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Imitatio und Aemulatio in der Thebais des Statius Author(s): Bernhard Kytzler Reviewed work(s): Source: Hermes, 97. Bd., H. 2 (1969), pp. 209-232 Published by: Franz Steiner Verlag Stable URL: http://www.jstor.org/stable/4475587 . Accessed: 26/04/2012 07:01 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. Franz Steiner Verlag is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Hermes. http://www.jstor.org

Imitatio und Aemulatio in der Thebais des Statius

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Imitatio und Aemulatio in der Thebais des Statius

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Imitatio und Aemulatio in der Thebais des StatiusAuthor(s): Bernhard KytzlerReviewed work(s):Source: Hermes, 97. Bd., H. 2 (1969), pp. 209-232Published by: Franz Steiner VerlagStable URL: http://www.jstor.org/stable/4475587 .Accessed: 26/04/2012 07:01

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IMITATIO UND AEMULATIO IN DER THEBAIS DES STATIUS

imitatio und aemulatio waren von Anfang an entscheidende Wesenszuige der romischen Epikl. Das Phanomen an sich war gewiB der Forschung seit jeher deutlich. Doch bemtihte man sich erst in den letzten Jahren und Jahr- zehnten um ein genaueres Verstandnis dieser Erscheinung. Hatte man sich zuvor damit zufriedengegeben, VYbernahmen und Imitationen, Anspielungen und Anklange als solche zu konstatieren und sie dann als 'Plagiate' zu brand- marken, so gilt in letzter Zeit die Aufmerksamkeit dem Funktionieren dieses Vorganges bei einzelnen Autoren und im allgemeinen. Gemeinsame und indi- viduelle Tendenzen der Lbernahme werden beobachtet, die Auswahl der An- lehnungen und Abanderungen auf ihre Absicht hin untersucht2 . Ein solcher Ansatz soll hier fur zwei Szenen aus der Thebais des Statius gemacht werden. Es wird versucht, spezifische Seiten der statianischen Kunst durch den Vergleich mit ihren Modellen deutlich werden zu lassen 3. Dafiir sind hier zwei Partien gewahlt, deren jede in ihrer Art fur unseren Bezug eine Besonderheit aufweist. Die eine, der Katalog der Krieger, ist ein epischer Topos, der seit der Boiotie im B der Ilias zum festen Bestand des heroischen Epos gehorte, der also vom Thema (Schilderung eines Kriegszuges) wie von der Tradition her ftir Statius unerlaBilich war und so fur den Bereich der 'Gebundenheit' der antiken Epik stehen mag. Voraus geht jedoch die Betrachtung der wohl einzigen Stelle in der antiken Literatur, an der der Dichter am Ende seiner Darstellung selbst nament- lich auf die imitierte Stelle hinweist und so zum Vergleiche mehr als tiblich auffordert.

I

Die 'Dolonie' (Thebais IO, i56f.)

In der letzten Nacht vor dem Ende der Kampfe um Theben, so erzahlt Statius, unternimmt eine kleine Schar der in ihrem Lager eingeschlossenen

1 Vgl. zuletzt die meisterliche Skizze der Entwicklung der romischen Epik: Friedrich

KLINGNER, Virgil, Zurich/Stuttgart I967, 367ff.; auBerdem A. REIFF, Interpretatio,

imitatio, aemulatio. Diss. Koln I959. 0. GMELIN, Das Prinzip der Imitatio in den

romanischen Literaturen der Renaissance. Romanische Forschungen 76, 1932, 83 ff. 2 Vgl. z. B. die von Michael VON ALBRECHT, Silius Italicus, Freiheit und Gebundenheit

romischer Epik, Amsterdam I964, vorgelegte Untersuchung des 'Extremfalles' (S. I89)

der Punica und die grol3 angelegte Arbeit von G. N. KNAUER, Die Aeneis und Homer,

Hypomnemata 7, Gottingen I964. 3 Die Arbeit von E. EIsZFELDT, Zu den Vorbildern des Statius, Philologus 63, 1904,

378ff., kritisiert ))die grenzenlose Freiheit, mit der die Vorbilder, am meisten Vergil, aus-

gebeutet sind? (4I9), moniert die ))unbeschrankte Aneignung fremden Eigentumse (422),

wettert gegen die ))groben Plagiate a (ibid.) und darf fuglich hier auBer acht bleiben. - Eine

umfassende Untersuchung des gesamten Fragenkomplexes wird demnachst von H. JUHNKE

unter dem Titel )sHomerisches in r6misches Epik flavischer Zeita in der Reihe Zetemata

vorgelegt werden.

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Argiver einen Ausfall. Sie richtet unter den sie bewachenden Thebanern, die von Somnus auf den Befehl der Juno hin eingeschlafert worden sind, ein furcht- bares Blutbad an (IO, I56ff.). Diese Szene wird abgeschlossen durch das Gebet des Fiihrers der Argiver, des Priesters Thiodamas (336ff.). Unmittelbar an- schlieBend (347ff.) folgt die Schilderung des Versuchs zweier an der Expedition beteiligter Krieger, die Leichen ihrer gefallenen fuirstlichen Freunde vom Schlachtfeld zu bergen. Hopleus, vertrauter Gefahrte des Tydeus, spornt Dymas, den befreundeten Gefolgsmann des Parthenopaeus, zu dem Unter- nehmen an. Dieser ist sogleich dazu bereit. Er betet zur Gottin des Mondes, ihnen durch ihr Licht die Suche zu erleichtern. Mit der Hilfe der Gottin finden sie die beiden toten Fuirsten. Froh eilen sie mit den geborgenen Leichen dem Lager zu. Bevor sie es aber erreichen konnen, werden sie von einer Patrouille der Thebaner erblickt und als Feinde erkannt. Ein Lanzenwurf t6tet den Hopleus, ein anderer hemmt Dymas im Laufe. Zunachst stiirzt er sich in den Kampf gegen die Vbermacht. Als man ihm aber dabei die Leiche des Jtinglings entrei3t, bittet er um Schonung und Gewahrung eines Grabes fur seinen geliebten Herrn. Der Fiihrer der Thebaner will ihm seine Bitte gewahren, wenn er Kriegsplane und Stimmung der Argiver verrate. Dymas st6Bt sich daraufhin selbst das Schwert in die Brust und sttirzt uAber der Leiche des Parthenopaeus tot zusammen, mit seinem K6rper dem Freunde ein Grabmal ersetzend (44I).

Das Vorbild dieser Szene ist so offenkundig, daB es nicht erst der hinwei- senden Verse des Dichters bedurft hbtte, um an die der homerischen Dolonie im K der Ilias nachgestaltete Erzahlung Vergils vom Wagesttick und Ende des Nisus und Euryalus im 9. Buch der Aeneis erinnert zu werden. Statius schlieBt jedoch noch mit dem deutlichen Hinweis (IO, 444ff.):

Vos quoque sacrati, quamvis mea carmina surgant inferiore lyra, memores superabitis annos. forsitan et comites non aspernabitur umbras Euryalus Phrygiique admittet gloria Nisi.

Damit stellt Statius seine von ihm apostrophierten Helden Hopleus und Dymas den von ihm namentlich genannten Helden aus der parallelen Szene einer fremden Dichtung Nisus und Euryalus an die Seite, - ein wohl einzig- artiger Fall innerhalb antiker Epik und antiker Dichtung tiberhaupt. Der Bezug wird noch dadurch verstarkt, daB sich die vier statianischen Verse in genauer Entsprechung den vier Versen des Epiphonemas entgegenstellen, mit dem Vergil selbst von den Figuren seiner Dichtung Abschied genommen hatte:

Fortunati ambo! si quid mea carmina possunt, nulla dies umquam memori vos eximet aevo, dum domus Aeneae Capitoli immobile saxum accolet imperiumque pater Romanus habebit.

Imitatio und aemulatio in der Thebais des Statius 2II

Die wortlichen Entsprechungen sind mit aller nur wuinschenswerten Deut- lichkeit in den beiden ersten Zeilen gegeben; die beiden SchluBverse des Statius wiederum sprechen expressis verbis den Gedanken der aemulatio in unver- gleichlicher Direktheit aus'.

Wir muissen aufgrund der zitierten Verse annehmen, daB Statius glaubte, seine Vorbilder2 und besonders Vergil3 nicht nur erreicht, sondern in irgend- einer Hinsicht sogar iibertroffen zu haben. Bei aller - tatsachlichen oder be- haupteten - Bescheidenheit weist er so offen wie nie auf sein Vorbild hin und fordert dadurch zum Vergleich auf. Wie verhalt sich also seine Szene zu der im K der Ilias und vor allem zu der Vergils4?

** *

Zunachst hebt sich ein Umstand sofort auffallig heraus: die Szene des Statius gliedert sich in zwei deutlich geschiedene Teile, die sich nicht nur

1 Es fallt schwer, nur Zufall und nicht Absicht darin zu sehen, daf dieses Epiphonema in beiden Dichtungen sich an gleicher Stelle im Buche findet: Aen. 9, 446-449 = Theb. I0, 445-448! Auch der Umfang der Szenen korrespondiert: Aen. 9, i68 und Theb. I0,

I56 wird der Blick auf die Partei gerichtet, von deren Seite das Unternehmen ausgehen wird; Aen. 9, I76 und Theb. I0, 176 beginnt die Szene der Beratung ilber die Expedition und damit die eigentliche Darstellung. Zu ahnlichen zahlmaB3igen Entsprechungen zwischen Vergils und Homers Epen vgl. KNAUER a. a. 0. 6o Anm. 2, 26I Anm. I, 336f. und besonders 337 Anm. I. - Neben diese Entsprechung zum Werke Vergils tritt die 'Korrektur' Ver- gils: steht dessen imitatio der Dolonie im 9. Buch, so setzt Statius seine eigene Nachgestal- tung an den der Dolonie durch den Vorgang der Ilias gebuihrenden Platz: in Buch io. Doch schlieB3t sich der weitere Verlauf des io. Buches der Thebais wieder dem 9. Buch der Aeneis an: am Schlul3 beider Biicher stehen Aristie und dusteres Ende des contemptor deorum Mezzentius bzw. Capaneus, kontrastiert durch den voranstehenden Opfertod eines Juinglings (Lausus bzw. Menoeceus); das Gefuihl der vaterlichen Zuneigung des Mezzentius fur Lausus ist dabei auf Creon iubertragen (Theb. I0, 6I6-627 und 686-737), so daB der finstere Gottverachter Capaneus unheimlicher - weil unmenschlicher - als sein Vorbild Mezzentius erscheinen kann.

