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Psalmen Davids in der Stiftskirche Von Dietholf Zerweck Stuttgart – Einige Stücke, die Hein- rich Schütz zu politischen Anlässen wie dem Besuch des Kaisers Mat- thias oder zur Feier des 100. Jah- restags der Reformation geschaffen hatte, zeugen von repräsentativer Festlichkeit, wie die zweite Verto- nung des Psalms 136 „Danket dem Herren, denn er ist freundlich“ mit fünfstimmigem Bläserchor und Pauke. Hans-Christoph Rademann stellte sie in seiner Auswahl mit dem Dresdner Kammerchor und Barockorchester an den Schluss ei- nes großartigen Konzerts in der Stuttgarter Stiftskirche. Venezianische Mehrchörigkeit und musikalische Deutung deut- scher Bibeltexte sind die beiden Eckpfeiler der „Psalmen Davids“. Beides kam in der differenzierten Darstellung Rademanns eindrück- lich zur Geltung. Mit Orgel, Violone, Dulzian und zwei Theorben als Ge- neralbass am Altar, zudem meist mit einem oder beiden Favoritchören, dazu den vokalen und instrumenta- len „Capelli-Chören“ auf Orgel- und Seitenempore verteilt, erreichte er in ständig wechselnder Besetzung faszinierende Raumwirkungen. Durch die „Wanderpausen“ zwi- schen den 14 ausgewählten Stücken wurde jedes Werk in seiner Identi- tät erfahrbar und konnte in seinem musikalischen Ausdruck für sich nachwirken. Ganz unterschiedlich in ihrer „musikalischen Predigt“ zum Bei- spiel die aufeinanderfolgenden Psalmen „Singet dem Herrn ein neues Lied“ mit dem zweigeteilten Dresdner Kammerchor und Gene- ralbassbegleitung und „Wie lieblich sind deine Wohnungen“ mit zwei Solistenquartetten – sowohl in ihrer Stimmlage als auch durch die Be- gleitung mit Violinen und Gamben einerseits, vier Posaunen anderer- seits. Sodann „Die mit Tränen säen“ mit den Sopran-Tenor-Duos Gerlinde Sämann/Charles Daniels – samt drei Posaunen – und Isabel Jantschek/Tobias Mäthger – samt drei Violen da Gamba. Für die bildhafte Auslegung der Psalmen setzt Schütz die solisti- schen Sänger ein, die den ganzen Text interpretieren, während die Chöre vielstimmig Antwort geben wie beim litaneiartig wiederholten „Denn seine Güte währet ewiglich“ in Psalm 136. Neben den Solisten brachten auch David Erler und Ste- fan Kunath (Altus) sowie Lisandro Abadie und Felix Schwandtke (Bass) die Feinheiten der Schütz- schen Rhetorik hervorragend zum Ausdruck, wie zum Beispiel beim prachtvollen, zusammen mit allen Bläsern und Streichern als „Capell- Chören“ musizierten „Herr, unser Herrscher“. Die instrumentalen Einleitungen zu den Motetten „Die mit Tränen säen“ und „Ist nicht Ephrahim mein teurer Sohn“ waren von leuchtender Expressivität, wie überhaupt die Klangwirkung der ganzen Aufführung in der Stiftskir- che immer wieder beglückte.

Impressionismus – dieser einzigartige Moment · Kultur 26 Dienstag, 17. Mai 2016 Eßlinger Zeitung Impressionismus – dieser einzigartige Moment DieStuttgarterStaatsgaleriezeigtauseigenenBeständendieAusstellung

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Page 1: Impressionismus – dieser einzigartige Moment · Kultur 26 Dienstag, 17. Mai 2016 Eßlinger Zeitung Impressionismus – dieser einzigartige Moment DieStuttgarterStaatsgaleriezeigtauseigenenBeständendieAusstellung

KulturDienstag, 17. Mai 2016 Eßlinger Zeitung26

Impressionismus – dieser einzigartige MomentDie Stuttgarter Staatsgalerie zeigt aus eigenen Beständen die Ausstellung „Augen. Blicke. Impressionen.“

