wusste ich: Das ist sie. Das geht aber nur, wenn man einen Kunden schon gut kennt und weiß, wer dorthin passt.

Von der Kandidatenwahl mal zur Unternehmens-wahl: Welche Rolle spielt der Ruf eines Unterneh-mens bei Ihrer Arbeit?

Ein gutes Beispiel: Ich hatte mehrere Projekte für ein Unternehmen im Großraum X. Sprachen wir potenziel-le Kandidaten an, kam immer der Ausruf „Unterneh-men Y? Auf gar keinen Fall!“ Es war nicht Unterneh-men Y, aber dort war vor zehn Jahren „irgendwas vorgefallen“. So ein Ruf hält sich unglaublich lange, auch über die Zeit hinaus, in der er entstanden ist. Darauf müssen Unternehmen extrem achten. Häufig hat das mit dem Verhalten den Angestellten gegen-über zu tun. Jeder, der mal mies behandelt worden ist, erzählt es mindes tens 20 Leuten. Das zieht Kreise und irgendwann lehnen potenzielle Mitar-beiter dankend ab. Deshalb ist Fairness gegenüber Arbeitnehmern so wichtig. Es mag unterschiedliche Interessen geben, aber der Umgang miteinander muss fair sein.

Extrem wichtig ist auch das Verhalten im Vorstel-lungsgespräch. Die Zeiten, in denen man beim Vorstellungsgespräch vor allem gerade saß und seine Stärken und Schwächen runterratterte, sind vorbei. Heute begegnen die Parteien einander offen und auf Augenhöhe. Man kommt in einen Austausch und prüft auf beiden Seiten: Passt man zusammen? Auch wenn es nichts wird mit der Stelle, soll der Kandidat mit dem Gefühl hinausgehen, dass es ein gutes Gespräch war und dass man ihn ernst genommen hat. Es darf kein schlechter Nachhall bleiben. Der Bewerber öffnet sich ja, man spricht über persönliche Dinge, und in dieser Situation muss die Atmosphäre vertrauens- und respektvoll sein.

Weisen Sie Unternehmen auch schon mal darauf hin, wenn Sie das Gefühl haben, dass Eigenwahr-nehmung und Außenwahrnehmung auseinander-klaffen?

Wir sprechen mit dem Geschäftsführer, vielleicht mit dem Vertriebs- oder dem Entwicklungsleiter, aber was im Unternehmen wirklich abläuft, wissen wir nicht.

Beim ersten Gespräch zwischen Kunde und Kan didat sind Sie immer dabei?

Ja, das hat zwei Gründe: Zum einen erfahre ich mehr über die Position, um die es geht. Denn wenn zwei Fachleute miteinander sprechen, kommen Punkte auf den Tisch, die zwar zur Position gehören, von denen ich aber bis dahin vielleicht nichts wusste. Das arbei-ten wir dann noch in den Suchprozess ein. Und ich lerne den Kandidaten noch einmal aus einer anderen Perspektive kennen. Da lehne ich mich entspannt zu-rück, die beiden Parteien reden miteinander und ich schaue mir das an. Dabei ist für mich ganz wichtig: Wie verhält der Kandidat sich, erzählt er Dinge hier anders als in unserem Zweiergespräch, spult er Sätze ab, wirkt das auswendig gelernt? Die Leute sollen sich so präsentieren, wie sie sind. Und wenn ich den Eindruck habe, da spielt jemand eine Rolle, werde ich ein bisschen nervös.

Und ziehen Sie nach diesem ersten Gespräch schon ein Fazit?

Am Ende dieses Treffens weiß ich, ob es passt oder nicht. Früher habe ich über einzelne Kandidaten auch noch mit meinen Kunden diskutiert, heute nicht mehr. Ich sage ihnen von vorneherein: Wenn Ihr ein „Eigentlich passt alles, aber irgendwie stimmt es nicht“-Gefühl habt, dann hört darauf. Denn die Erfahrung zeigt: Schaltet man stattdessen den Kopf ein und redet sich den Kandidaten schön, geht es in die Hose. Und manchmal muss auch ich am Ende des Gesprächs sagen: Diesen Kandidaten habe ich Euch zwar vorgeschlagen, aber ich ziehe meine Empfeh-lung zurück, das passt nicht. Ich verkaufe ja keine Kandidaten, ich bin Beraterin für meinen Kunden und sehe mich eher als Sparringspartner.

Wenn das Unternehmen aber zum Beispiel seine Familienfreundlichkeit ins Feld führt, frage ich nach, was das konkret bedeutet. Beschränkt sich das auf ein Sommerfest, zu dem die Kinder mitgebracht werden können, weise ich natürlich darauf hin, dass sich das nicht gut als besonders familienfreundlich verkaufen lässt.

Wie können sich Unternehmen heute attraktiv für potenzielle Arbeitnehmer positionieren?

Das kommt sehr auf das Unternehmen an. Beim Brie-fing für eine neue Position fragen wir grundsätzlich: Was könnte den Kandidaten motivieren, bei Ihnen zu arbeiten? Was sind die Dinge, die ein Grund wären zu wechseln? Und manchmal schauen die Unternehmen uns dann etwas ratlos an und wir müssen nachhel-fen: Sie haben doch flache Hierarchien, innovative Produktentwicklungen usw. – dieses Herausarbeiten der Unternehmensstärken und damit auch die Schär-fung des Profils ist eigentlich nicht unser Job, aber wir machen es natürlich, um dem Kandidaten die entscheidende Frage zu beantworten: Was zeichnet dieses Unternehmen aus? Wir wollen ihm schließlich das Unternehmen als neuen Arbeitgeber verkaufen.

Die Benefits, mit denen viele Unternehmen heutzu-tage werben, sind da viel weniger entscheidend, als man annehmen würde: drei Mal die Woche frisches Obst, Getränke und Reinigung? Meiner Meinung nach wechselt niemand seinen Arbeitgeber, weil man ihm woanders die Hemden bügelt. Das sind nur Zücker-chen. Letztendlich kommt die Zufriedenheit durch Anerkennung der Arbeit, durch Feedback. Ich schaffe hier was, und das wird gesehen und geschätzt.

Name: Gisela Veltens

Beruf: Gründerin und Gesellschafterin der Veltens & Partner Personalberatung in Bonn

Und in der Freizeit? Meine beiden Enkeltöchter, seit vielen Jahren aktiv in einem Bonner Hospiz-verein, stricken, lesen, Doppelkopf spielen

Die beruflich unangenehmste Situation bisher? Als ein Kandidat mitten im Gespräch wortlos den Raum verließ.

Und die schönste? Am schönsten ist es, wenn Kandidaten sich im Nachhinein nochmals für die guten Gespräche bedanken.

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„Die Zeiten, in denen man beim Vorstellungsgespräch vor allem gerade saß und seine Stärken und Schwächen runterratterte, sind vorbei.“

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Marken sind auch nur Menschen

Oktober 2014, Ready-to-read show: Base feiert das 20-jährige Firmenjubiläum im Museum of Modern Art in New York City. 30 Künstler und Models, gestylt von Hannelore Knuts und Wayne Sterling (The Image), tragen speziell angefertigte hölzerne Rekla-meschilder mit farbenfrohen Botschaften: ein Mix aus Statements zum weltweiten Zustand von Kultur, Design und Gesellschaft. Und auch die Gäste werden – mittels bedruckter Taschen zum Mitnehmen – zu Botschaftern.

„Brands are like people. They stand out through their unique personalities and attitudes.“

Das ist der Leitspruch der Agentur Base Design, die von ihren drei Studios in Brüssel, New York und Genf aus großen und kleinen Marken zu einem einzig-artigen und ganz persönlichen Erscheinungsbild verhilft. Dabei stützt sie sich stets auf den schlich-ten Grundsatz, in einer Marke das zu sehen, was eigentlich dahintersteht, nämlich eine Idee, die von ganz bestimmten Persönlichkeiten mit einer ganz bestimmten Einstellung ins Leben gerufen wird. Base Design versucht dabei, genau diese Persönlichkeit zu erfassen und herauszuarbeiten.