2 Parallelen gesammelt bei R. HELM, De Statii Thebaide, Diss. Berlin I892, 25ff. und L. LEGRAS, Etude sur la Thebaide de Stace, Paris 1905, II5ff.

3 Zu Vergils Gestaltung dieser Partie: R. HEINZE, Vergils epische Technik, Leipzig3, I9I5, 2I6-2I9 und 45of.; G. N. KNAUER, a. a. O., 266-269 und 272-275. Vgl. noch die schone Deutung dieser Partie durch F. KLINGNER, Virgil, Zuirich/Stuttgart I967, 557-565, und die Ausfuihrungen von Alfred KOSTHORST, Die Frauen- und JuAnglingsgestalten in Vergils Aeneis, Diss. Munster I934, 99- IO6.

4 Die Erzahlform dieser Szene des Statius im Vergleich zu derjenigen Vergils ist vor- trefflich analysiert worden von G. KRUMBHOLZ, Der Erzahlungsstil in der Thebais des Statius, Glotta 34, I954, 94-IO'; auf den philosophischen Hintergrund des Freitodes des Dymas geht kurz ein W. SCHETTER, Untersuchungen zur epischen Kunst des Statius, Wies- baden i96o, 43. - Zum Weiterleben des Motivs vgl. MILTON, Paradise Lost, Buch 4 Ende; ferner William FROST, Ulysses, Diomed, and Dolon: Pope and the Predecessors, in: Lebende Antike, Festschrift R. Suhnel, Berlin I967, 282 ff., mit dem Hinweis (298 f.) auf GRAVES

Good-Bye to all that, I957, Y29-1I3I.

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auBerlich, sondern vor allem in der Farbung der Darstellung unterscheiden: sie gehoren vollig verschiedenen Geftihlsspharen an. Der erste Teil der Erzah- lung (I56-346) enthalt, besonders in seiner zweiten, nach den Beratungen auf dem nachtlichen Schlachtfeld spielenden Halfte (27If.), eine grausige Schil- derung des Blutbades, das die dreiunddreiBig Argiver unter den schlafenden Feinden anrichten. Die wirklich blutriinstige Darstellung des entsetzlichen Gemetzels zeigt die Krieger der Argiver, wie sie ihre durch den Schlaf be- taubten, wehrlosen Gegner abschlachten (man kann es nicht anders nennen); sie wirkt auf den modernen Leser bei aller Virtuositat der Schilderung durch ihren Inhalt alles andere als anziehend. Diese Szene ware hauptsachlich anzu- fiihren, wollte man in Statius einen Blut und Greuel mit besonderer Vorliebe ausmalenden Dichter sehen'. Auch das die Szene abschlieB3ende Gebet des Priesters, der seine bluttriefenden Hande zur Gottheit erhebt (madidas tollens ad sidera palmas 336), macht sie nicht eben anziehender. Unnotig zu sagen, daB die hier beschriebene Totung der schlafenden Feinde die Parallelstellen bei Homer und Vergil an Grausigkeit weit hinter sich laBt, sowohl im Ganzen (dreiunddreiBig Krieger statt zweier wilten) wie im Detail (vgl. etwa 297ff. und 320ff.). Man mag zum Verstandnis der Partie vielleicht anftlhren, daB ihr Dichter Kind einer Zeit war, in der blutige Tierhetzen und t6dlich endende Gladiatorenkampfe als willkommenes Schauspiel zur Volksbelustigung veran- staltet wurden, daB also auch derartige Szenen in der Literatur damals mit anderen Augen gesehen wurden als spater. Dennoch: endete die Darstellung hier, so wiurde fur uns der Eindruck einer Schauerszene zuriickbleiben, die verstimmt statt zu fesseln.

Es ist schon von anderer Seite darauf hingewiesen worden, daB Statius mehr als seine Zeitgenossen GraBliches zu schildern vermeidet und versohnende Zuge bringt 2. So ist es nun auch hier: der ganze folgende zweite Teil der Er- zahlung (347 -448) wirkt gerade durch die dunklen Farben der vorangegan- genen Schreckensschilderung als hellere, versohnende Szene. Die Periode des Grausigen ist voruiber; andere, sanftere Tone werden angeschlagen. Die Szene ist wie verwandelt, obgleich sich doch die nun folgenden Vorgange auf dem- selben bluttriefenden Schlachtfeld abspielen wie die vorangegangenen. Kein Wort fallt mehr von der Finsternis und Leichen, vom R6cheln Sterbender und

1 So z. B. 0. RIBBECK, Geschichte der romischen Dichtung, Stuttgart I894, III 2, 227,

oder H. M. MULDER, Statii Thebaidos Liber 2, Diss. Groningen I954, III: #Concedendum est poetam rerum sanguinearum peramantem fuisse. #

2 H. BLtMNER, Die Schilderung des Sterbens in der romischen Dichtung, NJBB 22,

I919, 244ff.: ))statius vermeidet Graf3liches und tbertreibungen mehr als jene (scil. Silius Italicus und Valerius Flaccus) und bringt versohnende Zfige.<( (269). Ahnliches ist schon bei einer anderen Szene festgestellt worden: #Terribili igitur illi scaenae poeta finem addit laetum et placidum <. (HELM 174 mit Bezug auf den Anagnorismos am Ende des funften Buches der Thebais).

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vom Blutdampf: im milden Licht des Mondes (almum sidus 370/I) I dehnt sich das Gefilde aus, das schweigende Theben erscheint und der hohe Kithairon. Zwei Manner bewegen sich durch die Stille (382). Ihre Freundestreue treibt sie zu frommer Tat: sie suchen die Leichen ihrer gefallenen Fiirsten, deren Freunde und Gefahrten sie waren (dilecti regibus ambo, regum ambo comites 348/9), um ihnen das letzte Recht der Toten, eine ehrenvolle Bestattung, zuteil werden zu lassen.

Hopleus und Dymas, die hier nach den Leichen ihrer Herren Tydeus und Parthenopaeus suchen, sind bereits bekannt. Dymas hatte als fruiher hervor- ragender, nun durch das Alter bereits ein wenig behinderter2 Laufer am Wett- lauf in den Leichenspielen (6, 358/9) teilgenommen und war mit den anderen vom jungen Parthenopaeus besiegt worden. Hopleus stand im Moment der todlichen Verwundung des Tydeus neben seinem Herrn und reichte ihm die Geschosse (8, 726). Spater sorgte er ftir das RoB des toten Ftirsten, das nun Hippomedon in die Schlacht ritt (9, 204ff.). Beide, Hopleus und Dymas, sind durch den Willen des Geschicks (lato 347) in die Schar der Argiver gekommen, die den nachtlichen tTberfall unternahm. Das erfahren wir aber nun erst nach- traglich, nachdem die Greuel voruiber sind, wahrend die Schar der anderen argivischen Krieger schon aus unseren Augen entschwindet (346); die beiden Kampfer treten gewissermaB3en jetzt erst als neue Figuren in Erscheinung, mit der Nennung ihrer Personen beginnt der zweite, einer ganz anderen Stim- mungssphare zugehorige Abschnitt. Mit keinem Wort war ihre Teilnahme an dem Gemetzel erwahnt worden, obwohl neben den drei Ftihrern Thiodamas, Actor und Agylleus auch die Namen von zweien ihrer Gefolgsleute genannt wor- den waren (3I4): Tagus haunrit Echecli / terga coronati, Danaus caput amputat Hebri. Diesen beiden Argivern begegnen wir nur hier; Hopleus und Dymas, die schon bekannt waren und noch Gr6f3eres vollbringen sollten, hatten gut an ihrer Stelle stehen k6nnen .

Warum setzt Statius statt der schon bekannten, auch weiterhin mit der Erzahlung verbundenen Personen zwei vollig unbekannte und auch spaterhin nicht wieder auftauchende Namen? Offenbar nur, um Hopleus und Dymas, soweit es irgend geht, aus der blutigen Greuelszene herauszuhalten. Erst nach-

1 Vgl. die Behandlung der Verse 370-375 durch Enrico FLORES, Interpretazioni Staziane, in: Rendiconti dell' Accademia dell' Archeologia, Lettere e Belle Arti di Napoli, 39, Napoli I964, I79-I90.

2 Diese Charakterisierung offensichtlich nach der vergilischen Portratierung des altern- den Boxkampfers Entellus (Aen. 5, 394ff.), der von sich sagt: ))Non laudis amoy, nec gloria cessit / pulsa metu; sed enim gelidus tardante senecta / sanguis hebet . . .. Statius sagt uiber Dymas 6, 558: ... alipedumque fugam praegressus equorum / ante Dymas, sed tunc aevo tar- dante secutus. Trotz des andersartigen Szenenbezuges und abweichenden Satzablaufes stehen sed und tardante an genau gleicher Stelle im Vers.

3 Der Name Tagus offenbar aus der Parallelstelle Vergils tibernommen: Aen. 9, 4I8,

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dem der erste schreckliche Teil der Nacht vortiber ist, werden sie erwahnt und in das Blickfeld geruickt. Durch ihre v6llige neue Einftihrung am Beginn eines neuen, einer ganz anderen Stimmung angeh6rigen Teils der Erzahlung bewirkt der Dichter, daB seine beiden Helden unbefleckt vor dem Auge des Lesers stehen. So schwierig dies auch ist, es gelingt ihm, Hopleus und Dymas, die an der nachtlichen Expedition teilnehmen muBten, um iuberhaupt aus dem Lager herauszukommen und auf dem Schlachtfeld die Suche nach ihren toten Freun- den aufnehmen zu konnen, in unserer Vorstellung freizuhalten von dem Makel des Mordens. Statt zweier blutbespritzter, wilder Kampfer stehen vor unseren Augen zwei Manner, die unter Hintansetzung des eigenen Lebens (regitm... post funera maesti vitam indignantur 349/50) in edler Gesinnung ein frommes Werk tun: eine Tat der Freundschaft und Treue.

Freilich ist ihnen das Geschick dabei nicht giinstig: invida fata puis (384). Hier sagt der Dichter ausdriicklich selbst, wie er seine beiden Helden sieht und wie er sie durch seine Darstellung dem Leser zu zeigen sucht. Statius will nicht, wie es in der Ilias geschah, zwei listig-verschlagene, dabei grausame Manner zeichnen, die kaltbluitig ihren Gefangenen umbringen, der ihnen wahrheitsge- maB Auskunft gegeben hat und sie um sein Leben anfleht, das sie ihm sogar zugesichert haben (K 383). Auch geht es seinen Helden nicht um Ruhm und Ehre, wie denen Vergils: mihi facti lama sat est, sagt Nisus von sich (9, I94).