Von Christian Marquart

Stuttgart – lange ist es nicht her,dass die größeren unserer Kunstmu-seen mehr oder minder diskret von-seiten der Kulturpolitik aufgefordertwurden, ihren Ausstellungsbetriebgefälligst etwas kostengünstiger zuorganisieren – nämlich auf der Basiseigener Bestände. und jetzt? Jetzterfahren wir aus berufenem Munde,dass auch das seine Schwierigkeitenhat, selbst oder gerade dann, wenndie bedeutenderen Häuser mit ihrengleichermaßen bedeutenden Samm-lungen in einen regen internationalenleihverkehr der Kunstobjekte ein-gebunden sind, der seine ganz eige-nen rhythmen und Zwänge entwi-ckelt. Denn man kann sich ja als Mu-seumsmensch den ständigen Bittender Kollegen um kostbare leihgabenum so weniger entziehen, je mehrdas eigene Institut auf die Koopera-tionsbereitschaft anderer Häuser an-gewiesen ist. Immer dann nämlich,wenn es um die Vorbereitung ehr-geiziger Ausstellungsprojekte geht,die man „Blockbuster“ nennt. Zwei,drei Blockbuster pro Jahr – na gut,wenigstens einer – gehören einfachzum Markenprofil eines Museums,welches auf sich hält. Was dann aberheißt: Je reger der wechselseitigeAustausch von leihgaben sich voll-zieht, desto mehr Spitzenwerke ausdem eigenen Bestand befinden sichschon im ganz normalen Museums-alltag auf tournee. Der eigene Aus-stellungskalender erweist sich so alswesentlich fremdgesteuert.

Komplett aus eigenen BeständenSo konnte, ja musste Christofer

Conrad, der Kurator jener neuenSchau in der Staatsgalerie Stuttgartmit dem auch diesmal wieder ne-ckisch gewählten titel „Augen. Bli-cke. Impressionen.“, geradezu pa-thetisch auf einen „gnadenvollen,kurzen Moment zwischen den Aus-leihzyklen“ hinweisen, der dieseskomplett aus eigenen Beständen ge-nerierte Projekt zum französischenImpressionismus überhaupt möglichmachte. Immer diese terminprob-leme! Kaum einem international ver-netzten Museum von rang ist esheute noch vergönnt, Atem zuschöpfen und Kräfte zu sammeln –für das ehrenwerte Ziel, eigeneKunst nach Gutdünken in den eige-nen Schauräumen zu versammelnund sie ohne prunkende leihgabenuntereinander ins Gespräch zu brin-gen. Solche raffinesse muss immer-hin sein, gerade dann, wenn es umden Dauerbrenner und Publikums-magneten „Impressionismus“ geht.Das thema ist unglaublich abgedro-schen – aber sind uns diese Bildernicht durch den verbreiteten Ge-schenkartikel „Kunstkalender“längst zur Alltagsdroge geworden?Sie wirken als Suchtmittel umso tü-ckischer, je mehr zeitgenössischeAvantgardekunst mit ihren kantigen,spröden, rauhen Benutzeroberflä-

chen sich der Kunstfreund pflicht-schuldigst auferlegt. Denn auf köst-lich ungenaue, sogar im Wortsinnunscharfe Weise erzeugen die gutproportionierten, nie überdimensio-nierten oder grellen Werke der Im-pressionisten mit ihren gefälligenMotiven und in ihrer scheinbar spon-tan und frisch hingetupften Farbig-keit nichts weniger als gute laune,man könnte auch sagen: entspannteurlaubsstimmung. Für die Netzhaut.Für den Geist.

Aber es reicht nicht, im Muse-umsdepot nach Kunstwerken zukramen, die lange der Öffentlichkeitentzogen waren und nun – aufge-merkt: vielleicht „erstmalig seitJahrzehnten (aber aus konservato-rischen Gründen leider nur fürkurze Zeit)“ – wieder die Schau-räume zieren dürfen. Alle Kunst ausdem Depot dämmert im Schattendes Generalverdachts vor sich hin,sie sei dies- und jenseits konserva-

torischer Vorsichtsmaßnahmen min-der bedeutend. Warum sonst würdesie von den Konservatoren der Öf-fentlichkeit vorenthalten?

