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Ruth Gurny, Beat Ringger Die grosse Reform Die Schaffung einer Allgemeinen Erwerbsversicherung AEV edition 8 InhaltAEV 20.4.2009 9:41 Uhr Seite 1

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Ruth Gurny, Beat RinggerDie grosse ReformDie Schaffung einer AllgemeinenErwerbsversicherung AEVedition 8

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Ruth Gurny, Beat Ringger

Die grosse Reform

Die Schaffung einerAllgemeinenErwerbsversicherung AEV

Herausgeber: Denknetz Schweiz

En français: Préface, résuméet description du modèle

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Besuchen Sie uns im Internet. Informationen zu unserem Verlag, unserenBüchern und AutorInnen sowie Rezensionen und Veranstaltungshinweisefinden Sie unter www.edition8.ch.

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internetabrufbar über http://dnb.ddb.de

Mai 2009, 1. Auflage – © bei edition 8 und Denknetz, alle Rechte vorbehal-ten – Lektorat, Korrektorat: Jeannine Horni; Typografie, Umschlag: HeinzScheidegger; Übersetzungen: Patrick Vogt, Pierre Voit, Druck und Bindung:Aalexx, GrossburgwedelVerlagsadresse: edition 8, Postfach 3522, 8021 Zürich, Tel. 044 271 80 22,Fax 044 273 03 02, [email protected] www.edition8.chAdresse Denknetz: Postfach, CH-8036 Zürich, www.denknetz-online.ch

ISBN 978-3-85990-140-7

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort 7Rosmarie Dormann, Therese Frösch, Carlo Knöpfel, Ueli Mäder, Andreas Rieger, Stéphane Rossini, Silvia Schenker

Avant-propos 11

Einleitung 15Grosse Reform – zum Nulltarif?Ruth Gurny, Beat Ringger

Die Allgemeine Erwerbsversicherung: Das Modell 17Urs Chiara, Silvia Domeniconi, Ruth Gurny, Beat Ringger, Avji Sirmoglu

Assurance générale du revenu (AGR) 35

Denknetz lanciert Reformdebatte 55Stellungnahme der Denknetz-Gremien

Réseau de réflexion lance un débat de réforme 60

Krankentaggelder: AEV schliesst Armutsfalle 65Beat Ringger

Familien-Ergänzungsleistungen: effizient gegen Familienarmut 74Ruth Gurny

Nutzen, Kosten und Finanzierung der AEV 78Beat Ringger

Die AEV aus Gendersicht 104Ruth Gurny

Zumutbare Arbeit in der AEV 112Beat Ringger

FAQ: Häufig gestellte Fragen 119Ruth Gurny

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Gute Arbeit für alle? Die AEV im gesellschaftspolitischen Kontext 127Denknetz

AnhangDas AEV-Modell kurz und bündig 134

L’AGR: Le modèle en aperçu 139

Literaturhinweise und interessante Links 144

Denknetz Schweiz – ein Kurzporträt 151

Die Autorinnen und Autoren 152

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Vorwort

Mit dem Vorschlag, eine Allgemeine ErwerbsversicherungAEV zu etablieren, ist die Diskussion über eine umfassendereSozialreform in der Schweiz lanciert. Gemeint ist hier ›Sozial-reform‹ im ursprünglichen und guten Sinne des Wortes: Welchesozialen Leistungen müssen einer Reform unterzogen werden,um die sozialen Probleme der Gesellschaft zu lösen und die Le-benssituation der Betroffenen zu verbessern? Welche Lösunggliedert sich sinnvoll in die gesamte gesellschaftliche Entwick-lung ein? Das ist ein anderes Verständnis der Reform, als es in den letzten, neoliberal geprägten Jahren vorgeherrscht hat.Neoliberale Kreise meinten damit meist einen Abbau der so-zialen Netze, die »wir uns nicht mehr leisten können«. Damitmissachteten sie den ursprünglich positiven Gehalt des Re-formbegriffes. Der hier publizierte Vorschlag einer Allgemei-nen Erwerbsversicherung will demgegenüber mit einem um-fassenden Paket auf die neuen und zunehmenden Risiken derArbeitenden eine Antwort geben.

Die Erwerbswelt hat sich in den letzten Jahrzehnten starkverändert – die Sozialversicherungen, die die Risiken des Er-werbs absichern, hinken den grossen Entwicklungen hinterher:Feminisierung des Erwerbs und Zunahme der Teilzeitarbeit;Diskontinuität der Erwerbsbiografien mit häufigen Brüchenund Wechseln; Flexibilisierung der Arbeitszeiten und Arbeits-pensen; schliesslich die verschiedenen Formen der grassieren-den Prekarisierung der Erwerbsarbeit, zum Beispiel die Schein-Selbstständigkeit. Alle diese Entwicklungen stellen neue An-forderungen an die soziale Sicherheit. Deren Systeme warenursprünglich auf die relativ kontinuierlichen Arbeitsbiografienvon Vollzeitangestellten und von standardisierten Arbeitszeitenausgerichtet. Heute sind die Risiken für Erwerbstätige weitvielfältiger geworden. Die Wahrscheinlichkeit, davon betroffenzu werden, hat sich seit dem Ende der 30-jährigen Hochkon-junktur der Nachkriegszeit massiv erhöht. Über ein Drittel der

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heutigen Erwerbstätigen sind im Laufe ihrer Biografie voneinem unfreiwilligen Erwerbsausfall betroffen, über die Hälfteerlebt den Ausfall in der Familie mit. Dieser Entwicklung sinddie sozialen Netze nicht gefolgt. Sichtbares Resultat sind dieperiodisch anschnellenden Zahlen der Ausgesteuerten, diemassive Zunahme der InvaliditätsrentnerInnen und schliesslichdie ungebremst wachsende Zahl von SozialhilfebezügerInnen.

Gleichzeitig erweist sich das Fehlen einer obligatorischenKrankentaggeldversicherung – die Schweiz gehört hier zu denSchlusslichtern Europas – als immer problematischer. Denn je›flexibler‹ eine Arbeitskraft wird, je mehr sie dem herrschen-den Imperativ gehorcht, desto geringer werden ihre Rechtsan-sprüche im Falle einer längeren Krankheit.

Die reale Entwicklung der Arbeits- und Erwerbsverhältnisseund die Ausgestaltung unseres aufgesplittert gewachsenen So-zialversicherungssystems klaffen weit auseinander. Hier gibtder Vorschlag einer Allgemeinen Erwerbsversicherung AEVeine kohärente Antwort. Der Reformvorschlag umfasst fol-gende Kernelemente und Vorteile:

• Mit der AEV wird eine einheitliche Versicherung für dieganze Erwerbszeit geschaffen. Das verhindert das Abschie-ben eines ›Falles‹ von einem Sicherungssystem ins andereund bringt mehr Effizienz.

• Die AEV schliesst wichtige Lücken (Krankentaggeld, Ergän-zungsleistungen für Familien mit geringem Einkommen, Einbezug der selbstständig Erwerbenden) und verbessert ins-besondere die Lage von Frauen mit unterbrochenen Erwerbs-biografien und von (Schein-)Selbstständigen.

• Die Beschränkung der Taggelder bei Arbeitslosigkeit wirdaufgehoben. Das mildert die Angst vor Armut und dieFurcht, an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden.

• Die Sozialhilfe wird in die AEV integriert und damit auf eineschweizweit einheitliche Basis gestellt. Gleichzeitig wird siewieder auf ihre angestammte Aufgabe zurückgeführt, näm-lich Menschen in besonderen Notsituationen zu unterstüt-zen.

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• Last but not least schafft eine einheitliche Erwerbsversiche-rung die Voraussetzung für wirksame Präventions- und Inte-grationsleistungen, wie sie bisher eigentlich nur die SUVAbietet.

Die gigantische Krise der Finanzwirtschaft und die daraus folgende Krise der Realwirtschaft fordern zu grundlegendenÜberlegungen und Reformen heraus. Eine umfassende Sozial-reform hat deshalb gerade in den letzten Monaten an Dring-lichkeit gewonnen. Wie lautet die Standardbegründung neo-liberaler ›Reformer‹, wenn es um Abbauvorschläge geht, etwaum die Reduktion der Taggelder und der Leistungsdauer in derArbeitslosenversicherung, um die Kürzung von IV-Renten undso weiter? Stets wird der Imperativ der Selbstverantwortungangeführt. Jeder Einzelne habe als ›Ich-AG‹, als Manager sei-ner Arbeitskraft seine ›Employability‹ zu steigern und verblei-bende Restrisiken allenfalls privat zu versichern, statt auf dieHängematte des Sozialstaates zu hoffen. Die Massenentlassun-gen, von denen heute auch ›topfitte‹ Belegschaften betroffensind, machen jedoch deutlich, dass die Erwerbsrisiken in unse-rem System eben weitgehend fremdbestimmt und unberechen-bar sind. Eigenverantwortung ist überall da gut, wo aucheigene Gestaltungsmöglichkeiten bestehen. Stimmen Verant-wortung und Handlungsmacht nicht überein, dann wird unterdem wohlklingenden Deckmänntelchen der Eigenverantwor-tung die Überwälzung der Systemrisiken auf den Einzelnenkaschiert. Der Widerspruch droht immense Ausmasse anzu-nehmen: Die Grossverluste etwa einer UBS werden auf die All-gemeinheit überwälzt, die Folgen einer Wirtschaftskrise jedochindividualisiert. Vor diesem Hintergrund gewinnt der Vor-schlag einer umfassenden solidarischen Versicherung gegenErwerbsausfall an Brisanz und Bedeutung.

Das Modell einer AEV wird in den Grundzügen vom Vor-stand und der Kerngruppe des Denknetzes mitgetragen. Für diedetaillierten Ausführungen stehen die jeweiligen AutorInnender verschiedenen Beiträge mit ihrem Namen. Die Unterzeich-nenden dieses Vorwortes begrüssen die Stossrichtung diesesVorschlags einer wirklichen Sozialreform und wünschen sich,

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dass er von Politik und Gesellschaft aufgegriffen wird. Die Vorschläge geben hoffentlich zu vielen Diskussionen Anlass,Diskussionen, in denen einiges neu überdacht, verändert undverbessert wird. Denn wir brauchen einen echten reformeri-schen Elan, um aus den Klemmen herauszufinden, in die unsdie neoliberale Reformblockade der letzten Jahre geführt hat.

Rosmarie DormannTherese FröschCarlo Knöpfel

Ueli MäderAndreas Rieger

Stéphane RossiniSilvia Schenker

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Avant-propos

Avec la proposition d’une assurance générale du revenu, la dis-cussion d’une réforme sociale globale en Suisse est lancée. Par›réforme sociale‹, on entend ici le sens propre et original duterme: quelle réforme des assurances sociales doit être abordéeafin d’apporter une réponse aux problèmes sociaux, qui per-mette d’améliorer la situation des personnes concernées ets’intègre judicieusement dans l’évolution de la société? Nousnous distinguons en cela du terme de ›réforme‹ tel qu’il a ététrop souvent utilisé ces dernières années pour justifier des me-sures de démantèlement social. En effet, les cercles néolibérauxse sont appropriés l’idée de réforme en l’associant à des pro-positions de démantèlement des différentes assurances sociales,considérées comme des »acquis que nous ne pouvons plus nouspermettre«. Ce faisant, ils ont détourné la teneur originale etpositive du terme ›réforme‹. La proposition d’une assurancegénérale présentée dans ce livre entend donner une nouvelle ré-ponse – au moyen d’un concept global – aux nouveaux risquesqui se multiplient pour les travailleurs et travailleuses.

Le monde du travail s’est profondément transformé cesdernières décennies; parallèlement, les assurances sociales,couvrant les risques de perte d’emploi sont de plus en plusdéphasées avec les grandes évolutions du monde du travail: fé-minisation de l’emploi et croissance du travail à temps partiel;discontinuités dans la vie active (›biographie professionnelle‹)avec de nombreux changements et interruptions; flexibilisationde la durée et du taux d’activité; et finalement, les formes pré-caires du travail rémunéré qui sévissent, par exemple sous laforme d’une activité ›pseudo-indépendante‹. Toutes ces évolu-tions posent de nouveaux défis à la sécurité sociale. Les assu-rances sociales étaient – à l’origine – basées sur une vie activerelativement continue d’employé-e-s à plein temps combinéeavec des durées de travail standardisées. Aujourd’hui, les ris-ques auxquels doivent faire face les personnes actives se sont

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nettement diversifiés. La probabilité d’être touché par de telsrisques a augmenté massivement depuis la fin des ›trente glo-rieuses‹ de la période de croissance d’après-guerre. Plus d’untiers des personnes actives actuellement ont été frappées durantleur vie par un chômage involontaire et plus de la moitié le viten famille. Les assurances sociales n’ont pas suivi cette évolu-tion. Cela est clairement montré par le nombre en augmenta-tion constante des personnes en fin de droit, l’augmentationmassive des rentières et rentiers AI et finalement par l’effectifdes bénéficiaires de l’aide sociale qui croît sans discontinuer.

Dans le même temps, le manque d’une assurance d’indem-nité journalière en cas de maladie – la Suisse se trouve en queuede liste en Europe – devient de plus en plus problématique. Car,plus un travailleur ou une travailleuse devient ›flexible‹ et seplie aux exigences des entreprises, moins il/elle peut faire va-loir ses droits dans le cas d’une maladie prolongée.

La proposition d’une assurance générale du revenu offre uneréponse cohérente et globale à ce décalage croissant entre,d’une part, l’évolution réelle de la situation du travail rémunéréet, d’autre part, de la structure de notre système d’assurancessociales de plus en plus morcelé. Voici les éléments essentielsde la proposition de réforme: la création d’une assurance uni-que pour toute la vie active permet d’éviter le déplacement d’unsystème de couverture vers un autre et apporte davantage deflexibilité. En comblant d’importantes lacunes (indemnité jour-nalière en cas de maladie, soutien aux familles de revenu mo-deste grâce à des prestations complémentaires, meilleure priseen compte des indépendant-e-s), on améliore en particulier lasituation des femmes qui présentent des vies actives ponctuéesd’interruptions de même que les ›(pseudo)-indépendant-e-s‹. Lasuppression de la réduction des indemnités journalières en casde chômage diminue la crainte de la pauvreté et les risques demarginalisation sociale. L’aide sociale est intégrée dans cettenouvelle forme de couverture et repose sur une base uniformepour l’ensemble du pays. En même temps, elle retrouve de nou-veau sa tâche originale consistant à soutenir les êtres humainsqui se trouvent dans une situation de détresse particulièrement

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grave. Et last but not least, une assurance unique du revenuoffre les conditions nécessaires à des prestations de préventionet d’intégration qui soient efficaces, à l’instar de ce que seulela SUVA a véritablement fait jusqu’à présent.

La gigantesque crise financière et de l’économie réelle qui enest résulté exigent des réflexions fondamentales ainsi que desréformes en conséquence. C’est précisément dans ce contextequ’une réforme sociale globale s’impose de toute urgence.Quelle était donc la justification habituelle des ›réformateurs‹néolibéraux quand il était question de proposer des mesuresd’austérité telles que la réduction des indemnités journalièreset de la durée de prestations dans l’assurance-chômage, ou labaisse des rentes dans l’assurance-invalidité, etc.? Cette justi-fication consiste en un impératif de responsabilité individuelle:chaque personne est tenue – en qualité de ›SA individuelle‹, degestionnaire de sa capacité de travail – d’accroître son ›employ-abilité‹ et, le cas échéant, de couvrir à titre privé les risques re-stants au lieu d’espérer pouvoir compter sur le soutien de l’Etatsocial. Or, les licenciements en masse, qui frappent aujourd’huiaussi des effectifs ›au sommet de leur forme‹ montrent claire-ment que, dans notre système, les risques liés au travail rému-néré proviennent en majeure partie de facteurs indépendants denotre volonté individuelle et que partant, ils sont incalculables.La responsabilité individuelle est bonne lorsqu’il existe de réel-les possibilités d’agir de manière indépendante. Mais, si res-ponsabilité et pouvoir d’action ne concordent pas, alors la ré-percussion des risques systémiques sur l’individu est masquéesous le couvert d’un terme qui résonne bien, la ›responsabilitéindividuelle‹. Cette contradiction risque de prendre une am-pleur démesurée: les immenses pertes d’une UBS, par exemple,se répercutent sur la collectivité, mais les conséquences d’unecrise économique sont toutefois individualisées. C’est dans cecontexte que la proposition d’une assurance globale et solidairecontre la perte de revenu gagne en signification.

Le modèle de cette couverture d’assurance est soutenu dansses principes par le comité et le groupe central du Réseau deréflexion. Pour ce qui est des explications, les auteur-e-s des di-

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vers articles sont mentionnés par leur nom. Les signataires duprésent avant-propos saluent l’orientation de la proposition,qui consiste en une véritable réforme sociale, et ils/ellesespèrent interpeller ainsi la politique et la société. Espéronségalement que les suggestions donnent matière à maintes dis-cussions, au cours desquelles de nombreux éléments peuventêtre repensés, modifiés ou améliorés. Car, nous avons urgem-ment besoin d’un élan réformateur pour pouvoir échapper auxconséquences néfastes des contre-réformes néolibérales de cesdernières années.

Rosmarie DormannTherese FröschCarlo Knöpfel

Ueli MäderAndreas RiegerSilvia Schenker

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Einleitung: Grosse Reform zum Nulltarif?

Die sozialen Sicherungssysteme der Schweiz gleichen einemziemlich wirren Netz, an dem seit Jahrzehnten ohne Gesamt-schau geknüpft wird. Es weist erhebliche Lücken auf. Unteranderem fehlt die obligatorische Abdeckung im Krankheitsfallund die Absicherung gegen das Armutsrisiko bei Pflichten inder Kinderbetreuung. Bislang wurde die Schliessung dieserLücken nicht mit der gebotenen Ernsthaftigkeit angegangen,obwohl die offenkundigen Mängel in breiten Kreisen aner-kannt werden. Die Veränderungen in der Arbeitswelt – etwadie Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse – verstärken nunaber die Systemmängel, die bis vor Kurzem eher noch wenigRelevanz hatten, zusätzlich. Seit einigen Jahren werden zudemdie Sozialwerke aus politischem Kalkül gegeneinander in Stel-lung gebracht. Deshalb ist jetzt der richtige Zeitpunkt gekom-men, um das Netz beim Erwerbsersatz und der Existenzsiche-rung aus einer ganzheitlichen Sicht neu zu knüpfen.

Was wir anstreben, ist eine umfassende grosse Reform. Dasneue Netz der Allgemeinen Erwerbsversicherung AEV würdewesentlich einheitlicher werden, und damit auch weitaus ein-facher zu nutzen und zu steuern. Gleichzeitig haben wir bei derAusarbeitung des Modells darauf geachtet, so genannte Pfad-abhängigkeiten zu respektieren. Wir orientieren uns an den bis-herigen Sozialversicherungen und verändern immer nur soviel,wie wir für das Erreichen der Reformziele als unerlässlicherachten. Dabei entwickeln wir Detailbestimmungen in einemMass, wie es uns notwendig erscheint, um eine glaubhafte undkohärente Vorstellung unseres Reformvorhabens zu vermit-teln. Und wir gehen das Wagnis ein, allenfalls im Einzelnenauch falsch zu liegen. Für Hinweise und Anregungen sind wirdeshalb dankbar.

Unser Modell einer Allgemeinen Erwerbsversicherung siehteinige wesentliche Verbesserungen vor. Trotzdem lassen unsereBerechnungen darauf schliessen, dass seine Einführung keine

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grossen finanziellen Mehrbelastungen zur Folge hätte. DieStaatsausgaben würden zwar um geschätzte 830 MillionenFranken ansteigen, die Lohnprozente der Arbeitnehmer hinge-gen leicht sinken. Und mit der von uns vorgeschlagenen Aus-dehnung der Beitragspflicht auf alle Lohnbestandteile kämenzusätzlich mindestens 900 Millionen Franken zusammen, mitdenen die Finanzierungslücken der heutigen Systeme – insbe-sondere der IV – verkleinert werden könnten.

Dieser Befund ist nur scheinbar überraschend. Denn erstenswird dank der Stärkung der Versicherungsleistungen die Sozi-alhilfe erheblich entlastet, zweitens führt die AEV zu deutlichenEffizienzgewinnen, und drittens resultieren Mehreinnahmen.

Eine grosse Reform zum Nulltarif also? Ja – und Nein. DieAEV entspricht einem Paradigmawechsel, der in der Politik ersteinmal durchgesetzt werden muss. Es ist Zeit, aus den Klem-men herauszufinden, in die die Sozialwerke durch den Dauer-beschuss von Rechts geraten sind. Sozialwerke sind sozial-staatliche Einrichtungen für und nicht gegen die Bewohnerund Bewohnerinnen dieses Landes: Für alle, die heute betrof-fen sind und es morgen sein könnten; für die Gleichwertigkeitund Würde der Individuen, für den sozialen Zusammenhalt ineiner demokratischen Gesellschaft.

Unser besonderer Dank richtet sich an Urs Chiara, SilviaDomeniconi und Avji Sirmoglu, die an der Erarbeitung desAEV-Modells wesentlich beteiligt waren. Wir danken den Mit-gliedern der Denknetz-Gremien, die sich an mehreren Sitzun-gen mit dem Reformprojekt auseinandergesetzt und eine Viel-zahl von Anregungen und Änderungen eingebracht haben.Ebenso Dank gebührt Heidi Stutz vom Büro BASS, die uns mitBerechnungen und Plausiblitätsüberlegungen wesentlich wei-tergeholfen und uns schonungslos auf wunde Punkte aufmerk-sam gemacht hat. Ein herzlicher Dank geht auch an CarolineKnupfer von der SKOS für viele kritische Anmerkungen undlast but not least an Jeannine Horni und Heinz Scheideggervom Verlag edition8, denen wir für ihre unkomplizierte Zu-sammenarbeit verbunden sind.

Ruth Gurny, Beat Ringger

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Die Allgemeine Erwerbsversicherung:Das Modell

Urs Chiara, Silvia Domenicani, Ruth Gurny, Beat Ringger, Avij Sirmoglu

Der nachstehende Text bietet eine umfassende Modellbe-schreibung der Allgemeinen Erwerbsversicherung AEV. Er istdas Ergebnis einer rund 18-monatigen Diskussions- und Erar-beitungsphase. Wir haben in den letzten Monaten unter ande-rem gelernt, wie verästelt und teilweise verworren das Sozial-versicherungsgeflecht der Schweiz ist. Auch unter diesem Ge-sichtspunkt fühlen wir uns im Kernanliegen bestärkt, eine neuetransparente, einheitliche Versicherung zu schaffen. Solltensich im Einzelnen Fehler eingeschlichen haben, übernehmenwir dafür die Verantwortung. Wir haben den Modellbeschriebauf einer Detaillierungsstufe gehalten, die uns zum gegenwär-tigen Zeitpunkt sinnvoll erscheint: Genügend genau, um einedurchdachte Vorstellung dessen zu bieten, was wir mit derAEV anstreben, und genügend allgemein, um uns nicht in Ein-zelbestimmungen zu verlieren, die den Blick aufs Ganze ver-stellen.

Das Wichtigste in Kürze

Seit den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts sind die Erwerbs-arbeitsverhältnisse einem deutlichen Erosionsdruck ausgesetzt.Formen prekärer Arbeit gewinnen an Bedeutung, und die so-zialen Ungleichheiten nehmen markant zu. Damit werden dieSysteme der sozialen Sicherheit wachsender Belastung ausge-setzt. Zusätzlich stehen sie politisch unter Druck. In verschie-denen Revisionsrunden wurden die Leistungen verschlechtert.Gleichzeitig gibt es zwischen den verschiedenen Systemen Dop-pelspurigkeiten und Abgrenzungsprobleme, die aufwändigeKoordinationsarbeiten notwendig machen.

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Das vorgelegte Modell einer Allgemeinen Erwerbsversiche-rung AEV macht einen radikalen Entwicklungsschritt mit neunwesentlichen Neuerungen:

1. Garantie auf gute Arbeit oder TaggeldAnstelle der bisherigen Palette von Einzelversicherungen wirdeine einzige Sozialversicherung geschaffen, die allen Bewohne-rinnen und Bewohner der Schweiz die materielle Existenzsichert. Sie basiert auf der Vorstellung der Gegenseitigkeit: DieGesellschaft ist verpflichtet, den Menschen gute Arbeit (imSinne der International Labor Organisation ILO) zur Verfü-gung zu stellen. Im Gegenzug sind die Menschen verpflichtet,solche Arbeit tatsächlich auch zu leisten. Wer aufgrund vonKrankheit, Unfall, Mutterschaft oder Einbindung in die Klein-kinderbetreuung keine oder nur begrenzt entgeltliche Arbeitleisten kann oder keine gute Arbeit zur Verfügung gestellterhält, ist von der AEV über Taggelder in der Höhe von 80 Pro-zent des bisherigen Lohnes gesichert. Wer keine Unterhalts-pflicht gegenüber Kindern hat, erhält 70 Prozent des zuletzt versicherten Lohnes. Nach oben sind die Leistungen plafo-niert.

2. Unbeschränkte TaggelderDie Taggeldleistungen werden für Menschen, die fünf Jahre inder Schweiz Wohnsitz hatten, zeitlich unbeschränkt gewährt.Für die anderen gelten die heutigen Taggeldbeschränkungen.Wer aufgrund einer lange andauernden oder bleibenden Be-einträchtigung seiner psychischen oder körperlichen Kräftekeine Arbeit leisten kann, erhält eine Rente. Leute, die diesenGesellschaftsvertrag nicht einhalten und keine Arbeit leisten,obwohl sie dazu im Stande wären, müssen mit dem verfas-sungsmässig zugesicherten sozialen Existenzminimum aus-kommen.