Fur ihn und seinen Freund Euryalus ist der Ehrgeiz die Triebfeder zu dem tapferen Unternehmen 1, von ihm lassen sie sich zu dem Mord an den schlafen- den Feinden hinreiBen, durch ihn finden sie dann spater auch ihrEnde. Statiusda- gegen zeichnet in seinen beiden Helden zwei Manner, die eine Tat der pietas voll- bringen und dabei ihren unverdienten Untergang finden, die aber frei erscheinen sollen von der blutigen Aura der Niedermetzelung schlafender Feinde. Das ist der Grund der Zweiteilung seiner Szene; offenbar ist es auch dieses ethische Moment, wodurch seine Darstellung die Vergils iibertreffen soll -, zugleich aber auch die der Ilias, die Statius nicht erwahnt, die aber als Urbild der beiden Szenen sofort in die Erinnerung tritt.

Ganz deutlich wird dieser Wettstreit auch mit dem homerischen Dichter bei der Erzahlung vom Tode des Dymas. Nachdem die beiden Manner die Leichen ihrer Fulrsten gefunden haben, eilen sie mit ihrer Last dem Lager zu. Im ungewissen Licht des Morgens werden sie von einer thebanischen Patrouille tiberrascht und als Feinde erkannt. Hopleus wird sofort getotet 2. Dymas stellt sich, den Leichnam zu seinen FuBen gelegt, den Feinden entgegen; wie eine

1 Vgl. HEINZE a. a. 0. 2I7if. 2 Die Reihenfolge des Sterbens Hopleus - Dymas gewinnt ihren Sinn dadurch, daB so

Dymas, gemeinsam mit dem sympathischen Jiungling Parthenopaeus, an die wirksamere Endstelle tritt - statt des Hopleus, der mit dem gewalttatigen, durch die Wildheit seines anthropophagen Endes befleckten Tydeus verbunden ist und infolgedessen fuAr das an- ruihrende Schluf3bild weniger geeignet war.

Imitatio und aemulatio in der Thebais des Statius 2I5

Lowin, die ihre Jungen gegen die feindlichen Jager verteidigt (IO, 4I4ff.). Die statianische Abwandlung des Bildes1, das Vergil (9, 339ff.) von Homer (K 485 f.) iibernommen hatte, ist fur die Darstellung der ganzen Szene bei Statius charakteristisch: Diomedes, der die Thraker hinmordet wie ein L6we wehr- loses Kleinvieh, und Euryalus, der unter den schlafenden Rutulern wiutet wie ein Lbwe, den sein Hunger treibt, mit blutigem Maul unter dem vor Furcht verstummten Kleinvieh: an ihrer Stelle zeigt Statius den Dymas, der den Leichnam seines toten Herrn hiutet wie die miitterliche Lowin, die ihre Kleinen gegen die Jager verteidigt und von ihrer Zuneigung zu den Jungen an der Entfaltung ihrer Kraft und Grausamkeit gehindert wird: prolis amor crudelia

vincit,pectora (4I8f.).

Menschliches Geftihl, amor, pietas, tritt bei Statius auch im Bilde an die Stelle von Mordlust und Blutgier. Wahrend des Gemetzels war zuvor Thioda- mas, also der Anftihrer der Argiver und nicht einer der beiden Helden, mit einem reiBenden Tiger verglichen worden, dessen wilde Blutgier seine eigenen Krafte iubersteigt (288ff.). Das Bild der mordenden Raubkatze wahrend der Niedermetzelung der schlafenden Gegner ist also beibehalten. Jedoch ist es nicht fur einen der beiden 'frommen' Helden verwendet. Dariuber hinaus ist es in charakteristischer Weise verandert: der Tiger tritt an die Stelle des Lowen, damit dessen Bild freibleibt ftr den wirklichen Helden des Unternehmens und so in seiner Veranderung deutlich den Unterschied der statianischen Darstellung von der seiner Vorbilder anzeigen kann. Aber auch das Tigerbild selbst ist verwandelt. Die Ilias gibt einfach das Bild: der Mann, der totet wie ein Lowe; Vergil ftigt den geistigen Hintergrund hinzu: wie den Lowen rasender Hunger treibt (suadet enim vesana fames 9, 340), so treibt den Menschen sein rasender Ehrgeiz: incensus et ipse perfurit (342/3); Statius vergleicht nicht so sehr die Szene und das Bild, sondern vor allem das Gefiuhl: wie ein Tiger, den es schmerzt, daB seine Kraft nicht mit seiner rasenden Blutgier Schritt halt (doletque defecisse famem 29If.), so wunscht sich der Priester, jetzt ferus miles (339), hundert Arme und hundert Hande, um seinen Blutdurst zu stillen.

Der auf das Lowengleichnis folgende vergebliche Kampf des Einzelnen gegen die Ubermacht und seine Besorgnis nicht um sich selbst, sondern um den geliebten Toten, ist Vergil-Imitation. Aber am Ende der Szene steht wiederum deutlich der Bezug auf die Ilias, steht der Versuch, auch das Urbild der Szene in die Imitation einzubeziehen und zu tibertreffen2. Diomedes und Odysseus fragen Dolon, ihren Gefangenen, uiber seine und der Trojaner Absichten, uiber die Lagerplatze der troischen Heere usw. aus. Dieser Zug entfallt in der ver-

1 Vgl. Verf., Gleichnisgruppen in der Thebais des Statius, Wiener Studien 75, I962, 141 if., besonders I50ff. (Raubtiergleichnisse) und zu der vorliegenden Stelle I52f.

2 Die homerische Dolonie ist aber auch wahrend der ganzen Szene in Einzelzugen als Vorlage benutzt; vgl. die Belege HELM 25ff. und LEGRAS II6/I7.

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gilischen Schilderung. In der Thebais fragt wiederum der FiAhrer der Thebaner den gestellten Gegner Dymas nach den Kriegsplanen und der Stimmung der Argiver. Dymas aber st6Bt sich selbst das Schwert in die Brust:

>summumne hoc cladibus # inquit, *derat, ut adflictos turparem ego proditor Argos?a(

Wie das Unternehmen an sich, so ist nun auch das Ende, ist der Tod des Helden ethisch motiviert: Dolon verrat in zitternder Angst (K 374ff.) alles, was Diomedes und Odysseus von ihm wissen wollen, und wird dann doch entgegen ihrem Versprechen von ihnen getbtet -, Dymas aber stirbt lieber von eigener Hand, als daB er den Gegnern ein Wort verrate.

Worin will Statius seine Vorbilder in der Nachgestaltung der Dolonie iibertreffen? Seine besondere Stellung muB fur uns nicht unbedingt in der ktinstlerischen Vollkommenheit seiner Szene, in der artistischen Leistung bei der Ausmalung der Vorgange liegen. Hier mag sich individueller Geschmack bald der einen und bald einer anderen der drei Szenen zuwenden. Freilich sollte objektiv zugestanden werden, daB die Szene des Statius die weiteste Geftihls- skala aller drei Parallelstellen durchmiBt, daB sie wohl auch an Bildhaftigkeit und psychologischer Detaillierung den Vorbildern uberlegen ist. Dazu ist auch die Spannung bei Statius groBer als bei Vergil, bei dem vom Anfang des Unternehmens an auf seine Aussichtslosigkeit hingewiesen wird (9, 3I2/I3

und 364). Hopleus und Dymas dagegen erreichen ja zunachst ihr Ziel, sie finden die Leichen ihrer fiirstlichen Freunde, sie sind schon auf dem Wege zum eigenen Lager, sie sehen es bereits vor sich, das Gelingen steht unmittelbar bevor -, da erst wird die Mbglichkeit eines MiBlingens erwahnt (384f.). Subtiler dann der folgende Hinweis auf den tragischen Ausgang: der Vers- schluB 398 (Dymas) qui lorte prior gressumque repressit erinnert an Aen. 2, 378: Obstipuit retroque pedem cum voce repressit. Andregeos ist dort in der gleichen ausweglosen Situation, er ist in Ilions StraBen unter die Trojaner geraten, sensit medios delapsus in hostes (2, 377), sein unmittelbar folgender Tod, an den erinnert wird, laBt das drohende Ende der statianischen Helden ahnen, das nun berichtet wird.

Das Entscheidende aber ist, daB Statius seine Helden im Gegensatz zu seinen Vorbildern als pii erscheinen laBt. Sie sind frei von der dira cupido, von der Vergil Nisus ahnungsvoll selbst sprechen laBt (9, I85). Hopleus und Dymas wagen aus edlen Motiven ein gefahrvolles Unternehmen und finden dabei den Tod, aber noch im Sterben offenbaren sie ihre edle Seele I. Um sie so zeichnen zu konnen, hat der Dichter das mit der Szene verbundene Gemetzel der

1 Schon KRUMBHOLZ a. a. 0. 99 wies auf ein Detail hin, das in diese Richtung deutet (zu Vers 394f. und 400 -404): *Das timentque non sibi wird hier breit exemplifiziert, indem sogar der Krampf des Sterbenden noch mit ethischen Werten gefuillt wird. e

Imitatio und aemulatio in der Thebais des Statius 2I7

schlafenden Feinde nicht als ihre Tat dargestellt 1, sondern durch andere Akteu- re ausfiihren lassen. Die beiden Helden muBten zwar an der Tat teilnehmen, damit sie tiberhaupt auf den Schauplatz gelangen, doch hat es der Dichter vermocht, sie in der Vorstellung des Lesers von der schrecklichen Tat freizu- halten, indem er die Aufmerksamkeit zunachst auf die anderen Akteure -

Actor, Agylleus, Thiodamas u. a. - lenkt und die beiden Helden erst am Beginn der zweiten Halfte der Szene in einer vbllig anderen Gefiihlssphare dem Leser vor Augen fiihrt2. Aus diesem Bestreben heraus hat er auch bereits in den friiher beschriebenen Wettspielen eine bezeichnende Veranderung vorge- nommen: Dymas nimmt zwar am Wettlauf teil (6, 558/9), wie es sein literari- sches Vorbild Nisus bei Vergil auch tut (Aen. 5, 294ff.). Statius ulbertragt jedoch das bedenkliche und sportlich unfaire Man6ver, das Nisus unternimmt (5, 335ff.), nicht auf Dymas, sondern auf einen anderen, den Idas (Th. 6, 6I5ff.), so daB Dymas auch hier im Agon frei von jedem moral schen Makel dargestellt ist.