„Mein liebstes gestalterisches Element sind Worte“, sagt Thierry Brunfaut, Geschäftsführer und einer der Köpfe, die das Team aus 60 Kreativen in drei Städten zusammenhalten. Und damit hat er auch schon den Namen des Designbüros erklärt und den Kern der Markengestaltung aus Sicht von Base Design: Start at the base. Kein Schnickschnack. Keine Deko. Aber Inhalt. Und die starke Idee, die jenseits aller Werbe-

maßnahmen den Grundstein für den Erfolg der Marke legt. Und diese formuliert sich zunächst in Worten. Alles geht von der Sprache aus, der Formulierung einer Vision, einem treffenden und auf den Punkt gebrach-ten, bestenfalls schön formulierten Leitgedanken. Die Idee und ihre treffende Formulierung stehen daher konsequent an erster Stelle des Kreativprozesses.

Und damit das Ganze auch noch angenehm zu lesen ist, kommt gleich eine weitere Disziplin, nämlich die Typo grafie ins Spiel: Die Wahl der richtigen Schrift ist bei Base Design genauso wichtig wie die des richtigen Wortes. Deshalb unterhält die Agentur eine eigene Ab teilung für die Weiterentwicklung und Gestaltung von Schriften.

Die Einzigartigkeit und die Qualität eines Markenauf-tritts werden maßgeblich von der Authentizität des Inhalts und der Qualität seiner Weiterverarbeitung definiert. Und sind die kraftvollen Wortbilder einmal geschaffen, fehlt eigentlich nicht mehr viel. Nur weiter-hin sehr viel Liebe zum Detail. Denn in der Umsetzung kann auch eine noch so starke Idee noch sterben.

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PSLab erstellt objektspezifische Lichtlösungen für Kunstgalerien, Designboutiquen, Privathäuser und Büros. In Workshops (oben) mit dem PSLab-Team fasst Base die Markenstrategie in Worte. Es entsteht ein Manifest mit acht Punkten, die fortan als Basis für die interne und die externe Kommunikation gelten. Veröffentlicht wird das Manifest im PSLab-Brandbook (links und rechts), gesetzt in der speziell entworfenen neuen Unternehmensschrift.

Thierry Brunfaut glaubt an den Wert einer hoch-wertigen, künstlerischen Ausführung der gestalte-rischen Ideen. Das beginnt mit der Typografie und geht natürlich mit der Fotografie und allen anderen Designdisziplinen weiter. Und weil jeder nur das machen sollte, was er am besten kann, findet Base Design für jedes Spezialgebiet die besten Profis: Ta-lentierte Fotografen, herausragende Illustratoren und erfahrene Architekten sind ebenfalls Persönlichkei-ten. Und so fungiert die Agentur ab einem gewissen Punkt im Prozess als Vermittler zwischen Kunst- und Kulturschaffenden und der Wirtschaft und bringt die richtigen Menschen und Marken – kurz: die Persön-lichkeiten – zusammen, die zueinander passen. So

wird Wirtschaft durch Kultur verstärkt und Kultur durch Wirtschaft mitgetragen. Eine Symbiose, ohne die laut Thierry Brunfaut Erfolg zwar möglich, aber nicht menschlich ist.

Brunfaut betont, dass während des gesamten Prozesses das Menschliche immer im Vordergrund stehe, Marken seien von Menschen gemacht und gute Resultate entstünden nur aus einer guten Zusammenarbeit. Auch das sei ein Aspekt der aus seiner Sicht so wichtigen „Vermenschlichung von Marken“. Wer Marken als Persönlichkeiten betrachte, betrachte sie automatisch innerhalb eines Kontextes. Das erklärt er so: „Ich kann einen Menschen und sei-ne Eigenheiten viel besser verstehen, wenn ich auch weiß, wo er geboren, wie er aufgewachsen ist und welche Einflüsse seine Eltern ihm mitgegeben haben. Das Gleiche trifft im Grunde auf Marken zu. Man sollte ganz genau verstehen, in welchem Umfeld die Marke entstanden ist, in welchem sie sich bewegt und wo sie hinwill. Bevor man mit der Konzep tion beginnt.“ Nur dann könne man ihr helfen, authentisch zu kom-munizieren und auf die richtigen Partner zu treffen. Wichtig sei es, die Marke nicht als artifizielles Kon-strukt, sondern als etwas Lebendiges zu sehen. Eben wie einen Menschen: Sie dürfe Fehler machen und aus ihnen ler nen. Sie dürfe subjektiv, emotional und sehnsuchtsvoll sein. Sie dürfe sich weiterentwickeln und ein eigenes Selbstbewusstsein, eine eigene Dynamik entfalten. Ihre Menschen und die Agentur müssten genau hinsehen, den Prozess beeinflussen und begleiten, ihr Design nicht als starres Raster, sondern als lebendiges organisches Sprachwerkzeug begreifen. Denn unter Kreativen und Nichtkreativen zu unterscheiden sei gar nicht möglich und jeder Beteiligte, vom Praktikanten bis zum Geschäfts-führer, könne wichtige Impulse geben. So könnten die Menschen ihrer Marke Persönlichkeit verleihen. So könne eine starke Kommunikation entstehen.

„Wirtschaft wird durch Kultur verstärkt und Kultur durch Wirtschaft. Eine Symbiose, ohne die Erfolg zwar möglich, aber nicht menschlich ist.“

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Glenn Ligon, Figure, 2001, eins von 50 Siebdruck-Porträts auf Color-Aid-Papier, je 22,9 x 15,2 cm, Collection Museum of Modern Art, New York: Die abgebildete Arbeit ist Teil einer Reihe, bestehend aus insgesamt 50 einzelnen Selbstporträts, gedruckt auf 50 verschie-denen Farben. Die Drucke zeigen stets eines von zwei Motiven: das Gesicht oder den Hinterkopf des Künstlers. Durch den Druckprozess sieht jeder Druck anders aus, ist mal mehr, mal weniger detailreich – eine Spiegelung des Facettenreichtums eines jeden Individuums?

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Wer ist Glenn Ligon?Eine Frage, die der amerikanische Künstler immer wieder stellt – sich selbst und der Gesellschaft, in der er lebt.

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Mehr als 150 Jahre nach der Abschaffung der Sklave-rei in den USA: Barack Obama wird zum US-Präsiden-ten gewählt, Glenn Ligon wird als einer der jüngsten schwarzen Künstler in die Sammlung des Weißen Hauses aufgenommen, das Museum of Modern Art in New York stellt mit Darby English einen afroame-rikanischen Kurator ein und 2014 eröffnet das erste nationale Museum für afroamerikanische Geschichte des Landes. Afroamerikanische Identität und damit auch die Identität eines ganzen Staates bahnt sich ihren Weg – langsam. In den großen musealen ame-rikanischen Hallen klaffte über viele Jahre eine be-deutende Lücke. Das Indiz: eine große weiße Masse. Schwarze Künstler waren in den Museen des Landes quasi kaum vertreten. Ein Tatbestand, den man nach 1964 als längst erledigt vermutet hätte – dem Jahr des „Civil Rights Act“.