3. Pflicht zur Erwerbsarbeit, Recht auf gute ArbeitDie AEV verknüpft die Pflicht zur Erwerbsarbeit mit demRecht auf Decent Work, das heisst auf gute Arbeit im Sinne derILO. Der Druck auf Erwerbslose, jegliche noch so prekäre Ar-

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beit annehmen zu müssen – mit all ihren fatalen sozialpoliti-schen und volkswirtschaftlichen Folgen – wird damit aufgeho-ben.

4. Ergänzungsleistungen für Working PoorDie AEV integriert in ihre Leistungspalette Ergänzungsleistun-gen für Familien, die sonst unter das soziale Existenzminimumgeraten.

5. KrankentaggelderDie AEV richtet neben den bisherigen Unfalltaggeldern nunendlich auch Krankentaggelder aus und schliesst damit eineschwerwiegende Versicherungslücke. Heute ist der Erwerbs-ausfall bei Krankheit privaten Versicherungen überlassen. Wernicht über seinen Arbeitsvertrag in eine kollektive Kasse ein-gebunden ist, muss sich individuell versichern und sieht sichmit hohen Prämien und mit Versicherungsvorbehalten kon-frontiert. In manchen Situationen entstehen Versicherungslü-cken, die sich überhaupt nicht mehr schliessen lassen. Für Be-troffene erweist sich dies als Armutsfalle. Zu den Belastungen,die eine Krankheit mit sich bringt, kommen Existenzängste undfinanzielle Sorgen.

6. Obligatorium für SelbstständigeDie AEV integriert selbstständig Erwerbende in das Versiche-rungsobligatorium und sichert ihnen damit gute Leistungen zusolidarischen Versicherungsbeiträgen.

7. Schweizweit einheitliche VersicherungDie Sozialhilfe wird im Rahmen des AEV-Gesetzeswerk gere-gelt und damit schweizweit vereinheitlicht. So wird eine wesent-liche Quelle von föderalistisch bedingten Ungerechtigkeitenbeseitigt. Die Vorschläge verschiedener Kreise für ein eidge-nössisches Rahmengesetz zur Existenzsicherung sind damit imAEV-Modell integriert.

8. Wechsel von Kinderbetreuung zu ErwerbsarbeitZwei weitere Verbesserungen betreffen Übergänge. Der eine istder Wechsel aus einer Phase der Kinderbetreuung in die Er-

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werbsarbeit. Wer an dieser Schwelle nicht im gesuchten Um-fang Arbeit findet, die den Kriterien von Decent Work ent-spricht, erhält Taggelder, die seinen oder ihren Qualifikationenentsprechen.

9. Wechsel von Weiter- oder Zweitausbildung zu ErwerbsarbeitDer zweite Übergang, an dem die AEV Leistungsverbesserun-gen vorsieht, betrifft den Wechsel aus einer beruflichen Weiter-oder Zweitausbildung in die Erwerbstätigkeit. An Stelle der bescheidenen heutigen Tagessätze für Beitragsbefreite erhaltendie Betroffenen Taggelder, die ihren neuen Qualifikationen ent-sprechen und auf dem mutmasslich zu erzielenden Einkommenbasieren. Dadurch soll die Bereitschaft gestützt werden, sichberuflich weiter zu bilden.

Die Finanzierung der AEVFinanziert wird die AEV über Steuern sowie über Arbeitgeber-und ArbeitnehmerInnenbeiträge. Die Integration der Kran-kentaggelder wird über zusätzliche Lohnprozente finanziert,und die selbstständig Erwerbenden leisten neu Versicherungs-beiträge auf der Basis des versteuerten Reineinkommens. Dieübrigen von uns vorgeschlagenen Leistungsverbesserungenund -ausweitungen werden durch eine verbesserte Effizienzund durch zusätzliche Steuermittel finanziert. Die AEV-Geld-leistungen folgen dem von der AHV bekannten Mischindex.Lohnprozente und Steuerbeiträge werden den Leistungen lau-fend angepasst. Steigt die Arbeitslosigkeit über einen Grenz-wert, dann werden hohe Einkommen, Vermögen und Unter-nehmensgewinne mit einer Solidaritätsabgabe zur Finanzierungbeigezogen.

Unser Modell ist als realistischer Reformvorschlag konzi-piert. Bei der Ausarbeitung des Modells haben wir darauf ge-achtet, so genannte Pfadabhängigkeiten zu berücksichtigen,das heisst an bekannte, in der Schweiz verankerte Mechanis-men anzuschliessen. Wir sind überzeugt, dass die Finanzierungdes geforderten Leistungsausbaus machbar und ausschliesslicheine Frage des politischen Willens ist.

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Die AEV ist trotzdem zweifellos ein umfassendes, grossesReformvorhaben, vergleichbar mit der Einführung der AHV.Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – muss mit Nach-druck betont werden, dass die vorgeschlagene AEV nicht allegesellschaftlichen Fragen zu lösen vermag. Sie kann aber dassoziale Sicherheitsnetz für Menschen neu knüpfen und hiermehr Gerechtigkeit und mehr Solidarität bringen. Und sie istso ausgelegt, dass sie fortschrittliche Lösungen in anderen Po-litikfeldern begünstigt und umgekehrt von Fortschritten dieserFelder gestützt wird. Zu denken ist etwa an die Mindestlohn-politik und den Ausbau einer familienergänzenden Kinderbe-treuung, die für alle sozialen Schichten erschwinglich sein muss.In Betracht zu ziehen ist nicht zuletzt auch eine umfassende Bildungspolitik, die neben den Kindern und Jugendlichen auchdie Erwachsenen erfasst und ihnen eine kontinuierliche beruf-liche, persönliche und soziale Weiterentwicklung ermöglicht.

Ausgangslage

Die Erosion der ArbeitsverhältnisseSeit den 1990er-Jahren sind die Erwerbsarbeitsverhältnisse einem deutlichen Erosionsdruck ausgesetzt. Formen prekärerArbeit haben an Bedeutung gewonnen. Ein Abrutschen derTieflohnsegmente konnte in der Schweiz dank der Mindest-lohnkampagne der Gewerkschaften zwar abgewendet werden.Die Mindestlöhne wurden in verschiedenen Branchen markantangehoben. Die durchschnittlichen Löhne haben jedoch sta-gniert. Zusätzlich haben sich in den letzten 20 Jahren auch inder Schweiz eine permanente Arbeitslosigkeit festgesetzt, diebeträchtlichen Druck auf die Betroffenen, die Beschäftigtenund die Systeme der sozialen Sicherheit ausübt. Die Zahl derIV-BezügerInnen und der BezügerInnen von Sozialhilfeleistun-gen ist markant gestiegen, und die tiefen Teillöhne, die in derSozialhilfe bezahlt werden, unterminieren den Einsatz für an-gemessene Mindestlöhne. Diese Tendenzen werden sich in deranlaufenden Wirtschaftskrise verstärken, falls es nicht gelingt,Gegensteuer zu geben. Im gleichen Zeitraum haben auch die

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gesellschaftlichen Ungleichheiten markant zugenommen. Ar-beitende, deren Lohn dem Mittelwert der Schweizer Lohnein-kommen entspricht (CHF 72’000 im Jahr), müssten zehn Malwiedergeboren werden und in allen Leben 45 Jahre ununter-brochen zu 100 Prozent arbeiten, um so viel zu verdienen wiedie bestbezahlten Manager der Schweiz im Jahr 2006 erhaltenhaben. Gar 1150 Mal wiedergeboren werden müssten sie, umdas Jahreseinkommen 2007 des weltweit bestdotierten Hedge-Fonds-Mitarbeiters zu erreichen. Am anderen Ende der Skalabefinden sich Menschen, die keine kontinuierliche Erwerbsar-beit finden und in einen Teufelskreislauf von Arbeitslosigkeitund prekären Jobs geraten. Auch allein Erziehende, die auf-grund ihrer Betreuungsarbeit nicht voll erwerbstätig sein kön-nen, sind einem erhöhten Verarmungsrisiko ausgesetzt. Frauensind überproportional von den negativen Folgen der Prekari-sierung der Arbeitsverhältnisse betroffen, weil sie einen erdrü-ckend hohen Anteil der Arbeit in der ›privaten‹ Betreuung vonKindern und pflegebedürftigen Familienangehörigen erbrin-gen, was sich in der Erwerbsarbeit als enormes Handicap er-weist.

Der politische Druck auf die sozialen SicherungssystemeDie Systeme der sozialen Sicherung waren und sind nicht nurdurch die anhaltende Arbeitslosigkeit wachsenden Belastungenausgesetzt. Sie stehen zusätzlich unter starkem politischemDruck. Die EmpfängerInnen von Sozialhilfe und Sozialversi-cherungsleistungen wurden von der politischen Rechten unterden Generalverdacht des Schmarotzertums und des Simulan-tentums gestellt. In verschiedenen Revisionsrunden wurden dieLeistungen der Sozialversicherungssysteme verschlechtert unddie Zugangsbedingungen verschärft. Die Leistungskürzungenbei der Arbeitslosenversicherung – insbesondere die Kürzungder maximalen Bezugsdauer von 520 auf 400 Tage – und dieverschärfte Praxis bei der Invalidenversicherung hat die Zahlder SozialhilfebezügerInnen um Zehntausende von Personenanschwellen lassen.

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Die Unterstellung individueller HandlungsmachtDie vorherrschende Sozialpolitik tendiert dazu, den einzelnenBetroffenen die Verantwortung für gesellschaftlich bedingte Si-tuationen zu überbürden und ihnen eine Handlungsmacht zuunterstellen, über die sie nicht verfügen. Damit wird eine Ent-wicklung kaschiert, die darauf abzielt, dass Arbeitslose undAusgesteuerte jede Arbeit – und sei sie noch so prekär – ak-zeptieren müssen. Das bringt auch all jene unter Druck, dieüber eine ›normale‹ Stelle verfügen. Die ›Normalisierung‹prekärer Arbeit zwingt die Arbeitenden, in Kauf zu nehmen,dass Arbeitsbelastungen und Stress zunehmen und die Arbeits-bedingungen sich generell verschlechtern. Fragen wie etwa jenenach einer humanen, gesundheits- und persönlichkeitsfördern-den Gestaltung der Arbeitsverhältnisse, die vor 20 Jahren nochintensiv diskutiert wurden, werden heute gar nicht mehr ge-stellt.

Abgrenzungsprobleme, Doppelspurigkeiten, überhöhter administrativer AufwandDie verschiedenen Systeme der sozialen Sicherung sind histo-risch gewachsen. Sie wurden im Lauf des letzten Jahrhundertsnach und nach etabliert, immer mit eigenen Gesetzeslogikenund eigenen Verwaltungen. Das führte dazu, dass sie mit vie-len Schnittstellen- und Abgrenzungsproblemen behaftet sind.Oftmals ist es unklar, ob der Erwerbsausfall des einzelnen Be-troffenen aufgrund eines Unfalls, einer Krankheit oder einerBehinderung zustande kommt. Da jede einzelne Sozialversiche-rung bemüht ist, die Kosten tief zu halten (und von der vorherr-schenden Politik auch dazu genötigt wird), werden einzelneFälle immer wieder abgeschoben. Menschen, die in die Grau-bereiche zwischen den Versicherungssystemen geraten, werdenso zu Opfern bürokratischer Abgrenzungskämpfe. Sie müssenoft jahrelang auf Sozialversicherungsleistungen warten undsind in der Zwischenzeit auf Sozialhilfe angewiesen.

Zunehmende ExklusionenDie geschilderten Entwicklungen führen zu Ausschlüssen ma-

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terieller und kulturell-gesellschaftlicher Art, die zunehmenddauerhaften Charakter erhalten. Ähnlich wie in anderen west-europäischen Ländern, entstehen soziokulturelle Milieus,deren Angehörige kaum mehr aus prekären Arbeits- undLebensverhältnissen herausfinden. Aktuell besonders gefähr-det sind die Kinder aus dem ehemaligen Jugoslawien oder ausder Türkei, die nach der Schule keinen Einstieg in die Berufs-welt finden. Diese Situation betraf im Kanton Zürich – um einBeispiel anzuführen – in den letzten Jahren jeweils rund 40 Pro-zent der Angehörigen eines Jahrgangs.

Die Ziele einer Allgemeinen Erwerbsversicherung AEV

Mit der Schaffung einer Allgemeinen ErwerbsversicherungAEV schlagen wir eine grundlegende und ganzheitliche Reformall jener Sozialversicherungssysteme vor, die im Laufe der Er-werbsbiografie von Menschen zum Zug kommen, sobald dasRisiko des Erwerbsausfalls eintritt. Unser Reformvorschlagfasst folgende Sozialversicherungszweige zusammen: Die Ar-beitslosenversicherung, die Invalidenversicherung, den Er-werbsausfall bei Krankheit, Unfall, Zivil- und Militärdienstoder Mutterschaft, das System der Ergänzungsleistungen sowiedie Sozialhilfe. Die neu zu schaffende Allgemeine Erwerbsver-sicherung AEV sichert die materielle und soziale Existenz beivorübergehender Arbeitslosigkeit in Form von Taggeldern, beilang anhaltender oder dauerhafter Arbeitsunfähigkeit in Formvon Renten. Damit wird auch eine grosse Lücke des heutigenschweizerischen Sozialversicherungssystems geschlossen, näm-lich die Absicherung gegen Erwerbsausfall bei Krankheit. Die-ses Risiko ist heute nur für jene Arbeitenden abgedeckt, dieüber entsprechende Regelungen in ihren Gesamtarbeitsverträ-gen verfügen oder vom Arbeitgeber auf freiwilliger Basis ver-sichert sind. Ferner integriert die AEV die Existenzsicherungvon Familien, in dem sie Ergänzungsleistungen für Familieneinführt. Dank dieser Leistungen haben Eltern von Kleinkin-dern die Möglichkeit, deren Betreuung selber zu übernehmen,ohne in existenzielle Probleme zu geraten, und der Existenz-

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grundbedarf der Kinder ist bis zum Ende der obligatorischenSchulzeit gesichert.

Dank der AEV-Leistungen, die gegenüber den heutigenSystemen beträchtlich besser sind, wird die Zahl der Sozial-hilfebezügerInnen markant zurückgehen. Die verbleibendeSozialhilfe wird ebenfalls von der AEV geregelt. Damit wird dieExistenzsicherung auf eine schweizweit einheitliche Basis ge-stellt, wie dies von massgebender Seite (z.B. SKOS1) schonlange gefordert wird. Generell will die AEV die Menschen vonder Angst befreien, in Armut abzugleiten. Unabhängig von denGründen, die im Einzelfall zu einem Erwerbsausfall führenoder von der Teilnahme an der Erwerbsarbeit abhalten, wirddie materielle und soziale Sicherheit gewährleistet. Die Versi-cherten sind verpflichtet, ihren gesellschaftlichen Beitrag zuleisten, indem sie zumutbare Arbeit – Decent Work im Sinneder UNO-Organisation International Labor Organisation ILO2

– erbringen. Das bedeutet aber auch, dass sie nicht gezwungenwerden dürfen, entwürdigende, dequalifizierende oder prekäreArbeitsstellen anzunehmen. Die Vereinheitlichung der Siche-

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Decent work gemäss ILO3

Gemäss der UNO-Organisation International Labor Organisati-on ILO gehören folgende Charakteristika zum Konzept DecentWork beziehungsweise zumutbare Arbeit:

Sicherheit• des Arbeitsplatzes und des Einkommens• soziale Sicherung• rechtlicher Schutz• Nichtdiskriminierung.

Teilhabe• Beteiligung an Entscheidungsprozessen• Freie Meinungsäusserung und Organisationsfreiheit

Gesundheit• nicht schädigende Arbeitsbedingungen

Qualifizierung• Recht auf Weiterbildung und Qualifizierung

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rungssysteme vermeidet Doppelspurigkeiten und unnötigenadministrativen Aufwand. Beratungen, Sach- und Unterstüt-zungsleistungen erfolgen aus einer Hand und können so we-sentlich effizienter erbracht werden. Die unwürdigen und fürdie Betroffenen materiell und psychisch belastenden Streiterei-en darüber, welche Sozialversicherung im Einzelfall zuständigist, werden aus der Welt geschafft. Sie kosten heute unnötigeMillionen. Zudem gibt es keine Rechtfertigung dafür, dass einUnfall zu viel besseren Leistungen führt als eine Krankheitoder der Verlust des Arbeitsplatzes. Die Vereinheitlichung derLeistungen eliminiert die sozial unsinnige Versuchung, die eineSozialversicherung auf Kosten von anderen zu ›sanieren‹ undgleichzeitig immer mehr Leute in die Sozialhilfe abzuschieben.

Eckerte des Modells

Folgende Eckwerte bestimmen die AEV:• Die AEV ist eine obligatorische Versicherung und umfasstalle natürlichen Personen im erwerbsfähigen Alter, die in derSchweiz eine Erwerbstätigkeit ausüben oder/und als vorüber-gehend Nichterwerbstätige in der Schweiz Wohnsitz haben.Selbstständig Erwerbende sind darin ebenso eingeschlossenwie Angestellte. Die AEV stellt ein einheitliches Regelwerk dar,arbeitet aber – ähnlich wie die heutige Arbeitslosenversicherung– organisatorisch mit einer Vielfalt von Trägern, um bürokra-tische Machtballungen zu verhindern. Die Versicherten verfü-gen über frei zugängliche Rechtsmittel, um Entscheide anfech-ten zu können. Zudem wird eine Ombudsstelle eingerichtet.

• Rechte und Pflichten: Die AEV stellt ein Gleichgewicht zwi-schen Rechten und Pflichten der einzelnen Versicherten und derGesellschaft sicher. Die Versicherten haben die Pflicht, zumut-bare Arbeit im Sinne von Decent Work anzunehmen. Umge-kehrt hat die Gesellschaft die Pflicht, gute Arbeit zur Verfügungzu stellen. Wer aufgrund seiner gesundheitlichen und/oder psy-chischen Verfassung nicht in der Lage ist, zumutbare Arbeit zuleisten, erhält eine Rente. Wer allerdings aufgrund seiner indi-viduellen Verfassung grundsätzlich in der Lage ist, zumutbare

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Arbeit zu leisten, sich aber dazu nicht bereit erklärt, hat ledig-lich ein Recht auf das verfassungsmässig garantierte Existenz-minimum. Zudem sind seine Vermögensverhältnisse und all-fällige übrige Einkommensquellen in Rechnung zu stellen.

• Taggelder: Die Leistungen der AEV bestehen analog der heu-tigen ALV-Regelung bei vorübergehendem Erwerbsausfall ausdem Erwerbsersatz von 80 Prozent des zuletzt versichertenVerdienstes. 70 Prozent des zuletzt versicherten Verdienstes er-hält, wer keine Unterhaltspflicht gegenüber Kindern hat. Nachoben sind die Leistungen plafoniert. Kinderzulagen sind zu 100Prozent versichert.

• Ergänzungsleistungen für Familien: In Anlehnung an dasTessiner Modell (siehe Kapitel ›Familienergänzungsleistungen– effizient gegen Familienarmut‹) umfasst diese Ergänzungsleis-tung zwei Teile: Zum einen Ergänzungsleistungen für Haushal-te mit Kindern bis zum 3. Geburtstag und einem Einkommen,das unter dem Existenzminimum liegt. Diese Ergänzungsleis-tung hat den Zweck, die Existenz der gesamten Familie mitKleinkindern unter drei Jahren zu sichern und ist als Entgelt fürden Erwerbsausfall beziehungsweise die Zeitkosten für die Be-treuung gedacht. Sie soll die Differenz zwischen dem verfüg-baren Einkommen des Haushalts und dem Familienbedarfgemäss den Ergänzungsleistungen zur AHV/IV abdecken. Wei-ter umfasst die Familien-Ergänzungsleistung Leistungen fürKinder von 0 bis 16 Jahren in einkommensschwachen Fami-lien. Diese Leistung hat den Zweck, den minimalen Lebensbe-darf von Kindern und Jugendlichen zu sichern (nicht jedoch dieUnterhaltskosten der Eltern). Der Anspruch entspricht demFehlbetrag zwischen den anrechenbaren Einnahmen und denanrechenbaren Ausgaben gemäss dem Gesetz zu den Ergän-zungsleistungen zu AHV/IV, höchstens jedoch einem maxima-len Betrag, der den hypothetischen Kinderkosten entspricht.

• Renten: Bei langfristigem oder dauerhaftem Erwerbsausfallwerden Renten in der Höhe von 80 Prozent des versichertenLohnes gesprochen. Wo dieses Leistungsniveau nicht existenz-sichernd ist, kommen Ergänzungsleistungen zum Zug.

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• Sozialhilfe: Um Menschen in individuellen Notlagen abzusi-chern, in denen das Taggeld und allfällige Familien-Ergän-zungsleistungen das Existenzminimum nicht zu decken ver-mögen, springt subsidiär die Sozialhilfe ein. Damit wird dieSozialhilfe zu einem integrierenden Bestandteil der AEV, unddie Leistungen werden gesamtschweizerisch angeglichen. In derSozialhilfe werden Vermögen und übrige Einkommensquellenangerechnet (z.B. Erbschaften, Kapitalerträge oder Mieterträgeaus Liegenschaften).

• Sachleistungen, die der Integration ins Erwerbsleben dienen(frühere Sachleistungen der IV), sind weiterhin Bestandteile derAEV. Für Menschen mit dauerhaften Beeinträchtigungen leistetdie Versicherung Beiträge an die Schaffung und den Betrieb vonangemessenen Beschäftigungsangeboten.

• Bildungs-, Qualifikations- und Integrationsmassnahmen fürMenschen mit spezifischen Beeinträchtigungen und Einschrän-kungen sind weitere Bestandteile der AEV. Qualifizierende undHalt bietende Beschäftigungsangebote für Langzeiterwerbslose– unabhängig davon, ob es sich um AEV-TaggeldbezügerInnenoder SozialhilfebezügerInnen handelt – werden weitergeführtund falls nötig ausgebaut. Anders ist es bei finanziellen Unter-stützungsleistungen für berufliche Qualifizierungsmassnahmen,falls die vorhandenen Qualifizierungen nicht mehr benötigt/nachgefragt werden: diese werden in einem neu zu schaffendenallgemeinen Bildungsgesetz zu regeln sein. Solange eine solcheRegelung fehlt, springt die AEV interimsmässig ein. Dasselbegilt für die heutigen wichtigen Leistungen der IV an die Schu-lung und Ausbildung von beeinträchtigten/behinderten Kin-dern und Jugendlichen. Die AEV stellt diese Leistungen weiter-hin sicher, sie gehören aber mittelfristig ebenfalls in das nochzu schaffende, umfassende Bildungsgesetz.

Die Finanzierung der AEV

Die Finanzierung der Leistungen der AEV orientiert sich an denModellen der bestehenden Sozialversicherungen: Arbeitende,

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Arbeitgeber und Staat beteiligen sich daran. Bei den Arbeiten-den und den Arbeitgebern ist eine lohnprozentuale Abgabesinnvoll, als öffentliche Mittel sind Steuermittel einzusetzen.

Die Reform soll Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge imNormalfall nicht anwachsen lassen. Der Normalfall meint hierjene Mehrheit der Beschäftigten, die bereits heute via kollektiveKrankentaggeld-Versicherungen gegen Verdienstausfälle imKrankheitsfall geschützt ist, sei es, weil entsprechende Gesamt-arbeitsverträge gelten, sei es, weil der Arbeitgeber auf freiwil-liger Basis solche Versicherungen abgeschlossen hat oder denVerdienstausfall auf eigene Rechnung ausgleicht. Fehlt einesolche Absicherung, ist für die Krankentaggeld-Absicherungmit Lohnprozenten in der Höhe von je 0.8 Prozent für Be-schäftigte und Unternehmen zu rechnen. Die Finanzierung desübrigen Leistungsausbaus erfolgt erstens durch Effizienzgewin-ne, die dank der Vereinheitlichung der Versicherungssystemeentstehen. Andererseits sind Steuermittel beizuziehen, die aufverschiedenen Wegen beschafft werden können. In Frage kom-men etwa eine neu zu schaffende nationale Erbschaftssteuer,eine Energiesteuer, die Einrichtung eines progressiven Verlaufsder direkten Bundessteuer bei hohen Einkommen und anderesmehr. Wenn die Arbeitslosigkeit über einen bestimmten Pro-zentsatz steigt, soll eine Solidaritätssteuer auf hohen Gewin-nen, Einkommen und Vermögen in Kraft treten, deren Erträgein die AEV fliessen.

Die AEV, der Gesellschaftsvertrag und Konzepte des Gesellschaftlichen Grundeinkommens

Unser Vorschlag beruht auf einem sozialen, demokratischenund freiheitlichen Verständnis dessen, was als Gesellschafts-vertrag bezeichnet wird4. Die Individuen sind verpflichtet, ge-sellschaftlich nützliche Arbeit zu leisten, damit die Gesellschaftbestehen, sich reproduzieren und weiter entwickeln kann. An-dererseits müssen die gesellschaftlichen Verhältnisse so gestal-tet werden, dass allen Individuen die Teilnahme an gesell-schaftlich nötiger Arbeit ermöglicht wird, einer Arbeit, die den

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Bedingungen der Decent Work im Sinne der ILO entspricht.Das bedeutet, dass niemand zu demütigender, schädigender,schlecht bezahlter oder dequalifizierender Arbeit genötigt wer-den kann.