Zu dieser Steigerung gegenuiber den Vorbildern, die dadurch erzielt wird, daB das bekannte Motiv auf eine hohere sittliche Ebene gehoben wird, und zu der meisterlichen Technik, mit der diese Gestaltung erreicht ist 3, tritt noch ein weiteres bemerkenswertes Moment: die Beziehung zur Gesamthandlung des Epos.

** *

Die homerische Dolonie ist der Ilias nur recht lose eingeftigt, und )>die Tat des Diomedes und Odysseus geht spurlos voruiber: weder Freund noch Feind weiB nachher davon 4 (. )>Vergil hat eine engere Verbindung erstrebt und erreicht als der homerische Dichter5#. Wichtig erscheint, daB eine Beziehung zwischen dem Schicksal des Euryalus und einer der Hauptpersonen der Aeneis obwaltet. Der junge Krieger schmulckt sich mit dem Helm eines getoteten Feindes (365), und der Glanz dieses Beutestiuckes ist es, der ihn und seinen Gefahrten im

1 Insofern ist die von KRUMBHOLZ a. a. 0. 95 aufgestellte Gleichung Aen. 9, 3I4 -366 - Theb. IO, 347-379 zu korrigieren: dem kuihnen Handstreich des Nisus und Euryalus auf das Lager der Rutuler entsprechen vielmehr die Verse Theb. IO, 262-346, die den t'berfall der Argiver auf die schlafenden Thebaner schildern.

2 Dementsprechend auch die Abwandlung bestimmter Details, z. B. die Umgestaltung des Gebets Aen. 9, 404 -409, in dem Nisus die Hilfe der Mondg6ttin fur seine blutige Waf- fentat erbittet, zu dem Gebet Theb. IO, 365-370, in dem Dymas die Unterstiutzung der Mondgottin fur seinen frommen Versuch erfleht, des Herren Leichnam zu bergen.

3 Hierzu sei nochmals auf die Analyse von KRUMBHOLZ (O. S. 21I Anm. 4) verwiesen, der (a.a. 0.23I ff.) alsbesondere Eigenschaften des statianischen Stils hervorhebt: atmospha- rische Ausmalung von Stimmungen; Neigung zu Einzelszenen, zur hervorstechenden Ein- zelsituation; Ansprechen der sensuellen Rezeptivitat; Neigung zum Psychologisieren.

4 HEINZE a. a. O. 450.

5 HEINZE a. a. 0. 450. Vgl. ferner die Ergebnisse der S. 2II Anm. 3 angefuihrten Inter- pretationen.

2I8 BERNHARD KYTZLER

Dunkel der Nacht verrat (373 f.) und so ihr Ende herbeiftihrt. Ahnlich hat sich Turnus mit dem Wehrgehange des von ihm besiegten Pallas geschmuickt (IO, 495ff.), und das ist es, was - am Ende des Epos - Aeneas bewegt, den schon tiberwundenen, um sein Leben flehenden Gegner zu toten. Auch Statius hat seiner Szene Beziehung und Verbindung zur Haupthandlung seines Epos und ihrem Ende verliehen, und zwar nicht nur auBerlich, sondern auch in innerlicher Weise.

AuBerlich gesehen weist das Unternehmen des Hopleus und des Dymas voraus auf das wichtige Thema, das am Ende der Thebais steht und das ganze letzte Buch ausfilltl: die Sorge um die Toten, das Bemtuhen, den gefallenen Kriegern die letzten Ehren zu erweisen und eine wuirdige Bestattung zuteil werden zu lassen. Damit ordnet sich das Bestreben von Hopleus und Dymas dem Bestreben der argivischen Frauen zu, deren Aktion das letzte Viertel der Thebais umspannt: auf das Gebet der Matronen von Argos hin (IO, 49ff.)2 hat Juno durch Somnus die Thebaner einschlafern lassen, so daB der Vberfall und damit auch die Tat von Hopleus und Dymas m6glich wurde, an die sich nun die weiteren Kampfe in ununterbrochener Folge bis zu ihrem Ende (II, 579) anschlieBen. Auf das Bestattungsverbot des Creon hin ziehen die Argiverin- nen selbst aus (Buch I2), gewinnen die Hilfe des Theseus und erreichen, daB ihre Toten begraben werden: der letzte SproB des Labdakidenhauses, Creon, fallt, der letzte Frevel des fluchbeladenen Geschlechts wird uberwunden, das Thema der Thebais (Oedipodae confusa domus, I, I7) hat sich erfillt. Steht so die Sorge fur die Toten am Ende des Epos als groBes, eigenstandiges Thema, so wird es hier vorbereitend eingeftihrt durch die Freundestat der beiden Ge- treuen. Damit ist von der kurzen Partie alles Episodische ferngehalten: sie ist Vorklang des das Epos vollendenden Gedankens vom Recht der Toten auf ihre Bestattung und von der Pflicht der Lebenden, sie ihnen zu bereiten. Statius erreicht damit ein HchstmaB an organischer Einfugung eines vorgegebenen epischen Bauelements in die Tektonik seiner Thebais: die 'Dolonie', der tradi- tionelle Topos vom Wagestuick der Einzelnen in der Nacht vor der Entschei- dungsschlacht, ist dem Ganzen der neuen Dichtung fugenlos integriert.

Innerlich aber stimmt die ganze Szene zu dem Grundthema der letzten Bucher der Thebais, in denen der Dichter von den Greueln und Schrecken wegfuhrt zu den Taten der virtus und pietas. Diese Entwicklung in der letzten Triade, die zugleich fur die ganze Thebais bestimmend und bedeutsam ist, hat Statius im Aufbau der Szene, die es hier zu betrachten galt, vorgeformt: auf die Schreckensszenen des wilden Mordens folgt die Schilderung der edlen Tat der pii Hopleus und Dymas. Der finsteren Gestalt des Gotterverachters Capaneus, der erst durch einen Blitz des Gottervaters vernichtet werden kann, tritt die

1 Vgl. dazu jetzt die Dissertation von E. KABSCH, Funktion und Stellung des zwolften Buches der Thebais des P. Papinius Statins, Kiel I968.

2 Zu dieser Szene vgl. die S. 230 Anm. i angefilhrte Studie.

Imitatio und aemulatio in der Thebais des Statius 2I9

lichte Figur des Menoeceus entgegen, der sein Leben freiwillig fur seine Heimatstadt dahingibt (Buch io). Dem Brudermord von Eteocles und Poly- nices, dem Bestattungsverbot des Creon (Buch ii) stehen die frommen Ab- sichten der argivischen Frauen, das Eintreten des Theseus fur die gute Sache gegenuber (Buch I2). So nimmt die Erzahlung vom nachtlichen tYberfall der Argiver auf die thebanischen Wachter in ihrer kontrastierenden Zweiteilung die antithetische Problematik des ganzen Epos auf: von den Taten des Frevels und des Schreckens fuhrt der Dichter fort zu den Leistungen der virtus und der pietas.

II

Der Katalog (Thebais 4, I3f.)

Ein epischer Topos, der seit der Ilias zum festen Bestand des heroischen Epos gehorte, muB ebenf alls besonders gut geeignet sein, Eigenheiten statiani- scher Darstellung erkennen zu lassen. Seit der Boiotie im B der Ilias findet sich ein Katalog der Streiter in allen uns erhaltenen heroischen Epen. Ihre Unter- suchung und Vergleichung ist schon haufig und unter verschiedenen Ge- sichtspunkten durchgeftihrt worden . Hier gilt es demnach hauptsachlich, den Katalog, den Statius im vierten Buch seiner Thebais gedichtet hat, im Hinblick auf die schon gewonnenen Ergebnisse der anderen Betrachtungen in seiner Eigenheit gegen die uibrigen uns erhaltenen epischen Kataloge abzugrenzen.

Deutlich zeichnet sich in der Entwicklung der Katalogdichtung das Be- streben der Dichter ab, von der einfachen Aufzahlung zur Erzahlung zu ge- langen, um so den Katalog wirkungsvoller und einpragsamer zu gestalten, als er es in seiner urpruinglichen Form, der Aneinanderreihung einzelner Teile, gewesen war. >Die Boiotie nimmt nur ganz selten auf den Zeitpunkt Rflcksicht, der den Katalog motiviert - namlich das Rflsten und Ausrucken zur Schlacht -, und begnugt sich allgemein damit, die Zahl der Schiffe zu nennen, die jeder stellt. Apollonios vermeidet es, die Versammelten aufzuzahlen; er erzahlt, daB dieser und jener kam; aber es bleibt bei dem Wort. Vergil dagegen bemuht sich auch hier, wirkliche Handlung zu geben; er schildert teils die Truppen auf dem Heranmarsch, teils das Ausrucken und Eintreffen der Fiihrer; mit

1 Vgl. u. a. G. KAIBEL, Hermes 22, I887, 5IIf.; R. HEINZE, a. a. 0. 403; B. BROTHER-

TON, TAPhA 62, I93I, I92ff.; V. POSCHL, Die Dichtkunst Virgils, Innsbruck-Wien 2I965,

288f.; F. MEHMEL, Valerius Flaccus, Diss. Hamburg I934, ii. 66. 75; ders., Virgil und Apollonius Rhodius, Hamburg I940, 82 ff.; W. W. FOWLER, Virgil's Gathering of the Clans, Oxford I9I6; B. REHM, Das geographische Bild des alten Italiens in Virgils Aeneis, Philol. Suppl. 24, 2, Leipzig I932, 88ff.; E. FRAENKEL, IRS 35, I945, 8ff. = KI. Schr. II, 158ff.; R. D. WILLIAMS, Class. Quart. ii, ig6I, I46-I53; F. KLINGNER a. a. 0. 515ff.; G. N. KNAUER, a. a. 0. 233 -236. - Vber die Beziehungen des Katalogs in der Thebais zum Beginn der Phoinissen des Euripides vgl. A. REUSSNER, De Statio et Euripide, Diss. Halle 192I, II-I5.