Der Kunsthistoriker Richard Powell von der Duke University sagte dazu in einem Interview: „Zuvor mussten sich die Kunstschaffenden mit den Neben-schauplätzen des internationalen Kunstmarktes begnügen: Im Studio Museum in Harlem beispielswei-se, oder den Ausstellungsräumen der Colleges. Es hat 80 Jahre gedauert, bis die Kunstwelt begonnen hat, afroamerikanische Kunst als Kunst anzuerkennen.“

Die Geschichte schwarzer Künstler ist also eng verwoben mit der afroamerikanischen Geschichte in den USA. Seit der Harlem-Renaissance zwischen 1920 und 1930, der ersten Blütezeit afroamerikani-scher Kunst im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist gesellschaftlich viel passiert. Und so widmet sich der Konzeptkünstler Ligon seit vielen Jahren dem Thema Identität – seiner eigenen und jener der afroamerikanischen Gesellschaft in den USA. Ligon sagt dazu: „Wir denken immer, dass Sklaverei etwas aus der Vergangenheit sei, dass wir als Gesellschaft dieses Thema überwunden hätten, dass sie kein Thema mehr sei. Aber wenn man sich vor Augen führt, dass Sklaverei noch existierte, als unsere Gesetze und Institutionen gegründet wurden, als die Unabhängigkeitserklärung geschrieben wurde, als unsere Gerichtshöfe entstanden, dann wird das moralische Dilemma am Startpunkt amerikanischer Demokratie deutlich und wir spüren heute noch, dass die Geschichte auf uns einen Effekt hat.“

Ligon greift einzelne Erzählungen und Momentauf-nahmen in seinen Installationen auf, die diese Ge-schichte Einzelner erlebbar machen; Schilderungen die zeigen, dass die Rassentrennung in den USA kein abstraktes Thema in den Geschichtsbüchern ist –

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sofern dort überhaupt aufgegriffen – sondern dass die Geschichte der Unterdrückung eine Erzählung einzelner Schicksale ist. Ligons Kunst zweifelt, sie kritisiert und deckt Missstände auf – sie ist radikal, auf den Betrachter wirkt sie sperrig und dornig. Er lockt den Betrachter aus seiner Komfort zone und schafft ein scharfes Bewusstsein für die gesell-schaft liche Realität und für kollektive Fehlleistungen der heutigen Gesellschaft in den USA.

Er stellt die Frage nach amerikanischer Identität immer wieder aufs Neue. Damit macht er seine Kunst auch politisch, jedoch ohne politische Kunst zu schaffen: Der Filmregisseur Jean-Luc Godard sagte dazu: „Es geht darum, Filme politisch zu machen, es geht nicht darum, politische Filme zu machen.“ Diese Perspektive lässt sich auch auf den New Yorker Künstler übertragen.

Glenn Ligon wuchs in der New Yorker Bronx auf, nahm als Jugendlicher am Kunstunterricht im Metropolitan Museum of Art teil und erlebte früh den Alltagsrassis-

mus und die Diskriminierung von Homosexualität. Themen, die er als Künstler in seinen Arbeiten emotio-nal aufgeladen zu vermitteln weiß. 1991 bis 1993 verarbeitete Ligon das zuvor erschienene „Black Book“ des Künstlers Robert Mapplethorpe in einer Bild-Text-Installation – mit sprachlicher Ergänzung seiner Wahrnehmung und weiteren Zitaten zu den homoerotischen Aktfotografien schwarzer Männer. „Das Buch weckte eine Reihe von Reaktionen, von anerkennender Identifikation bis zu moralischer Empörung, von distanzierter Ambivalenz bis hin zu persönlicher Verlegenheit.“, so heißt es in den Archi-ven des Guggenheim Museums. Der zweite Themen-fokus ist exemplarisch in seiner „Runaways“-Serie ablesbar: Hier verwendete er als Bearbeitungsgrund-lage Suchanzeigen aus dem 19. Jahrhundert. In den Anzeigen wurde innerhalb der Südstaaten der USA nach geflüchteten Sklaven gesucht.

In der Installation bat Ligon seine Freunde, einen Text über ihn als vermisste Person zu schreiben, und fügte die Texte in die Gestaltung der Originalanzeigen ein. Überraschenderweise stimmten die Beschrei-bungen, die seine Freunde über Ligon verfassten, mit den Suchanzeigen für damalige Sklaven über-ein. Ligon stellt die Frage nach afroamerikanischer Identität in einen neuen, alten Kontext und erzielt verstörende Ergebnisse. Er selbst sagt über seine Runaways, dass sie zeigen, wie untrennbar verbun-den individuelle Identität mit der eigenen kulturellen Position ist – und dem gesellschaftlichen und politi-schen Kontext durch den Blick der anderen. Kritiker bemerkten, dass die Texte sich wie Suchanzeigen von Verdächtigen lesen – ein Indiz für den immer noch andauernden Einfluss von Rassemerkmalen in der Strafverfolgung?

Ligons Kunst zweifelt, sie kriti-siert und deckt Missstände auf

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Glenn Ligon, Runaways, 1993, Reihe von zehn Lithografien,Auflage von 45, je 40,6 x 30,5 cm: Die Beschreibung trifft zu und auch wieder nicht: Die Charakterisierung Glenn Ligons innerhalb seiner eigenen Werke stellt die Frage nach Rasse-merkmalen und trifft jene Tonalität, die noch im 19. Jahrhun-dert auf den Tabakfeldern der US-amerikanischen Südstaaten herrschte.

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Glenn Ligon, Condition Report, 2000, Irisdrucke mit Siebdruckfarbe auf Papier, Diptychon, Auflage von 20, je 81 x 57,5 cm: links ein Druck von Ligons Gemälde Untitled (I am a man) aus dem Jahr 1988, zwanzig Jahre nach dem Protestmarsch in Memphis. Rechts eine

weitere Reproduktion mit Anmerkungen des Kunstkonservators Michael Duffy: „smudges, hairline, cracks, fingerprints, ...“. Ligon selbst kommentierte: „... im Fall dieser Drucke, die aus dem Zustandsbericht des Konservators kamen, ging es nicht nur um das physikalische Altern

Der Protestmarsch mit denheute ikonischen Plakaten „I am a man“. Ein Satz, der sich ähnlich tief wie „Black lives matter“ in das amerikanische kollektive Gedächtnis einbrannte. Nach zwei Arbeitsunfällen mit Todesfolge und aus Protest gegen einen Hungerlohn zogen 1968 Hunderte Müllwerker auf die Straße. Der „Sanitation Strike“ zog unter anderem an dem Hotelbalkon vorbei, auf dem Martin Luther King Jr. in Memphis erschossen wurde. Mit diesen Bezügen im Rü-cken, fertigte Glenn Ligon Jahre später ein neues „I am a man“ (unten) als Kunstwerk an, das mit einer weiteren Geschichte aufgeladen werden sollte.

des Original-Gemäldes, all die Risse, die Flecken, die verlorene Farbe, sondern auch um sich ver ändernde Ansichten zu Männlichkeit und zur Be ziehung, die wir heute zur Bürgerrechtsbewe-gung haben.“

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PlayStation lädt die Community ein – und die Community fühlt sich wie daheim, hier bei der Gamescom 2017.

Christian Denk, Senior Brand Activation Manager Deutschland, Österreich, Schweiz bei PlayStation, bezeichnet den wichtigsten Teil seiner Zielgrup-pe als „Connaisseurs“ – und passt seine Kommunikation konsequent an die anspruchsvolle Player-Kundschaft an. Ein Gespräch über das Marken-erbe der 80er, Chancen und Risiken der digitalen Kommunikation und die Frage, wie viel Offline im Online stecken muss.

Markenidentitätfür Genießer

Hans Domizlaff, in Fachkreisen noch heute als „Werbepapst“ gehandelt, notierte in seinem 1939 erschienenen „Lehrbuch der Markentechnik“ unter anderem den Satz „Eine Marke hat ein Gesicht wie ein Mensch“ als eines von 22 Gesetzen der natürlichen Markenbildung.