Der kuratorische Kniff der Schatz-suche im Depot ist die Kunst, ver-räumte Fundstücke produktiv undunmittelbar einleuchtend mit jenenbedeutenden Klassikern zu verknüp-fen, die problemlos ihre Stammplätzein den Schauräumen des Museumsverteidigen können. So werden dieersteren durch letztere nachhaltigaufgewertet, und letztere erhaltendurch neue Kontexte wieder eine Artvirtueller „Marktfrische“. So funk-tioniert die launische Ökonomie derAufmerksamkeit; und dies um soeher, als Christofer Conrad esschaffte, in seiner Ausstellung denfranzösischen Impressionismus „en-zyklopädisch fast vollständig“ abzu-bilden, inklusive der epochalen Über-gänge zu Vorläufern (prominentesStichwort: John Constable) und

Nachfolgern aus dem weiten Feld des„Postimpressionismus“ (etwa die Na-bis, Symbolisten, Pointillisten odersinguläre Gestalten wie Cézanne, vonGogh, Gauguin und manch andere).Das Publikum darf jedenfalls applau-dieren: Hier glänzt er wieder neu,unser guter alter Impressionismus –die populärste, delikateste „unschär-ferelation“ des Abendlands, geschaf-fen schon Jahrzehnte vor Heisen-bergs wenig anschaulicher, bizarrerquantenphysikalischer Pioniertat!

Christofer Conrad durfte seineImpressionisten-Ausstellung quasidoppelt kuratieren, indem er näm-lich eine Vielzahl lichtempfindlichs-ter Arbeiten auf Papier aus dem De-pot holte, die einen langen Ausstel-lungszyklus kaum schadlos überste-hen würden: Pastelle, Aquarelle,Bleistiftskizzen, Druckgrafik. Dieseillustrieren, was man angesichts derflirrenden, farbtrunkenen Gemäldeübergroßer Großmeister wie Monet,

renoir, Degas oder Pissarro etc. gernvergisst: dass auch die Impressionis-ten nicht ausschließlich unter freiemHimmel drauflos pinselten und dabeiauf Anhieb unsterbliche Meister-werke schufen; sondern dass selbstsie herumprobieren und bei man-chem Motiv oft neu ansetzen – odereben dieses verwerfen mussten.

Zurück ins Dunkel –mit AusnahmenEtwa zur Halbzeit der Ausstellung

werden die empfindlichsten Expo-nate zurück ins Dunkel geschickt undausgetauscht gegen andere: durch-weg „gleichwertige“ Arbeiten undkeine zweite Wahl, wie Conrad be-tont. Es lohnt sich allemal. Nichtetwa weil mit dieser Schau neue,steile Hypothesen formuliert oderbestätigt würden – der französischeImpressionismus ist bis in seine Ver-ästelungen ganz gut „ausgeforscht“–, sondern unter kulinarischen Ge-sichtspunkten. Museumsbesuche sinddurch das Betrachten von Kalender-blättern beim schnellen Vesper in derKüche nicht zu ersetzen. Die spezi-fische Qualität der Ausstellung in derAlten Staatsgalerie ergibt sich ausden zahllosen Spannungsbögen, diedas Auge des Betrachters selbst er-zeugt; nämlich beim Flanieren durchdie einzelnen „Abteilungen“ derAusstellung, deren Gliederung sichan an die „klassischen“ Gattungenlandschafts-, und Porträtmalerei,Akt, Interieur und Stilleben anlehnt.Da hängen dann Hauptwerke derSammlung neben eher unscheinba-ren Arbeiten, „große“ Namen neben„kleinen“, prachtvolle Ölgemälde inprotziger rahmung (noch aus Zeitenstammend, als sie im Besitz reicherPrivatsammler waren) neben genia-len Skizzen in sachlichster rahmung,die oft genau das repräsentieren, wasden Impressionismus kennzeichnet:den (ersten) Impuls, ein Motiv fest-zuhalten.

Kennen Sie den Maler ArmandGuillaumin? Ein Glückspilz, dermal bei einer lotterie einen Haupt-treffer landete und fortan ohneGeldsorgen die Gegend rund umseine Wahlheimat im limousin por-trätieren konnte. Seine Pastell-skizze „Flusslandschaft bei Cro-zant“ aus dem Jahr 1896 hält inder Qualität ihres Formats durch-aus vergleichbaren Arbeiten „grö-ßerer“ Kollegen stand.

Die vollständige Präsentation vonOdilon redons Grafikmappe (1890)zu Baudelaires Gedichtszyklus „leFleurs du Mal“ ist eine Premiere.und sehr lange mussten wir auf De-gas‘ Pastellbild jener Dame warten,die sich gerade in einem Wannenbadstehend abtrocknet: Jetzt sehen wirsie endlich wieder, neu (und teuer)verglast. Diese beiden letzterenWerke bleiben übrigens während derganzen Ausstellung über zu sehen –sie werden nicht ausgetauscht!