220 BERNHARD KYTZLER

besonderem Nachdruck ganz zuletzt das Auftreten der Camilla, bei deren An- kunft omnis iuventus turbaque ;natrum aus den Hausern und von den Ackern zusammenstr6mt, um die herrliche Erscheinung anzustaunen l. #

Valerius Flaccus ist noch einen Schritt weitergegangen: )>Er setzt den Katalog mitten hinein in die Erzahlung und zwar unmittelbar vor den Augen- blick der Abfahrt <2, die nach der Aufzahlung der Argonauten kurz beschrieben wird. Dennoch ist keine Szene im eigentlichen Sinne entstanden, denn der Katalog )>ist ein Punkt der Vielheit, aus der sich das Geschehen zusammen- setzt #3, er ist deutlich Katalog geblieben und nur dieses. Dazu wirkt freilich die wohl untiberwindbare Schwierigkeit der Aufgabe des Valerius mit: fuinfzig Helden ))kann man nur einfach hintereinanden vorfiihren <4, ein geordnetes, gegliedertes Ganzes laBt sich aus so vielen gleichartigen Bausteinen kaum gestalten, eine lebendige anschauliche Szene schon gar nicht.

Statius ist hier von seinem Stoff her in viel gtinstigerer Lage. Es ist aber auch deutlich. daB er sich dieser Tatsache bewul3t ist und sich ihrer zu seinem Vorteil bedient. Das Heer, dessen Ausmarsch er beschreibt (4, I3ff.), besteht aus sieben Abteilungen unter sieben Fuihrern. Nur diese sieben Ftihrer werden namentlich genannt, kein anderer Einzelner aus den sie begleitenden Scharen wird individuell gezeichnet oder auch nur mit Namen erwbhnt, kein einziger der vielen Krieger, die nachher eine bedeutende Rolle spielen, wird fur sich vorgeftihrt; weder Aconteus, dessen SchuB auf die heiligen Tiger des Bacchus den Kampf auslost, noch Hopleus und Dymas, die Helden der 'Dolonie', ja nicht einmal Thiodamas, der spater durch einstimmigen BeschluB des Heeres zum Nachfolger des toten Sehers und Priesters Amphiaraus gewahlt wird, werden erwahnt. Durch diese kluge Beschrankung auf die Personlichkeiten der sieben Fuirsten wird bewirkt, daB diese sich als bedeutsame Erscheinungen dem Leser einpragen, daB das Bild jedes einzelnen von ihnen sich in seiner Eigen- heit von den anderen abhebt und so dem Zuhorer klar vor Augen steht. Dieser Katalog erweckt, im Gegensatz zu den meisten anderen, sogleich beim Kennen- lernen den Eindruck eines erfaBbaren, gegliederten Ganzen, dessen Einzel- heiten nicht sofort in der untibersehbaren Menge der nachdrangenden Angaben untergehen, sondern sich zu einem geordneten, iuberschaubaren Bilde zusam- menschlieBen.

Dieses Bild aber zeigt den Auszug des Heeres. Wahrend sich Valerius Flaccus mit drei andeutenden Versen begnuigt (I, 350-352), die der Einbil- dungskraft des Lesers nicht eben viel Material zur Anschauung geben, kein Bild vor Augen stellen, das in den nun folgenden fulnfzig hart aufeinander prallenden Namen einen Anhaltspunkt geben wtirde, hat Statius vor den eigentlichen Katalog die Szene des Auszugs gestellt und sie mit aller ihm zu Gebote stehenden Anschaulichkeit beschrieben (4, I3 ff.) 5. Diese Szene, die durch

1 HEINZE a. a. 0. 403. 2 F. MEHMEL, Valerius Flaccus, Diss. Hamburg 1934, II. 3 MEHMEL a. a. 0. 4 MEHMEL a. a. 0. 66. 5 Vgl. den lateinischen Text S. 223.

Imitatio und aemulatio in der Thebais des Statius 22I

das Gleichnis vom Abschied der auf das Meer Hinausfahrenden (24ff.) in ihrer Eindruckskraft gesteigert und wirkungsvoll abgeschlossen wird, ist so bildhaft und einpragsam gelungen, daB sie dem Leser wahrend des ganzen, nun erst folgenden Katalogs vor Augen schwebt. Der H6rer steht gleichsam selbst mit am Rande des Weges, auf dem nun das Heer hinauszieht, er sieht die Fuihrer und ihre Mannschaft inmitten der sie umgebenden Menge herankommen, vor- beipassieren und davonziehen, er sieht Adrast einherschreiten (incedit 40, subit 68), sieht Polynices im Schmucke seines Lowenfells herankommen (85ff.), er wendet sich mit ihm zurulck zur Stadt (89 f.).

et de turre suprema attonitam totoque exstantemn corpore longe respicit Argian; haec mentem oculosque reducit coniugis et dulcis avertit pectore Thebas.

Immer wieder wird an die Anschauung appelliert, immer wieder erscheinen neue Seiten der Szene im Blickfeld, werden weitere Details dargestellt, andere Aktionen vor Augen gefulhrt: Tydeus, der ungeduldig seine Scharen vorantreibt: ecce inter medios patriae ciet agmina gentis / fulmineus Tydeus (3 f.); Hippo- medon, strahlend im Glanze seiner Waffen (I28 ff.); Capaneus, der hoch fiber die Menge emporragt und seinen gewaltigen Schild schwingt (i 65 f.); Amphiaraus, prachtig geschmulckt mit den Insignien seines priesterlichen Standes, auf hohem Wagen dahinrollend (2I4 if.). Den AbschluB bildet gar eine eigene Szene fur sich (309ff.): Atalante kommt herangestulrmt durch die Abschied nehmende Menge, sie ist deutlich zu sehen in ihrer Angst und Besorgnis, mit ihrem verwirrten Gewand und aufgelbsten Haar; sie wirft sich dem Pferde des Sohnes entgegen, so daB er anhalten muB; er erbleicht bei ihrem Anblick, er schlagt die Augen nieder, die Mutter spricht ibm in besorgten Worten zu, mahnt ihn, vom Kriegszug abzustehen; aber die anderen Fiihrer drangen heran, tr6sten und beruhigen, die Trompeten schmettern dazwischen und trennen sie, und das Heer zieht davon, seinem Schicksal entgegen ...

Statius hat das, was sich in vielen Jahrhunderten der Katalogdichtung anbahnte, erfuillt: der (fur den modernen Leser meist recht trockene) bloB aufzahlende Katalog ist zur anschaulichen, in sich geschlossenen, lebendig bewegten Katalog-Szene geworden'.

1 Ahnliches hatte G. KRUMBHOLZ, a. a. 0. 103, beobachtet bei der Szene des Sam- melns der Wettkampfer fuir den Agon (6, 550ff.): ))Der archaische Katalog verlebendigt sich zu Handlungsbildern. #

Es ist ubrigens bezeichnend fur den Gestaltungswillen des Valerius Flaccus, daB er als einziger der Zeitgenossen des Statius sich darum bemuht, eine Art Szene zu geben, indem er den Katalog zwischen Vorbereitung der Abfahrt (I, 350-352) und Abfahrt selbst (i, 487-497') setzt; freilich ist bei ihm der Katalog selbst nicht in diese Szene einbezogen. Lucan und Silius dagegen machen keinerlei Anstalten, den Katalog eingehender zu gestalten, mehr noch: sie bieten beide je zwei in vollig gleicher Manier geformte Kataloge in ihren

222 BERNHARD KYTZLER

Dadurch, daB die Schilderung von Einzelpersonen sich nur auf die sieben Fiihrer beschrankt, sind diese in ihrer individuellen Besonderheit von Anfang an gekennzeichnet, ihr Bild steht plastisch vor Augen. Hierdurch wiederum macht der Katalog auf den Horer oder Leser nicht wie bei Vergil den Eindruck eines )>brausenden Aufzugs<(, aus dem sich eigentlich nur die beiden ersten und die beiden letzten Ftihrergestalten herausheben und der Erinnerung ein- pragen; er erweckt vielmehr die Vorstellung eines klar erfaBbaren, wohlge- ordneten, harmonisch gegliederten Ganzen.

** *

Besteht diese Ordnung in der Tat? Genauer: wie ist die Anordnung des Katalogs zu verstehen, auf welchem Prinzip beruht die Reihenfolge der vorge- fiihrten Helden? Diese Frage zu stellen, ist nicht mulBig; ihre Beantwortung weist in die wesentlichen Bezirke der Dichtkunst des Statius.

Es lIge fur den Dichter nahe, der Reihe der Helden im Katalog eine uiuBer- liche Ordnung zu geben, etwa geographisch oder genealogisch. Man ware viel- leicht geneigt, im Hinblick auf Adrast und Parthenopaeus als den ersten bzw. den letzten in der Reihe der Helden das Alter als ordnendes Prinzip anzuneh- men oder im Hinblick auf den Anfang Adrast-Polynices-Tydeus die Wichtigkeit oder Wiurdigkeit der Fursten. Alle diese sachlichen oder techni- schen AuBerlichkeiten sind es aber nicht gewesen, die dem Katalog seine Anordnung gegeben haben; das beweist die Gestalt des Amphiaraus, die als vorletzte im Katalog erscheint und durch ihre Einftigung an dieser Stelle allen bisher angefuhrten etwaigen Anordnungsprinzipien widerspricht. Die innere Gestaltung der Szene vielmehr, ihre stimmungsmaBige 'Farbung' erst laBt erkennen, nach welchen Gesichtspunkten der Dichter hier seine Heroen ange- ordnet hat.

Statius hat namlich seine Katalogszene nicht nur lebendig und anschaulich gestaltet, er hat sie auch (mit raffinierter dichterischer Technik, wie sich zeigen wird) durch eine einheitliche Grundstimmung zusammengefaBt und dadurch

Werken (Phars. I, 392ff. und 3, 355ff. Pun. 3, 222ff. und 8, 349ff.), wahrend Statius seinen zweiten Katalog wiederum als Szene, diesmal in der Form der Teichoskopie, gibt (7, 243 if.) und ihn so einerseits abwandelt, andererseits zu der Parallelstelle in Beziehung setzt da- durch, daB er beide Kataloge in das erste Buch des zweiten resp. dritten Viertels des Epos stellt. Bemerkenswert dabei der Bezug auf das homerische Vorbild: der erste Katalog fiuhrt die Scharen vor Augen, die ausgezogen sind zur Eroberung der feindlichen Stadt, der zweite Katalog (die Mauerschau) dagegen die Hilfsvolker, welche die Stadt unterstiutzen. Auch die Fortfuhrung der Handlung folgt Homer: im Gegensatz zu Vergil (Katalog als Buchende) schlieB3t sich die Betrachtung der Gegenseite an, die durch gottlichen Hinweis auf die nahende Gefahr aufmerksam gemacht wird (Iris: B 786 ff.; Fama: 4, 346 und 369 sowie die Bacchuspriesterin 377 ff.).