Eine starke und ohne Frage nach wie vor aktuelle Aussage, die auch von Marketing-Experten unserer Zeit beherzigt wird: Eine Marke soll eine authentische Persönlichkeit haben, einen Charakter, der sie un-verwechselbar und begehrenswert macht. Während Domizlaffs Ratschläge in Sachen Markenpersönlich-keit sich in den 20er und 30er Jahren auf Anzeigen

und Werbeplakate und damit auf eine kommunikative Einbahnstraße – von der Marke zum Kunden – beschränkten, ist die Situation heute eine gänzlich andere: Der Marke stehen unzählige Möglichkeiten offen, um kundzutun, dass sie die Schönste und Bes-te im ganzen Land sei. Doch auf den entscheidenden Kanälen bestimmt nicht mehr die Marke alleine, wie die Kommunikation läuft. Die Digitalisierung bringt Marke und Kunde näher zueinander. Es entsteht ein Austausch, der für die Marke extrem wertvoll sein oder ihr enormen Schaden zufügen kann. Wie kann die Identität, die Persönlichkeit einer Marke heute de-finiert, kommuniziert und weiterentwickelt werden?

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Christian Denk im Interview beim UEFA Under 19 Championship Germany.

Christian Denk in seinem Element: nah an den „Playern“. Hier mit der Siegermannschaft des PSJCC Finales im Rahmen des UEFA Champions League Finales 2015 in Berlin.

Mit der PS3, die in Europa 2007 auf den Markt kam, stellte PlayStation ein Produkt vor, das scheinbar alles konnte: Blu-ray-Player, Spielekonsole, Fotospei-cher, Musikanlage. „Wir kamen da plötzlich – weil es sich anbot – in eine stark Feature-getrie bene Kom-munikation“. Die Stammkundschaft nahm das übel. „Unsere Zielgruppe war immer extrem spitz – und

sie ist es noch heute. Als ich damals ins Un-ternehmen kam, habe ich mich immer gewun-dert: Wir hatten

eine Mini-Zielgruppe, aber alle agierten, als seien wir schon längst Mainstream. Die PS3 zeigte dann: Wir sind es nicht. Und wir ignorierten sowohl mit dem Produkt als auch in der Kommunikation unsere eigentliche Zielgruppe: die Spieler.“

Die Konsequenzen waren für die Marke deutlich spür-bar, und man zog die Lehren daraus: Das PlayStation- Team besann sich auf die Ursprünge des Produkts

Die Marke PlayStation ist – aufgrund ihrer speziellen Markenarchitektur – in diesem Zusammenhang besonders interessant. Die Spielekonsole ist ein Produkt der Sony Interactive Entertainment, neben Sony Mobile, Sony Electronics, Sony Music und Sony Pictures eine weitere Tochter der Sony Corporation. So familiär der Begriff „Tochter“ auch klingt, haben die Schwestern heute weniger miteinander gemein, als man denken könnte: „Das Dach Sony existiert, aber die Tochterunternehmen agieren eigenständig“, so Christian Denk. „Es gab immer mal wieder die

Idee, die einzelnen Sparten zusammenzufassen, doch dagegen haben wir erfolg-reich Einspruch eingelegt. Unsere Marke würde an Agilität verlieren.“ Und dass Agilität Denks Ding ist, merkt man schon nach den ersten Minuten dieses Gesprächs. Die Marke PlayStation, ihre

Entwicklung und ihre Perspektiven, bewegen ihn im wahrsten Sinne des Wortes – und er bewegt sie. „Ich komme aus dem PlayStation-Eventbereich: Messen, Roadshows, Erlebnisse außerhalb des Handels – das habe ich über acht Jahre gemacht.“ Später kam das Sponsoring mit in seinen Verantwortungsbereich, und damit einer der wichtigsten Bausteine in Sachen Markenbekanntheit: „Vor ungefähr 20 Jahren sind wir bei der UEFA Champions League als Sponsor einge-stiegen. Das hat die Bekanntheit ungeheuer gepusht. Wenn die UEFA heute ihre regelmäßigen Umfragen durchführt, ist PlayStation nach wie vor einer der beiden am häufigsten genannten Sponsoren. Interes-santerweise wird auch Ford immer noch genannt, die aber schon eine Weile nicht mehr dabei sind.“

Über mangelnde Bekanntheit kann sich die Marke PlayStation wahrlich nicht beklagen: Befragungen ergeben in Deutschland eine ungestützte Markenbe-kanntheit von ca. 95 Prozent. „Ungestützt“ bedeutet, dass die Befragten keinerlei Gedächtnisstützen zur Erinnerung an PlayStation benötigen, um die Frage „Welche Spielekonsolen kennen Sie?“ mit genau die-ser Marke zu beantworten. War die große Mutter-Mar-ke Sony dabei eine Hilfe? „Sony war am Anfang extrem wichtig für PlayStation, nicht nur finanziell, sondern auch in Sachen Markenwahrnehmung. Die Produkte hatten immer einen ausgezeichneten Ruf, galten als State of the Art, denken Sie zum Beispiel an den Walkman mit Metallgehäuse in den 80er Jahren.

Sony war damals Apple. Die Möglichkeiten des Kon-zerns, der technologische Background – das waren optimale Voraussetzungen. Ohne diesen Hintergrund hätte Play Station es viel schwerer gehabt.“

Dass sich die Gewichtung im Laufe der Jahre deutlich verschoben hat, ist ebenfalls kein Geheimnis. „Ich glaube, heute hat Sony für PlayStation keine so große Bedeutung mehr wie früher. Dagegen ist PlayStation für den Sony-Konzern wichtiger denn je. Unsere Schwesterfirmen haben in den letzten Jahren etwas an Boden verloren, wir haben uns sehr gut entwickelt und tragen maßgeblich zum inzwischen wieder posi-tiven Gesamtergebnis von Sony bei.“

Mit 60 Prozent Anteil am weltweiten Gesamtumsatz des Sony-Konzerns ist aus der kleinen Schwester – die übrigens nur deshalb geboren wurde, weil eine eigentlich geplante Zusammenarbeit mit Nintendo im Konsolenbereich scheiterte – also eine der wichtigs-ten Stützen des gesamten Konzerns geworden. Mit welchen Mitteln hat Sony Interactive Entertainment diese beeindruckende Entwicklung erreicht?

War man in den Anfangsjahren noch extrem aktiv im Sponsoring vor allem großer Festivals und Events, beschränkt man sich heute auf eine sehr genau fest-gelegte Auswahl kleiner, feiner Partnerschaften. „Wir nennen das Miniaktivierungen und suchen uns dafür sehr gezielt Marken aus, die zu uns passen: Titus, Red

Bull, Nitro Snowboarding. Bundesweit haben wir zum Beispiel auch Bolzplätze renoviert, gemeinsam mit Jugendzentren, und dann zur Eröffnung ein großes Turnier veranstaltet – all diese Aktionen zielen aber nicht mehr auf die Markenbekanntheit ab, sondern es geht um die Schärfung des Profils.“

Und wofür steht die Marke PlayStation? „Wir haben für uns festgeschrieben, dass wir eine nahbare und offene Marke sein wollen“, so Denk. „Innovativ steht ebenfalls weit oben auf der Liste. Wir machen auch schon mal Sachen, die eigentlich gar nicht unser Kerngeschäft sind, aber wir sind einfach gerne die Ersten. Das hat vielleicht auch etwas mit einer gewissen Verspieltheit zu tun, die uns auszeichnet.“ Ein buntes Universum also, dessen Bewohner eine offene und verspielte Gemeinschaft bilden, dabei zugleich extrem technologie- und innovationsgetrie-ben. „Genau. Witzigerweise gehen die allermeisten, mit denen man über die Marke spricht, fast alles mit, bis auf ‚nahbar‘“. Hat das vielleicht mit der Größe der Marke zu tun? „Ja, möglicherweise“, so Denk. „Viel-leicht hat es aber auch mit unserer extrem speziellen Zielgruppe zu tun“.