Die Ausstellung ist bis zum 13. No-vember in der Staatsgalerie zu sehen.

Nach langen Jahren im Depot erstmals wieder zu sehen: Edgar Degas’ um 1889 entstandene Pastellzeichnung „DasWannenbad, sich abtrocknende Frau“. Foto: Staatsgalerie, Graphische Sammlung

„Im IS steckt jede Menge Westen“Auftakt zur Veranstaltungsreihe „Wie wir leben können: Terror, Texte, Wirklichkeiten“ mit Nicolas Hénin und Sabine Damir-Geilsdorf im Literaturhaus Stuttgart

Von Verena Grosskreutz

Stuttgart – Großer Andrang im li-teraturhaus Stuttgart. Es geht an die-sem Abend um die Propaganda-Stra-tegien des sogenannten IslamischenStaats, der mit Videos von Geisel-Enthauptungen weltweit Angs t undSchrecken verbreitet, andererseitsüber die sozialen Netzwerke Bilderverbreitet, auf denen sich Dschi-hadisten als coole Kerle zeigen: mitjungen Kätzchen, die sich auf denGewehrläufen räkeln. „Propaganda:Sprache, text und Poesie“ war dasthema der Auftaktveranstaltung ei-ner reihe zu terroristischer und krie-gerischer Gewalt. Zu Gast auf demPodium: Nicolas Hénin, französi-scher Nahostjournalist, der im Juni2013 für zehn Monate Geisel des ISund dann von Frankreich freigekauftwurde, und Sabine Damir-Geilsdorf,Kölner Professorin für Islamwissen-schaft, die sich mit der der Bedeutungvon Frauen in der IS-Propaganda-Maschinerie beschäftigt.

Moderator Jörg Armbruster, bis2012 ArD-Nahost-Korrespondent,befragte Hénin nach seinen Erleb-nissen im IS-Geisel-lager in Syrien.Die Zeit habe ihn stark gemacht, sagtHénin. Wie man aus solchem HorrorStärke gewinnen könne? Die Gräuel,die er erlebt habe, erklärt der Fran-zose, seien „verhältnismäßig nichts“im Vergleich zu jenen der Syrer in

den Nebenzellen, die vom Abend-bis zum Morgengebet gefoltert wor-den seien. Für ihn sei der tagesablaufweniger von Angst als von lange-weile geprägt gewesen. „Man schläft,man schlägt die Zeit tot, man hat ein-fach nichts zu tun.“ Seine Bewacherkamen aus verschiedenen westlichenländern. Alle typen seien dort ver-treten, vom draufgängerischen Cow-boy bis zum ganz Schüchternen.

Unterschätzte Frauen beim ISWarum er in seinem aktuellen

Buch „Der IS und die Fehler desWestens“ nichts über seine Geisel-haft berichtet habe, wird Nicolas Hé-nin (Foto) gefragt. Zum einen wolleer nicht die Erwartungen des IS er-füllen, über den Schrecken zu be-richten und damit die Propagandafortzuführen, so Hénin. Außerdemwolle er keine Opferhaltung einneh-men. Mit Blick auf das Pariser At-tentat im vergangenen Novembermit 130 toten meinte der französi-sche Journalist: Das sei furchtbar ge-wesen, doch wir sollten nicht beses-sen sein vom eigenen leid. „Dasfinde ich kontraproduktiv. In Syriensterben jeden tag 130 Menschen“.Die Bevölkerung dort bettle um einMinimum an Sicherheit, und selbstdas verweigere man ihr.

In der Propaganda-Maschineriedes IS spielen Frauen eine besondere,

eine wichtige rolle. Sabine Damir-Geilsdorf untersuchte Blogs, Face-book-Seiten, twitter-Accounts jun-ger Dschihadistinnen. Sie hat derenGedichte und verklärenden Erfah-rungsberichte gesammelt und ausge-wertet. Die meisten stammen vonausgereisten Europäerinnen. In denBlogs herrsche ein subkultereller Jar-gon, der gespicktsei mit arabischenPhrasen undSchlüsselworten.Was treibe Frauenin die Arme desIS? „Gehirnwä-sche oder Sprungin der Schüssel?“,fragt Armbruster.Es sei die Auffas-sung, sich heldischfür Gott zu op-fern, alles als Prü-fung anzusehen,das Diesseits nurals unwichtige Zwischenstation aufdem Weg ins Jenseits zu verstehen,meint Damir-Geilsdorf.