1 POSCHL a. a. 0. 288.

Imitatio und aemulatio in der Thebais des Statius 223

erst zu ihrer vollen Wirksamkeit erhoben. Was hier beschrieben wird, ist eine Abschiedsszene - jedoch keine hoffnungsfrohe, sondern eine in dunklen Farben gehaltene, wehmutsvolle, schmerzliche. Kein frohes Getiummel stolzer Streiter, kein freudiger, siegesgewisser Auszug wird geschildert; nach unheil- verkiindenden Opfern (I3-I5) folgt in gedriickter Stimmung ein tranenvoller Abschied (i8ff.):

nec modus est lacrimis: rorant clipeique iubaeque triste salutantum, et cunctis dependet ab armis suspiranda domus; galeis iuvat oscula clusis inserere amplexuque truces deducere conos. illi, quis ferrum modo, quis mors ipsa placebat, dant gemitus fractaque labant singultibus ira.

Diese Stimmung will Statius als Grundstimmung seiner Katalogszene fest- halten, und aus diesem Bestreben heraus ordnet er seine Gestalten so an, daB die drei Ftirsten, die in ihrer wilden Natur freudig zu Kampfe eilen, umgeben wer- den von den vier anderen, die gehemmt und bedriuckt hinausziehen 1.

An der Spitze des Heeres erscheint sein Anftihrer Adrast, gebeugt von der Last der Sorgen und der Jahre (38ff.):

rex tristis et aeger pondere curarum propiorque abeuntibus annis inter adhortantes vix sponte incedit Adrastus.

1 Interessant ist auch die Gestaltung des den Katalog einleitenden Musenanrufs

(32-38a): er kontaminiert die beiden Musenanrufungen aus dem 7. Buch der Aeneis

(37-45 und 64I -646). Statius uibernimmt aus der zweiten Stelle das Verb pande (34 =

pandite 641), er iibernimmt auch ungefahr den Umfang (6 bzw. 61/2 Verse). Auf die erste

Stelle weisen indes der Einsatz mit nunc, die Wendung des Anrufs nicht an die Musen in

ihrer Gesamtheit (deae 64I und divae 645), sondern an einzelne, namentlich bezeichnete

Gottheiten: Erato (Aen. 7, 37 und diva 4I), daneben Calliope (Theb. 4, 35) und zuvor

Fama und Vetustas (32). SchlieBlich korrespondiert auch die Form: beide Anrufungen en-

den mitten im Vers. Deutlicher noch die Beziehung der an den Musenanruf anschlie3enden Texte:

Rex arva Latinus et urbes

iam senior longa placidas in pace regebat (Aen. 7, 4sf.)

Rex tristis et aeger

pondere curarum propiorque abeuntibus annis inter adhortantes vix sponte incedit Adrastus.

(Theb. 4, 38ff.)

Diese Kontamination ist keineswegs willkuirlich, sondern durchaus sinnvoll: die Situa-

tion im 4. Gesang der Thebais verbindet in sich die beiden Situationen aus dem 7. Gesang

der Aeneis: Kriegsbeginn und Katalogbeginn.

224 BERNHARD KYTZLER

Selbst sein Pferd Arion baumt sich zuruck: et iam in iugo luctatur Arion (43). Auch die Beschreibung seiner Gefolgschaft hat teil an diesen dunklen Farben: quaeque p avet longa spumantem valle Charadron Neris (46) ... et Lace- daemonium Thyrea lectura cr uorem (48). In der Mitte steht, als Hohe- punkt dieser Beschreibung, das grausig-dunkle Bild der Sage vom Flusse Elisson (53 ff.):

saevus honos fluvio: Stygias lustrare severis Eumenidas perhibetur aquis; huc mergere suetae ora et anhelantes poto Phlegethonte Cerastas, seu Thracum vertere domos, seu tecta Mycenes impia Cadmeumve larem; fugit ipse natantes amnis, et innumeris livescunt stagna venenis.

An zweiter Stelle steht Polynices. Fur ihn und sein Recht wird der Krieg gefiihrt, darauf wird nachdriicklich hingewiesen (75ff.). DaB er darum je- doch freudig hinausz6ge, davon ist durchaus nicht die Rede, wohl aber von seinem Ungluck (tristibus aucta fides 78) und seinem Leide (querenti 79); sein Schwert ist geziert mit dem Bilde der schrecklichen Sphinx (aspera 87), und seine Blicke gehen immer wieder zuruck zu der 'Schmerzensgestalt'1 der Argia.

Nun folgen, als Mittelstiuck der Katalog-Szene, die drei wilden Krieger Tydeus, Hippomedon, Capaneus. Der Umschlag der Stimmung kommt sofort bei der tberleitung zum Ausdruck, der Ton wird lebhafter, andere Farben werden verwendet (93 ff.):

e cc e inter medios patriae ci e t agmina gentis

lulmineus Tydeus, iam laetus et integer artus, ut primae strepuere tubae.

Tydeus ist wie Polynices bereits bekannt, darum werden sie beide mit weniger Versen (I9 resp. 23) vorgefuhrt als der nun folgende, noch unbekannte Hippomedon. Dieser wird, als im Mittelpunkt des Katalogs stehend (ii6ff.), in einem langeren Passus in der Pracht seiner Waffen eingehend geschildert (I28 -I44)2. Als dritter beschlieBt diese Mittelgruppe Capaneus (i65ff.), der drauende G6tterverachter, dessen gigantisch unheimliche Gestalt hochste

A. IMHOF, Statius' Lied von Theben, Deutsch; Ilmenau und Leipzig i885/89, Vers 4, go (= attonitam Argian); vgl. den lateinischen Text oben S. 221.

2 Die Mittel-Stellung der Figur des Hippomedon ist auch formal betont: wahrend alle anderen sechs Fursten vor der Erwahnung ihrer Gefolgschaft geschildert sind, ist Hippo- medon allein inmitten der Beschreibung seiner Scharen dargestellt (ii 6-I27 die Dorier, 128-I44 Hippomedon, I45-I64 die Krieger von Tiryns und Nemea).

Imitatio und aemulatio in der Thebais des Statius 225

Steigerung des Kriegsbildes ist' und zugleich den AnschluB an den neuen Teil erm6glicht. Durch die Art der Darstellung der beiden letzten Helden bewirkt Statius ein Zuriickfuihren der Stimmung vom Hellen, Kampfesfreudigen (hos agitat pulchraeque docet virtutis amorem / arduus Hippomedon I28 f.) zum dunk- len Ausgangston. Amphiaraus (i87ff.) kennt sein schlimmes Geschick im voraus (ille quidem casus et dira videbat / signa); aber Atropos hat ihn bezwungen (Igo), und von seinem eigenen Weibe verkauft (scit et ipsa - nelas - sed perfida coniunx / dona viro mutare velit I93/I94), fahrt er wissend in den Tod: et grave Tisiphone risit gavisa futuris (2I3). Den BeschluB der Schilderung seiner Scha- ren macht wieder eine grausige Sage: die Erinnerung an die blutigen Wett- rennen, die Oenomaus veranstaltete (242 ff.).

Als letzter wird Parthenopaeus genannt (246ff.), und wie die Beziehung des Amphiaraus auf den Priester Umbro im Katalog des Vergil (Aen. 7, 750 f.) einleuchtend ist, so ist es die des Arkaderjunglings auf die Jungfrau Camilla am Ende des Katalogs der Aeneis (803ff.). Aber gerade durch die Parallele werden die Absichten des Statius bei der Gestaltung seiner Katalog-Szene besonders gut verdeutlicht: Parthenopaeus, der Schonste aller, die zum Atraurigen Kriege#< kamen (triste ad discrimen 25I), wird in der Schilderung nicht von der Menge bestaunt und bewundert, wie Camilla, von der es heiBt: illam omnis tectis agrisque egusa iuventus / turbaque miratur matrum et prospectat euntem / attonitis inhians animis (Aen. 7, 8I2ff.). Statt dessen stuirzt vielmehr seine Mutter in Angst und Entsetzen herbei, macht ihm Vorwiurfe und mochte ihn von seinem Vorhaben zuruickhalten (309 -344) -, und damit ist der Katalog ganz unmerklich, mit technischer Meisterschaft, wieder zuriickgefuihrt in die Szene des Beginns, in die Schilderung des bedriuckten, schmerzvollen Ab- schiednehmens. Die angsterfuillte Stimmung des Anfangs bekommt in der Erscheinung und den Worten der Mutter eines der Haupthelden noch einmal Gestalt und gesteigerten Ausdruck. Die Szene rundet sich ab 2, und im Leser bleibt zurtick das Bild des in gedruckter Stimmung zu unheilvoller Unter- nehmung ausziehenden Heeres, das schmerzlichen Abschied nimmt von den in Trauer Zuriickbleibenden.

In der Absicht, dieses Bild mbglichst wirksam zu gestalten, hat Statius die Anordnung der Personen in seiner Katalog-Szene vorgenommen. Am Anfang und am Ende der Aufzahlung stehen je zwei in dunklen Farben geschilderte Helden. Das Mittelstiick, in dem die drei Krieger beschrieben werden, die freudig zum Kampfe eilen, besitzt zwar als Kontrast seine ktinstlerische Wir-

1 Erwahnenswert, daB es hier einmal Statius gelungen ist, sein Vorbild Vergil zu uiber- bieten: Dante fuihrt als exemplarische Gestalt des Gotterverachters nicht Vergils Mezzen- tius, sondern Capaneus vor Augen (Inferno I4, 43 -72 und 25, I5).

2 Auch formal rundet Statius die Szene ab: wie Adrast den Katalog eroffnet hatte, so erscheint seine Gestalt nochmals am Ende dieser Partie in der letzten Zeile (344): (A talante Parthenopaeum filium) multumque duci commendat A drasto.

Hermes 97,7 15

226 BERNHARD KYTZLER

kung, der angestrebte Gesamteindruck der dtisteren, gedrtickten Stimmung wird jedoch auf diese Weise durch sie am wenigsten beeintrachtigt, sondern eher umgekehrt durch variatio nur vertieft.

** *

Zu den beiden bisher beobachteten Punkten - Gestaltung des Katalogs nicht als niichterne Aufzahlung, sondern als lebendige Szene, und Gestaltung dieser Katalog-Szene als einheitliches Stimmungsbild - tritt noch ein anderes, vielleicht nicht so auffalliges, dennoch nicht weniger wichtiges Moment: die Beziehung des Katalogs auf die Gesamthandlung. Diese kIBt sich in mehrfacher Schichtung aufweisen I.