Zu einem sozialen, demokratischen und freiheitlichen Ge-sellschaftsvertrag gehört aber auch, dass auf der individuellenEbene Verantwortung und Gestaltungsmacht übereinstimmen.Es ist nicht zulässig, die Individuen für Folgen verantwortlichzu machen, deren Ursachen sie nicht beeinflussen können.Wenn die gesellschaftlich massgebenden Kräfte und Klassennicht willens oder nicht in der Lage sind, allen Menschen Zu-gang zu gesellschaftlich nützlicher Arbeit zu ermöglichen, dannmuss die Gesellschaft den Erwerb all jener sichern, die von dererwerbsfähigen Arbeit ausgeschlossen sind.

Lange andauernde Sockelarbeitslosigkeit und wachsenderArbeitsdruck haben Vorschläge für ein gesellschaftlichesGrundeinkommen zu einem Dauerthema der politischen Dis-kussion werden lassen. Zwischen den beiden Vorschlägen All-gemeine Erwerbsversicherung und Gesellschaftliches Grund-einkommen gibt es Berührungspunkte. Wichtig ist bei beiden,dass der Druck zur Unterwerfung unter jedwedes Arbeitsre-gime bekämpft und die Tätigkeiten in der Care Economy in dasSystem eingeschlossen werden sollen. Gewisse ausformulierte-re Vorschläge zum gesellschaftlichen Grundeinkommen sehenjedoch aus Finanzierungsgründen so tiefe Leistungen vor, dassder Druck zu prekärer Arbeit nicht gemindert würde. Zusätz-lich wären beträchtliche Abbaumassnahmen bei bestehendenSozialversicherungen mehr als wahrscheinlich.

Was uns neben diesem generellen Vorbehalt bei vielen Kon-zepten eines gesellschaftlichen Grundeinkommens skeptischmacht, sind folgende drei Punkte:

• Das GE verspricht, die Menschen durch eine einzige Mass-nahme von allen Zwängen zu befreien. Da jedoch Zwänge erstdann wegfallen würden, wenn das Grundeinkommen bedin-gungslos und genügend hoch ist, bleibt die schrittweise Reali-sierung schwierig und wäre zunächst wirkungsarm. Die Finan-

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zierung eines genügend hohen Grundeinkommens wäre ohnegrundlegenden gesamtgesellschaftlichen Umbau aber illuso-risch und muss ein Luftschloss bleiben.

• Das Grundeinkommenskonzept ist zugeschnitten auf kultu-rell mobile ›Mittelschichten‹, für die die Option einer zusätzli-chen interessanten Erwerbsarbeit offen ist. Für jene, die keineandere Perspektive haben als ›Grundeinkommen plus prekäreJobs‹, ist das Konzept nicht attraktiv.

• Das Konzept des Grundeinkommens entlässt die Individuenaus dem Gesellschaftsvertrag. Damit würde unausweichlicheine Spaltung entstehen zwischen jenen, die ›arbeiten‹, undjenen, die ›Rente beziehen‹. Diese Spaltung dürfte Spannungenerzeugen, und es wäre keine Frage, dass solche Spannungenvon der politischen Rechten instrumentalisiert würden.

Für uns birgt das Grundeinkommen die Gefahr, dass es zueinem Vehikel der neoliberalen Rechten werden könnte, diedamit Sozialabbau betreiben würden. Diese Gefahr stiege indem Masse, wie linke Befürworter des Konzepts einer nichtrealisierbaren Utopie anhängen, die ›realistisch denkenden‹Befürworter hingegen realpolitische Allianzen anstrebten undbereit wären, ein Grundeinkommen mit Sozialabbau und mitfiskalpolitischen Umverteilprogrammen zu erkaufen.

Die AEV und der Flexicurity-DiskursDie AEV hat auch Bedeutung in Zusammenhang mit dem Fle-xicurity-Diskurs. Die VertreterInnen dieses Konzeptes postu-lieren, dass die Flexibilisierung der Beschäftigung und diesoziale Sicherheit der Arbeitenden vereinbar und als komple-mentär zu konzipieren seien. Da die Arbeitswelt einem be-schleunigten Veränderungsdruck ausgesetzt sei, sei es falsch,wirtschaftlich begründete Entlassungen, Veränderungen im Ar-beitspensum usw. zu behindern. Im Gegenzug müsse aber diesoziale Sicherheit der Betroffenen erhöht werden. Wenn dieseBehauptung beim Wort genommen würde, müsste die Deregu-lierung der Arbeitsverhältnisse von einer umfassenden Rejus-tierung der sozialen Sicherungssysteme begleitet sein. In einer

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flexibilisierten Arbeitswelt haben Arbeitnehmende im Lebens-verlauf flexible Möglichkeiten und flexiblen Bedarf, einer Er-werbsarbeit nachzugehen. Eine der Flexicurity verpflichteteSozialpolitik stellt sicher, dass sich daraus keine Existenzprob-leme ergeben. Wenn Arbeit zudem im Lebenslauf eine flexibleKombination von Erwerbs-, Versorgungs-, Gemeinschafts- undEigenarbeit darstellen soll, sind an den Übergängen zwischenden verschiedenen Arbeitstypen Handlungsspielräume undKontrollmechanismen einzurichten. Die Reversibilität derÜbergänge ist zu gewährleisten. Die AEV kann als Antwort aufdiesen sozialpolitischen Rejustierungsbedarf verstanden wer-den und stellt eine zumindest partielle Risikoabdeckung auf-grund der flexibilisierten Lohnarbeitswelt dar, indem der Über-gang von Phasen der Kinderbetreuung in die Erwerbsarbeitbesser abgesichert wird und selbstständig Erwerbende deutlichbesser gestellt würden. Das heisst keineswegs, dass wir sämtli-chen Formen der Flexibilisierung positiv gegenüberstünden.Anpassungsprozesse, die durch den technologischen Wandelund den Einsatz neuer Verfahren bedingt oder durch Geboteder Nachhaltigkeit erforderlich sind, sind oftmals zu begrüs-sen; sie müssen aber sozialverträglich ausgestaltet werden. Fle-xibilisierungen in der Arbeitsgestaltung (zum Beispiel Arbeitauf Abruf, unfreiwillige Teilzeitarbeit) schwächen die Positionder Arbeitnehmenden, sind Teil von Prekarisierungsmusternund Working-Poor-Verhältnissen und deshalb abzulehnen.Ebenso muss der Schutz vor willkürlichen Kündigungen (zumBeispiel wegen gewerkschaftlichen Aktivitäten) in der Schweizdeutlich verbessert werden.

Grenzen der AEV

Die vorgeschlagene Allgemeine Erwerbsversicherung gliedertsich ohne weiteres in die aktuell in der Schweiz existierendenSicherungssysteme ein. Weil sie als Sozialversicherung konzi-piert ist, schliesst sie an die bekannten und gut etablierten so-zialpolitischen Institutionen der Schweiz an und berücksichtigtdie historisch gewachsenen Pfade zur Lösung sozialer Proble-

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me. Die AEV löst die drängenden Probleme der wachsendensozialen Ungleichheiten und der sozialen Desintegration abernicht im Alleingang. Das ist nur im Verbund mit anderen gesell-schaftlichen Regelungssystemen möglich. So muss die Tätigkeitim Bereich der Care Economy besser abgesichert und die The-matik der lebenslangen Bildung und Ausbildung, das Recht aufWeiterbildung für die heutige Zeit neu ausgestaltet werden.Das Ziel ist, mehr biografische Gestaltungsfreiheit für die ein-zelnen Individuen zu schaffen und ihnen die Möglichkeit zugeben, sich neuen Qualifikationsanforderungen zu stellen. Pa-rallel dazu müssen im Bereich der bezahlten Arbeit anderewichtige Forderungen durchgesetzt werden: Unabdingbar istder Kampf für gute Arbeit (Decent Work), der Kampf um ange-messene Mindestlöhne und die Umverteilung der vorhandenenArbeit, also eine der Problemlage angemessenen Arbeitszeitver-kürzung. Ebenso unabdingbar ist der Einsatz für die Abgeltunggleichwertiger Arbeit mit gleichen Löhnen.

Nachhaltige Erfolge stellen sich nur dann ein, wenn Sozial-,Bildungs- Arbeits(markt)- und Familienpolitik in ein kohären-tes Konzept eingebunden werden. In einer sich rasch wandeln-den Welt braucht es dafür unter anderem eine engagierte Bil-dungspolitik, die auch die Erwachsenen erfasst und ihnen einekontinuierliche berufliche, persönliche und soziale Weiterent-wicklung ermöglicht. Eine beispielhafte Verschränkung derverschiedenen Politikfelder wurde während einiger Jahre inDänemark praktiziert, als Berufstätige ermuntert wurden, einJahr auszusetzen, um einer erwerbslosen Person die Möglich-keit zu bieten, sich wieder ins Berufsleben einzugliedern. DenBerufsleuten, die diesem Aufruf folgten, wurde der Lohnaus-fall vom Staat ersetzt. Das Programm war sehr erfolgreich. Esblieb jedoch einseitig auf das Ziel der Integration Erwerbsloserausgerichtet und wurde nicht in eine dauerhafte Regelungüberführt, nachdem es seine unmittelbare Funktion erfüllthatte.

Berufsbildungspolitik darf nicht zu einem Anhängsel desaktuellen Bedarfs auf den Arbeitsmärkten werden. Zum Einendarf Bildung nicht auf die Herstellung der Arbeitsmarktfähig-

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keit reduziert werden, denn persönliches Wachstum und ›Ge-sellschaftsfähigkeit‹ sind ebenso wichtig. Zum anderen sollgerade Bildungspolitik nicht nach allzu kurzfristigen Gesichts-punkten gestaltet werden. Deshalb verzichten wir darauf, neueModelle der Integrations- und Qualifikationspolitik in dieAEV einzubauen. Die Unterstützungsleistungen für beruflicheQualifizierungsmassnahmen, wenn bestehende Qualifizierun-gen nicht mehr benötigt/nachgefragt werden, sind besser in ei-nem neu zu schaffenden allgemeinen Bildungsgesetz zu regeln.Dabei ist zum Beispiel das Stipendienwesen deutlich auszu-bauen. Solange jedoch solche Regelungen fehlen, soll die AEVinterimsmässig einspringen und Qualifizierungsangebote mit-finanzieren.

Anmerkungen1 Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS ist ein Verein, der

Richtlinien zur Ausgestaltung der Sozialhilfe erarbeitet. Die Kantone(selbst Mitglied der SKOS) sind jedoch nicht verpflichtet, diese Richtlinienanzuwenden.

2 Siehe dazu etwa die Beiträge im Jahrbuch 2006 des Denknetz, oder auchonline unter http://www.ilo.org/public/english/standards/relm/ilc/ilc87/rep-i.htm

3 http://www.cinterfor.org.uy/public/english/region/ampro/cinterfor/publ/sala/dec_work/ii.htm

4 Es ist uns bewusst, dass die Benutzung des Begriffs des Gesellschaftsver-trags nicht unproblematisch ist, weil er davon ablenken kann, dass diegeforderte Balance zwischen Pflichten und Rechten der Gesellschaftsmit-glieder nicht in einem herrschaftsfreien Raum zustande kommen. Der Ver-trag wäre vielmehr Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen undwird von uns auch so verstanden.

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Assurance générale du revenu (AGR)

Urs Chiara, Silvia Domeniconi, Ruth Gurny, Beat Ringger,Avij Sirmoglu

Le texte ci-dessous est une description détaillée du modèled’une ›assurance générale du revenu (AGR)‹. Il constitue lerésultat d’une phase de discussion et d’élaboration de 18 mois.Au cours de ce travail, nous avons pu constater à quel point lesystème des assurances sociales suisses est fragmenté et parfoisconfus. Ce constat nous a également conforté dans notre pro-position centrale de créer une nouvelle assurance unifiée ettransparente. Si quelques erreurs de détail se seraient glisséesdans notre projet, alors nous en assumons la responsabilité.Dans la description du présent modèle, nous avons opté pourun niveau de détail qui nous paraît approprié pour l’instant.En effet, le modèle est suffisamment précis pour offrir une pré-sentation argumentée et détaillée du but que nous visons avecl’AGR; son contenu reste assez général, ce qui prévient le dan-ger de se perdre dans les détails et d’oublier la vision d’ensem-ble. Nous tenons à remercier nos partenaires de discussion ausein et à l’extérieur du Réseau de réflexion pour leurs nom-breuses suggestions et remarques critiques. Des remerciementsparticuliers s’adressent à Heidi Stutz du Büro BASS et CarolineKnupfer de la Conférence suisse des institutions de l’action so-ciale (CSIAS) ainsi que aux membres du comité et du grouperestreint du Réseau de réflexion.

L’essentiel en bref

Dès les années 1990, les conditions du travail rémunéré ontsubi un processus de détérioration marqué. Les formes d’ac-tivités précaires prennent de l’ampleur et les inégalités socialess’accroissent de manière frappante. Pour ces raisons, les systè-mes de sécurité sociale sont soumis à des contraintes de plus en

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plus importantes. En outre, ces systèmes sont mis sous pressionpour des motifs politiques. Lors de différentes révisions, lesprestations ont été péjorées. Simultanément, on constate qu’ilexiste des doublons et des problèmes de délimitation entre lesdifférents systèmes, ce qui rend nécessaire un important travailde coordination.

Le présent modèle d’une assurance générale du revenu(AGR) représente une évolution radicale impliquant neuf in-novations majeures:

1.A la place de l’éventail actuel des assurances individuelles, oncrée une assurance sociale unique garantissant l’existencematérielle de toutes les personnes résidant en Suisse. Elle sefonde sur la notion de réciprocité: la société est tenue d’offrirun bon travail (selon les critères de l’Organisation internatio-nale du travail, OIT) à tou-te-s. En contrepartie, les personnessont tenues de réellement fournir un tel travail. Une personnequi n’est pas en mesure de le fournir ou alors que de manièrelimitée, en raison d’une maladie, d’un cas de maternité ou del’obligation de s’occuper d’enfants en bas âge ou parce qu’au-cun travail de ce type n’est disponible, est couverte par l’assu-rance générale du revenu et touche des indemnités journalièresdont le montant s’élève à 80% du dernier salaire. Une person-ne qui n’a aucun enfant à charge touche 70% du dernier sa-laire assuré. Les prestations sont plafonnées pour les revenusélevés.

2.Les prestations sous forme d’indemnités journalières sont ac-cordées sans limitation de temps aux personnes résidant aumoins depuis 5 années en Suisse. Les autres personnes sont sou-mises aux restrictions actuellement en vigueur pour les indem-nités journalières usuelles. Une personne qui ne peut fournir untravail en raison d’une altération durable ou définitive des cescapacités psychiques ou physiques touche une rente. Les per-sonnes qui ne respectent pas ce ›contrat social‹ et qui n’effec-tuent pas de travail bien qu’elles soient en mesure de le faire

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doivent se contenter du minimum vital social garanti par laConstitution.

3.L’AGR établit le lien entre l’obligation de fournir un travail ré-munéré et le droit à un travail décent, à savoir un ›bon travail‹selon les critères de l’OIT. Ainsi, la pression exercée sur les sansemploi pour qu’ils/elles acceptent tout emploi proposé, mêmele plus précaire, disparaît.

4.La palette des prestations de l’AGR comprend également des›prestations complémentaires pour les familles‹ destinées auxfamilles qui se retrouvent sous le seuil du minimum vital socialsans cette aide.

5.L’AGR verse non seulement des indemnités journalières en casd’accident, mais accorde (enfin) également des indemnitésjournalières en cas de maladie, comblant ainsi une grave lacunedes assurances sociales. En effet, jusqu’à présent, ce sont lesassurances privées qui sont compétentes pour la couverture dela perte de revenu en cas de maladie. Une personne qui n’estpas membre d’une caisse collective par le biais de son contratde travail doit s’assurer individuellement contre la perte degain, payer des primes élevées et accepter une série de réservesd’assurance. Dans bien des situations, cela entraîne des lacunesde couverture qui ne pourront plus être comblées. Pour les per-sonnes concernées, ces situations deviennent des ›pièges depauvreté‹. Au fardeau que représente une situation de maladieviennent s’ajouter des peurs existentielles et des soucis finan-ciers.

6.L’AGR intègre des travailleurs/-euses indépendants dans l’ob-ligation d’assurance et leur garantit ainsi de bonnes prestationscontre le versement des primes d’assurance solidaires.

7.L’aide sociale est réglementée dans le cadre de la législation re-lative à l’AGR et elle est ainsi unifiée au niveau suisse. De cette

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manière, on supprime une des causes essentielles des injusticesdues au système fédéraliste. Ainsi, les propositions de différentsmilieux concernant une loi-cadre fédérale pour la garantie duminimum vital sont intégrées dans le modèle de l’AGR.

8.Deux autres améliorations concernent la question des transi-tions. La première touche le passage d’une période de prise encharge d’enfants à une activité lucrative. Une personne qui netrouve pas de travail avec le taux d’activité recherché et qui soitconforme aux critères d’un travail jugé convenable (›travail dé-cent‹) reçoit des indemnités journalières correspondant à sesqualifications.

9.La deuxième situation de transition pour laquelle l’AGRprévoit des améliorations de prestations est celle du passaged’une formation continue ou d’une deuxième formation à uneactivité lucrative. Au lieu des modestes montants journaliersprévus pour les personnes exemptées de l’obligation de cotiser,les personnes concernées touchent des indemnités journalièresqui correspondent à leurs qualifications et qui sont définies enfonction du revenu probable qu’elles devraient atteindre. Cettemesure est censée soutenir la personne dans sa volonté de pour-suivre sa formation professionnelle.

L’assurance générale du revenu est financée par des recettes fis-cales ainsi que par des cotisations versées par les employeurset les employé-e-s. L’intégration des indemnités journalières encas de maladie dans le modèle est financée par le prélèvementde pour cent de salaire supplémentaires et les travailleurs/-eu-ses indépendants verseront dorénavant des cotisations cal-culées sur la base du revenu net imposable. Les autres amélio-rations et extensions de prestations que nous proposons sontfinancées par une amélioration de l’efficience et par des recet-tes fiscales supplémentaires (impôts sur les successions, taxesur l’énergie, etc.). Les prestations financières de l’AGR se ba-sent sur l’indice mixte que l’on connaît déjà dans le domainede l’AVS. Les pour cent de salaire ainsi que les montants fis-

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caux versés sont régulièrement adaptés aux prestations. Si letaux de chômage dépasse une certaine valeur limite, on feraparticiper les hauts revenus, les grosses fortunes et les bénéfi-ces des entreprises au financement.

Notre modèle est conçu comme une proposition de réformeréaliste. Lors de l’élaboration du modèle, nous avons veillé àtenir compte du phénomène de ›dépendance de sentier‹, c’est-à-dire à rattacher notre modèle aux mécanismes déjà existantsancrés dans le système suisse. Nous sommes convaincus que lefinancement nécessaire au développement des prestations estréalisable et qu’il dépend uniquement de la volonté politique.

L’AGR constitue indubitablement un vaste programmed’une réforme globale, comparable à l’introduction l’AVS. Endépit ou à cause de cet aspect, il faut souligner que le modèled’AGR ne permet pas de résoudre tous les problèmes sociaux.Cependant, cette assurance peut renouveler le filet de pro-tection sociale et offrir davantage de justice et de solidarité.L’AGR est construite de manière à encourager des solutionsprogressistes dans d’autres domaines politiques et, à l’inverse,elle permet de profiter des progrès réalisés dans ces domaines.Cela concerne par exemple la politique des salaires minimauxainsi que le développement des structures d’accueil extrafami-liales pour enfants, qui doivent être accessibles pour toutes lescouches sociales. Autre point important, cette nouvelle assu-rance touche aussi la question d’une politique de formationglobale, incluant non seulement les enfants et les jeunes, maiségalement les adultes et permettant à ces derniers d’évoluercontinuellement sur les plans professionnel, personnel et social.

Situation initiale

Déterioration des conditions de travailDès les années 1990, les conditions du travail rémunéré ontsubi un processus de détérioration marqué. Les formes d’ac-tivités précaires ont pris de l’ampleur. Certes, grâce à la cam-pagne pour des salaires minimaux, on a réussi à empêcher queles salaires les plus bas ne baissent encore davantage en Suisse.

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Le niveau des salaires minimaux a ainsi été nettement relevédans différentes branches. Pourtant, les salaires moyens ontstagné. De plus, des taux de chômage élevés se sont établis du-rablement au cours des vingt dernières années en Suisse,exerçant une pression considérable sur les sans emploi, les em-ployé-e-s et les systèmes de sécurité sociale. Le nombre desbénéficiaires d’une rente AI et des prestations de l’aide socialea augmenté considérablement et les bas ›salaires partiels‹ pra-tiqués dans le cadre de l’aide sociale sapent les efforts visant àétablir des salaires minimaux équitables. Si on n’arrive pas àcorriger ces situations, ces tendances vont se renforcer au coursde la crise économique qui démarre. Durant cette même péri-ode, les inégalités sociales ont également augmenté de maniè-re frappante. Les travailleuses et travailleurs dont le salaire cor-respond au salaire moyen (Fr. 72’000. – par année) devraientrenaître 10 fois et travailler 45 ans à 100% sans interruptiondurant ces 10 vies pour atteindre le salaire que touchent les›managers‹ les mieux payés de Suisse en une seule année(2006). Et pour arriver au salaire annuel 2007 du gérant defonds spéculatifs (›hedge funds‹) le mieux rémunéré du mon-de, il leur faudrait même renaître 1150 fois. A l’autre bout del’échelle se situent des personnes qui ne trouvent pas d’emploirémunéré durable et qui entrent alors dans un cercle vicieux dechômage et d’emplois précaires. Les personnes élevant seulesleur(s) enfant(s) et ne pouvant pas travailler à plein temps enraison de cette prise en charge courent également un plus grandrisque de tomber dans la pauvreté. Parmi ces personnes, lesfemmes sont proportionnellement beaucoup plus touchées parles conséquences négatives de la précarisation des conditionsde travail que les hommes, parce qu’elles accomplissent l’écra-sante majorité des tâches liées à la prise en charge ›privée‹ desenfants et des membres de la famille nécessitant des soins.Pour elles, cette situation constitue un énorme handicap dansl’exercice d’une activité lucrative.

Pression politique sur les systèmes de sécurité socialeLes systèmes de sécurité sociale ont subi et subissent une pres-

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sion croissante pour des raisons qui ne sont pas seulement liéesau chômage qui perdure, mais qui renvoient à des motifs poli-tiques. La droite s’est mise à soupçonner l’ensemble des béné-ficiaires des prestations de l’aide sociale et des assurancessociales d’être des simulateurs et des profiteurs du système.Lors de plusieurs réformes, les prestations des systèmes de sé-curité sociale ont été péjorées et les conditions à remplir pourbénéficier de ces prestations ont été durcies. La diminution desprestations de l’assurance chômage, notamment la réductionde la période d’indemnisation, le passage de 520 à 400 jours,ainsi que le durcissement dans l’application des dispositions del’assurance invalidité (AI) a fait augmenter le nombre des béné-ficiaires de l’aide sociale de plusieurs dizaines de milliers depersonnes.

Des contraintes accrues sur les individusLa politique sociale dominante tend à faire assumer par les in-dividus concernés la responsabilité de leur situation sociale dif-ficile et à leur attribuer à tort une capacité d’action dont ellesne disposent pas. Elle dissimule une évolution dont le but estde faire en sorte que les personnes sans emploi et celles qui sonten fin de droit doivent accepter n’importe quel emploi, aussiprécaire soit-il. Or cette politique met également sous pressiontoutes celles et tous ceux qui ont un emploi ›normal‹. La ›nor-malisation‹ du travail précaire force les travailleuses et travail-leurs à accepter une augmentation de la charge de travail et dustress ainsi qu’une détérioration généralisée des conditions detravail. Aujourd’hui, on aborde même plus certaines questionsqui faisaient l’objet de discussions intensives il y a vingt ans:les conditions de travail humaines, la protection de la santé etl’épanouissement au travail.

Problèmes de délimitation, doublons et travail administratif excessifLes différents systèmes de sécurité sociale sont le résultat deprocessus historiques. Au cours du siècle passé, les assurancessociales ont été instaurées petit à petit, avec leur logique juri-

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dique propre et avec leurs propres administrations. C’est pour-quoi les différentes assurances posent beaucoup de problèmesde chevauchements et de délimitation. Souvent, on ne sait pastrès bien si la perte de gain est due à un accident, à une mala-die ou à un handicap. Etant donné que toutes les assurancessociales s’efforcent de limiter leurs coûts (et qu’elles y sont con-traintes par la politique dominante), les cas individuels où lesassurances se débarrassent de la personne concernée sont fré-quents. Ainsi, les personnes, qui se retrouvent dans la zonegrise où il y a chevauchement de compétences des différentesassurances, sont souvent victimes de luttes bureaucratiques vi-sant à délimiter les domaines de responsabilités. Ces personnesdoivent parfois attendre des années pour toucher les presta-tions d’une assurance sociale et, pendant cette période, ellesrecourent à l’aide sociale.