„Unsere Zielgruppe war immer extrem spitz – und sie ist es noch heute.“Wie kann die

Identität einer Marke definiert, kommuniziert und weiterentwickelt werden?

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PlayStation-Messestand auf der gamescom 2017.

und der Marke, auf das, was PlayStation in den Jahren zuvor so erfolgreich und einzigartig gemacht hatte. Fortan arbeitete man deshalb bewusst „For the Players“ – so auch der neue Claim der Marke. Schon bei der Entwicklung der PS4 band man die Zielgruppe aktiv ein. Man holte Spiele-Entwickler ins Boot: Wie soll die Konsole aussehen, was soll sie können? Ein klares Bekenntnis zu den Fans und Spezialisten, die zwar nur circa 50 Prozent der gesamten Zielgrup-pe ausmachen, auf deren Wohlwollen die Marke aber zählt. „Wir typisieren unsere Zielgruppe nicht nach demografischen Merkmalen, sondern nach der Ga-ming-Motivation. Und die für uns wichtigste Gruppe

darunter sind die Connaisseurs.“ Reden wir immer noch über Computerspiele? Christian Denk lacht: „Klar! Das sind die Feinschmecker, die Genießer. Sie sind Top-Gamer, beteiligen sich an Forendiskussionen, drehen

ein Let's Play Video auf der heimischen Couch – wir nennen sie Connaisseurs, andere nennen sie Nerds. Das sind unsere Mikro-Influencer.“ Und wie hält man diese empfindsamen Spezialisten bei Laune? Am besten, indem man sich auf sie einlässt, zuhört und sie ernst nimmt. PlayStation bespielt die klassischen Social-Media-Channels mit für die Spieler interessan-tem Content und holt sie so mit ins Boot: „Derjenige,

den sind für alle Welt sichtbar, und je größer die Fangemeinde, desto größer auch die Zahl derjeni-gen, die die Kritik erreicht. Christian Denk sieht das gelassen: „Du kannst keine Diskussion und schon gar keinen Shitstorm verhindern, und es wäre vermessen zu behaupten, wir hätten das alles im Griff. Es gibt da kein Patentrezept, und auch wir ärgern uns natürlich, wenn so etwas passiert. Wenn ich eine Marke kreie-ren möchte, die unantastbar ist, dann sollte ich mich von dieser Art der Kommunikation deshalb schlicht fernhalten. Das wollen und können wir aber nicht.

Und letztlich sehen wir das als Vorteil: Wir bekommen eine Rückmeldung, damit können wir arbeiten, wir können unsere Strategie anpassen, wir können die Marke

verbessern. Das kann alles sehr hitzig sein, aber es ist auch ungeheuer wertvoll. Da werden leiden-schaftliche Diskussionen geführt, und wir freuen uns

der auf unserer Facebook-Seite ‚Gefällt mir‘ klickt, ist nicht nur ein Konsument, sondern ein Fan. Und er tut das sehr bewusst und bindet sich auf eine gewisse Art an uns. Diese Leute kennen das Produkt, sie wissen längst, dass sie es gut finden. Es ihnen tagtäglich aufs Neue um die Ohren zu hauen, ist also überflüssig. Würden wir das machen, wäre das wie Werbung in den 80er Jahren – nur auf anderen Kanälen“, so Denk.

Die Chance, die sich Marken stattdessen mit der digitalisierten Kommunikation bietet, nutzt Play- Station, um den Nutzern ein gutes und wertschätzen-des Gefühl während der Interaktion mitzugeben. „Was habe ich denn über meine Marke sonst noch so zu erzählen? Hinter die Kulissen schauen, Entwick-ler bei der Arbeit zeigen, eine Unboxing-Story aus unseren bescheidenen Büroräumen – das schafft eine besondere Beziehung zwischen uns und dem Betrachter. Denn das, was ich mir als Nutzer da anschaue, und der Kommentar, den ich später drun-ter schreibe, das beeinflusst mich unweigerlich in meiner Markenwahrnehmung.“

Und wenn die Kommunikation mal in die Hose geht? Ein Spiel bei der Community nicht ankommt? Viele etablierte Marken fürchten, durch die Digitalisierung die Kontrolle über ihr Image zu verlieren. Beschwer-

im Grunde, denn das zeigt ja nur, dass es die Leute juckt, was wir machen. Was wir machen, bewegt, wir lösen was aus – und das kann man auch ins Positive umwandeln.“

Ein interessanter Aspekt: Obwohl man die PlayStation- Zielgruppe aufgrund des Produkts als eher digitalorien tiert einschätzen würde, sind und bleiben „analoge“ Treffen zwischen Marke und Play-ern entscheidend. Den Event-Mann Denk freut das, und er und sein Team stellen ein enormes Programm auf die Beine, um die Community zu treffen. Alleine im Jahr 2017 gab es circa 180 Eventtage in Deutsch-land, Österreich und der Schweiz. Dazu zählen natürlich die großen Messen, wie zum Beispiel die gamescom, aber auch unzählige kleinere Veranstal-tungen, wie eine deutschlandweite Truck-Tour oder die PlayStation Masters, die sich aus drei E-Sports-Events zusammensetzen. Digital und analog greifen bei diesen Events auf vielfältige Art ineinander. Neben der Begegnung mit den „ganz normalen“ Playern wären da zum Beispiel die sogenannten MVPs, Most

„Kritik und Diskussion zeigen ja nur, dass es die Leute juckt, was wir machen.“

Ein eigenes, verspiel-tes Universum, digital und analog: Alleine im Jahr 2017 organi sierte das PlayStation- Team mehr als 180 Events für Fans und Com-munity.

Ein klares Bekenntnis zu den Fans und Spezialisten

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Nah dran und aufAugenhöhe mit den Fans: bei der gamescom 2017 (oben) und 2016 (unten).

Valuable Players. Sie kümmern sich in den Play- Station-Foren als Admins um die Community, ohne dafür Geld zu bekommen. Dafür genießen sie bei den PlayStation-Events besondere Vorteile. „Unsere MVPs kennen wir persönlich, denn sie sind für uns Markenbotschafter. Wir treffen uns zum Beispiel bei der gamescom, tauschen uns zu Beta-Versionen von Spielen aus, die die MVPs schon testen konnten, sie treffen Entwickler – auch das führt zu einem Aus-tausch, zu Feedback, das für uns sehr wertvoll ist.“

So intensiv Marken sich mit ihren schon bestehenden Communitys austauschen und die Beziehung mit ihnen auch analog pflegen: Die Zielgruppenerweite-rung ist in der digitalen Kommunikation schwierig, denn der User kuratiert sein persönliches Universum ganz gezielt, Unerwünschtes bleibt dank Adblockern draußen, die Informationswolke ist hand- bzw. algo-rithmusverlesen. Für Christian Denk kein Grund, das Medium zu wechseln. „Viele Unternehmen verlegen sich deshalb aufs Performance-Marketing, schalten zum Beispiel wahnsinnig viel Display-Werbung. Aber mal ehrlich: Wie oft hat eine Display- oder Banner-werbung online bei Ihnen schon einen sofortigen Kaufimpuls ausgelöst? Eben.“

Sind die viel diskutierten Influencer die Lösung des Problems? Viele in der Branche halten diesen Weg für erledigt, denn durch die Zahlung hoher Summen wirkt der Influencer bestechlich, die Marke unsympathisch. Wer glaubt schon jemandem, der 100.000 Euro kas-siert, dass er das vorgestellte Produkt tatsächlich toll

findet? Doch Christian Denk ist Optimist. Und er verfolgt mit seinem Team eine ambitio-nierte Strategie. „Wir bauen langfristige und

sehr enge Partnerschaften zu kleineren Influencern auf.“ Natürlich hat ein Unternehmen immer die Wahl zwischen der schnellen Lösung – großer Influencer, hohe Reichweite, teuer – und der aufwendigeren Lö-sung: kleiner Influencer, womöglich sogar aus der ei-genen Community, geringere Reichweite, dafür umso glaubwürdiger und günstiger. In der eng vernetzten PlayStation-Community werden immer wieder Mit-glieder vom Markenfreund zum Markenbotschafter. Weil es ihr Thema ist und weil sie es gerne machen. „Unsere Community-Mitglieder repräsentieren unsere