Die Syrerin Ahlam al-Nasr ist soetwas wie eine IS-Hofpoetin. In ei-nem Gedicht verklärt sie den Opfer-tod : „Nein! Sagt nicht: Wir brauchenkeinen Dschihad (...). Der Dschihadist unser leben und unser Heil.“ Sy-rien diene Männern wie Frauen alsKulisse für ihre „Hidschra“, die Aus-wanderung nach dem Vorbild Mo-

hammeds, der 622 von Mekka nachMedina zog, so Damir-Geilsdorf.Selbst bei Zwangsverheiratungen mitDschihadisten hätten die Frauen dasGefühl, wirkmächtige Akteurinnenbeim geschichtsträchtigen Aufbaueines Staates sein, wie er zur Zeit desPropheten Mohamed gewesen sei.Andere freilich trieben schlichtAbenteuerlust oder Heldenvereh-rung nach Syrien, romantische Phan-tasmen vom sexuell attraktiven, wil-den Kerl. Auch gebe es das Phäno-men der Popkultur: Dschihadismuswürde als cool empfunden, dieneaber auch oft der rebellion gegendie schockierten Eltern.

Hénin berichtet von einem Ge-spräch mit dem späteren BrüsselerAttentäter Najim laachraoui, dergeäußert habe, Marine le Pen habevöllig recht mit ihrer Parole „Frank-reich den Franzosen!“. „Die brau-chen einander“, folgert Hénin, „dersogenannte IS und die sogenannteIslamophobie“. Daraus entstehe dieBereitschaft zu Attentaten.

Hénin vergleicht die rolle derFrauen im IS mit den tupperwaren-Vertriebstechniken, bei der eineFrau als Verkäuferin anfängt unddann neue Verkäuferinnen an-werbe. Die weiblichen Dschihadis-ten würden im Westen grenzenlosunterschätzt, da man Frauen prin-zipiell in der Opferrolle des IS sehe.Wenn eine Dschihadistin in

Deutschland einreise, werde sie sogut wie nicht gefilzt. Werde sie auf-fällig, drohten ihr lediglich ein paarWochen Hausarrest, während Män-ner im gleichen Fall jahrelang hin-ter Gitter kämen.

Ausdruck einer Krise des IslamÜberhaupt lasse sich das Phäno-

men des IS-terrorismus nicht auf einpaar typen reduzieren, die Bombenlegen, gibt Hénin zu bedenken. Erbestehe zu 95 Prozent aus Propa-ganda und höchstens zu fünf Prozentaus militärischer Gewalt. Das zeigesich schon bei den Videos mit Ent-hauptungen von Geiseln, die vor al-lem eines belegten: den sadistischenErfindungsreichtum der terroristen,die ihre Geiseln auch auf unspekta-kulärere Weise töten k önnten.

„Wieviel Westen steckt im IS?“,fragt Armbruster. „Jede Menge“,sagt Hénin, er sei ein Multikulti-Ge-bilde, ein Auffangbecken. Wer beiuns „zum Abfall der Gesellschaft“geworden sei, könne dort mit An-erkennung rechnen. Im gegenwärti-gen Dschihadismus sieht Hénin vorallem den Ausdruck einer Krise desIslam. Wer bei diesem asymmetri-schen Krieg etwas gewinnen wolle,werde dies nicht auf dem Schlacht-welt erreichen. Nur der sei am Endeerfolgreich, dem es gelingt, die Be-völkerung des Gegners zu gewinnen.

Foto: H. Wittmann

Psalmen Davidsin der Stiftskirche

Von Dietholf Zerweck

Stuttgart – Einige Stücke, die Hein-rich Schütz zu politischen Anlässenwie dem Besuch des Kaisers Mat-thias oder zur Feier des 100. Jah-restags der reformation geschaffenhatte, zeugen von repräsentativerFestlichkeit, wie die zweite Verto-nung des Psalms 136 „Danket demHerren, denn er ist freundlich“ mitfünfstimmigem Bläserchor undPauke. Hans-Christoph rademannstellte sie in seiner Auswahl mitdem Dresdner Kammerchor undBarockorchester an den Schluss ei-nes großartigen Konzerts in derStuttgarter Stiftskirche.