Nombre croissant d’exclusionsLes évolutions évoquées entraînent des situations d’exclusionsur les plans matériel, culturel et social, situations qui perdu-rent de plus en plus souvent. Comme dans d’autres pays d’Eu-rope de l’Ouest, il se forme ainsi des milieux socioculturels quin’arrivent pratiquement plus à échapper à des situations d’em-ploi et de vie précaires. Aujourd’hui, ce danger menace surtoutles enfants provenant des pays d’Ex-Yougoslavie et de Turquiequi n’arrivent pas à intégrer le monde du travail après la fin deleur scolarisation. Dans le canton de Zurich, par exemple, ceproblème touchait près de 40% des élèves d’une même voléeau cours de ces dernières années.

Les objectifs d’une assurance générale du revenu

Avec la création d’une assurance générale du revenu, nous pro-posons une réforme globale fondamentale de tous les systèmesd’assurance sociale auxquels les personnes peuvent avoir re-cours pendant la période de leur activité professionnelle, lors-que le danger d’une perte de gain se présente. Notre proposi-tion de réforme englobe les ramifications suivantes des assu-

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rances sociales: l’assurance chômage; l’assurance invalidité; lerégime des allocations pour perte de gain en cas de maladie, deservice civil, de service militaire et de maternité; le système desprestations complémentaires et l’aide sociale. L’AGR garantitl’existence matérielle et sociale sous forme d’indemnités jour-nalières en cas de perte de gain temporaire et sous forme de ren-tes en cas d’incapacité de travail de longue durée ou définitive.Ce modèle permet aussi de combler une lacune importante dusystème actuel des assurances sociales suisses, à savoir la cou-verture de la perte de gain en cas de maladie. En effet, ce ris-que n’est actuellement couvert que pour les travailleuses et tra-vailleurs qui bénéficient de réglementations idoines dans leurconvention collective de travail (CCT) ou qui ont été volon-tairement assurés contre ce risque par leur employeur. De plus,le modèle de l’AGR intègre la couverture du minimum vital desfamilles en introduisant des prestations complémentaires pourles familles. Grâce aux prestations complémentaires, les pa-rents d’enfants en bas âge ont la possibilité d’assumer eux-mê-mes la prise en charge des enfants sans être confrontés à desproblèmes de minimum vital. De plus, la satisfaction des be-soins vitaux de base des enfants est ainsi assurée jusqu’à la finde scolarité obligatoire.

Grâce aux prestations de l’AGR, qui sont meilleures que cel-les des systèmes actuels, le nombre de bénéficiaires de l’aide so-ciale va diminuer de manière sensible. Le reste de l’aide socialeest réglementée par l’AGR. De cette manière, la couverture duminimum vital sera unifiée au niveau national, comme le de-mandent d’ailleurs depuis belle lurette les milieux compétentsdans ce domaine (p.ex. la CSIAS1). De manière générale, l’AGRentend libérer les personnes de la crainte de tomber dans lapauvreté. La sécurité matérielle ou sociale est garantie indé-pendamment des raisons qui expliquent dans un cas individu-el pourquoi une personne est confrontée à une perte de gain ouest empêchée d’exercer une activité lucrative. Les assuré-e-ssont tenus de fournir leur contribution à la société en accom-plissant un travail jugé convenable (›travail décent‹) selon lescritères l’OIT2, une agence de l’Organisation des nations unies

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(ONU). Cela implique également que on ne peut pas les forcerà accepter un travail avilissant, ›déqualifiant‹ ou précaire.L’unification des systèmes de sécurité sociale empêche lesdoublons ainsi que le travail administratif inutile. Les presta-tions de services-conseils, en nature ou de soutien sont fourniespar une source unique, ce qui est nettement plus efficient. Ce-la permet d’éviter que les personnes concernées ne doiventsupporter les disputes indignes et pesantes sur les plans psy-chique et matériel concernant à la question de savoir quelleassurance sociale est compétente dans un cas individuel. Au-jourd’hui, ces conflits occasionnent des coûts à hauteur de plu-sieurs millions de francs. En outre, rien ne justifie le fait qu’unaccident donne droit à des prestations nettement meilleures quecelles touchées en cas de maladie ou en cas de perte d’emploi.L’unification des prestations élimine les tentatives absurdes surle plan social d’assainir une assurance sociale aux dépens d’au-tres systèmes d’assurance, en reléguant simultanément un nom-bre de plus en plus important de personnes à l’aide sociale.

Les éléments-clés du modèle AGR

L’assurance générale du revenu implique les éléments-clés sui-vants:

• L’AGR est une assurance obligatoire englobant toutes les per-sonnes physiques en âge de pouvoir travailler qui exercent uneactivité professionnelle en Suisse ou/et qui résident en Suissemais n’exercent temporairement pas d’activité professionnelle.Elle inclut aussi bien les travailleuses et travailleurs indépen-dants que les personnes ayant un emploi fixe. L’AGR constitueun ensemble cohérent de réglementations. Cependant, commel’actuelle assurance chômage, elle collabore sur le plan orga-nisationnel avec une diversité d’organismes responsables afind’éviter une concentration du pouvoir bureaucratique. Dans cesystème, les assuré-e-s disposent de voies de droit librement ac-cessibles pour faire recours contre certaines décisions. En out-re, il est prévu de mettre en place un poste de médiateur.

• L’AGR garantit un équilibre entre les droits et les devoirs de

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chaque assuré-e et ceux de la société: les assuré-e-s sont tenu-e-s d’accepter un travail jugé convenable selon la définition du›travail décent‹. Inversement, la société a le devoir de mettre àdisposition de bons emplois. Une personne qui pour des raisonsliées à la situation de santé physique ou psychique n’est pas enmesure de fournir un travail jugé convenable touche une rente.Cependant, une personne qui est en principe capable d’effec-tuer un travail jugé convenable mais qui refuse de le faire n’adroit qu’au minimum vital garanti par la Constitution. Deplus, la situation de sa fortune et ses autres sources de revenuéventuelles doivent être pris en compte dans le calcul de la pre-station qui lui est versée.

• Indemnités journalières: Les prestations de l’AGR sont ana-logues à celles prévues par les règles de l’assurance chômage encas de perte de gain temporaire et s’élèvent à 80% du derniersalaire assuré. Une personne qui n’a aucun enfant à chargetouche 70% du dernier salaire assuré. Les prestations sont pla-fonnées. Quant aux allocations pour enfants, elles sont assu-rées à 100%.

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Notion de ›travail décent‹ selon les critères de l’OIT3

Selon l’Organisation internationale du travail, la notion de ›tra-vail décent‹ implique les critères suivants:

Sécurité• Sécurité de l’emploi et du revenu• Protection sociale• Protection légale• Non discrimination

Participation• Participation aux processus de prise de décisions • Liberté de s’exprimer et de s’organiser

Santé• Conditions de travail ne portant pas atteinte à la santé

Qualification• Droit à la formation continue et à la qualification profession-

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• Prestations complémentaires pour familles: A l’instar du mo-dèle tessinois (cf. chapitre XXX), ce type de prestation com-plémentaire comprend deux parties: il s’agit premièrement deprestations complémentaires pour les ménages ayant des en-fants jusqu’au 3 ans révolus ainsi qu’un revenu situé au-des-sous du minimum vital. Cette prestation complémentaire sertà couvrir le minimum vital de l’ensemble de la famille avec desenfants de moins de trois ans et elle est conçue comme une ré-munération compensant la perte de gain ou le temps consacréà la prise en charge des enfants. Elle doit couvrir la différenceentre le revenu disponible du ménage et les besoins de la familleconformément aux prestations complémentaires à l’AVS/AI.Les prestations complémentaires pour familles prévoient deu-xièmement des prestations pour des enfants de 0 à 16 ans defamilles à faible revenu. Cette prestation a pour but de garantirles besoins vitaux des enfants et des jeunes (mais non les fraisd’entretien des parents). La prestation à laquelle on a droit cor-respond à la différence négative entre les recettes déterminan-tes et les dépenses déterminantes selon la Loi sur les prestationscomplémentaires (LPC), mais son montant s’élève au plus à lasomme maximale des coûts hypothétiques de l’enfant.

• Rentes: La perte de gain de longue durée ou définitive donnedroit à une rente dont le montant s’élève à 80% du salaire as-suré. Lorsque le niveau de ces prestations ne couvre pas le mi-nimum vital, on a recours à des prestations complémentaires.

• Aide sociale: L’aide sociale intervient à titre subsidiaire pourgarantir une sécurité à des personnes se trouvant dans dessituations de difficultés individuelles où les indemnités journa-lières et les éventuelles prestations complémentaires pour fa-milles ne permettent pas de couvrir le minimum vital. De cettemanière, l’aide sociale devient une partie intégrante de l’AGRet ses prestations sont harmonisées au niveau national. Dansle cadre de l’aide sociale, la fortune et les autres sources de re-venu (p.ex. successions, gains en capitaux ou montants de loy-ers de biens immobiliers) sont prises en compte dans le calculdes prestations.

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• Les prestations en nature servant à l’insertion dans la vie pro-fessionnelle (anciennement les prestations en nature AI) conti-nuent à faire partie de l’AGR. Cette assurance verse des mon-tants destinés à créer et à faire fonctionner des programmesd’occupation appropriés pour les personnes avec des atteintesdurables.

• L’AGR comprend également des mesures de formation, dequalification et d’insertion pour des personnes avec des at-teintes et des déficiences spécifiques. Les programmes d’occu-pation qui permettent aux chômeuses et chômeurs de longuedurée de se qualifier et qui leur offrent un soutien, indépen-damment du fait qu’il s’agit de bénéficiaires d’indemnités jour-nalières AGR ou de bénéficiaires des prestations de l’aidesociale, seront maintenus et développés en cas de besoin. Lors-que certaines qualifications professionnelles actuelles ne sontplus nécessaires ou ne sont plus demandées, les prestations fi-nancières visant à soutenir les mesures de qualification profes-sionnelle devront être réglées dans le cadre d’une nouvelle loigénérale sur la formation qu’il convient de créer. Tant que cetype de réglementations fera défaut, l’AGR interviendra à titreprovisoire. La même mesure s’applique aux prestations actu-elles importantes de l’AI pour la scolarisation et la formationd’enfants et de jeunes ayant une déficience ou un handicap.L’AGR continue à garantir ces prestations, mais ces dernièresdevront à moyen terme être intégrées dans la nouvelle loigénérale sur la formation qu’il convient de créer.

Le financement de l’AGR

Le financement des prestations de l’AGR se base sur les mo-dèles des assurances sociales existantes: les travailleuses et tra-vailleurs, les employeurs et l’Etat y participent. Pour les em-ployé-e-s, une contribution calculée en pour cent du salaire estjudicieuse, tandis que pour les employeurs, une contributionbasée sur la valeur ajoutée est indiquée. Quant aux pouvoirspublics, leur contribution doit être puisée dans les recettesfiscales.

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La réforme prévue ne doit normalement entraîner aucuneaugmentation des contributions des employé-e-s et des em-ployeurs. Le ›cas normal‹ désigne ici la majorité des employé-e-s qui aujourd’hui déjà sont assurés contre le risque d’une per-te de gain en cas de maladie par le biais d’une assurance mala-die collective: soit parce que ces personnes sont soumises à uneconvention collective de travail CCT qui prévoit cette couver-ture, soit parce que leur employeur a volontairement concluune telle assurance ou qu’il compense lui-même une éventuelleperte de gain. Mais si une telle couverture fait défaut, l’AGRprévoit que les employé-e-s et les employeurs verseront despour cent de salaire à hauteur de 0.8% pour assurer le finan-cement des indemnités journalières en cas de maladie. Le fi-nancement du reste du développement des prestations doit sefaire d’une part au moyen de gains d’efficience obtenus parl’unification des systèmes d’assurance sociale et d’autre part àl’aide de moyens fiscaux que l’on peut se procurer de différen-tes manières. Parmi les moyens pouvant entrer en ligne decompte figurent par exemple la création d’un nouvel impôt surles successions, une taxe sur l’énergie, la mise en place d’unimpôt fédéral direct plus progressif sur les hauts revenus, etc.Si le chômage dépasse un certain taux, alors il convient de faireentrer en vigueur un impôt de solidarité sur les bénéfices, lesrevenus et les fortunes élevés, dont les recettes seront attribuéesà l’AGR.

L’AGR, le contrat social et les concepts du ›revenu social de base‹

Notre proposition se fonde sur une compréhension sociale, dé-mocratique et libératrice de la notion de ›contrat social‹4. Lesindividus sont tenus de fournir un travail utile à la société, afinque cette dernière puisse se maintenir, se reproduire et se déve-lopper. Cependant, les conditions sociétales doivent être amé-nagées de manière à permettre la participation de tous lesindividus au travail socialement utile et de sorte à ce que cetravail corresponde aux critères du ›travail décent‹ défini par

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l’OIT. Cela implique que personne ne peut être forcé à accep-ter un travail avilissant, préjudiciable à la personne, mal payéou ›déqualifiant‹.

Un contrat social, démocratique et émancipateur signifieaussi que la responsabilité et le pouvoir d’action concordent auniveau individuel. Il n’est pas admissible que des individussoient rendus responsables des conséquences de certaines si-tuations dont ils n’ont pas la possibilité d’influencer les causes.Si les forces et classes sociales dominantes ne veulent ou ne peu-vent pas donner la possibilité à toutes les personnes d’accéderà un travail utile à la société, alors cette dernière doit assurerle revenu de toutes celles et de tous ceux qui sont exclus du tra-vail rémunéré.

En raison de l’existence d’un chômage incompressible delongue durée et des pressions accrues sur les conditions de tra-vail, les propositions visant à instaurer un revenu social de basesont devenues un thème récurrent dans les débats politiques.Entre la proposition concernant une ›assurance générale du re-venu‹ et celle d’un ›revenu social de base‹, il existe des point deconvergence. Les deux propositions jugent important de com-battre la pression visant à soumettre les travailleuses et tra-vailleurs à toute forme de travail et d’intégrer les activités dela ›care economy‹ dans le système. Cependant, certaines pro-positions concernant l’instauration d’un revenu social de basefixent, pour des raisons de financement, des prestations telle-ment basses que cela ne diminuerait pas la pression exercée surles personnes pour qu’elles acceptent un travail précaire et quecela laisserait présager d’importantes mesures de démantèle-ment supplémentaires au niveau des assurances sociales exi-stantes.

Si nous émettons des réserves d’ordre général sur bon nom-bre de concepts concernant le revenu social de base, nous som-mes également sceptiques sur les trois points précis suivants:

• Le modèle du revenu social de base promet de libérer les per-sonnes de toutes les contraintes au moyen d’une seule mesure.Mais comme ces contraintes ne disparaîtraient qu’avec la mise

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en place d’un revenu social de base accordé sans conditions etdont le montant serait suffisamment élevé, sa réalisation parétapes est difficile et son efficacité est faible dans un premiertemps. Le financement d’un modèle de revenu social de basesuffisamment élevé reste illusoire et utopique sans une refontefondamentale de l’ensemble de la société.

• Le concept de revenu social de base est construit pour desclasses moyennes culturellement mobiles et bénéficiant de lapossibilité d’exercer une activité professionnelle complémen-taire intéressante. Pour les personnes qui n’ont pas d’autre per-spective que celle de toucher un revenu social de base en assu-mant des emplois précaires, ce concept n’est pas attrayant.

• Le concept du revenu social de base libère les individus ducontrat social. Cela engendre inévitablement une séparationentre les personnes qui ›travaillent‹ et celles qui ›touchent unerente‹. Il s’agit d’une séparation qui risque de créer des tensionsqui, sans aucun doute, seraient instrumentalisées par la droite.

Pour nous, le modèle du revenu social de base comporte le dan-ger de devenir un outil utilisé par la droite néolibérale pour ad-opter des mesures de démantèlement social. Ce danger croît aufur et à mesure que les partisans de gauche du modèle de reve-nu social de base s’accrochent à un projet irréalisable et que lespartisans ›pragmatiques‹ du revenu social de base aspirent àdes alliances s’inspirant de la ›Realpolitik‹ et sont prêts à ac-cepter des mesures de démantèlement social ainsi que des pro-grammes de politique fiscale visant à redistribuer les ressourcesen échange de la concrétisation du revenu social de base.

L’AGR et le discours sur la ›flexicurité‹L’AGR est également importante en relation avec le discourssur la ›flexicurité‹. Les partisan-ne-s du concept de la ›flexicu-rité‹ affirment qu’il est possible de concilier la flexibilisation dumarché du travail et la protection sociale des travailleuses ettravailleurs et que ces deux éléments doivent être conçus com-me étant complémentaires. Etant donné les fortes pressions surle monde du travail, les personnes qui adhèrent à ce discours

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estiment qu’il est faux de vouloir empêcher des licenciementspour motifs économiques, les changements intervenants au ni-veau de la charge de travail, etc. En contrepartie, affirment-el-les, il convient d’augmenter la protection sociale des personnesconcernées. Si l’on prend au sérieux cette affirmation, alors ladérégulation des conditions de travail doit s’accompagner d’unréajustement global des systèmes de protection sociale. Dansun monde du travail flexibilisé, les besoins et les possibilités destravailleuses et travailleurs d’exercer une activité profes-sionnelle sont flexibles au cours de leur vie. Une politique so-ciale qui adhère au principe de la ›flexicurité‹ fournit la garan-tie que ce système n’engendre par de problèmes de couverturedu minimum vital. Si le travail effectué au cours de la vie doitêtre conçu comme une combinaison flexible d’activités profes-sionnelles, de prise en charge, communautaires et personnelles,alors il convient de prévoir des mécanismes de contrôle ainsique des marges de manœuvre aux passages d’un type d’activitéà un autre. La réversibilité des passages doit être assurée. Dansce contexte, l’AGR peut être comprise comme une réponse àce besoin de réajustement sociopolitique. Elle constitue unecouverture au moins partielle des risques liés au monde du tra-vail salarié, dans la mesure où elle garantit une meilleure sécu-rité lors du passage d’une phase de prise en charge des enfantsvers une activité professionnelle et du fait qu’elle améliorenettement la situation des travailleuses et travailleurs indépen-dants. Cependant, cela ne signifie pas que nous sommes fa-vorables à toute forme de flexibilisation. S’il convient de saluerbon nombre de processus d’ajustement, qui sont déterminéspar les mutations technologiques et par l’utilisation de nou-veaux procédés ou qui sont rendus nécessaires en vertu desprincipes du développement durable, ces processus doivent né-anmoins être définis de manière compatible avec les exigencessociales. Il convient de rejeter les mesures de flexibilisation del’organisation du travail (par exemple le travail sur appel, letravail à temps partiel non choisi), car elles affaiblissent la po-sition des travailleuses et travailleurs et s’inscrivent dans desmodèles de précarisation et dans un contexte favorisant le phé-

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nomène des ›working poors‹. Il faut également améliorer sensi-blement la protection contre les licenciements abusifs en Suisse(par exemple par rapport aux activités syndicales).

Les limites du modèle de l’AGR

La proposition d’une assurance générale du revenu est compa-tible avec les systèmes d’assurance existant actuellement dansnotre pays. Etant donné qu’elle est conçue comme une cou-verture sociale, elle se rallie aux institutions sociopolitiquesconnues et bien établies en Suisse; en outre, elle tient comptedes voies historiques qui se sont formées ici pour résoudre lesproblèmes sociaux. Or, cette nouvelle assurance ne résout pasà elle seule les problèmes découlant des inégalités sociales crois-santes de même que la désintégration sociétale. Ce n’est possi-ble qu’en association avec d’autres systèmes de régulation so-ciétaux. C’est ainsi que les activités dans le domaine de la ›careeconomy‹ doivent être mieux garanties, de même que la thé-matique de la formation à vie et le droit au perfectionnementprofessionnel doivent être repensés; l’objectif est de fournirdavantage de liberté de création dans la vie des individus et deleur donner la possibilité de compléter leur formation. Paral-lèlement, d’autres exigences importantes doivent être imposéesdans le domaine du travail rémunéré: ce qui est absolument in-dispensable, c’est la lutte en faveur d’un travail décent (›decentwork‹) au sens de l’OIT, le combat pour des salaires minimauxconvenables et la répartition du travail disponible, c’est-à-direune réduction du temps de travail appropriée à la situation ac-tuelle. L’engagement pour un travail égal à salaire égal est toutaussi indispensable.

Le succès ne sera durable uniquement si les politiques so-ciale, éducative, familiale et du marché du travail sont intégréesdans un concept cohérent. Dans un monde qui se transformerapidement, il faut, entre autres, une politique d’éducation vo-lontariste qui englobe aussi les adultes et leur permette d’évolu-er continuellement au niveau personnel, professionnel et social.Au Danemark, une coordination exemplaire des différentes

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politiques publiques a été pratiquée il y a quelques années: despersonnes actives ont été encouragées à arrêter leur activitélucrative pendant une année pour permettre à un chômeur dese réintégrer dans le monde du travail. Pour les personnesayant cessé de travailler, la perte de leur revenu respectif a étéremplacée par l’Etat. Ce programme a été une grande réussite.Toutefois, il était orienté dans le seul but d’intégrer les chômeu-ses et chômeurs et n’a pas été transféré dans une régulation du-rable, une fois qu’il avait rempli sa fonction immédiate. La po-litique de formation ne doit pas se transformer en une espèced’appendice des besoins actuels sur le marché du travail. Car,d’une part, la formation ne doit pas être réduite à la seule ca-pacité de s’insérer sur le marché du travail, l’épanouissementindividuel et les possibilités d’intégration sociale étant toutaussi importants. D’autre part, la politique éducative ne doitjustement pas être structurée par des points de vue trop bornés.C’est la raison pour laquelle nous renonçons à intégrer de nou-veaux modèles de politique intégrative et de qualification dansl’AGR. On ferait mieux de régler dans une nouvelle loi généralesur la formation les prestations de soutien pour les mesures dequalifications professionnelles, si les actuelles ne sont plusnécessaires ou demandées. A cet égard, il y a par exemple lieud’élargir fortement le domaine des bourses d’étude. Or, tantque de telles réglementations manquent, l’AGR doit servir àtitre intérimaire et cofinancer des offres de qualification.

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Notes1 La Conférence suisse des institutions de l’action sociale (CSIAS) est une

association professionnelle qui élabore des normes pour le concept et lecalcul de l’aide sociale. Les cantons (qui sont membres de la CSIAS) nesont cependant pas tenus d’appliquer ces normes.

2 Cf. les articles parus dans l’annuaire 2006 du Réseau de réflexion ou lestextes sous:http://www.ilo.org/public/english/standards/relm/ilc/ilc87/rep-i.htm.

3 http://www.cinterfor.org.uy/public/english/region/ampro/cinterfor/publ/sala/dec_work/ii.htm.

4 Nous sommes conscients du fait que l’utilisation du terme ›contrat soci-al‹ peut être problématique, car il peut faire oublier le fait que l’équilibreexigé entre les obligations et les droits des membres de la société ne peutêtre instauré dans un espace exempt de domination. La notion de ›con-trat‹ doit plutôt être comprise le résultat de débats sociétaux et c’est ain-si que nous l’utilisation dans le présent texte.

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Denknetz lanciert Reformdebatte

Im Denknetz kommen Menschen mit unterschiedlichsten Auf-fassungen zusammen, um gemeinsam über aktuelle Fragen ausder Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitspolitik nachzudenken.Was sie verbindet, ist die Orientierung an den Grundwertender Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Gemeinsam ist ihnenauch das Interesse an der Vernetzung von Forschung und Po-litik und an der Erarbeitung politischer Orientierungsangebo-te. Das Denknetz versteht sich auch als Plattform für Reform-vorschläge. Das Modell einer allgemeinen Erwerbsversiche-rung wurde von einer Denknetz- Fachgruppe erarbeitet und inder Kerngruppe wie auch im Vorstand ausführlich diskutiert.Mit diesem Text nehmen Kerngruppe und Vorstand im Namendes Denknetzes dazu Stellung.

Das Denknetz lanciert ein neues Modell für die soziale Siche-rung in der Erwerbsphase. Die Allgemeine Erwerbsversiche-rung AEV will ein solidarisches und gerechtes Auffangnetz füreine Vielzahl von Situationen bieten, in denen Menschen keineErwerbsarbeit ausüben können. Die materielle Existenz unddie Teilhabe am sozialen Leben sollen im Grundsatz nach ein-heitlichen Kriterien gewährleistet werden, unabhängig davon,ob die Erwerbslosigkeit auf Krankheit, Unfall oder Arbeitslo-sigkeit zurückzuführen ist.

Das AEV-Modell behebt verschiedene Mängel des heutigenSystems und schliesst wichtige Lücken. Die heutige Uneinheit-lichkeit und Unübersichtlichkeit der sozialen Sicherungssyste-me bietet Raum für eine Politik, die die Betroffenen aus denbesser versorgenden in die schlechteren Systeme verdrängt.Durch den Leistungsabbau in der Arbeitslosen- und der Inva-lidenversicherung sind in den letzten Jahren ZehntausendeMenschen in die Sozialhilfe abgeschoben worden, wo sie zu-nehmend unter Druck gesetzt werden, Arbeit zu schlechtenBedingungen und zu sehr tiefen Löhnen zu akzeptieren. Das

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wiederum bringt reguläre Löhne in Bedrängnis, was zu einerAusweitung der Gruppe der Working Poor führt und den Kreisder Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger noch einmalvergrössert – ein sozialpolitisch kontraproduktiver Teufels-kreis, den es zu durchbrechen gilt.