Sie findet sich zunachst in der eben dargestellten einheitlichen Grundstim- mung der Katalog-Szene. Ein geringerer Dichter hatte vielleicht - wenn tiberhaupt - ein f rohliches Stimmungsbild vom Auszug des siegesgewissen Heeres gegeben und sich dann philosophisch fiber die Blindheit der Menschen und die Eitelkeit ihrer Hoffnungen geauBert. Aber: oc&zTov yap ? -O6v 7r0ouT-V

axe a o esyLv Statius nimmt nicht selbst Stellung, wie es vielleicht Lucan getan haben wiirde; und dennoch sieht der Leser das, was er nach dem Willen des Dichters sehen soll -, und er wuirde es auch sehen, wenn nicht das Wirken von Tisiphone und Bellona der Katalog-Szene vorangegangen ware: er sieht, daB dieser Aufbruch des Heeres einer unguten Sache dient, daB kein gerechter, den G6ttern genehmer Krieg gefiihrt wird mit dem Segen der Himm- lischen, sondern daB hier der Beginn eines unheilvollen Geschehens liegt, das von den unterirdischen Machten gelenkt wird und im Unheil enden soll.

Diese Empfindungen werden dem Leser durch die gedriickte Stimmung nahegebracht, die die ganze Katalog-Szene beherrscht. Hin und wieder, in einzelnen Ztigen, an bedeutsamer Stelle, werden sie auch deutlicher ausge- sprochen: die Orakel beim Opfer fallen unheilverkuindend aus (I3 f.), Tisiphone lacht vor Freude fiber das ktinftige Geschehen (2I3), triste discrimen heiBt das Unternehmen (25I) und peritlura castra (I27). Bedeutsam wird am Ende der Beschreibung der ausziehenden Krieger (305 ff.) vor der SchluBszene mit Atalante auf den Zweck all dieser Riistungen hingewiesen, auf den Brudermord, in dem das Unternehmen, das hier beginnt, sein entsetzliches Ende finden wird: Mycene schickt keine Streiter, denn auch dort regiert ein Frevel gleicher Art:

1 Dieses fiur Statius charakteristische Streben nach Integrierung der einzelnen Elemente seiner Dichtung bestimmt auch die Formung mancher Details: die bei Vergil gegen Ende des Katalogs eingelegte genealogische Sage (Aen. 7, 765-782), eine Digression im Zusam- menhange der Aufzahlung der Streiter, ist bei Statius ersetzt durch die Erzahlung (Theb. 4, I86-2I3) von den Ursachen, die zur Beteiligung des Amphiaraus an dem Zuge gefuhrt hatten; sie geh6rt so dichter in das Gewebe der Katalog-Szene hinein als die vergleichbare Partie bei Vergil.

2 Aristot. Poetik 24. I460a 7.

Imitatio und aemulatio in der Thebais des Statius 227

funereae tunc namque dapes mediique recursus solis, et hic aIii miscebant proelia fra tres.

Mit dieser Anspielung auf Atreus und Thyest wird die Aufzahlung der Krieger beschlossen, mit ihr wird auf unaufdringliche und doch eindeutige Weise das Frevelhafte, Schreckliche des kommenden Bruderkampfes hervor- gehoben. Das Ziel, dem dieser Zug gilt, wird genannt und zugleich verurteilt. Diese Absicht ist besonders darum deutlich, weil Statius hier eine homerische Stelle in seiner Weise abwandelt. Agamemnon erzahlt in der Epipolesis (376ff.), daB die Einwohner von Mykene willig waren, an dem Zug gegen Theben teil- zunehmen, daB sie aber von Zeus durch unheilverkiundende Zeichen davon zuriickgehalten wurden. Es ist nicht zu bezweifeln, daB Statius diese Begruin- dung durch die von ihm gegebene ersetzte, weil er auf diese Weise die Bezie- hung des Katalogs auf die Gesamthandlung des Epos enger gestalten, die Riistung mit ihrem Ziel verbinden und dieses zugleich ethisch bewerten konnte. So erscheint auch in dieser Hinsicht seine Katalog-Szene enger mit dem Ganzen der Dichtung verknuipft, als das bei seinen Vorgangern der Fall war.

Die Beziehung auf das Ganze des Epos findet sich ferner in der Darstellung der einzelnen Helden. Sie sind hier - und das gilt besonders fur die drei an dieser Stelle neu eingefuhrten Gestalten des Hippomedon, Capaneus, Partheno- paeus - so dargestellt, wie sie im Verlauf der Handlung gezeigt werden sollen. Sie werden sogleich mit den fur sie typischen Zuigen vorgefulhrt, so daB sie schon jetzt, noch ehe sie zum Handeln kommen, ihre 'Rolle' uibernehmen, ihre Typik fur den weiteren Verlauf erhalten. Adrast erscheint als der wiirdevolle, von der Last der Sorgen wie der Jahre gleichermaBen gedriickte Herrscher, Tydeus als kampfbegeisterter, grimmig wilder Krieger, froh und von allen Wunden genesen, sobald die Fanfare ruft, Hippomedon als der tulchtige Trup- penfuihrer und tapfere Streiter, Capaneus als ungeheuerlicher, unheimlicher Held, Amphiaraus als unglticksbedrohter, sein Wissen vergeblich besitzender Seher und Parthenopaeus als unbektimmerter, verblendeter Jtingling. GewiB ist die Stimmigkeit der Figuren bei ihrem Erscheinen hier im Katalog wie bei ihrem weiteren Handeln nicht unerwartet; doch ist sie bewuBt angestrebt, wie bestimmte Details zeigen. Zu diesen gehbren die Darstellungen auf den Waffen der Heroen: des Polynices Schwert schmtickt die schreckliche Sphinx (aspera Sphinx 87) 1, Hippomedons Schild zeigt den Frevel der Danaiden (132 -135),

ein Zeichen, daB auch er sich einem frevelhaften Unternehmen angeschlossen hat; an Capaneus sieht man zungelnde Schlangen, die blauliche Lerna, einen Riesen als Helmzier, an die Gigantomachie gemahnend (I69-I76) -, alles seine wild bedrohliche Natur unterstreichend; auf dem Schild des dem Apoll dienenden Sehers Amphiaraus erscheint die besiegte Pythonschlange (222).

1 Bei Aischylos (Sept. 539-544) ist die Sphinx das Schildzeichen des Parthenopaios.

15*

228 BERNHARD KYTZLER

Wichtiger noch ist, daB die Beziehung der Katalog-Szene auf die Gesamt- handlung des Epos sich auch in einem Bereich zeigt, wo man sie nicht sogleich vermuten wuirde: in den Gleichnissen. Von den in die Katalog-Szene eingelegten Gleichnissen sind zwei offenkundig Vergil-'Imitation', d. h. Ubernahme aus der Aeneis, eines sogar aus deren Katalog. Vergil hatte zwei Bruider beschrieben

(7, 674ff.):

Ceu duo nubigenae cum vertice montis ab alto descendunt centauri, Homolen Othrynque nivalem linquentes cursu rapido; dat euntibus ingens silva locum et magno cedunt virgulta fragore.

Von einem seiner Helden schreibt Statius:

non aliter silvas umeris et utroque refringens pectore montano duplex Hylaeus ab antro praecipitat - pavet Ossa - vias, pecudesque leraeque procubuere metu; non ipsis fratribus horror afuit, ingenti donec Peneia saltu stagna subit magnumque obiectus detinet amnem.

Die Beziehung auf das Gleichnis Vergils liegt auf der Hand. Dagegen fragt man sich zunachst, was Statius bewogen haben mag, das Bild um den in den beiden letzten Versen geschilderten Vorgang zu erweitern. Tat er es nur um der Bildhaftigkeit willen? Wenn ja, warum brachte er dann diesen eigenartigen, nicht eigentlich zu erwartenden Vorgang? Die Frage lost sich sofort, wenn man in Betracht zieht, welchem der sieben Ftihrer das Bild (I36ff.) gilt: es ist Hippomedon, der Held der im neunten Gesang geschilderten n frcapoar7o:-&-

CLLoq, der sich (7,424 ff.) als erster der Argiver in die Fluten des angeschwollenen Asopus stiirzt, von dem es im Prooemium hieB: urguet et hostilem propellens caedibus amnem / turbidus Hippomedon (I, 43f.). Die Vorausweisung auf die spatere Rolle des Helden ist es, die in der charakteristischen Abwandlung des vergilischen Bildes zum Ausdruck kommt.

Das Bild von der Schlange, mit dem Tydeus gezeichnet wird, ist ebenfalls von Vergil uibernommen '.

Aen. 2, 47I

qualis ubi in lucem coluber mala gramina pastus, frigida sub terra tumidum quem bruma tegebat, nunc positis novus exuviis nitidusque iuventa

1 Doch war schon von Aischylos (Sept. 38I) Tydeus mit einer Schlange verglichen

worden.

Imitatio und aemulatio in der Thebais des Statius 229

lubrica convolvit sublato pectore terga, arduus ad solem, et linguis micat ore trisulcis.

Th. 4, 95ff. ceu lubricus alta

anguis humo verni blande ad spiramina solis erigitur liber senio et squalentibus annis exutus laetisque minax interviret herbis: a miser ! agrestum si quis per gramen hianti obvius et primo fraudaverit ora veneno.

Wiederum weist das Gleichnis des Statius gegeniuber dem des Vergil an seinem Ende eine charakteristische Abwandlung auf: die Schlange, die bei Vergil nur geschildert wurde, wie sie drohend zuingelt, wird hier bei Statius vorgestellt, wie sie zupackt, ihr Maul verspritzt das Gift wider ihr Gegenuiber es ist nicht zu zweifeln, daB diese Hinzufiigung wiederum nicht um der Aktion oder des Bildes willen vorgenommen worden ist, sondern daB sie als Voraus- verweisung auf das Ende des Tydeus gedacht ist, der vor seinem Tode wie ein wildes Tier den Kopf seines Feindes mit seinen Zahnen zerfleischt und entstellt (Buch 8 Ende) 1.