Marke viel glaubhafter und emotionaler als einer der Big Player mit einer Mega-Reichweite. Deshalb gibt es bei uns seit einem Jahr PS IN, das PlayStation Influen-cer Network. Dort können Mitglieder unserer Commu-nity sich registrieren und Teil der PlayStation-Familie werden.“ Geld fließt bei diesen Kooperationen nicht, unbezahlbare Benefits gibt’s natürlich schon: „Die neuesten Spiele vorab, Einladungen zu speziellen Events und die Möglichkeit, exklusiven Content zu erstellen: All das geht. Es ist zwar mehr Geacker, als einfach eine sechsstellige Summe zu überweisen, aber wir zelebrieren damit unsere Community, und das wird honoriert.“

Fließt denn wirklich gar kein Geld mehr? „Natürlich kennen wir auch die großen Influencer, und natür-lich arbeiten wir mit ihnen zusammen. Aber auch in diesen Fällen gilt: Wir bauen langfristige Partner-schaften auf, wir zahlen keine Riesensummen, und wir geben uns Mühe. Das ist ganz entscheidend. Es ist ein Unterschied, ob der Influencer ein Let’s Play mit einem unserer Spiele einfach mal durchspielt oder ob eine Mitarbeiterin von uns zu ihm nach Hause fährt, eine Homestory dreht, ein Gespräch entsteht.“ Auch das bedeute „mehr Geacker“, verhelfe der Marke aber letztlich zu einer willkommenen Mehrdimensi-onalität. „Im Influencer-Marketing geht es nicht um Reichweite. Das ist eine Fehleinschätzung“, so Denk. „Es geht um Authentizität, Glaubwürdigkeit und Nähe zur Marke.“ Und damit bestätigt Christian Denk, dass Hans Domizlaffs knapp 80 Jahre alte Regel auch heute noch gilt: Es geht um das Gesicht der Marke, um ihre Identität.

Auf die Frage, wie sich die On- und Offline-Aktivitäten der Marke aufteilen, gibt Denk eine überraschende Antwort: „Ungefähr 60 Prozent unserer Aktivitäten finden offline statt, 40 Prozent online. Und das ist auch gut so.“ Weshalb? Und da zeigt sich wieder der Christian Denk, der immer in Bewegung ist und dessen Wurzeln im ganz und gar analogen Aufein-andertreffen mit der Community liegen: „Wir merken immer wieder, wie überrascht die Leute sind, dass wir bei unseren Events selbst vor Ort sind, leibhaftige PlayStation-Mitarbeiter, die Spaß daran haben dabei zu sein. Die Besucher finden es toll, dass sie sich physisch mit der Marke unterhalten können, und das ist ein großartiges Gefühl.“

Sind Influencer die Lösung des Problems?

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URME – Du bist ich

Leo Selvaggio setzt sich als Künstler mit dem Thema der Manipulierbarkeit von Identität im digi-talen Zeitalter auseinander. Als Antwort auf die um sich greifende digitale Überwachung stellt er nun sein Gesicht jedem zur Verfügung. Mithilfe eines 3-D-Druckers produziert er Masken aus Kunstharz, die ein fotorealistisches Rendering seines Gesichts liefern: Hautfarbe und -struktur, Haare – alles gleicht exakt dem wirklichen Gesicht des Künstlers. www.urmesurveillance.com

Identität entdecken

GeisterstädteSogenannte „Geisterdörfer“ gibt es weltweit. Wer hierzulande verlassene Dörfer besichtigen möchte, in denen scheinbar der heimatliche Atem stillsteht, der findet unter www.sola-domum.info passende Ziele. Manche dieser Orte können nurmehr für eine kurze Zeitspanne besichtigt werden, bevor sie voll-ständig verschwinden werden – zumeist müssen sie dem Tagebau weichen.

Archiv der IdentitätenMomente, in denen man Mods neben Rockern, Hippies neben Skinheads oder Emos neben Punks stehen sieht, sind rar. Doch wer einmal in Berlin ist, kann genau dies erleben: Im Archiv der Jugend kulturen ist deutschland-weit die größte Sammlung zusammengetragen, die große und kleine Einblicke in die Welt jugendlicher Kul-turen aus allen Jahrzehnten gibt. In der hauseigenen Bibliothek, den regelmäßigen Ausstellungen und bei den Veranstaltungen des Archivs leben garantiert viele Erinnerungen wieder auf! www.jugendkulturen.de

Tief einatmen

Wie riecht eigentlich Identität? In seinem Essay „Der Geruch der Welt“ zeigt der Autor und Duftdesigner Paul Divjak Wege zu einem neuen olfaktorischen Bewusstsein auf. Er trägt Erkenntnisse und Zitate aus jahrhunder-telanger Geruchsbetrachtung zusammen und erinnert uns daran, dass Duft und Identität im Zusammenhang stehen, dass Düfte unsere Stimmung lenken und imstande sind, uns an Dinge zu erinnern, die wir längst vergessen glaubten. www.editionatelier.at

Und was isst Du?

Was wir kochen und essen ist ein wichtiger Bestandteil unserer kulturellen Identität. In Köln tischen Privatleute für Menschen auf, die in Deutschland eine neue Heimat suchen. Die Idee dahinter: ein gemeinsames Essen bringt Menschen unkompliziert an einen Tisch und ins Gespräch. Mittlerweile gibt es ähnliche Aktionen in vielen deutschen Städten. www.welcome-dinner.koeln/de

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Keine Kosmetik: visuelle Identität

Die nunmehr vierte Auflage des erfolgreichen „Kompendium Corporate Identity & Corporate Design“ hält Beiträge von mehr als 20 renommierten Profis bereit und zeigt die ganze Breite der methodischen Kreation visueller Identitäten: Packaging, Szenografie, Architektur, Sound, Interface, Storytelling, Industriedesign, Orientierungssysteme, Typografie, Print, Bekleidung und viele mehr. www.avedition.de

Die andere ErdeIn seinem Film „Another Earth“ aus dem Jahr 2011 beschreibt Mike Cahill ein mysteriöses und tiefes Drama: Er erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die nach einem selbst verschuldeten Unfall nach Vergebung und Erlösung sucht. Als sie eine zweite Erde am Firmament entdeckt, ein exaktes Spiegelbild unseres Planeten, sieht sie ihre Chance gekommen. „Another Earth“ wirft Fragen nach Identität und Selbstbetrachtung auf und schafft bildgewaltige und eindringliche Momente.www.foxsearchlight.com/anotherearth

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Die eigene Identität in Worte zu fassen, kann Erwachsenen schwer fallen. Unsere Inter-viewpartner zeigen, dass es auch kinderleicht geht

Und werbist du?

MARIA, 5 JAHRE

W.DO: Was ist das für ein Gesicht im Spiegel?Ein buntes Gesicht und ein Ge-sicht, das gerne eine Grimasse macht.

Was magst du an dir?Meine Zahnlücke. Und meine blauen Augen und meine Stups-nase.

Was magst du nicht so?Dass ich immer in der Nase pople.

Wie möchtest du später mal sein, wenn du groß bist?Das muss ich mir noch über-legen.

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JOSHUA, 6 JAHRE,

W.DO: Was bist du für ein Typ?Ein Junge.

Spielst du manchmal, dass du jemand anders bist?Meistens nicht. Wir spielen nur bei Batman jemand anders. Dann geben wir uns immer einen anderen Namen.