Das soziale Sicherungssystem der Schweiz hat sich in denletzten Jahrzehnten zu einem Dschungel ausgewachsen, in demauch Fachleute grösste Mühe bekunden, die Übersicht zu be-halten. Das Gesamtsystem ist schwerfällig geworden. Ände-rungen führen zu unerwünschten Nebeneffekten. Die Unein-heitlichkeit erzeugt vermeidbare Armutsrisiken: Situationen, indenen die Betroffenen oft jahrelang auf gerichtliche Entscheidewarten, weil unklar ist, welche Versicherung zuständig ist. Ty-pische Streitfragen entstehen zum Beispiel in der Abgrenzungvon Krankheit und Unfall. Die Betroffenen geraten dabei oft-mals in Notlagen und müssen Sozialhilfe in Anspruch nehmen– eine gleichermassen unnötige wie unwürdige Situation.

Die AEV fasst alle sozialen Sicherungssysteme, welche dieEinkommens- und Existenzsicherung während der biografi-schen Erwerbsphase abdecken, zusammen. Das betrifft die Ar-beitslosenversicherung ALV, die Invalidenversicherung IV, denerwerbssichernden und präventionsorientierten Teil der Unfall-versicherung UV, die Erwerbsersatzordnung EO (Militärdienstund Mutterschaft) und die Sozialhilfe. Das AEV-Modell inte-griert den Krankheitsfall und überführt damit die Kranken-taggeld-Versicherung in ein Obligatorium. Damit wird eineempfindliche Lücke geschlossen. Neu eingeführt werden Fami-lienergänzungsleistungen. Damit kann eine bedeutende Ar-mutsfalle gemildert werden, nämlich für die eigenen Kinder zusorgen und aufzukommen. Die Zusammenführung der Versi-cherungssysteme vermeidet Doppelspurigkeiten und reduziertadministrative Aufwände. Die so frei werdenden Mittel sollenfür Leistungsverbesserungen genutzt werden.

Die zentralen Leistungen des AEV-Modells umfassen Tag-gelder bei vorübergehender und Renten bei bleibender Erwerbs-losigkeit, Ergänzungsleistungen bei ungenügenden Renten undfür Familien, individuell abgestimmte Integrationsleistungen

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sowie weiterhin die Sozialhilfe. Die AEV leistet im BedarfsfallBeratung und Unterstützung mit dem Ziel, Betroffenen dieWiederintegration ins Erwerbsleben zu ermöglichen.

Wer seit fünf oder mehr Jahren in der Schweiz wohnt, sollneu Anspruch auf zeitlich unbegrenzte Taggelder haben. Sowird verhindert, dass Menschen ohne eigenes Verschulden anden Rand der Gesellschaft geraten. Entsprechende Ängste kön-nen abgebaut werden. Die Sozialhilfe wird wieder auf ihre ur-sprüngliche Kernaufgabe zurückgeführt, nämlich Menschen inaussergewöhnlichen Notlagen materiell und beratend zu unter-stützen.

Jede AEV-versicherte Person ist gehalten, alles Zumutbarezu unternehmen, um arbeiten zu können, sofern sie dazu in derLage ist. Umgekehrt soll verhindert werden, dass erwerbsloseMenschen prekäre, schlecht bezahlte, unwürdige oder dequali-fizierende Arbeit annehmen müssen. Der von der UNO-Orga-nisation International Labor Organisation (ILO) formulierteAnspruch, wonach Menschen Anrecht auf faire Arbeit (DecentWork) haben, muss eingelöst werden. Decent Work im Sinn derILO gewährleistet soziale Sicherheit und Arbeitnehmerrechte,ist produktiv, nicht gesundheitsschädigend und wird angemes-sen entlöhnt.

Das Armutsrisiko Kinder kann dank der Einführung von Er-gänzungsleistungen (EL) für Familien deutlich gemildert wer-den. Der Kanton Tessin hat 1997 eine Familien-EL eingerich-tet, und die bisherigen Erfahrungen bestätigen deren Wirksam-keit. Die AEV will damit nicht zuletzt die Anerkennung derKinderbetreuung als gesellschaftlich wertvoller Arbeit stärken.

Mit der AEV kommen Sach- und Unterstützungsleistungenaus einer Hand und können deshalb gezielter und effizienter er-bracht werden. Die Unterstützung und Betreuung wird wirk-samer, weil die repressiven Komponenten vermindert werden.Die organisatorische Ausgestaltung der AEV ist so vorzuneh-men, dass die Versicherten zwischen mehreren voneinander un-abhängigen Versicherungsorganisationen frei wählen können.Ein Wechsel der Versicherung muss möglich sein. Ähnlich wieheute in der Arbeitslosenversicherung, sollen neben staatlichen

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auch private Non-Profit-Trägerschaften als Versicherungsor-ganisationen zugelassen sein. Die Versicherungen müssen sichan definierte Qualitätsstandards halten (z.B. maximale Bear-beitungsfristen, Zeitbudgets für die persönliche Betreuung derVersicherten etc.). So werden die Voraussetzungen geschaffen,um eine qualitativ gute Betreuung zu stützen und Missbräuche,Bürokratismus und Verwaltungsmentalitäten zu minimieren.

Mit der AEV wird ein Akteur geschaffen, der aus seinerRolle heraus bestens geeignet ist, wirksame Prävention zu be-treiben und alles zu unternehmen, um die Arbeitsfähigkeit derBetroffenen zu erhalten oder wiederherzustellen. Vorbild istdabei die SUVA. Die AEV ist für die ganze Phase der Erwerbs-tätigkeit zuständig und hat deshalb auch als Institution einInteresse, die Versicherten langfristig optimal zu betreuen undihnen einen nachhaltigen Wiedereinstieg in die Erwerbsarbeitzu ermöglichen.

Das AEV-Modell gründet auf der Voraussetzung, dass diegegenseitigen Ansprüche von Gemeinschaft und Individuumausgewogen sind. Auf der einen Seite hat jedes Mitglied der Ge-sellschaft die Pflicht, im Rahmen seiner Möglichkeiten zum Er-halt und zur Zukunft der Gesellschaft beizutragen und dabeigleichzeitig für die Sicherung seiner eigenen Lebensgrundlagenzu sorgen. Auf der anderen Seite sind gesellschaftliche Ver-hältnisse so zu gestalten, dass jeder Mensch seinen Beitrag –seine Arbeit – unter zumutbaren Bedingungen erbringen kann.Verantwortung und Einfluss müssen dabei in Übereinstimmunggebracht werden. Den Menschen darf keine ›Eigenverantwor-tung‹ für Verhältnisse überbürdet werden, die sich ausserhalbihrer Einflussmöglichkeiten befinden (z.B. Massenarbeitslosig-keit). Die kollektive Verantwortung für eine erfolgreiche, de-mokratische Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse hin-gegen soll gestärkt werden. Das heisst unter anderem, dass einSozialversicherungssystem Fortschritte bei den Inhalten undBedingungen fördert, unter denen Arbeit geleistet wird – alsogenau das Gegenteil dessen, was die Dynamik des aktuellenSystems bewirkt.

Es versteht sich, dass die AEV nicht alle sozialpolitischen

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Probleme lösen kann. Es gilt eine ganze Reihe von weiterenAufgaben anzupacken. Namentlich sind wir der Meinung, dassdie berufliche Grund- und Weiterbildung gestärkt und dasStipendienwesen markant ausgebaut werden müssen. Erzie-hungspflichtige Eltern sind mit einem breiteren Angebot anfinanziell tragbaren Betreuungsplätzen in Kindertagesstättenund einem angemessenen Elternurlaub zu unterstützen. Esmuss dafür gesorgt werden, dass genügend gute Arbeit für alleverfügbar ist – zum Beispiel mit gezielten Arbeitszeitverkür-zungen und mit der Schaffung der benötigten Arbeitsplätze inder familienergänzenden Kinderbetreuung und im Gesund-heitswesen. Auch der Einsatz für faire Mindestlöhne muss fort-geführt werden.

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Réseau de réflexion lance un débat de réforme

Réseau de réflexion est un point de rencontre où des person-nes aux conceptions les plus diverses réfléchissent en communsur des questions actuelles ayant trait à la politique économi-que, sociale et du travail. Ce qui les unit, c’est une orientationvers des valeurs fondamentales que sont la liberté, l’égalité etla solidarité. L’intérêt d’une mise en réseau de la science et dela politique, de même qu’envers l’élaboration de propositionsd’orientation représente également un élément commun de cespersonnes. Et finalement, Réseau de réflexion constitue uneplate-forme pour des propositions de réforme. En effet, le mo-dèle d’une ›assurance générale du revenu (AGR)‹ a été élaborépar un groupe de spécialistes issus de Réseau de réflexion(groupe central, comité) et a ensuite été discuté de manièredétaillée dans les organes. Au nom de Réseau de réflexion, lecomité ainsi que le groupe central prennent position sur le texteci-après.

Réseau de réflexion lance un nouveau modèle de sécurité so-ciale durant la vie active. L’assurance générale du revenu a pourobjectif d’offrir un filet de sécurité ou de rattrapage qui soitsolidaire et équitable pour une multitude de situations danslesquelles les êtres humains ne peuvent pas exercer d’activitélucrative. L’existence matérielle ainsi que la participation à lavie sociale doit en principe être garantie par des critères uni-formes, indépendamment du fait que l’activité lucrative faisantdéfaut est imputable à une maladie, à un accident ou au chô-mage.

Le modèle précité élimine diverses anomalies du système ac-tuel et comble des lacunes importantes. Le manque d’unifor-mité et de transparence des systèmes d’assurance sociale offrele champ libre à une politique où les personnes concernées sontcontraintes de passer d’un système d’assurance meilleur vers un

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plus mauvais. En effet, dans la foulée du démantèlement desprestations de l’assurance-chômage et invalidité, des milliers depersonnes ont littéralement atterri ces dernières années à l’ai-de sociale, une situation où elles sont de plus en plus mises souspression et les obligeant à accepter du travail à de mauvaisesconditions et à un revenu très bas. Cette dynamique, à son tour,met les salarié-e-s réguliers sous pression, élargissant ainsi legroupe des working poor et par conséquent celui des bénéfi-ciaires d’aide sociale – un cercle vicieux contreproductif auniveau socio-politique, et qu’il y a lieu de rompre.

Le système de sécurité sociale en Suisse a dégénéré ces der-nières années en une jungle dans laquelle même les spécialistesavouent ne plus avoir la vue d’ensemble. Alors que tout le sy-stème est devenu lourd, les changements entraînent des effetssecondaires indésirables. Le manque d’unité crée des risques depaupérisation, qui seraient évitables; ce sont des situationsdans lesquelles les personnes concernées attendent souvent du-rant des années l’issue de décisions juridiques du fait qu’il n’estpas clair quelle assurance est responsable du cas en question.Des questions litigieuses typiques surgissent par exemple àpropos de la délimitation entre maladie et accident: souvent,les personnes impliquées sont entraînées dans des situationsd’urgence et doivent par conséquent recourir à l’aide sociale –une situation à la fois inutile et indigne.

Or, l’assurance générale du revenu regroupe pour ainsi diretous les systèmes d’assurance sociale qui garantissent le reve-nu et le minimum vital durant la vie active. Ceci concerne tantl’assurance-chômage (AC) que l’assurance-invalidité (AI), lapartie préventive et garantissant le revenu de l’assurance-acci-dents (AA), les allocations pour perte de gain APG (service mi-litaire et maternité) ainsi que l’aide sociale. Le modèle de cettecouverture générale intègre le cas de la maladie et fait passerl’assurance d’indemnité journalière en cas de maladie dans lerégime obligatoire. Ce faisant, une importante lacune est com-blée. Les prestations complémentaires pour familles serontdorénavant introduites, un important piège de pauvreté, à sa-voir la prise en charge de ses propres enfants, pouvant ainsi être

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évité en partie. En outre, par le regroupement des systèmesd’assurance, il est aussi possible d’éviter des doublons et deréduire la paperasserie administrative. Les moyens dégagésdevront être utilisés à l’amélioration des prestations.

Les prestations centrales du modèle de l’assurance généraledu revenu englobent les indemnités journalières en cas de chô-mage passager de même que les rentes si le chômage est dura-ble, les prestations complémentaires pour les familles et en casde rente insuffisante, les prestations d’intégration individuelle-ment adaptées et, comme par le passé, l’aide sociale. En outre,l’AGR offre, en cas de besoin, des conseils et le soutien néces-saire avec le but de permettre la réintégration des personnesconcernées dans la vie active.

Quiconque habite depuis 5 ans ou plus en Suisse devraitdorénavant avoir droit à des indemnités journalières de duréeillimitée. Ce faisant, l’on évite que des êtres humains ne soientmarginalisés dans la société – sans faute qui leur soit imputa-ble – et les peurs qui en découlent peuvent être éliminées. L’aidesociale est ramenée par conséquent à sa tâche essentielle, àsavoir soutenir matériellement et au moyen de conseils des fem-mes et des hommes qui se trouvent dans des situations d’ur-gence extraordinaires.

Chaque personne couverte par cette assurance générale esttenue d’entreprendre tout ce que l’on peut raisonnablementexiger d’elle en vue d’un travail, et pour autant qu’elle en soitcapable. A contrario, il faut éviter que des chômeuses et chô-meurs soient contraints d’accepter un travail précaire, malpayé, indigne, voire disqualifiant. Le droit formulé par l’Or-ganisation Internationale du Travail (OIT) de l’ONU selon le-quel les êtres humains peuvent faire valoir un travail décent(›decent work‹) doit être appliqué. Le ›decent work‹ au sens del’OIT garantit la sécurité sociale et les droits des travailleurs ettravailleuses; en plus, il ne nuit pas à la santé et est rémunéréde façon appropriée.

Le risque de paupérisation dû aux enfants peut, grâce à l’in-troduction de prestations complémentaires pour les familles,être atténué. Le canton du Tessin a instauré de telles prestations

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en 1997 et les expériences faites jusqu’à présent confirmentleur efficacité. L’assurance générale du revenu veut aussi ren-forcer la reconnaissance de l’accueil des enfants en tant que tra-vail précieux au sein de la société.

Grâce à l’AGR, les prestations matérielles et de soutien pro-viennent d’une seule source et peuvent par conséquent êtrefournies de manière plus ciblée et efficace. Le soutien et la priseen charge deviennent plus efficaces parce que les composantesrépressives sont amoindries. Son organisation structurelle doitêtre telle que les assuré-e-s ont la possibilité de choisir entreplusieurs institutions indépendantes les unes des autres, etégalement de changer d’assurance. A l’instar de l’actuelle as-surance-chômage, des organisations privées à but non lucratifdoivent être admises – en plus des organisations étatiques – enqualité d’’institutions d’assurance. Les assurances doivent setenir à des standards de qualité définis (p. ex. délais de traite-ment maximaux, budgets de temps pour la prise en charge per-sonnelle des assuré-e-s, etc.). Ce faisant, les conditions sontréunies pour soutenir un encadrement performant au niveau dela qualité et pour diminuer ainsi les abus, la bureaucratie et évi-ter les mentalités propres au monde de l’administration.

Grâce à l’assurance générale du revenu, un acteur est créédont le rôle est parfaitement adapté pour faire de la préventionefficace et pour maintenir ou réactiver la capacité de travail dela personne concernée. La SUVA est un bon exemple à cetégard. L’AGR couvre toute la durée de l’activité lucrative, rai-son pour laquelle elle est aussi intérerssée, en tant qu’institu-tion, d’encadrer les assuré-e-s à long terme et de manière opti-male et, par conséquent, de leur permettre une réintégrationdurable dans l’activité professionnelle.

Le modèle de cette nouvelle couverture se base sur le fait queles droits réciproques entre la communauté et l’individu sontéquilibrés; d’une part, chaque membre de la société a la devoir,dans le cadre de ses possibilités, de pourvoir au maintien et àl’avenir de la société et, dans le même temps, de veiller à garan-tir sa base naturelle de vie; d’autre part, les conditions socié-tales doivent être créées de telle façon que chaque personne

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puisse apporter sa contribution, c’est-à-dire exercer son travaildans des conditions que l’on peut judicieusement exiger d’elle.La responsabilité et l’influence doivent ainsi concorder. En ef-fet, l’on ne peut pas imputer une ›responsabilité individuelle‹ àdes être humains pour des situations qui se trouvent en dehorsde leur pouvoir d’influence, en l’occurrence le chômage demasse. La responsabilité collective pour une structuration posi-tive et démocratique de la situation sociale doit par contre êtrerenforcée. Cela signifie, entre autres, qu’un système d’assu-rances sociales génère du progrès concernant le contenu et lesconditions sous lesquelles un travail est fourni – c’est-à-dire àl’opposé de ce que produit la dynamique du système actuel.

L’on comprendra aisément que l’assurance générale du reve-nu n’élimine pas tous les problèmes socio-politiques. Il s’agitde s’atteler à toute une série d’autres tâches, qui ne peuvent pasêtre résolues par la couverture que nous proposons. En effet,nous sommes d’avis que la formation professionnelle de baseet le perfectionnement doivent être renforcés et les boursesd’étude massivement élargies. En outre, il y a lieu de soutenirles parents en charge de l’éducation de leurs enfants par uneoffre plus large de places d’accueil qui soient financièrementsupportables, et au moyen d’un congé parental approprié. Ilfaut veiller à ce que suffisamment de travail valable soit dis-ponible pour toutes et tous (par exemple en réduisant de ma-nière ciblée la durée de travail et en créant les emplois néces-saires dans l’accueil extrafamilial des enfants et dans le secteurde la santé). Et finalement, l’application de salaires minimauxet équitables doit être poursuivie.

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Krankentaggelder: AEV schliesst Armutsfalle

Von Beat Ringger

Im heutigen Versicherungssystem der Schweiz klafft eine ge-fährliche Lücke, die für Betroffene rasch und unverhofft zu ei-ner Armutsfalle werden kann. Die Schweiz kennt nämlich kei-ne obligatorische Abdeckung des Erwerbsausfalls bei Krank-heit, sondern lediglich eine im Obligationenrecht geregeltebescheidene Lohnfortzahlungspflicht durch die Arbeitgeber.1

Zwar ist die grosse Mehrheit der Arbeitnehmenden heute trotz-dem geschützt, weil über Gesamtarbeitsverträge (GAV) oderauf freiwilliger Basis private Krankentaggeld-Versicherungenzum Tragen kommen. Viele private Arbeitgeber, aber auch dieöffentliche Hand haben für ihre Belegschaften mit Privatversi-cherern Kollektivverträge abgeschlossen. In der Regel deckendiese Verträge den Erwerbsausfall nach dem 30. Krankheitstagab. Häufig werden die ArbeitnehmerInnen mit Lohnprozentenan den Versicherungskosten beteiligt. Ausfälle unter 30 Tagenübernimmt der Arbeitgeber auf eigene Rechnung. Doch blei-ben wichtige Lücken. Wechselt der Arbeitgeber die Versiche-rung, kann diese beschliessen, bestehende Krankheitsrisikenvom neuen Vertrag auszunehmen. Wer arbeitslos wird, verliertden Schutz der Kollektivversicherung und muss eine in der Re-gel sehr teure private Einzelversicherung abschliessen. Wer diesvergisst oder unterlässt, verliert im Krankheitsfall nach 30 Ta-gen das Anrecht auf Arbeitslosentaggelder, weil sie oder erdann nicht mehr als vermittelbar gilt. Kleinbetriebe und selbst-ständig Erwerbende verfügen häufig über gar keine Taggeld-versicherung. Einige Beispiele aus dem Beratungsalltag vonGewerkschaften2 veranschaulichen, welche Konsequenzen dasfür Betroffene haben kann.

Frau K. war jahrelang als Pflegende in verschiedenen Kran-kenheimen tätig. Sie zog sich dabei ein chronisches Rückenlei-den zu. An ihrer letzten Arbeitsstelle wurde darauf Rücksichtgenommen, und sie musste keine körperlich belastenden Ar-

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beiten – zum Beispiel Umlagerungen von PatientInnen – über-nehmen. Als die Klinik die Pforten schloss, wurde die nunmehr62-jährige Frau K. arbeitslos. Das horrend teure Angebot derangestammten Krankentaggeld-Versicherung schreckte sie ab,der Wechsel zu einer anderen Versicherung war verbaut, weildiese ihr Rückenleiden von den Leistungen hätte ausschliessenkönnen. Das RAV drängt Frau K. nun dazu, eine neue Stelle an-zutreten, weil sie sonst nicht als vermittelbar gelte – mit unab-sehbaren Folgen für ihren Rücken.

Herr Z. arbeitete während rund zehn Jahren in der gleichenPizzeria. Während all der Jahre wurden ihm Prämienanteile fürdie Krankentaggeld-Versicherung vom Lohn abgezogen. Voreinem halben Jahr stellte sich heraus, dass Herr Z. an einemschweren Augenleiden erkrankt ist, das im schlimmsten Fallzur Invalidität führen kann. Die Pizzeria wird von einem neu-en Pächter übernommen, der mit einer neuen Versicherungeinen neuen Krankentaggeld-Vertrag vereinbart. Die Versiche-rung schliesst das Augenleiden von Herrn Z. aus ihren Leis-tungen aus. Trotz jahrelanger Prämienzahlung erhält Herr Z.bei eintretender Arbeitsunfähigkeit folglich nur Leistungennach OR. Herr Z. hat vielleicht Anrecht auf eine IV-Rente; ent-sprechende Abklärungen können jedoch mehrere Jahre dauern.In der Zwischenzeit wird er, sobald er sein Privatvermögen ver-braucht hat, auf Sozialhilfe angewiesen sein.

Herr B. arbeitete rund 30 Jahre in verschiedenen Baubetrie-ben und war stets für Krankentaggeld versichert. Vor wenigenJahren musste er infolge Konkurses des Arbeitgebers die Stellewechseln. Er wurde ernsthaft krank, und kurz nach seiner Er-krankung gab auch der neue Betrieb auf. Die Krankentaggeld-Versicherung bietet Herrn B. nun eine Einzelversicherung an,bei der er für ein Taggeld von CHF 134.– eine Monatsprämievon sage und schreibe CHF 855.55 bezahlen muss. Herr B. hatkeine Wahl: eine andere Versicherung würde ihn nicht aufneh-men. Er muss die teuren Prämien bezahlen.

Bei diesen Beispielen handelt es sich nicht um exotische Ein-zelfälle. Eine fehlende Krankentaggeld-Versicherung ist viel-mehr ein häufiger Grund, warum Menschen in die Abhängig-

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keit der Sozialhilfe geraten. Gemäss dem Sozialbericht desKantons Zürich von 2005 sind knapp 25 Prozent aller Sozial-hilfebezügerInnen zumindest teilweise aufgrund von Krankheitoder Behinderung auf Unterstützung angewiesen. Besondersgefährdet sind Menschen in temporären Arbeitsverhältnissen.Das ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil der Anteil derTemporäranstellungen in den letzten Jahren markant gestiegenist. Temporär Beschäftigte verlieren die Abdeckung durchKrankentaggelder jedesmal nach Beendigung des Arbeitsver-hältnisses.

In allen diesen Fällen schafft die AEV umfassende Abhilfe.Bei einer weiteren wichtigen Lücke bringt sie deutliche Verbes-serungen. Diese Lücke entsteht, wenn Personen – überwiegendFrauen – familienbedingt mit der Erwerbsarbeit aussetzen be-ziehungsweise das Pensum auf Teilzeit reduzieren. Sie haben imheutigen Regime keine Möglichkeit (nicht einmal eine teureprivate), sich auf dem Niveau ihres Normallohns abzusichern.Hier bringt die Integration in die AEV wesentliche Verbesse-rungen, weil der Anspruch auf Taggelder nicht von der Ursacheder Erwerbsunfähigkeit abhängig ist. Deshalb bleibt der Tag-geldanspruch nach einer kinderbedingten (Teil-)Aufgabe derErwerbstätigkeit während einer Rahmenfrist von vier Jahrenerhalten; diese Frist verlängert sich bei jedem weiteren Kind umzwei Jahre. Diese Bestimmungen entsprechen der heute gülti-gen Regelung in der Arbeitslosenversicherung.

Parlamentsmehrheit schuf Armutsfalle

Das Beispiel von Herrn B. verweist auf die eklatanten Geset-zesmängel, die zu der gegenwärtigen unhaltbaren Situation ge-führt haben. Mitte der 1990er-Jahre wurde die Gesetzgebungzur Krankenversicherung einer Totalrevision unterzogen, und1996 trat das neue Krankenversicherungsgesetz (KVG) inKraft. Das KVG hat zwar im Bereich der Heilungskosten deut-liche Fortschritte gebracht und das erforderliche Obligatoriumeingeführt. Es enthält auch eine Bestimmung, wonach dieKrankenkassen eine Taggeldversicherung anbieten müssen, die

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allen Personen offen stehen muss – unabhängig vom Alter, Ge-sundheitszustand und der Erwerbssituation. Nur hat das Par-lament ›vergessen‹, eine minimale Taggeldleistung festzulegen– deswegen bieten die Kassen lächerlich tiefe Taggeldleistungenvon 6, 10 oder 30 Franken an (SGB, 1998).

Krankentaggeld-Versicherer wiederum sind gesetzlich ver-pflichtet, bei Beendigung eines Arbeitsverhältnisses den Arbeit-nehmenden auf Wunsch eine private Taggeldversicherung an-zubieten, wobei keine Leistungsausschlüsse zulässig sind. Dochauch hier hat der Gesetzgeber etwas Entscheidendes ›verges-sen‹, nämlich eine maximale Prämienhöhe festzulegen. Diemeisten Versicherer verlangen deshalb astronomisch hohePrämien von Hunderten von Franken pro Monat (SGB, 1998).Wer gesund ist, wird sich eine solche Versicherung sicher nichtleisten, und wer krank ist, sieht sich gezwungen, die geforder-ten horrenden Prämien zu bezahlen – wie Herr B. im obigenBeispiel.