Auch das am Ende der einleitenden Abschiedsszene stehende Gleichnis vom Abschied derer, die aufs Meer hinausziehen (23 ff.), weist voraus auf die Kampfe, denen die Manner entgegenziehen, die immer wieder unter dem Bilde der sttirmischen, wogenden See, der anrollenden Wellen usw. geschildert werden2

* * *

Kurz zusammengefaBt, hat die Beobachtung des Katalogs der Streiter im vierten Buch der Thebais ergeben, daB es Statius als erstem Dichter gelungen ist, aus dem Katalog das zu machen, was seine Entwicklung in der Tradition des heroischen Epos in wachsendem MaBe anstrebte: eine lebendige, anschau- liche und darum einpragsame Szene. Durch eine einheitliche Grundstimmung ist die Wirksamkeit dieser Katalog-Szene gesteigert und erhbht worden. Be- merkenswert ist, daB die Anordnung der im Katalog vorgefuhrten sieben Fiirsten der Argiver nicht auf auBerlichen Prinzipien beruht, sondern im

1 Es ist wohl auch kein Zufall, daB das angefuhrte Modellgleichnis in der Aeneis dem Pyrrhus gilt, dem grausamsten unter den Eroberern Trojas, der Priamus totet und sein Haupt, vom Korper getrennt, herumliegen lIat (2, 558) -, ebenso wie Tydeus der grau- samste der Belagerer Thebens ist und noch im Sterben das abgeschlagene Haupt seines Gegners Melanippus schandet.

2 Vgl. die Besprechung der diesem Vorstellungskreis angehorigen Gleichnisse Wiener Studien 75, I962, 154-158.

230 BERNHARD KYTZLER

Dienst der angestrebten Grundstimmung steht, daB also nicht rationale, aus dem AuBerlichen des Stoffs sich ergebende Prinzipien, sondern daB die Prin- zipien der Darstellung, der kuinstlerischen Formung die Anordnung bewirken und den Stoff struktuieren. Daruiber hinaus ist der Vorgang jedoch nicht als Szene fur sich berichtet, sondern so gestaltet, daB die Partie durch Voraus- verweisung auf das spatere Geschehen und durch den Bezug auf die Gesamt- handlung des Epos sich organisch in die Darstellung einftigt. SchlieB3lich hat Statius bei ihrer Gestaltung auch den Zweck, dem die geschilderte Ruistung dient, bezeichnet und ethisch bewertet, d. h. verurteilt.

III

Es war die Frage gestellt worden nach dem Wesen der Imitation bei Statius, nach der Art und Weise, in der er seine Vorbilder tibernimmt, verwendet und verwandelt. Zu ihrer Beantwortung wurden hier zwei Partien unterschiedlichen Geprages untersucht und mit ihren Vorbildern verglichen: einerseits ein Topos, der unentbehrlicher Bestandteil eines jeden heroischen Epos war, andererseits die einzige Szene, bei der der Dichter selbst auf die Imitation und das Vorbild hingewiesen hat. In die folgende Zusammenfassung sollen auch die Ergebnisse zweier ahnlich gehaltener Untersuchungen einbezogen werden, die anderen Ortes erschienen1 sind.

Negativ formuliert: es hat sich nie eine Cbernahme oder Nachahmung fest- stellen lassen, die nur um ihrer selbst willen dem Werke eingefuigt worden ware, allein in der Absicht, es um die Nachbildung einer bekannten Szene zu bereichern. Selbst bei kritischer Beobachtung wiirde bei keiner der untersuch- ten Partien, waren die literarischen Vorbilder und Parallelen nicht bekannt, der Verdacht auftauchen, daB hier eine dem Werke fremde, mit dem Thema nicht in Verbindung stehende Einftigung vorliege, die aus auB3eren Griinden vorgenommen wurde.

Um es positiv auszudrticken: der Bittgang der argivischen Frauen und das Unternehmen des Hopleus und Dymas, die Katalog-Szene wie die Wettspiele sind zu integrierenden Bestandteilen des Gesamtwerkes gemacht worden. Nur darum, weil ihre Vorbilder und Parallelen kenntlich sind, wird auch die Imita- tion deutlich. Die Szenen selbst sind so eng mit der Handlung verbunden, so fest in das Fortschreiten der Erzahlung und in den Gesamtaufbau des Epos eingefuigt, daB es berechtigt erscheint, von einem geradezu auffalligen Be- miuhen des Dichters zu sprechen, Vbernahmen von Szenen und Imitationen nicht fur sich stehen zu lassen, sondern sie so eng wie m6glich - und moglichst enger als in der Vorlage - mit dem Ablauf des Geschehens zu verkntipfen.

1 Der Bittgang der argivischen Frauen (Thebais IO, iI9ff.), in: Der Altsprachliche Unterricht, i968. - Die Wettspiele (Thebais Buch 6), in: Traditio 24, I968, I -I5.

Imitatio und aemulatio in der Thebais des Statius 23I

Statius sucht stets ein H6chstmaB an organischer Einfuigung zu erreichen. Je genauer eine tVbernahme ist, einen desto wichtigeren Bestandteil der statiani- schen Darstellung macht sie aus.

Dementsprechend 1aBt Statius alle Ztige fort, die seinen Absichten bei der Einftugung und Gestaltung der Stelle nicht entsprechen: das Geltibde im Gebet der argivischen Frauen; den Wettkampf mit Pfeil und Bogen vor dem Omen in den Spielen; nur die sieben Fulrsten werden im Katalog als Einzelpers6n- lichkeiten geschildert, nur sie stehen im Mittelpunkt der Wettkampfe und bestimmen deren Anzahl usw. Andere Ztige wandelt der Dichter seinen Ab- sichten entsprechend um, sei es, um eine starkere Beziehung auf die Gesamt- handlung zu erzielen (z. B. die Gleichnisse im Katalog), sei es, um sie den An- derungen anzupassen, die er in der kuinstlerischen Gestaltung oder im Ethos der Stelle vornimmt (z. B. die Gleichnisse in der Erzahlung von Hopleus und Dymas).

Diese Anderungen aber sind ein weiteres wichtiges Moment der statianischen Imitation: es erfolgt keine einfache tbernahme des Vorbilds, keine Imitation des Modells im einfachen Sinne. Die einzelnen Partien werden vielmehr neben ihrer formalen Einfugung in den Verlauf der Handlung auch fur sich selbst umge- formt und einheitlich gestaltet. Sie erhalten iiber ihre Vorbilder hinaus - und oft gegen diese, als Korrektur - eine Profilierung in ktinstlerischer Hinsicht, sie werden einer bestimmten psychologischen Absicht unterworfen, im Hinblick auf eine Grundstimmung umgestaltet. Das Ethos der Stelle wird abgewandelt und betont. Diese Bestrebungen aber sind es, die den Partien ihre Formung und Gestalt geben: nicht auBere Momente, nicht rationale Prinzipien bewirken die Gliederung und Gestaltung, sondern kiinstlerische Gesichtspunkte - der Stimmung, der Farbung, der Klarheit und Anschaulichkeit - sind es, die gemeinsam mit der Betonung des Ethos die Strukturierung der Darstellung bewirken. Immer wieder, beim Aufbau der Katalog-Szene wie der Wettspiele, in der Erzahlung von Hopleus und Dymas wie beim Bittgang der Frauen von Argos, lassen sich diese Prinzipien erkennen.

Wir haben somit eine Parallele zum Wesen der vergilischen Imitation, iiber die HEINZE' schrieb: ))Wenn Vergil ein Stuck seiner Geschichte sich im Bilde einer epischen Handlung veranschaulichen will, so ... sucht er in fremder Dichtung nach analogen Szenen und gestaltet diese nach den Anforderungen seiner eigenen Geschichte um. ( Nicht nur nach den Anforderungen seiner ei- genen Geschichte, mulssen wir bei Statius hinzufuigen, sondern vor allem auch nach seinem eigenen ktinstlerischen Gestaltungswillen. Nicht das Material, nicht die Form sind ihm das Wesentliche, sondern die Gestaltung. Der Stoff wird geformt nach den Anforderungen, die die Darstellung an ihn stellt, die Stimmung oder das Ethos der Szene geben ihm seine Strukturierung.

1 a. a. 0. 251.

232 BERNHARD KYTZLER, Imitatio und aemulatio in der Thebais des Statius

Es entsteht die Frage nach dem Sinn solcher Imitation, nach dem Zweck der bei Statius unzweifelhaft in besonders reichlichem MaBe erkennbaren Nachahmungen. Warum muBten sie uiberhaupt eingeftugt werden, warum sind sie an die Stelle 'originalen' Schaffens getreten ?

Die Ansicht der Zeit, in welcher der Dichter selbst lebte, ist uns bekannt. Der 'arbiter elegantiarum' der Epoche hat sie ausgesprochen (Petron. Sat. ii8): *Neque concipere aut edere partum mens potest, nisi ingenti flumine litterarum inundata ... ingens opus quisquis attigerit, nisi plenus litterarum, sub onere labetur. ((

Suchen wir nach einer Beantwortung der Frage in der Moderne, fur unsere Zeit, so erscheint es richtiger, nicht einen Philologen zu horen, von dem GOETHE

erklart hat, daB er *sich auch ein Urteil in Geschmackssachen zutraut, welches ihm freilich nicht immer gelingen wirdl , sondern einen Kulnstler, der unvor- eingenommen urteilt. Mit Bezug auf einen Dichter, dessen Problematik mit der des Statius in gewisser Hinsicht verwandte Zuge aufweist, schreibt GOETHE:

)>Es ist doch wohl sonderbar, daB man die Schriftsteller spaterer Zeit aus Ur- sachen, die von der Sprache und von der Technik hergenommen sind, gegen die friiheren unbedingt zuriucksetzt; da im dritten Jahrhundert so gut ein Genie geboren werden konnte wie im ersten. So wie selbst eine gliuckliche neue Be- nutzung von andern gebrauchter Motive einen Schriftsteller keineswegs herab- setzt, sondern, wenn er es recht macht, ihm zur Ehre gereicht. Wobei noch zu bemerken ist, daB die Schriftsteller spaterer Zeit gegen die einer friuheren in einem gewissen Vorteil stehen, da das Bedeutende des menschlichen Lebens und Treibens schon ofter vorgebracht und durchgearbeitet worden ist, und daher eine bessere Auswahl und eine glticklichere Verbindung einem guten Kopfe moglich wird ((2.

Berlin BERNHARD KYTZLER

1 Maximen und Reflexionen 509 = E. GRUMACH, Goethe und die Antike, Berlin I949, II, 937f. - Vgl. auch E. FRAENKEL, Ki. Schr. II, 307: #Wenn durch die schweren Kriegs- wolken hier plotzlich ein Sonnenstrahl bricht, so wird der athenische Zuhbrer es dem Dich- ter nicht veriibelt haben, daB er um einer solchen Wirkung willen die strenge Symmetrie dieser Redenanfange aufgelockert hat - und dann kommt wenig darauf an, wie der spat- geborene Philologe urteilt. #

2 GRUMACH a. a. 0. I, 316 = Tagebucheintragung zu Longus, Daphnis und Chloe, aus Karlsbad vom 22. Juli I807.