Was sollten die Leute unbe-dingt über dich erfahren?Dass ich so gut klettern kann.

Wie möchtest du später mal sein, wenn du groß bist?Dann bin ich ein Kletter-Typ.

MARLENE, 8 JAHRE,

W.DO: Wer bist du?Marlene!

Spielst du manchmal, dass du jemand anders bist? Wenn ja, was?Ja, eine Fantasiefigur.

Und was kann die Figur so?Genau das Gleiche, was ich kann. Sie ist genauso wie ich, aber vielleicht ist sie mal Indianerin oder Cowgirl oder so was. Wie möchtest du später sein, wenn du groß bist? Größer halt.

Wann fängt Identität eigentlich an und mit welchen Fragen kann man sie fassen? Auf der Suche nach der eigenen Identität entwickeln wir in unserer Lebenszeit ein individuelles Selbstver-ständnis und positionieren uns in unserer sozialen Umgebung immer wieder neu. Identität ist bekanntlich ein stetiger Prozess, der keinen Abschluss findet – bis zum letzten Tag.

Doch zurück zum Anfang: Walbert-Schmitz hat Kinder gefragt, Kinder von Freunden, Kinder von Kollegen. In welchem Alter beginnen wir ein Selbst-Bewusstsein zu entdecken? Dem Fünf-Säulen-Prinzip des deutschen Psychologen Hilarion G. Petzold folgend, das Identität mit Fragen nach der Leiblichkeit, den sozialen Bezügen, Arbeit und Leistung, materieller Sicherheit und Werten zu fassen versucht, haben wir kinderleichte Fragen gestellt. Die Antworten, die wir bekommen haben, sind weise und lustig – genau, wie die Befragten selbst. Und weil eine Identität natürlich nicht in zehn Zeilen passt, der Platz im Magazin aber begrenzt ist, sind die Interviews als Tonaufnahme noch einmal im Walbert-Schmitz-Newsroom nachzuhören.

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MORITZ, 10 JAHRE

W.DO: Wer bist du? Ich heiße Moritz, ich bin zehn Jahre alt. Ich segle gerne, schon seit drei Jahren. Ich fahre auch Rennen und bin eigentlich sehr erfolgreich. Ich fahre auch Fahr-rad und spiele Hockey.

Und was bist du so für ein Typ?Ich bin eher einer der Cooleren in der Klasse. Die meisten, die cool sind, lernen nicht so gut, ich lerne aber auch noch gut. Ich bin also eigentlich ganz gut in der Schule.

Was magst du nicht an dir?Dass ich manchmal etwas vorlaut bin.

Spielst du manchmal, dass du jemand anders bist?Meine Freunde und ich machen manchmal Telefonstreiche. Dann rufen wir andere Freunde an und geben uns als jemand anders aus.

Wie wirst du später sein, wenn du groß bist?Ich möchte vier Kinder haben, möchte sehr reich sein, also steinreich, vielleicht ein Immobi-lienmakler oder Rennfahrer. Und ich möchte gesund sein. Meine Kinder sollen auch gesund sein. Und ich möchte eine nette Frau haben.

Möchtest du noch etwas über dich sagen, was die Leute un-bedingt erfahren sollen?Dass es schön ist, ein Kind zu sein, wenn man mal drüber nachdenkt.

SOPHIA, 10 JAHRE,(Emmas Zwillings-schwester)

W.DO: Wer bist du?Soll ich erzählen, was ich gerne mache? Ich backe gerne, ich fahre gerne Fahrrad und mit mei-nem Vater fahre ich gerne mit dem Longboard. Ich treffe mich gerne mit meinen Freunden. Also, ich bin nicht schüchtern und ich bin fast immer fröhlich.

Wie fühlst du dich meistens?Meinst du, wie ich mich vom Aussehen her fühle oder von innen? Von innen fühle ich mich fröhlich. Und wenn ich geduscht

habe, denke ich manchmal, dass meine Haare hübsch sind.

Gibt es etwas, das du nicht magst?Nur, dass man am Ende stirbt.

Wie wirst du später sein, wenn du groß bist?Also, dann bin ich auf jeden Fall groß. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass mich jemand Sophia nennt, wenn ich groß bin. Ich finde, manche Namen pas-sen eher zu Erwachsenen und manche eher zu Kindern.

EMMA, 10 JAHRE,(Sophias Zwillings-schwester)

W.DO: Und wer bist du? Ich bin wild, ich mag gerne Sport, z.B. Schwimmen. Im Unterricht bin ich aber sehr ruhig. Aber ich melde mich auch oft. Wenn dann Pause ist, freue ich mich so sehr, dass ich mit meinen Freunden vor Freude ausraste. Ich freue mich aber auch über den Tag und dass so schönes Wetter ist.

Spielst du manchmal, dass du jemand anders bist?Ja, mit meiner Schwester. Dann bin ich sie und sie ist ich und wir erzählen uns, was wir denken. Das finde ich schön, denn dann kann ich mir das besser vorstellen.

Wie wird es sein, wenn ihr später groß seid?Immer noch so. Sie macht dann vielleicht was anderes als ich. Und dass da immer noch eine Verbindung ist, aber nicht mehr so viel wie heute.

„Dann bin ich sie und sie ist ich und wir

erzählen uns, was wir denken.“

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6564 W . D O / K U R Z S C H L U S S

Kurzschluss

W . D O / K U R Z S C H L U S S

Superhelden gibt es wirklich! Weltweit werden immer wieder Fälle bekannt. Phoenix Jones beispielsweise, ein 28-jähriger Kampfsportkünstler aus Seattle: Gehüllt in seine Superheldenkluft, wollte er einen Mann, der offensichtlich unter Drogeneinfluss stand, davon abhal-ten, Auto zu fahren. Der Mann schlug zu. Ein Polizist erklärte unserem Superhelden hinterher, dass seine Maskierung eher furchteinflößend als vertrauenerweckend wirkt, und ob er sie nicht gegen ein Polizeioutfit tauschen wolle?

Sind bei Ihnen schon mal Handwerker nach getaner Arbeit eingezogen, weil Sie die Rechnung nicht bezahlt haben? Nein? Am 23. April 1949 ereignete sich ein abgewandeltes Szenario im Selfkant, nahe Aachen: Hier waren es jedoch keine Handwerker, sondern Soldaten aus den benachbarten Niederlanden. Die Nieder-länder warteten auf Reparationszah-lungen und kamen daher mal rüber, um nachzufragen – sie blieben bis 1963. Kein Problem für die Selfkänter, denn ihre Men-talität und Mundart ähnelten denen der Limburger sehr. Und schließlich erfolgte die Rückgabe der Exklave an die BRD ein bisschen gegen den Willen der Selfkänter: Auf beiden Seiten der deutsch-niederlän-dischen Grenze hatten die Länder bis dato reichlich um das Wohlwollen der Bevölke-rung gebuhlt – mit allerlei Förderungen.

BegehrteEuropäer?

Super-helden

Mona Leo?Die Mona Lisa zeigt doch eindeutig eine Frau, oder? Denkste! Die amerikanische Künstlerin Lillian F. Schwartz ist seit den 1980er Jahren überzeugt, dass es sich um ein Selbstporträt da Vincis handelt. In ihrem Werk Mona/Leo blendete sie die rechte Gesichtshälfte der Frauenfigur digital aus und ersetzte sie durch ein Selbstporträt des Künstlers – tatsächlich, eine verblüffende Ähnlichkeit! Schade nur, dass die Echtheit von da Vincis Selbstpor-trät nicht gesichert ist. Es darf also weiter spekuliert werden.

„Deine Ohren sind so einzigartig!“ – Fetisch? Keineswegs. Ein Kompliment, das normalerweise unsere Augen abstau-ben. Tatsächlich sind eine ganze Reihe unserer Körperteile unverwechselbar: Ohren, Lippenabdruck, Zunge, Zähne, Fingerabdruck und sogar unser Gang. Bei den Ohren ist es übrigens die Außen-form. Darum auch der Ohrscanner bei Smartphones.