Private Taggeldversicherer: Gewinnoptimierung und Prämienklau

Doch damit nicht genug der Unbill. Private Taggeldversichereroptimieren selbstredend ihre Gewinne. Die genauere Analyseihrer Betriebszahlen zeigt auf, dass jährlich mehrere HundertMillionen Franken unnötigerweise versickern. 1995, also imJahr vor der Einführung des neuen KVG, betrug der Anteil derVersicherungsleistungen der Taggeldversicherer am Total desVersicherungsleistungs- und Betriebsaufwandes 90.8 Prozent.3

Für einen einbezahlten Franken an Prämiengeldern erhielt dieVersichertengemeinschaft also 90.8 Rappen an Leistungenzurück. Ich bezeichne den Anteil der Leistungen an der Ge-samtsumme der Prämien als Wirkungsgrad. Dieser Wirkungs-grad sank im Schnitt der Jahre 1997 bis 2006 auf 81 Prozent.Im jüngsten statistisch erfassten Jahr 2006 betrug er beispiels-weise lediglich knapp 70 Prozent: Den Bruttoprämien vonCHF 2’727’152’000.– standen in diesem Jahr Zahlungen vonnur gerade CHF 1’896’081’000.– gegenüber4. Erhellend ist der

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Vergleich mit der Situation im Bereich der Unfallversicherer.Die öffentlich-rechtliche Suva erzielt einen Wirkungsgrad von94.9 Prozent, während die privaten Unfallversicherer lediglich79.2 Prozent erreichen. Sie kommen damit auf einen nochschlechteren Wert als die privaten Krankentaggeld-Versiche-rungen.5 Jährlich versickern so Hunderte von Millionen Fran-ken in den Taschen der Privatassekuranz – ohne jeden Gegen-wert für die Versicherten. Der Wirkungsgrad ist bei den priva-ten Taggeldversicherern um mindestens zehn Prozent zu tief. Ineiner AEV kommen diese Gelder den Versicherten zugute res-pektive führen zu tieferen Beiträgen.

Finanzierung durch Lohnprozente

Eine Integration der Taggeldversicherung in die AEV würdeden Wirkungsgrad gegenüber den heute gängigen Lösungenmit Sicherheit beträchtlich verbessern. Ein Wert im Bereich derheutigen SUVA ist plausibel. Wir gehen deshalb für diese Tag-geldleistungen von einem erreichbaren Wirkungsgrad von min-destens 90 Prozent aus. Damit kann erreicht werden, dass jähr-lich rund 300 Millionen Franken für echte Leistungen zur Ver-fügung stehen, die heute in privaten Schatullen landen.

Die Systematik unseres Modells legt nahe, dass der Kran-kentaggeldblock der AEV durch Lohnprozente zu finanzierenist. Die Schweizer Gewerkschaften lancierten in den späten1990er-Jahren eine Volksinitiative für eine obligatorischeKrankenversicherung. Sie gingen damals davon aus, dass zurAbdeckung der entstehenden Kosten auf Arbeitgeber- und aufArbeitnehmerseite je maximal 0.8 Lohnprozente erforderlichseien. Wir stützen uns auf die diesbezüglichen Vorarbeiten undgehen von derselben Annahme aus.6

Durch die Integration der Krankentaggelder in die AEVkommt es nun zusätzlich zu einer Entlastung der Sozialhilfeund damit der Steuerbelastungen vorab in den Gemeinden. EinIndiz für das Ausmass dieser Einsparungen liefern die Gründefür die Beendigung des Sozialhilfebezugs. Im Zeitraum von2004 bis 2006 konnten 14.1 Prozent der BezügerInnen die So-

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zialhilfe zugunsten einer IV-Rente verlassen; weitere 1.5 Pro-zent erhielten Anspruch auf IV-Taggelder (Fluder/Graf/Ru-der/Salzgeber, 2009). Die vorangehende Sozialhilfeabhängig-keit dieser Personengruppe war demnach überwiegend durchKrankheit bedingt. In der AEV würden diese Menschen Tag-gelder beziehen können (finanziert durch Lohnprozente), dieSozialhilfe würde entlastet. Teilweise sind diese Leute von derSozialhilfe abhängig, weil sie auf einen Entscheid der IV-Behör-den warten müssen. Wir gehen deshalb davon aus, dass sie ins-gesamt weniger lang von der Sozialhilfe abhängig bleiben alsder Durchschnitt aller SozialhilfebezügerInnen. Wir setzen fürunsere Schätzung dafür einen Wert von 70 Prozent (0.7) ein.Die Gesamtkosten der Sozialhilfe betrugen im Jahr 2006 CHF3’302.1 Millionen (ohne Asylwesen). Die Einsparungen in derSozialhilfe betragen also 15.6 Prozent (Abgänge in IV-Renteund IV-Taggeld) von CHF 3’302.1 Millionen mal 0.7 (kürzeredurchschnittliche Bezugsdauer). Dies ergibt einen Betrag vonCHF 360.1 Millionen Franken.

AEV-Krankheits- und Unfall-Taggelder:Zusatzleistungen der Arbeitgeber

Die AEV-Taggelder decken 80 Prozent des versicherten Lohnesab (70% bei Leuten ohne Unterhaltspflicht gegenüber Kin-dern). Wie heute üblich, sollen diese Taggelder im Krankheits-fall vom 31. Krankheitstag an ausgerichtet werden. Die Ar-beitgeber übernehmen den Lohnausfall in den ersten 30 Tagenzu 100 Prozent.7 Eine solche Regelung entspricht der heute amweitesten verbreiteten Praxis.

Bei Betriebsunfällen und bei Berufskrankheiten kommt eineBesonderheit ins Spiel. Arbeitgeber haben gegenüber ihren An-gestellten eine Sorgfaltspflicht, die im Obligationenrecht recht-lich verankert ist. Sie müssen für Arbeitsbedingungen sorgen,mit denen Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz gewähr-leistet sind. Kommt es zu Betriebsunfällen oder erkranken dieBeschäftigten an einer Berufskrankheit, dann können die Ar-beitgeber für die Folgen haftbar gemacht werden. Das ist der

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Grund, warum in den heutigen Regelungen bei Unfall und Be-rufskrankheit bessere Leistungen vorgesehen sind als bei Inva-lidität oder Arbeitslosigkeit. Eine umfassende Abdeckung derFolgen ist auch im Interesse der Arbeitgeber, weil damit Haft-rechtsfragen umgangen und aufwändige Verfahren vermiedenwerden können. Im Rahmen der neu zu schaffenden AEVmüssen die Arbeitgeber deshalb in analoger Weise verpflichtetwerden, bei Betriebsunfällen und Berufskrankheiten die AEV-Leistungen (Taggelder und Renten) aufzustocken. Es mussmindestens das Leistungsniveau erreicht werden, das im heuti-gen Unfallversicherungsgesetz festgelegt ist. Den Arbeitgebernkann für die Abdeckung dieser Zusatzleistungen allenfalls eineZusatzversicherung angeboten werden.

Fazit: AEV schliesst empfindliche Lücke

Durch den Einbezug des Krankentaggeldes in die AEV wirdeine empfindliche Lücke im System der Sozialversicherungengeschlossen. Jährlich können Tausende von Personen wirksamvor einer heimtückischen Armutsfalle geschützt werden. Weite-re Quellen von Ungerechtigkeiten werden beseitigt, zum Bei-spiel die astronomischen Prämien, die heute von Menschen ge-fordert werden, die aus einer Kollektivversicherung ausschei-den (z.B. wegen einer Betriebsschliessung). Der Einschluss derKrankentaggelder in die AEV wird durch Lohnprozente in derHöhe von je 0.8 Prozent für Arbeitgeber und Arbeitnehmerfinanziert. Hunderte von Millionen Franken, die heute in denSchatullen der Privatversicherer landen und einem eigentlichenPrämienklau entsprechen, werden für echte Leistungen an dieVersicherten erschlossen. Und schliesslich entlastet der Einbe-zug des Krankentaggeldes in die AEV die Sozialhilfe um ge-schätzte 360 Millionen Franken pro Jahr.

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Anmerkungen1 Artikel 324a des Obligationenrechts (OR) schreibt im ersten Anstel-

lungsjahr eine Lohnfortzahlung von drei Wochen vor, sofern das Arbeits-verhältnis länger als drei Monate dauert. Bei längerer Anstellungsdauerbestimmt das OR vage, die Lohnfortzahlung müsse für eine ›angemesse-ne längere Zeit‹ entrichtet werden. Die Gerichtspraxis hat zu drei Skalengeführt: einer Zürcher, Berner oder Basler Skala, die alle voneinander ab-weichen. So verlangt die Berner Skala im zweiten Dienstjahr eine Lohn-fortzahlungsdauer von einem Monat, im dritten und vierten Dienstjahreine von zwei Monaten und im fünften bis und mit neuntem Dienstjahreine von drei Monaten. Die Zürcher Skala hingegen legt im zweitenDienstjahr einen Lohnfortzahlungsanspruch von acht Wochen und imdritten Dienstjahr von neun Wochen fest. Danach verlängert sich dieLohnfortzahlungsdauer pro weiteres Dienstjahr um eine zusätzliche Wo-che. Ein kranker Mitarbeiter im vierten Dienstjahr hat folglich nach derZürcher Skala einen Lohnfortzahlungsanspruch von zehn Wochen, wo-hingegen der entsprechende Anspruch nach der Berner Skala nur zweiMonate beträgt. Über diese Zeiträume hinaus ist jedoch nicht der gerings-te Schutz vorgesehen. Wer schwer erkrankt, kann deshalb rasch in wirt-schaftliche Not geraten – es sei denn, er verfüge über eine (nicht obliga-torische) Krankentaggeld-Versicherung.

2 Die Beispiele sind der SGB-Broschüre ›Eine beschämende Lücke schlies-sen‹ entnommen und entstammen dem eigenen Beratungsalltag.

3 BSV, Statistik über die Krankenversicherung 1994/1995.4 Die privaten Versicherungsunternehmen in der Schweiz 2006, Bundesamt

für Privatversicherungen, Tabelle AS03N, S. 82.5 Dasselbe Bild ergibt sich laut Colette Nova auch bei den privaten gewin-

norientierten Versicherern im Bereich der Pensionskassen (BVG). Novaschreibt: »Bei den Altersrenten erzielen die Lebensversicherer ein Resul-tat von 20% der Einnahmen, weil sie viel zu tiefe Umwandlungssätzepraktizieren, sprich zu tiefe Renten geben.« (SGB-newsletter 16/2008).Auch hier resultiert also ein ähnlich tiefer Wirkungsgrad von 80 Prozent.

6 Die in der Gewerkschaftsinitiative vorgesehenen Leistungen waren leichtbesser als die Abdeckung durch AEV-Taggelder. Vorgesehen waren Tag-gelder in der Höhe von 80 Prozent des versicherten Verdienstes für alle,während die AEV-Taggelder sich an der heutigen Arbeitslosenversiche-rung orientieren: 80 Prozent erhält, wer Kinderbetreuungspflichten er-füllt, alle übrigen erhalten 70 Prozent. Sowohl bei der Initiative als auchbei der AEV beginnen die Taggeldzahlungen am 31. Krankheitstag. DieInitiative wurde übrigens nicht eingereicht; die Gewerkschaften hattensich mit fünf parallel lancierten Volksinitiativen überfordert und liessendie Taggeldinitiative deshalb fallen.

7 Im Vergleich zu den Regelungen des OR entspricht dies einer zusätzlichenWoche im ersten Anstellungsjahr. Es versteht sich von selbst, dass die OR-Bestimmungen insgesamt eingehalten werden müssen. Das bedeutet, dassdie Arbeitgeber die AEV-Leistungen im Rahmen der entsprechenden Ska-len auf 100 Lohnprozente aufstocken müssen. Beispiel: Ein kranker Mit-

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arbeiter im vierten Dienstjahr hat nach der Zürcher Skala einen Lohn-fortzahlungsanspruch von zehn Wochen; der Arbeitgeber muss für dieseZeit die AEV-Taggelder auf 100 Prozent des Lohnanspruchs ergänzen.(Siehe auch erste Fussnote in diesem Kapitel sowie Brunner et. al, S.92).

LiteraturBrunner, Christiane, Jan-Michel Bühler, Jean-Bernard Waeber, Christian Bru-

chez: Kommentar zum Arbeitsvertragsrecht. Basel 2005.Bundesamt für Privatversicherungen BPV: Die privaten Versicherungsunter-

nehmen in der Schweiz. Bern 2006.Bundesamt für Sozialversicherungen BSV: Statistik über die Krankenversi-

cherung 1994/1995. Zitiert nach: Büro BASS. Kosten einer obligatori-schen Krankenversicherung (Kurzgutachten). Bern 1996.

Bundesamt für Statistik (BFS) und Kantonales Sozialamt Zürich: Sozialbe-richt des Kantons Zürich. Neuchâtel 2006

Bundesamt für Statistik: Sozialhilfestatistik 2006. Neuchâtel 2008.Robert Fluder, Thomas Graf, Rosmarie Ruder, Renate Salzgeber: Quantifi-

zierung der Übergänge zwischen Systemen der Sozialen Sicherheit (IV,ALV und Sozialhilfe). Herausgegeben vom Bundesamt für Sozialversiche-rungen BSV. Bern 2009.

Nova, Colette: Lebensversicherer als Halsabschneider. In SGB-Newsletter16/2008.

Schweizerischer Gewerkschaftsbund SGB: Eine beschämende Lücke schlies-sen – Die Taggeldinitiative der Gewerkschaften ›für ein sicheres Einkom-men bei Krankheit‹. Bern 1998.

SUVA Medienmitteilung: Die Wahrheit über die Verwaltungskosten der Su-va. Luzern 15.2.2007.

Widmer, Dieter: Die Sozialversicherung in der Schweiz. Zürich–Basel–Genf2008

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Familien-Ergänzungsleistungen:effizient gegen Familienarmut

Ruth Gurny

Haushalte mit Kindern sind besonders stark von Armut be-troffen, allen voran Eineltern-Haushalte mit Kindern und Paarhaushalte mit mehr als zwei Kindern. Der Grund ist klar:Kinder kosten Geld. Gemäss einem Bericht des Bundesamts fürStatistik (2008b) muss bei einem Einzelkind mit gut 800 Fran-ken pro Monat gerechnet werden. Wenn mehr Kinder zumHaushalt gehören, sinken die Kosten pro Kind etwas, belaufensich aber, beispielsweise bei drei Kindern, doch noch auf durch-schnittlich 550 Franken. Zu diesen direkten Kinderkostenkommen noch die indirekten Opportunitätskosten, das heisstdie Zeit, die in die Betreuung und Erziehung investiert wirdund nicht für die Erwerbsarbeit eingesetzt werden kann. Derbesagte Bericht des Bundesamts für Statistik rechnet vor, dassein einzelnes Kind im Haushalt beim monatlichen Erwerbs-einkommen (meistens der Mütter) zu einer Einbusse von rund1000 Franken führt. Es liegt auf der Hand, dass solche Ein-bussen in Familien mit tiefen Einkommen zu finanziellen Prob-lemen führen: Die erzielten Löhne reichen nicht aus. Meist istes in Paarhaushalten auch nicht möglich, dass beide Erwach-senen voll arbeiten: Das Dual-Earner-Modell, wie es in denskandinavischen Ländern anstelle des Male-Breadwinner-Mo-dells mittlerweile selbstverständlich ist (siehe beispielsweiseHofäcker & Lück, 2004), scheitert in der Schweiz unter ande-rem am Mangel an familienergänzenden Betreuungsstruktu-ren. Die Folge ist mehr als bekannt: Kinderreiche Haushalteund allein Erziehende sind überdurchschnittlich häufig mit Ar-mut konfrontiert. 2006 lebten ein Viertel der Eineltern-Fami-lien (27%) und der Paare mit drei und mehr Kindern (24%) un-ter der Armutsgrenze (Bundesamt für Statistik, 2008a).

Viele Organisationen und Akteure weisen seit längerem aufdas Problem hin und fordern, dass der Kreis derjenigen, die An-

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spruch auf Ergänzungsleistungen erheben können, auf ar-mutsbetroffene Haushalte mit Kindern ausgedehnt werde (sie-he z.B. Eidgenössisches Departement des Innern, 2004). ImKanton Zürich kam im Jahr 2006 eine entsprechende Volks-initiative mit dem Titel ›Chancen für Kinder‹ zur Abstimmung,schaffte es allerdings nicht, die notwendige Mehrheit zu finden.Im Kanton Solothurn liegt aktuell ein entsprechender Antragder Regierung an das Kantonsparlament vor (Departement desInnern, 2008). Auf eidgenössischer Ebene sind immer nochzwei parlamentarische Initiativen von Lukretia Meier-Schatz(CVP/SG) und Jacqueline Fehr (SP/ZH) hängig, die 2001 über-wiesen wurden. Die beiden Initiativen verlangen, dass das sogenannte Tessiner Modell (siehe unten) auf Bundesebene über-nommen werde. Nachdem die Sozialkommission des Natio-nalrates dem Geschäft im November 2008 noch grünes Lichterteilt hatte, sistierte sie es an ihrer Sitzung vom 13. Februar2009. Als Grund für die Kehrtwende wurde angeführt, es seinicht sicher, ob solche Leistungen auch ins Ausland exportiertwerden müssten. Zudem soll es den Kantonen überlassen blei-ben, ob sie Ergänzungsleistungen für bedürftige Haushalte mitKindern einführen wollen.

Das Tessiner Modell

Der Kanton Tessin hat am 1. Juli 1997 ein System von Famili-enzulagen eingeführt (Legge sugli Assegni di Famiglia). Es um-fasst zum einen die Kinder- und Ausbildungszulagen, die anArbeitnehmende, abhängig von ihrem Beschäftigungsgrad,ausbezahlt werden. Diese Zulagen entsprechen im Grossenund Ganzen den Kinder- und Ausbildungszulagen in vielen an-deren Kantonen der Schweiz. Neu und hier von Interesse sinddie beiden anderen, bedarfsorientierten Zulagen (assegni fami-liari di complemente):

– Assegno integrativo (Kinder-EL)Diese Leistung wird an einkommensschwache Familien fürKinder von 0 bis 14 Jahre bezahlt. Sie hat den Zweck, den mi-nimalen Lebensbedarf dieser Kinder und Jugendlichen zu si-

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chern. Sie soll jedoch nicht die Unterhaltskosten der Eltern mit-tragen. Der Anspruch entspricht dem Fehlbetrag zwischen denanrechenbaren Einnahmen und den anrechenbaren Ausgabengemäss dem Gesetz betreffend Ergänzungsleistungen zurAHV/IV (ELG), höchstens jedoch einem maximalen Betrag,der den im ELG festgelegten hypothetischen Kinderkosten ent-spricht (2008: jährlich je CHF 9'480 für das erste und zweiteKind, je CHF 6'320 für das dritte und vierte Kind).

– Assegno di prima infanzia (Eltern-EL)Diese Leistung erhalten Haushalte mit Kindern von 0 bis zum3. Geburtstag und einem Einkommen, das trotz Kinder-EL im-mer noch unter dem Existenzminimum liegt. Sie hat denZweck, die Existenz der gesamten Familie mit Kindern unterdrei Jahren zu sichern, und ist als Entgelt für den Erwerbsaus-fall beziehungsweise die Zeitkosten für die Betreuung gedacht.Sie soll die Differenz zwischen dem verfügbaren Einkommendes Haushalts und dem Familienbedarf gemäss den Ergän-zungsleistungen zur AHV/IV abdecken.

Die Eltern-EL hat eine oberste Limite, die das Vierfache derminimalen Altersrente beträgt (Stand 1.1.2009: 4 x CHF 1140= CHF 4560 pro Monat). Eltern-EL kann nur beantragen, werauch eine Kinder-EL erhält. Bei Haushalten mit zwei oder mehrerwachsenen Personen und mindestens einem Kind unter dreiJahren wird immer ein hypothetisches Netto-Erwerbseinkom-men angerechnet, unabhängig davon, ob ein solches auchtatsächlich erzielt wird. Eltern sollen sich also im Rahmenihrer Möglichkeiten um Erwerbsarbeit bemühen.

Die Evaluation des Tessiner Modells, das auf Daten aus demJahr 2005 basiert (Dipartimento Sanità e Socialità, 2007), zeigtauf, dass die Familienzulagen insbesondere bei den Paarhaus-halten mit Kindern ein recht effizientes Mittel sind, um die Fa-milien vor dem Gang zur Sozialhilfe zu schützen. Im Jahr 2005wurden im Kanton Tessin 4000 Familien (insgesamt 12’000Personen) mit Familienzulagen unterstützt. Das entspricht bei320’000 Einwohnerinnen und Einwohnern 3,8 Prozent derBevölkerung des Kantons.

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Gemäss einem Schreiben der ›Perspektive Familienpolitik‹ –einem Zusammenschluss von Eidgenössischer Koordinations-kommission für Familienfragen, Pro Familie Schweiz, pro ju-ventute, Schweizerischer Konferenz für Sozialhilfe SKOS undStädteinitiative Sozialpolitik – an die nationalrätliche Kom-mission für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 8. Februar2009 käme eine Familien-EL gesamtschweizerisch je nachDetailausgestaltung des Modells auf Bruttokosten in der Höhevon 620 bis 900 Millionen Franken zu stehen. Auf der Basisder Angaben aus dem Kanton Tessin kann davon ausgegangenwerden, dass dank einer Familien-EL 60 Prozent der Sozial-hilfekosten eingespart werden könnten. Die Nettokosten be-liefen sich dann auf 40 Prozent von 620 bis 900 Millionen, dasheisst auf 248 bis 360 Millionen Franken.

LiteraturBundesamt für Statistik (2008a): Eltern investieren viel Arbeit und Geld in

ihre Kinder. Neuchâtel.Bundesamt für Statistik (2008b): Familien in der Schweiz. Statistischer Be-

richt 2008. Neuchâtel.Departement des Innern (2008): Botschaft und Entwurf des Regierungsrates

an den Kantonsrat von Solothurn vom 1. Dezember 2008. RRB Nr. 2008/2127. Solothurn.

Dipartimento Sanità e Socialità (2007): Valutazione della legge sugli assegnidi famiglia. Bellinzona.

Eidgenössisches Departement des Innern (2004): Familienbericht 2004.Strukturelle Anforderungen an eine bedürfnisgerechte Familienpolitik.

Hofäcker, D. und Lück, D. (2004): Zustimmung zu traditionellem Allein-verdienermodell auf dem Rückzug. ISI, 32 (Juli), S. 12–15.

Neue Zürcher Zeitung (2009, 14.02.2009): Familien-Ergänzungsleistungenvor dem Aus. Kehrtwende der Nationalratskommission.

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Nutzen, Kosten und Finanzierung einer AEV

Von Beat Ringger

Im nachfolgenden Kapitel untersuchen wir ökonomische Kos-ten- und Nutzeneffekte, die mit der Einführung der von unsvorgeschlagenen Allgemeinen Erwerbsversicherung AEV ent-stehen, ebenso die damit verbundenen Finanzierungsfragen.Um es gleich vorweg zu nehmen: Die Einführung der AEV lässtsich kostenneutral umsetzen. Unsere Berechnungen zeigen,dass die für die AEV nötigen Staatsbeiträge um rund 830 Mil-lionen Franken pro Jahr steigen, die Lohnprozente hingegenleicht sinken. Darüber hinaus entstehen Mehreinnahmen vonjährlich mindestens 900 Millionen Franken. Unser Reform-vorschlag ist also auch aus finanzieller Sicht attraktiv.

Das verworrene Geflecht der Schweizer Sozialversicherungenmacht es nicht einfach, alle Konsequenzen und Nebenwirkun-gen zu erfassen, die eine umfassende Reform auslösen würde.Wo es um Geldflüsse geht, können vielfach nur Grössenordnun-gen geschätzt werden. Wir danken dem Büro BASS und insbe-sondere Heidi Stutz, die im Auftrag des Denknetzes massgeben-de Kennzahlen ermittelte und unsere Plausibilitätsüberlegungenkritisch unter die Lupe nahm. Unser Dank geht ebenso anCaroline Knupfer von der SKOS für die kritische Durchsicht.Die Verantwortung für die im Text gemachten Angaben liegtausschliesslich beim Autor.

Umverteilungswirkungen und Stützung der Nachfrage

Menschen, die nicht in der Lage sind, ihre Lebensführung miteinem Erwerbseinkommen zu decken, sollen ein Lebensniveauhalten können, das die materielle Existenz sichert und die Teil-nahme am gesellschaftlichen Leben erlaubt. Das ist sowohl aussozialpolitischer als auch aus volkswirtschaftlicher Sicht wün-schenswert: Eine Wirtschaft ist umso erfolgreicher, je besser siedie grundlegenden Bedürfnisse der Bevölkerung abzudecken

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vermag. Das setzt voraus, dass die Nachfrage nach grundle-genden Dienstleistungen und Konsumgütern stabil ist. DieseNachfrage wird durch staatliche Institutionen wie das Ge-sundheits- und Bildungswesen und über die Basis-Kaufkraftder Bevölkerung gesichert. Die AEV bringt zielgerichtete Leis-tungsverbesserungen exakt für jene Bevölkerungsschichten, dieihr Einkommen zu einem überwiegenden Teil oder ausschliess-lich für grundlegende Bedürfnisse verwenden.1 Die AEV siehtunter anderem die Einführung der Familien-EL, den unbe-grenzten Taggeldbezug bei langdauernder Erwerbslosigkeitund die Schliessung der Krankentaggeld-Lücke vor. So wirdArmut vermieden und Basiskaufkraft gesichert.