Venezianische Mehrchörigkeitund musikalische Deutung deut-scher Bibeltexte sind die beidenEckpfeiler der „Psalmen Davids“.Beides kam in der differenziertenDarstellung rademanns eindrück-lich zur Geltung. Mit Orgel, Violone,Dulzian und zwei theorben als Ge-neralbass am Altar, zudem meist miteinem oder beiden Favoritchören,dazu den vokalen und instrumenta-len „Capelli-Chören“ auf Orgel-und Seitenempore verteilt, erreichteer in ständig wechselnder Besetzungfaszinierende raumwirkungen.Durch die „Wanderpausen“ zwi-schen den 14 ausgewählten Stückenwurde jedes Werk in seiner Identi-tät erfahrbar und konnte in seinemmusikalischen Ausdruck für sichnachwirken.

Ganz unterschiedlich in ihrer„musikalischen Predigt“ zum Bei-spiel die aufeinanderfolgendenPsalmen „Singet dem Herrn einneues lied“ mit dem zweigeteiltenDresdner Kammerchor und Gene-ralbassbegleitung und „Wie lieblichsind deine Wohnungen“ mit zweiSolistenquartetten – sowohl in ihrerStimmlage als auch durch die Be-gleitung mit Violinen und Gambeneinerseits, vier Posaunen anderer-seits. Sodann „Die mit tränensäen“ mit den Sopran-tenor-DuosGerlinde Sämann/Charles Daniels– samt drei Posaunen – und IsabelJantschek/tobias Mäthger – samtdrei Violen da Gamba.

Für die bildhafte Auslegung derPsalmen setzt Schütz die solisti-schen Sänger ein, die den ganzentext interpretieren, während dieChöre vielstimmig Antwort gebenwie beim litaneiartig wiederholten„Denn seine Güte währet ewiglich“in Psalm 136. Neben den Solistenbrachten auch David Erler und Ste-fan Kunath (Altus) sowie lisandroAbadie und Felix Schwandtke(Bass) die Feinheiten der Schütz-schen rhetorik hervorragend zumAusdruck, wie zum Beispiel beimprachtvollen, zusammen mit allenBläsern und Streichern als „Capell-Chören“ musizierten „Herr, unserHerrscher“. Die instrumentalenEinleitungen zu den Motetten „Diemit tränen säen“ und „Ist nichtEphrahim mein teurer Sohn“ warenvon leuchtender Expressivität, wieüberhaupt die Klangwirkung derganzen Aufführung in der Stiftskir-che immer wieder beglückte.

Ades „Toni Erdmann“begeistert in Cannes

Cannes (dpa) – Die deutsche regis-seurin Maren Ade ist für ihren Film„toni Erdmann“ am Wochenendebeim Festival Cannes gefeiert wor-den. Bei der Premiere gab es minu-tenlangen Applaus. Die tragiko-mödie gilt nun als einer der großenFavoriten für die Preisvergabe amkommenden Sonntag. Ade (39) ge-lingt es, den Spannungsbogen übermehr als zweieinhalb Stunden zuhalten und findet dabei stets dierichtige Mischung zwischen trau-rigkeit und Humor. Auch ihreHauptdarsteller sind stark: dieDeutsche Sandra Hüller als Inesund der Österreicher Peter Simo-nischek als Vater.

Mit Spannung war ebenfalls dasrassismusdrama „loving“ von JeffNichols erwartet worden: Der be-rührende Wettbewerbsbeitrag er-zählt von dem Weißen richard undder Schwarzen Mildred, die imAmerika der 1950er-Jahre verhei-ratet sind und dafür verurteilt wer-den. Nichols fokussiert dabei abernicht auf den Kampf mit der Justiz,sondern auf die Beziehung der bei-den, die nach knapp zehn Jahrenvor den Obersten Gerichtshof deruSA ziehen.

Im Wettbewerb lief auch JimJarmuschs „Paterson“. Im Mittel-punkt des ruhigen Werks steht einBusfahrer und Poet (Adam Driver),der eine Woche lang durch sein le-ben und die Stadt in New Jerseytreibt.

hollie
Notiz
Für den erkrankten Felix Schwandtke sang an diesem Abend Ekkehard Abele.