Dein Augeohr-fingermundzahn

Kittchen-Lottchen„Das doppelte Lottchen“ ist in der Reali-tät groß, behaart und kommt aus dem Panzerknackermilieu. 2004 tauschten zwei schwedische Brüder die Rollen im Strafvollzug: Der Inhaftierte spazierte in der Zivilkleidung des Bruders hinaus und der Gast blieb in Streifenkleidung zurück. Die kleine Zelle brachte den neuen Häftling jedoch schneller zum Geständnis als gedacht. Bereits vor der ersten Nacht löste er den Schwindel auf. Sein Bruder blieb allerdings flüchtig.

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W.DO NachhaltigkeitAusblick

W . D O / A U S B L I C K

In der nächsten W.DO betrachten wir die Nachhaltigkeit in all ihren Facetten. Wir nähern uns den Ursprüngen dieser Denk- und Herangehensweise, die ganz auf Dauer abzielt und sich dennoch oft so schnell entscheiden muss. Welchen Wert hat er heute, der lange Atem, der Voraussetzung für die Umsetzung aller nachhaltigen Ideen ist, die sich selten sofort auszahlen? Wir besuchen Familien-unternehmen und untersuchen nachhaltige Bauweisen, wir sprechen mit Menschen über bleibende Werte und entdecken, warum bestimmte Erlebnisse uns nachhaltiger beeindrucken als andere, und wir zeichnen Erfolgsgeschichten nach, die sie hoffentlich genau so überraschen, wie uns.

Freuen Sie sich mit uns auf die nächste W.DO!

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W.DO Ausgabe 6/2018

Bildnachweise

Titelbild & EditorialTankstelle blau-rot-gelb und Porträt © Ralf Peters, Courtesy: Galerie Bernhard Knaus Fine Art/Frankfurt (S. 1, 2)

Identitätsbildung und JugendkulturPyramidenbau © Julius Groß/Archiv der deutschen Jugendbewegung (S. 6, 7), Mods in Peckham © Trinity Mir-ror/Mirrorpix/Alamy Stock Photo (S. 8), Just Kids © Gavin Watson/YOUTH CLUB (S. 9), In den Straßen der Bronx © Martha Cooper (S. 10), Immer noch friedlich © Steve Schapiro / Courtesy of CAMERA WORK (S. 11), Berliner Punk-Mädel © Christiane Eisler (S. 12), „Swingtanz Big Apple“ © DAS MAGAZIN, Nr. 171 – Original im Barmbeker Schallarchiv, Hamburg (S. 13), Cosplayer Gamescom 2012 © Walbert-Schmitz GmbH & Co. KG (S. 14, 15)

Anstatt StaatenCraig Lovatt/Eigg Explorers © Thea Hermansen/www.letsgoslow.com (S. 16, 17), Dänemark/Kopenhagen, Frei-staat Christiania © Christian Nowak (S. 18), Graffiti in Whangamomona © Florian Friesecke, Frederike Blömker/Cooking Companions (S. 21), Whangamomona Hotel © Ulrich Lange/wikimedia CC (S. 21)

Über Sein und Schein © Illustration: Moulay Guissé (S. 22–25)

Architektur mit GesichtGuggenheim Museum Bilbao © picture alliance/Westend61 (S. 27), Außenansicht AEG-Turbinenfabrik © Siemens AG (S. 27), Schüco Neubau Innensicht Atrium © 3XN Architects (S. 28), Schüco Neubau © 3XN Architects (S. 28), Schüco Corporate Sound © Peter Schmidt Group GmbH (S. 28), Flagship-Store © Melissa Shoes (S. 29), Mc Donald's Singapur via inhabitat.com © Ong&Ong (S. 29), ISSEY MIYAKE Store Kyoto © Masaya Yoshimura (S. 30), Rem Koolhas, Ole Sheeren, OMA Office for Metropolitan Architecture, Prada Store New York USA © Armin Linke, 2001 (S. 30), Fabricwood/Herman Miller © Edward Hendrick/PRODUCE, Singapore (S. 31)

Das Selfie – ein Selbstbildnis?screenshot by the author via © ivankatrump/Instagram (S. 33), Sulawesi Höhle © KvitaJan/istock (S. 34), Selbstbildnis Albrecht Dürer © bpk/Bayerische Staatsgemäldesammlungen (S. 34), Thorsten Brinkmann, Brink-mann, 2006, Ausstellungsansicht „ICH“, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2016, Foto: Norbert Miguletz (S. 35)

Passen wir zueinander? © Fotografie: Jo Magrean für W.DO (S. 37)

Marken sind auch nur MenschenReady-to-read-show © Base Design (S. 40–41); Workshop und Doppelseite Brandbook PSLab © Base Design (S. 42); Cover Brandbook PSLab © Filip Vanzieleghem (S. 43)

Wer ist Glenn Ligon?Figure, 2011 © Glenn Ligon; Courtesy of the artist, Luhring Augustine, New York, Regen Projects, Los Angeles, and Thomas Dane Gallery, London (S. 44), Runaways, 1993 © Glenn Ligon; Courtesy of the artist, Luhring Augustine, New York, Regen Projects, Los Angeles, and Thomas Dane Gallery, London (S. 46), Demonstration in Memphis © dpa – Report (S. 47), Condition Report, 2000 © Courtesy of the artist, Luhring Augustine, New York, Regen Projects, Los Angeles, and Thomas Dane Gallery, London (S. 47)

Markenidentität für Genießer© PlayStation (S. 49–51, 54), © Walbert-Schmitz GmbH & Co. KG (S. 52–53)

Identität entdeckenMaske © URME Surveillance (S. 56), Illustration © Tine Fetz/Archiv der Jugendkulturen e. V. (S. 56), Kompendium Corporate Identity & Corporate Design © Prof. Matthias Beyrow/avedition (S. 57), Another Earth © FilmPresence/wikimedia CC (S. 57), Der Geruch der Welt © Edition Atelier, Wien 2016/Cover & Satz: Jorghi Poll (S. 57), Illustration © Welcome Dinner Köln e.V. (S. 57)

Und wer bist du? © Fotografie: Andrea Claessen für W.DO (S. 58–63)

Kurzschluss © Illustration: wesentlich. (S. 64–65)

Ausblick © Kolidzei/iStock (S. 66–67)

Impressum

HerausgeberWalbert-Schmitz GmbH & Co. KGGut-Knapp-Straße 6–14, 52080 Aachen

+49 (0) 24 05 / 60 02 - 0 [email protected] www.walbert-schmitz.de

Konzept & Design wesentlich.com Redaktionwesentlich.com / walbert-schmitz.deDrucksieprath.de

Gedruckt auf Heaven 42

W . D O / I M P R E S S U M

So inflationär der Begriff Nachhaltigkeit aktuell Verwendung findet, so alt und tief verwurzelt ist er in allem, was wir Menschen als Zivi-lisation und Kultur begreifen.

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Sagen, was ist. Tun, was man sagt. Und sein, was man tut.* Ob als Unternehmen oder als Person: Was uns von den anderen unterscheidet, sind oft nur Details. Was Identität letztlich ausmacht, ist weniger das „Wer“, als das „Wie“. Dieses „Wie“ ist eine tägliche Herausforderung. Egal ob auf Messen, Events, in diesem Magazin oder überall sonst, wo wir in Erscheinung treten. Die W.DO bietet uns Raum für die Aus­einan dersetzung mit Themen, die uns wichtig sind. Wir teilen damit unseren Blick über den Tellerrand. Wir teilen, was uns interessiert, bewegt und inspiriert.

*Alfred Herrhausen (1930 – 1989), Bankmanager und Vorstandssprecherder Deutschen Bank