Angesichts der anrollenden Wirtschaftskrise besteht mitt-lerweile Konsens darüber, dass staatliche und gesellschaftlicheInterventionen erforderlich sind, um massive, unkontrollier-bare Einbrüche der Wirtschaftstätigkeit zu verhindern. Mass-nahmen zur Sicherung der Nachfrage sind eine zwingendeKomponente solcher Interventionen. Die AEV kann als opti-mierte Komponente einer wirkungssicheren Konjunkturpolitikzur Stützung der Nachfrage, als ›Konjunkturprogramm fürsVolk‹ verstanden werden. Sie kommt in erster Linie den ein-kommensschwächsten Bevölkerungsgruppen zugute und istbezüglich der Nachfragesicherung den aktuell häufig propa-gierten und praktizierten Steuererleichterungen weit überlegen.Steuererleichterungen werden in Fachkreisen kritisch beurteilt.Sie sind vor allem für höhere Einkommen und Vermögen in-teressant – wenig Verdienende zahlen ohnehin nur geringeSteuern. Sie belohnen also jene Bürgerinnen und Bürger, die oh-nehin schon viel Geld besitzen. Wer schon viel Geld hat undnoch mehr erhält, wird dieses Geld nur zum Teil verkonsu-mieren, einen andern Teil hingegen sparen. Damit verpufft dieerhoffte Belebung der wirtschaftlichen Nachfrage. Zudem wirdtendenziell das Luxusnachfragesegment gestärkt, was sozial-und umweltpolitisch unerwünscht ist.

Die AEV stärkt Umverteilungseffekte von oben nach unten.Lohnprozente und Staatsmittel werden vermehrt zugunstenvon Armutsbedrohten umverteilt. Kleinere und mittlere Ver-

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mögen werden besser geschützt, weil die AEV Taggelder undRenten gegenüber den bedarfsorientierten Komponenten (Er-gänzungsleistungen und Sozialhilfe) stärkt. Letztere berücksich-tigen die Vermögenssituation, während dies bei Taggeldernund Renten nicht der Fall ist.

Die AEV als gesellschaftspolitische Investition

Dass soziale Programme und Massnahmen in erster Linie Kos-ten verursachen, ist eine einseitige Betrachtungsweise. Bezüg-lich der familienexternen Kinderbetreuung wurde neulich er-rechnet, dass jeder Franken oder Euro, der in solche Angeboteinvestiert wird, eine zwei bis drei Mal höhere Wertschöpfungin der Wirtschaft auslöst (Stamm, 2009).2

Der Beschäftigungsbericht 2007 der OECD ist unter demGesichtspunkt der sozialen Investition sehr interessant. Eruntersucht den Zusammenhang zwischen der Qualität der Ar-beitslosenunterstützung und der Arbeitsproduktivität (OECD,2007). Dabei misst er die Qualität einer Arbeitslosenunter-stützung an der Höhe und der Anzahl der Taggelder wie aucham Angebot an Beratungs- und Unterstützungsleistungen. Inihren Modellrechnungen kommt die OECD zum Schluss, dasseine solide Arbeitslosenunterstützung einen Anstieg der Pro-duktivität bewirkt. Die Autoren des Berichts nennen drei Grün-de: Erstens fällt es vielen Arbeitnehmenden leichter, unsichere,aber hochproduktive Jobs anzunehmen, wenn sie sich nöti-genfalls auf gute Leistungen aus der Arbeitslosenversicherungverlassen können. Zweitens erlaubt eine solide Arbeitslosen-versicherung den Erwerbslosen, in Ruhe eine Stelle zu suchen,die ihren Erfahrungen und Begabungen entspricht. Der best-mögliche Einsatz der persönlichen Fähigkeiten ist eine Voraus-setzung für höhere Arbeitsproduktivität. Drittens erzeugt einesolide Arbeitslosenunterstützung einen positiven Effekt auf dieProduktivität, weil weniger produktive Arbeitskräfte schnellerentlassen werden, wenn für sie ein faires soziales Auffangnetzbereit steht. Diesen letztgenannten Effekt erachten wir aller-dings als zwiespältig: Er steht offensichtlich in Konflikt mit der

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Forderung, auch ›leistungsschwächere‹ ArbeitnehmerInnen indie Arbeitswelt zu integrieren. Der massive Anstieg der IV-Ren-ten in den letzten 15 Jahren ist zu einem erheblichen Teil dar-auf zurückzuführen, dass sich zahlreiche Arbeitgeber zu Lastender IV von ›leistungsschwächeren‹ Mitarbeitenden getrennthaben. Das mag für die Produktivität nützlich sein, für densozialen Zusammenhalt aber sicher nicht.3

Trotz dieser Einschränkung bleiben die Überlegungen derOECD beachtenswert. Der neoliberale Mainstream in denWirtschaftswissenschaften argumentiert seit Jahrzehnten an-ders: Höhere Staats- und Sozialquoten würden die Wirt-schaftsleistung beeinträchtigen, weil die Marktwirtschaft be-züglich Effizienz und optimaler Ressourcenallokation denstaatlichen Verfahren generell weit überlegen sei. Diese Argu-mentation ist mittlerweile vielfach widerlegt worden (KOF/ETH, 2006). Die Überlegungen der OECD-Studie fügen demkorrigierten Bild eine weitere Facette bei, die auf die Allge-meine Erwerbsversicherung übertragen werden kann. Die AEVmildert die berechtigten Ängste der Arbeitnehmenden, bei Er-werbslosigkeit gesellschaftlich an den Rand gedrängt und in dieArmut gestossen zu werden. Das ist für das soziale Klima unddie persönliche Freiheit der Betroffenen von enormer Bedeu-tung. Angst engt ein und ist ein schlechter Ratgeber. Angst be-droht die psychische und mentale Beweglichkeit und beein-trächtigt so die Leistungsfähigkeit. Ein Teufelskreis kommt inGang: Menschen bleiben aus Angst an Arbeitsstellen, an denensie krank werden. Sind sie dann seelisch angeschlagen, bräuch-ten sie Sicherheit, um wieder Kraft zu schöpfen. Stattdessengeraten sie rasch in mehrfache Bedrängnis. Ihre Stellung in derArbeitswelt ist gefährdet, und das Auffangnetz der Sozialver-sicherungen ist immer weniger verlässlich. Letztere werden un-ter Spardruck gesetzt und geben diesen Druck an die Betroffe-nen weiter. Die Betroffenen fühlen sich zunehmend ausgegrenzt;Zukunftsängste ziehen sie tiefer in den Strudel psychischerProbleme. Auf diese Weise beschleunigt Angst den sozialenAbstieg, was für die Betroffenen fatale Folgen hat. Daraus ent-stehen wiederum erhebliche Folgekosten.

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Geldflussbetrachtung und Finanzierung einer AEV: Die Grössenordnungen

Im Folgenden geht es um die quantitativen Änderungen in denGeldflüssen, wie sie die Einführung einer AEV auslösen wür-de. Zuerst beleuchten wir die Grössenordnungen, in denen wiruns bewegen. Um welche Beträge geht es in den Sozialwerken,und welchen Anteil haben jene Einrichtungen, die die Er-werbssicherung abdecken? Anschliessend erläutern wir dasvon uns vorgeschlagene Finanzierungsmodell und schätzen dieZusatzkosten, die durch die in der AEV vorgesehenen Leis-tungsverbesserungen entstehen.

Die Übersichtszahlen, mit denen wir beginnen, enthaltensämtliche Geldleistungen, Sachleistungen, Durchführungsko-sten und weitere Kosten. Die folgenden Tabelle 1 und Grafik1 zeigen die relevanten Grössenordnungen und Beträge. DieAusgaben der sozialen Sicherheit werden dominiert von der Al-tersvorsorge. AHV, Pensionskassen (ohne Invaliden- und Hin-terlassenenanteil) und Ergänzungsleistungen zur AHV belau-fen sich auf 71’638 Millionen Franken (BfS, 2006). Für dieHeilungskosten bei Krankheit und Unfall wurden im Jahr 200628’283 Millionen aufgewendet (Krankenkassen, Anteil Hei-lungskosten der Unfallversicherung, Spitalfinanzierung undPrämienverbilligung durch Bund und Kantone). Etwa ähnlichhoch liegt die Summe aller heute erbrachten Leistungen, die dieErwerbssicherung betreffen (rund CHF 30’000 Mio). Der An-teil, der in eine AEV überführt würde, liegt bei 27’197 Millio-nen Franken. Er ist deshalb kleiner, weil die BVG-Leistungenfür Invalidität erhalten bleiben, also nicht in die AEV integriertwerden.

Tabelle 1: Gesamtrechnung der sozialen Sicherheit nach Regimegruppen und ihre Verbindung mit der AEV(Alle Angaben für das Jahr 2006 in Millionen Franken)

* S: Sozialversicherung (Anspruch auf Leistungen ohne Bedarfsnachweis, sofern dieBeiträge bezahlt sind)B: Bedarfsleistungen (Anspruch auf Leistungen nur bei ausgewiesenem Bedarf; insbe-sondere werden Vermögen und andere Einkünfte in Rechnung gestellt)

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Versicherung S Ein- Gesamt- AEV- Relevanz für die AEV/ nahmen aus- relevanteB* gaben Ausgaben

Eidg. Alters- und S 33971 31559 0 KeineHinterbliebenen-Versicherung AHVEidg. Invaliden- S 9863 11292 11292 Überführung in AEVversicherung IVErgänzungsleis- B 1731 1731 0 Keinetungen AHVErgänzungsleis- B 1349 1349 1349 Überführung in AEVtungen IVPensionskassen S 58008 38348 0 KeineBVG BVG-Leistungen f. Invalidität

und Hinterbliebene bleibenerhalten, die AEV-Leistungensind subsidiär

Obligatorische S 19798 19095 0 KeineKrankenpflegever-sicherung (Kran-kenkassen) OKPVOblig. Unfallver- S 8349 6514 4656 Überführung in AEV, jedochsicherung OUV ohne Heilungskosten

Der Anteil der Heilungskostenbetrug im Jahr 2006 28.5%(CHF 1858 Mio)

Arbeitslosenver- S 4691 5080 5080 Überführung in AEVsicherung ALVErwerbsersatzord- S 999 1321 1321 Überführung in AEVnung EO (Mutter- Anteil Mutterschaft:schaft, Militärd.) CHF 546 MioSozialhilfe (ohne B 3302 3302 3302 Überführung in AEVAsylwesen) (ohne Asylwesen)Stipendien B 295 295 0 Keine

Starker Ausbau im Rahmeneiner Bildungsreform dingenderforderlich

Krankentaggeld S 241 197 197 Überführung in die AEV(oblig. Anteil) Die oblig. Leistungen sind so

gering, dass nicht ernsthaftvon einer Sozialversicherunggesprochen werden kann

Übrige Regimes 18475 18373 0 KeineSubventionen, Spi-talfinanz., Asylwes.,Drogenpolitik, Fa-milienzulagen etc.Total 161072 138456 27197

Quelle: Bundesamt f. Statistik, Gesamtrechnung d. Soz. Sicherheit/Statistisches Lexikon

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Grafik 1: Gesamtrechnung der Sozialen Sicherheit nach Regime-gruppen und ihre Verbindung mit der AEVZahlen aus der Tabelle 1

Das AEV-Finanzierungsmodell: Sozialversicherung mit Staatsanteil

Die AEV vereinigt eine ganze Reihe verschiedener Instrumen-te und verfolgt mehrere sich ergänzende Ziele. Die Existenzsi-cherung für jeden einzelnen Versicherten gehört ebenso dazuwie die Sicherung und Pflege der sozialen Kohärenz und derwirtschaftlichen Nachfrage in Krisenzeiten. Die AEV soll des-

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3

2

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0,

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halb sowohl mit Versicherten- und Arbeitgeberbeiträgen alsauch mit Staatsbeiträgen finanziert werden. Sozialhilfe undErgänzungsleistungen folgen dem Verfassungsauftrag, allenMenschen eine würdige Lebensführung zu ermöglichen. DieErgänzungsleistungen für Familien mit geringem Erwerbsein-kommen und der Mutterschaftsurlaub stützen die gesellschaft-lich unabdingbare, aber privat getragene Kinderbetreuung.Auch bei den Integrationsleistungen (Beratung, Schulungen,Hilfsmittel usw.) handelt es sich um gesellschaftspolitischeAufgaben, die von der Allgemeinheit zu finanzieren sind. Des-halb ist ein angemessener Steueranteil an die Finanzierung derAEV angebracht.

Der Anteil staatlicher Leistungen an den Systemen der so-zialen Sicherheit ist in der Schweiz im internationalen Vergleichgering. Er beträgt 22.3 Prozent gegenüber 38.0 Prozent in denalten EU-Ländern (EU15) und 37.6 Prozent in der erweitertenEU (EU27). Ebenfalls deutlich geringer als im EU-Durchschnittfallen die Arbeitgeberbeiträge aus: Schweiz 28.7 Prozent, EU1538.2 Prozent, EU27 38.3 Prozent. Entsprechend hoch sind dieBeiträge der Versicherten: Schweiz 33.6 Prozent, EU15 undEU27 je 20.6 Prozent (BfS, Statistisches Lexikon, Tabelle

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Grafik 2:Finanzierungsanteile an den Systemen der sozialen Sicherheit

Quelle: Bundesamt für Statistik, Statistisches Lexikon, Tabelle T13.1.2.6

40%

30%

20%

10%

0,0%Staatsanteil Arbeitgeberbeiträge Versichertenbeiträge

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T13.1.2.6). Die im AEV-Modell vorgesehenen Leistungsver-besserungen sollen deshalb mit Staatsbeiträgen finanziert wer-den. Einzige Ausnahme bildet der Einschluss des Krankentag-geldes, der mit Lohnprozenten finanziert wird.

Obwohl also das Engagement des Staates gestärkt werdensoll, soll der Grundcharakter der AEV als Sozialversicherungerhalten. Neu wird die Sicherung der Krankentaggelder überLohnprozente finanziert. Damit werden je 0.8 Lohnprozente(Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile) in ein Obligatoriumüberführt. Alle, die bereits heute einer Krankentaggeld-Versi-cherung angeschlossen sind (und das ist die Mehrheit der Be-schäftigten), haben keine oder nur geringe Änderungen zu er-warten.

Selbstständig Erwerbende leisten neu Prämienbeiträge inForm von Einkommensprozenten, die auf der Basis des steuer-baren Reineinkommens der letzten beiden Jahre berechnetwerden. Bei unechter Selbstständigkeit – wenn überwiegendoder ausschliesslich für einen einzigen Auftraggeber gearbeitetwird – muss dieser Auftraggeber den Arbeitgeberanteil über-nehmen. Damit wird vermieden, dass Arbeitgeber ihre Be-schäftigten zu unechter Selbstständigkeit drängen, weil sie soSozialversicherungskosten sparen können.

Insgesamt knüpfen wir bei der Finanzierung nahtlos am be-stehenden System der schweizerischen Sozialversicherungenan. Andere Länder (z.B. Dänemark) finanzieren die soziale Si-cherheit praktisch ausschliesslich aus Steuergeldern; ein Sy-stemwechsel wäre also durchaus denkbar. Wir ziehen jedoch ei-ne Versicherungslösung vor. Dies vor allem deshalb, weil da-mit ein besserer Leistungsschutz einhergeht. Solange die Versi-cherungsleistungen an die Beiträge der Versicherten gekoppeltsind, besteht ein ausgewiesener Anspruch auf diese Leistungen.Politische Strömungen und allfällige Parlamentsmehrheiten,die sich die Senkung von Steuern und den Abbau von Sozial-leistungen auf die Fahne schreiben, haben es deshalb schwer,das erreichte Leistungsniveau zu senken. Bei einer reinen Steu-erlösung wäre das einfacher zu bewerkstelligen. Ein weitererGrund liegt darin, dass viele Leistungen an die Höhe des Er-

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werbseinkommens gekoppelt sind. Damit ist es aber auchzwingend erforderlich, dass die Versicherungsbeiträge auf derBasis der Einkommenshöhe berechnet werden. Diese Koppe-lungen stärken die Akzeptanz der Sozialversicherungen in brei-ten Bevölkerungskreisen. Da die Leistungen gegen oben plafo-niert, die Beiträge jedoch auf alle Einkommensanteile erhobenwerden, kommt es zudem zu einer erwünschten Umvertei-lungswirkung von oben nach unten.

Finanzierung bei Bedarfsschwankungen in Wirtschaftskrisen

Leistungsschwankungen der AEV sind im Wesentlichen durchdie Wirtschaftskonjunktur bedingt. In wirtschaftlichen Kri-senzeiten steigt der Leistungsbedarf rasch an, während er inZeiten der Prosperität sinkt. Deshalb bedarf es einer Regelung,wie solche Schwankungen aufgefangen und finanziert werden.Unser Modell sieht dazu folgendes vor: Steigt die Erwerbslo-sigkeit über einen im Voraus festzulegenden Schwellenwert,werden Solidaritätsabgaben auf hohen Einkommensanteilen,hohen Vermögen und hohen Unternehmensgewinnen erhoben.Diese Regelung folgt im Prinzip den Mechanismen, wie sie be-reits heute in der Arbeitslosenversicherung festgeschriebensind. Zusätzlich ist festzuhalten, dass der prozentuale Staats-beitrag während Wirtschaftskrisen erhalten bleiben muss.Auch der Staat muss also an der Finanzierung von Bedarfs-spitzen in schwierigen Zeiten beteiligt werden.

Mit einer solchen Finanzierungsweise kann auch ausge-schlossen werden, dass es zu leidigen Unterdeckungen kommt,wie das in der heutigen IV der Fall ist. Die Zusammenführungder Sozialversicherungen bringt einheitliche Abgaben undLohnprozente. Sollte es zu erneuten Leistungsausweitungenkommen, die nicht direkt an die Erwerbslosenquote gekoppeltsind, dann muss die Finanzierung dieser Ausweitung folgen.4

Einheitliche Lohn- und Einkommensprozente

Lohn- und Einkommensprozente sollen bei der AEV für alle

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Beschäftigten gleich hoch sein, unabhängig von der Brancheund der Tätigkeit. Das im Unterschied zum heutigen System inder Unfallversicherung, in dem risikoabhängige Prämien erho-ben werden. Heute bezahlen Beschäftigte im Bau deutlich mehrals etwa Bankangestellte. Wir erachten das als unsolidarischwenn nicht gar diskriminierend. Berufsgruppen mit geringemUnfall- oder Krankheitsrisiko sollen vielmehr jene Gruppenvon Erwerbstätigen stützen, die grösseren Risiken ausgesetztsind. Die erste Gruppe bezieht im Schnitt zwar weniger Lei-stungen als die zweite Gruppe, soll aber dieselben Prämien be-zahlen. Das ist gerechtfertigt, denn die erhöhten Krankheits-,Unfall- und weiteren Risiken werden ja nicht fahrlässig einge-gangen, sondern sind grösstenteils eine unvermeidbare Eigen-art der entsprechenden Branche: Waldarbeiten, Gerüstmonta-gen, die Pflege von Schwerstbehinderten oder der ständigeWechsel von Tag- und Nachtarbeit beanspruchen den Körperweitaus mehr als die Tätigkeit eines Sachbearbeiters oder einesVersicherungsmanagers in Bürotagesschichten. Diese erhöhtenRisiken lassen sich auch mit der besten Prävention nicht elimi-nieren. Die Personen in belastenden Berufen nehmen vielmehrgesellschaftlich unumgängliche Risiken auf sich. Wir profitie-ren alle davon, dass Häuser gebaut, Wälder unterhalten undkranke Menschen rund um die Uhr betreut werden. Deshalbist es richtig, dass die mit diesen Arbeiten verbundenen Risi-ken von den Beschäftigten, die weniger belastet sind, mitge-tragen werden. Ein zusätzlicher Solidaritätseffekt entsteht da-durch, dass die Besserverdienenden generell zur Gruppe der ri-sikoarmen Berufe gehören, während die zweite Gruppe ein-kommensmässig schlechter gestellt ist. Also entsteht ein indi-rekter Umverteilungseffekt von gut verdienenden zu wenigergut verdienenden Erwerbstätigen. Dieser Effekt wird noch ver-stärkt, weil das Risiko arbeitslos zu werden bei gut Verdien-enden im Allgemeinen deutlich niedriger liegt als bei wenigergut Verdienenden (zumindest in den bisherigen Konjunktur-abschwüngen war es so). Diese Umverteilung ist angesichts dermassiven Zunahme der materiellen Ungleichheiten in den letz-ten 30 Jahren mehr als erwünscht.

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Einen Spezialfall stellen die Pensionskassen dar, die im Bun-desgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und In-validenvorsorge (BVG) geregelt sind. Sie richten nicht nur imAlter, sondern auch im Fall einer Invalidität und an Hin-terbliebene Leistungen aus. Im Jahr 2005 betrugen die ent-sprechenden Werte 2470.6 Millionen (Invalidität) und 2998Millionen Franken (Hinterbliebene). Pensionskassen sind je-doch nach anderen Gesichtspunkten finanziert und organsiertals die übrigen Sozialversicherungen. Um das ›Reformfuder‹nicht zu überladen, schlagen wir deshalb vor, die BVG-Rege-lungen unangetastet zu lassen und nicht in die AEV zu über-führen. Konsequenterweise sind die AEV-Leistungen subsidiärzu gewähren: Sie decken die Lücke zwischen der entsprechen-den BVG-Rente und dem AEV-Leistungsniveau von 80 Prozentdes versicherten Einkommens (resp. 70% bei Versicherten oh-ne Unterhaltspflichten gegenüber Kindern). Damit geht aller-dings ein Nachteil einher: Ähnlich wie das UVG, kennt auchdas BVG risikoabhängige Prämien für Invalidität, was demPrinzip der Solidarität widerspricht. Im Fall des UVG wird diesdurch die einheitlichen AEV-Beitragssätze korrigiert, währenddie unsolidarischen BVG-Prämien leider weiterbestehen, weilauf die Integration in die AEV verzichtet wird.

UVG-Heilungskosten nicht in der AEV

Die Unfallversicherung UVG wird in unserem Modell aufge-teilt. Die UVG-Heilungskosten verbleiben in einer eigenen Ver-sicherung. Dies deshalb, weil die AEV davor bewahrt werdensoll, sich mit der Logik und der Komplexität des Gesundheits-wesens beschäftigen zu müssen. Der Umgang mit Tarmed-Ta-xpunktwerten, Fallkostenpauschalen, Spitalabrechnungen undso weiter wird besser in einem eigenen Versicherungswerk ge-bündelt.

Die bisherigen UVG-Taggelder werden neu zu AEV-Taggel-dern. Damit entfällt die heutige Ungleichheit von Arbeitneh-mer- und Arbeitgeberbeiträgen. Gemäss heutigem System kom-men allein die Lohnabhängigen für die Deckung von Nichtbe-

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triebsunfällen auf (2008 durchschnittlich 1.44 Lohnprozente),während die Arbeitgeber alleine die Beiträge für Betriebsun-fälle aufbringen (2008 durchschnittlich 0.94 Lohnprozente,BfS, Statistisches Lexikon Tabelle T13.2.1.3) Diese ungleichenBeiträge werden durch die AEV-Einheitssätze ersetzt. Erhaltenbleibt die Lohnfortzahlungspflicht der Arbeitgeber im Krank-heitsfall für die ersten 30 Krankheitstage.5 Wir führen damitdie weitgehend übliche Praxis fort, wonach AEV-Krankentag-gelder erst ab dem 31. Krankheitstag zur Auszahlung kommen(siehe Kapitel ›Krankentaggelder: AEV schliesst Armutsfalle‹).

Staatliche Mehrkosten und Einsparungen

Die AEV sieht in neun Fällen Leistungsverbesserungen vor. Ineinem Fall (Krankentaggeld) werden die Mehrkosten mitLohnprozenten finanziert. Damit wird eine Versicherung, diefür die Mehrzahl der Beschäftigen bereits etabliert ist, in einObligatorium überführt. Die übrigen Mehrkosten gehen zu La-sten des Staates. Diese Mehrkosten werden im Folgenden be-rechnet beziehungsweise geschätzt, wo keine präzisen Angabenmöglich sind.

Die Wiedereinführung eines beruflichen Entwicklungsgeldesfür Invalide (sog. Karrierezuschlag): Dieser Posten lässt sichgenau beziffern, hat die IV doch vor seiner Abschaffung imRahmen der fünften IVG-Revision (2008) dafür 83 MillionenFranken aufgewendet.

Die Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs von 14 auf 16 Wo-chen: Diese Verbesserung schlägt – angenähert als lineare Kos-tenerhöhung – jährlich mit 78 Millionen Franken zu Buch (Be-rechnungsjahr 2006; die Formel dazu lautet 546 Mio÷14 x 16).

Die Einführung von Ergänzungsleistungen für Familien mit ge-ringen Einkommen (Familien-EL): In der Sozial- und Gesund-heitspolitischen Kommission des Nationalrates werden seit ge-raumer Zeit verschiedene Modelle einer Familien-EL disku-tiert, die sich mehr oder weniger an der Tessiner Lösung ori-entieren (siehe auch Kapitel ›Familien-Ergänzungsleistungen:

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effizient gegen Familienarmut‹). Laut Berechnungen der Bun-desverwaltung kommt eine Familien-EL brutto auf rund 900Millionen Franken zu stehen. Die Erfahrungen des KantonsTessin besagen, dass 60 Prozent der Kosten einer Familien-ELeingespart werden, weil die Ausgaben in der Sozialhilfe ent-sprechend sinken. Die Nettokosten einer Familien-EL belaufensich also auf geschätzte 360 Millionen Franken pro Jahr.

Aufhebung der Taggeldbegrenzung: Wer die maximale Zahlvon Taggeldern bezogen hat, wird heute aus der Arbeitslosen-versicherung ausgesteuert. Gemäss dem Staatssekretariat fürWirtschaft SECO betrug die Zahl solcher Aussteuerungen imLaufe des Jahres 2006 »zusammengezählt 30’831. In der lang-zeitigen Betrachtung entspricht dieser Wert dem mehrjährigenMittel« (seco, 2006, S.36). Gemäss Angaben von George Shel-don waren 2003 acht Prozent der Ausgesteuerten ein Jahr nachdem Ausscheiden aus der Arbeitslosenversicherung noch ohneArbeitsplatz (Sheldon, 2006, S.10). Die grosse Mehrheit derAusgesteuerten findet also innert Jahresfrist ein Einkommenoder eine anderweitige Lösung. Dabei sind auch jene mit-berücksichtigt, die nicht mehr zu den Stellen Suchenden zählen,weil sie das Rentenalter erreicht oder als Ausländer in ihre Hei-mat zurückgekehrt sind. Auf Basis dieser Zahlen nehmen wiran, dass Ausgesteuerte im ersten Jahr nach ihrer Austeuerungim Schnitt rund sechs Monate zusätzliche Taggelder beziehenwürden. Das entspricht 130 Bezugstagen.6 Im Jahr 2006 beliefsich der durchschnittliche Tagessatz auf 127 Franken. Die Auf-hebung der zeitlichen Taggeldbezugsberechtigung würde folg-lich Mehrkosten in der Höhe von CHF 127 mal 130 Tage mal30’000 BezügerInnen generieren, also eine Summe von 495.3Millionen Franken (gerundet CHF 500 Mio).7 Diese Summeumfasst auch all jene Menschen, die nach der Aussteuerungkeine Arbeit finden und nach heutiger Rechtslage keinen An-spruch auf Sozialhilfe stellen können, weil sie über ein eigenesVermögen verfügen.

Ein Teil der Ausgesteuerten wird aber länger arbeitslos blei-ben und früher oder später Sozialhilfe in Anspruch nehmenmüssen. Auf Anfrage hat uns das Bundesamt für Statistik fol-

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gende Zahlen ermittelt (BfS, 2009): Der Anteil der Ausgesteu-erten am Total der SozialhilfebezügerInnen beträgt 19.5 Pro-zent. Diese Ausgesteuerten bleiben ähnlich lang in der Sozial-hilfe wie der Durchschnitt der BezügerInnen. Daraus lässt sichableiten, dass rund 20 Prozent der Sozialhilfekosten auf die Be-zugsgruppe der Ausgesteuerten fallen. Der entsprechende Be-trag beläuft sich auf 660 Millionen Franken.

Auch diese Gruppe kann künftig AEV-Taggelder beziehen.Damit wird der entsprechende Betrag in der Sozialhilfe einge-spart. Diese Taggelder sind jedoch im Schnitt 42 Prozent höherals die fallbezogenen Aufwände in der Sozialhilfe.8 Diese Grup-pe würde also pro Jahr für rund 940 Millionen Franken Tag-geldleistungen erhalten. Der Mehraufwand, der wegen derAufhebung der Taggeldbeschränkung entsteht, beläuft sich al-so auf 780 Millionen Franken (500 Mio plus 940 Mio minus660 Mio). Diese Mehrausgaben sollen mit allgemeinen Steu-ermitteln gedeckt werden. Damit wollen wir erreichen, dass derSteueranteil an den Sozialversicherungen in der Schweiz leichtangehoben wird (dieser Anteil ist im internationalen Vergleichsehr tief).

Integration der Selbstständig Erwerbenden in die AEV: Auchdiese Verbesserung wirkt sich auf die staatlichen Kosten aus.Der Anteil der selbstständig Erwerbenden an der Gesamtzahlder Beschäftigten belief sich im Jahr 2008 auf 14 Prozent. Ih-re Integration führt einerseits zu Mehreinnahmen, weil sieBeiträge in Form von prozentualen Abgaben auf dem versteu-erten Reineinkommen leisten. Diese Beiträge decken denGrossteil der zusätzlichen Kosten. Die Ausweitung auf selbst-ständig Erwerbende führt bei der heutigen Arbeitslosenversi-cherung andererseits auch auf eine Volumenausweitung derStaatsbeiträge. Diese beliefen sich im Jahr 2006 auf 414 Mil-lionen Franken. Dieser Betrag steigt durch die Integration derselbstständig Erwerbenden um 58 Millionen Franken (14%von 414 Mio).

Eine besondere Situation entsteht dadurch, dass die selbst-ständig Erwerbenden nicht dem BVG-Obligatorium (Pen-sionskassen) unterstellt sind. BVG-Renten werden aber nicht

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nur im Alter, sondern auch bei Invalidität entrichtet. Bei selbst-ständig Erwerbenden entfallen die BVG-Beiträge, die zur Fi-nanzierung der Invaliditätsleistungen dienen. LohnbezügerIn-nen hingegen kommen für diese Leistungen mit ihren BVG-Beiträgen auf. Da die AEV-Leistungen im Invaliditätsfall le-diglich subsidiär zu den BVG-Leistungen entrichtet werden,würden selbständig Erwerbende ungerechtfertigt profitieren:Sie würden im Invaliditätsfall keine BVG-Leistungen erhalten,hingegen volle AEV-Taggelder und Renten beanspruchen kön-nen. Sie würden somit Leistungen beziehen, zu deren Finan-zierung sie nicht beitragen. Diesem Umstand ist Rechnung zutragen: Die AEV-Beitragssätze der selbstständig Erwerbendenmüssen um einen Betrag erhöht werden, der der IV-Kompo-nente in der BVG entspricht und damit diese Finanzierungs-lücke schliesst.9

Wechsel von der Kinderbetreuung zur Erwerbsarbeit: Verbes-sert wird auch die Situation der Personen – in ihrer überwie-genden Mehrheit Frauen –, die nach einer Phase der Kinder-betreuung wieder ins Erwerbsleben einsteigen wollen, jedochkeine Arbeit finden. Für sie wird heute die Rahmenfrist umzwei auf vier Jahre verlängert (AVIG Art. 9a).10 Trotzdem ver-fällt für viele Betroffene ein Taggeldanspruch. Neu erhalten siedas Recht, den Umfang ihrer gewünschten Erwerbstätigkeitselber festzulegen. Ihr Taggeld orientiert sich am vermutetenLohn. Die Zahl der neu Bezugsberechtigten hängt natürlichstark von der Wirtschaftslage ab. Leider sind dazu unseres Wis-sens keine statistischen Angaben verfügbar, die eine Schätzungermöglichen. Wir nehmen deshalb willkürlich an, dass proJahr 5000 Personen nach einer Periode der KinderbetreuungTaggelder beziehen würden, weil sie keine zumutbare Stelle fin-den. Für unsere Schätzung nehmen wir weiter an, diese Perso-nen würden anschliessend durchschnittlich lange (94,6 Tage)ein durchschnittliches Taggeld beziehen (CHF 127.–). Somit er-gibt sich ein Gesamtbetrag von 60,1 Millionen Franken. Dasist insofern grosszügig gerechnet, als Frauen im Schnitt deut-lich tiefere Taggelder beziehen als Männer (CHF 107.– statt146.–).

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Wechsel von Weiter- oder Zweitausbildung zur Erwerbsarbeit:Schwierig zu schätzen sind die Mehrkosten, die sich durch dieBesserstellung all jener ergeben, die nach einer beruflichenZweitausbildung oder Weiterbildung arbeitslos bleiben. DieseKategorie von Versicherten gehört heute in der Regel zu denBeitragsbefreiten und hat Anspruch auf ein Taggeld von CHF122.40 (80% einer Tagespauschale von CHF 153.–). Neu ha-ben diese Personen Anspruch auf ein Taggeld, das auf Basis desmutmasslichen Lohnes berechnet wird. Wir setzen hier grobgeschätzte Mehrkosten von 40 Millionen Franken ein.

Allen diesen Mehrausgaben stehen Einsparungen gegenüber,die wir in den bisherigen Überlegungen noch nicht berück-sichtigt haben. Solche Einsparungen entstehen erstens durchdie Vereinheitlichungen und Skaleneffekte in der Administra-tion sowie durch den Wegfall von Reibungsverlusten respekti-ve Koordinationsaufwänden zwischen den heutigen Versiche-rungszweigen. Wir schätzen, dass sich 20 Prozent der entspre-chenden administrativen Kosten einsparen lassen. Da dieseKosten nicht separat von den übrigen Durchführungskostenausgewiesen werden, müssen wir eine Annahme treffen. Wirgehen davon aus, dass fünf Prozent der Gesamtkosten rein ad-ministrativer Art sind. Fünf Prozent von den AEV-relevantenheutigen Ausgaben (CHF 27 Mia, siehe Tabelle 1) entsprecheneiner Summe von 1,35 Milliarden Franken. Eine Ersparnis von20 Prozent dieses Betrages ergibt eine Summe von 270 Millio-nen Franken.

Eine zweite Einsparung entsteht dadurch, dass AEV-Taggel-der auch den Krankheitsfall vollumfänglich abdecken. Die Ko-sten dafür werden über Lohnprozente aufgebracht. Dabei ent-stehen Einsparungen bei der staatlich finanzierten Sozialhilfein der Höhe von 360 Millionen Franken pro Jahr. Die ent-sprechenden Berechnungen finden sich im Kapitel zur Kran-kentaggeld-Versicherung.

Zu berücksichtigen sind hier noch die einmaligen Ausgaben,die durch die Umstellung der bisherigen Versicherungen auf dieAEV entstehen. Ein solcher Umbau ist zweifellos eine an-

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Komponente Bemerkungen Mehrausgaben Einsparungen Quelle

Familien-EL Entlastung der 900 540 SGK-NR, SKOSSozialhilfe et al

ErfahrungenKanton Tessin

Entwicklungszu- Wurde anlässlich 83 Bundesrätlicheschlag bei IV der 5. IVG-Revi- Angaben(›Karrierezuschlag‹) sion abgeschafft anlässlich der

5. IVG-Revision

16 Wochen 78 Bundesamt fürMutterschafts- Statistikurlaub eigene Berech-

nungen (s. Text)

Unbegrenzte Mehrbedarf aus 1440 660 SECOTaggelder Steuergeldern G. Sheldon

zu finanzieren; Bundesamt fürEntlastung der StatistikSozialhilfe Eigene Berech-

nungen (s. Text)

Integration Selbst- 58 Bundesamt fürständige in Taggeld- Statistikversicherung Eigene Berech-

nungen (s. Text)

Wechsel von 60 Eigene Schätzung,Kinderbetreuung in (s. Text)Erwerbsphase

Wechsel von Weiter- 40 Eigene Schätzung,/Zweitausbildung (s. Text)in Erwerbsphase

Einsparungen allg. 270 Bundesamt fürDurchführungs- Statistik, eigene kosten Berechnungen

(s. Text)

Krankentaggeld Entlastung der 360 Bundesamt fürSozialhilfe Statistik, Sozial-

hilfestatistik,Eigene Berechnun-gen (s. Kap. über dieKrankentaggelder)

Total 2659 1830

Saldo 829

Tabelle 2: Auswirkungen der AEV-Leistungsverbesserungenauf die Staatsbeiträge Berechnungsjahr 2006, Angaben in Mio CHF

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spruchsvolle und aufwändige Aufgabe. Die Informatiklösun-gen müssen auf eine neue Basis gestellt werden. Es überfordertallerdings unsere Möglichkeiten, hier eine seriöse Schätzungdes Gesamtbetrages vorzunehmen. Es ist aber klar, dass die Fi-nanzierung dieser Überführungsarbeiten einen Betrag vonmehreren Dutzend Millionen Franken erfordern dürfte.

Auswirkungen der AEV auf Lohn- und Einkommensprozente

Die Beiträge der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber und der selbst-ständig Erwerbenden berechnen sich in Prozenten des Lohnesbeziehungsweise des versteuerten Reineinkommens der letztenzwei Jahre. In Tabelle 3 sind die Auswirkungen der AEV aufdiese prozentualen Abgaben zusammengestellt. Wie der Ta-belle zu entnehmen ist, sinken die Arbeitnehmerbeiträge vonheute durchschnittlich 4.09 Lohnprozenten auf 3.71 Prozente,während die Arbeitgeberanteile sich von 3.59 Prozent auf 3.71Prozent leicht erhöhen. Selbstständig Erwerbende werden ins-gesamt mit rund 8.5 Prozent belastet. Selbstständige müssenrund ein Prozent mehr bezahlen, als bei Lohnabhängigen dieArbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge zusammen ergeben,was darauf zurückzuführen ist, dass sie nicht dem BVG-Obli-gatorium unterstehen. Die BVG-Pensionskassen richten jedochheute bei Invalidität Renten aus. AEV-Renten sind dazu subsi-diär; Selbstständige müssen nun die Beitragslücke füllen, diesich aus den in ihrem Fall nicht verfügbaren BVG-Renten er-geben.

Besonders erwähnen wollen wir noch einmal die Eins-parungen, die sich dank des Ausscheidens der privaten Versi-cherer aus dem System ergeben. Privatversicherungen weiseneinen wesentlich geringeren Wirkungsgrad auf als öffentlich-rechtliche Sozialversicherungen. Als Wirkungsgrad bezeichnenwir das Verhältnis zwischen erbrachten Leistungen und derSumme der Finanzierungsbeiträge. Die öffentlich-rechtlicheSuva erzielt einen Wirkungsgrad von 94.9 Prozent, die priva-ten Unfallversicherer lediglich einen von 79.2 Prozent (StudieProf. Franz Jäger, zitiert nach SUVA 2007, S.4). Auf die priva-

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ten Unfallversicherer entfallen jährlich 2171,9 Millionen Fran-ken Einnahmen.11 Eine Effizienzsteigerung von 15 Prozent ent-spricht einer Summe von 326 Millionen Franken, gerundet 320Millionen. Eine analoge Ersparnis entsteht durch die Über-führung der bestehenden, freiwilligen Krankentaggeld-Versi-cherungen in ein AEV-Obligatorium. Auch diese Privatversi-

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Heutiges RegimeArbeitnehmer Arbeitgeber Selbstständige

IV 0.70 0.70 1.40 4

ALV 1.00 1.00 – UVG 1.44 1 0.94 1 – 5

EO 0.15 0.15 0.30 (4)Krankentaggeld 0.80 2 0.80 2 – 2

Total 4.09 3.59 Nicht zu vergleichenNeue Regelung AEV

Anteile aus dem heutigen Regime 3.84 7 3.84 7 7.68Eliminierung der Privatversicherer – 0.12 3 – 0.12 – 0.24Deckung der BVG-Lücke ~ 1.00 6

AEV Total 3.71 3.71 ~ 8.50

Tabelle 3: Auswirkungen der AEV auf die BeitragssätzeAngaben in Lohn- und Einkommensprozenten

Quelle. Bundesamt für Statistik, Statistisches Lexikon, Tabelle T.132.1.3, eig. Berechnungen

Anmerkungen zu Tabelle 3:1. Bei den Beiträgen zur Unfallversicherung handelt es sich um Durchschnittswerte, da dieBeiträge von Branche zu Branche je nach Risiken verschieden hoch angesetzt werden.2. Die Krankentaggeld-Versicherungen sind heute nicht obligatorisch und unterliegen keinerRegelung. In einer Mehrzahl der Fälle sind jedoch die abhängig Beschäftigten durch (priva-te) Kollektivversicherungen erfasst und bezahlen dafür Beiträge in der Grössenordnung von0.8 Lohnprozenten. Selbstständig Erwerbende müssen eine individuelle Versicherung ab-schliessen, deren Prämien meist wesentlich höher sind.3. Öffentliche Versicherungen weisen gegenüber den privaten Versicherern einen rund zehnProzent besseren Wirkungsgrad auf (Verhältnis Leistungssumme zu Beitragssumme). In derUnfall- und der Krankentaggeld-Versicherung summieren sich diese Verbesserungen auf ei-nen Betrag von 620 Millionen Franken pro Jahr; das entspricht zwei Mal 0.12 Lohnprozenten.4. Selbstständige bezahlen diese maximalen Sätze ab einem Einkommen von 53’100 Fran-ken. Für tiefere Einkommen werden geringere Sätze erhoben.5. Selbstständige können sich im Rahmen der Unfallversicherungsgesetzgebung freiwilligversichern.6. Im Invaliditätsfall sind AEV-Leistungen subsidiär zu den Leistungen der Pensionskassen(BVG). Weil die selbstständig Erwerbenden dem BVG nicht unterstellt sind, müssen sie dieseLeistungslücke mit höheren Beiträgen schliessen.7. 3.84 Prozent ist das arithmetische Mittel der heute unterschiedlichen Sätze für Arbeit-nehmer (4.09%) und Arbeitgeber (3.59%)

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cherungen liegen mit einem Wirkungsgrad von 81 Prozent weitunter den Werten der SUVA, weshalb hier ebenfalls ein be-trächtliches Sparpotential verborgen liegt. Wie die entspre-chende Summe von 300 Millionen Franken hergeleitet wird, istim Kapitel ›Krankentaggeld: AEV schliesst Armutsfalle‹ nach-zulesen. Beide Beträge zusammen entsprechen 0.24 Lohnpro-zenten.12

AEV-Finanzierungsmodus bringt Zusatzeinnahmen von über 900 Millionen Franken

Bisher sind wir nicht auf unseren Vorschlag zu sprechen ge-kommen, die AEV-Beitragsprozente auf alle Lohn- und Ein-kommensanteile zu erheben. Das ist in der IV und der EO (ana-log zur AHV) heute schon der Fall. Hingegen werden die Bei-tragslohnprozente in der Arbeitslosenversicherung nur bis zueiner maximalen Höhe von 126’000 Franken (versicherter Ver-dienst) eingefordert. Diese Ausweitung der Beitragserhebungführt zu Mehreinnahmen, die sich wie folgt ermitteln lassen:Die massgebende Lohnsumme, auf deren Basis im Jahr 2006IV- und EO-Beiträge bezahlt worden sind, belief sich auf 259,4Milliarden Franken.13 Die Lohnsumme, auf die ALV-Beiträge(je 1% Arbeitgeber und Arbeitnehmer) erhoben worden sind,beträgt hingegen nur 213,7 Milliarden Franken. Auf die Dif-ferenz dieser beiden Beiträge – 45,7 Milliarden Franken – wer-den unter dem AEV-Regime nun zwei zusätzliche Lohnpro-zente erhoben (eben je 1% Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-beiträge aus dem heutigen ALV-Regime), was einer Einnahmevon 914 Millionen Franken entspricht. In Wirklichkeit wirddiese Summe höher liegen, denn auch die Unfallversicherungkennt eine Beitragsobergrenze. Weil die Beiträge der UVG aberin viel komplexerer Weise erhoben werden als in der ALV, kön-nen wir keine Schätzung dieses Mehrertrages vornehmen.

Welche Verwendung sollen diese Mehreinnahmen finden?Sie würden eine willkommene Entlastung bei den akuten Fi-nanzierungslücken von IV, ALV und EO bringen. Das Defizitder IV betrug im Jahr 2008 etwas mehr als 1,3 Milliarden Fran-

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ken (EDI, 2009). Diese Finanzierungslücke ist Gegenstand ei-ner Volksabstimmung vom September 2009 (befristete Er-höhung der Mehrwertsteuer um 0.4%). Eine Revision der Ar-beitslosenversicherung steht ebenfalls auf der politischen Agen-da. In der entsprechenden Botschaft geht der Bundesrat von ei-nem strukturellen jährlichen Defizit von rund einer MilliardeFranken aus (Bundesrat, 2008, S.12). Er unterstellt dabei einehöhere durchschnittliche Arbeitslosigkeit als in der Vergan-genheit angenommen (3.2% statt 2.5%). In der Erwerbsersatz-Ordnung EO ist von einer notwendigen Erhöhung von 0.1Lohnprozenten (Arbeitgeber und Arbeitnehmer) die Rede, umdie neu geschaffene (und über die EO geregelte) Mutter-schaftsversicherung dauerhaft finanzieren zu können. Das ent-spricht einer Summe von rund 0,25 Milliarden Franken proJahr. Zusammengerechnet ergibt sich ein jährlicher Mehrbe-darf von 2,55 Milliarden Franken. Um Missverständnissenvorzubeugen: Dieser Mehrbedarf hat nichts mit unserem AEV-Reformvorschlag zu tun. Er lastet bereits heute auf den Sozi-alversicherungen. Hingegen würde die Einführung von Bei-tragssätzen auf alle Lohnanteile diesen Mehrbedarf minde-stens zu 36 Prozent abdecken.

Fazit: Der Wechsel zur AEV macht sich mehr als bezahlt

Die finanziellen Auswirkungen einer AEV-Einführung habenwir in der folgenden Tabelle 4 zusammengefasst.

Die Einführung der AEV lässt sich kostenneutral umsetzen.Mehrerträge und Mehrausgaben halten sich die Waage. Wirwollen aber erreichen, dass der Staatsanteil an der Finanzie-rung der Sozialwerke, der in der Schweiz im internationalenVergleich überaus klein ist, steigt. Deshalb weisen wir staatli-che Mehrausgaben von rund 830 Millionen Franken aus, de-nen Mehreinnahmen durch Lohnprozente von mindestens 900Millionen Franken gegenüberstehen. Diese Mehreinnahmensollen aber nicht dem Staat zugewiesen werden, sondern zumBeispiel für die Minderung der (unabhängig von der AEV) be-stehenden Defizite in der IV Verwendung finden.

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Diese Kostenneutralität kommt zustande, obwohl wir eineVielzahl von Leistungsverbesserungen vorsehen. Das ist ein be-achtenswerter Befund. Er ist drei Effekten zu verdanken: Er-stens können bei der (staatlich finanzierten) Sozialhilfe we-sentliche Summen eingespart werden, wenn die vorgelagerteSozialversicherung besser ausgebaut wird. Zweitens werdenMehreinnahmen generiert, weil die AEV-Beiträge auf sämtlicheLohn- und Einkommensanteile erhoben werden. Drittens führtdie AEV zu Effizienzgewinnen.

Die Lohnprozente, die heute in private Krankentaggeld-Ver-sicherungen fliessen, werden in die AEV überführt (je 0.8% fürArbeitgeber und Arbeitnehmer). Selbstständig Erwerbende be-zahlen analoge Beiträge auf dem steuerbaren Reineinkommen.Für die Mehrheit der Lohnabhängigen kommt es zu einer Sen-kung der Abgaben, während die Arbeitgeberbeiträge leichtsteigen. Die Ausschaltung ineffizienter Privatversicherungen,in deren Schatullen heute 620 Millionen Franken pro Jahr ver-sickern, führt zu Entlastungen der Sozialpartner von zusam-men 0.24 Lohnprozenten. Selbstständig Erwerbende erhaltenZugang zu einer umfassenden Absicherung ihrer Existenz. Sie

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Tabelle 4: Finanzielle Auswirkungen einer AEV-Einführung auf dieKostenträger

Kostenträger Auswirkungen

ArbeitnehmerInnen 1. Die Gesamtheit der Beiträge sinkt von heute durchschnittlich4.09 Prozent auf 3.71 Prozent.2.Risikoabhängige Prämien bei Unfall und Krankentaggeld entfallen.Das stärkt die Solidarität unter den Branchen. Wer ohnehin durchhöhere Risiken belastet ist, muss nicht auch noch höhere Prämienbezahlen.

Arbeitgeber Die Lohnprozente steigen von 3.59 Prozent auf 3.71 Prozent an.

Selbstständig Selbstständig Erwerbende sind neu umfassend in den Versiche-Erwerbende rungsschutz eingeschlossen. Sie entrichten Abgaben von rund 8.5

Prozent des durchschnittlich versteuerten Reineinkommens der letz-ten zwei Jahre.

Steuermittel Die saldierten Mehrkosten belaufen sich auf rund 830 MillionenFranken.

Alle Kostenträger Dank der Ausdehnung der Beitragspflicht auf Einkommensanteileüber die versicherte Einkommenshöhe hinaus werden Mehreinnah-men von mindestens 914 Millionen Franken pro Jahr erzielt.

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leisten dafür Beiträge in der Höhe von rund 8.5 Einkommen-sprozenten. Der Wechsel zu einer AEV macht sich in sozialer,demokratischer und volkswirtschaftlicher Sicht mehr als be-zahlt: Angst und Verunsicherung können abgebaut, die Ar-beitsproduktivität gesteigert, die berufliche Mobilität verbes-sert und die wirtschaftliche und ökonomische Integration derBevölkerung gestärkt werden.

Anmerkungen1 Aus einer radikal-ökologischen Haltung könnte angeführt werden, damit

werde ein Konsummodell unterstützt, das nicht mehr zu verantworten sei.Ökologische Anliegen (die wir ohne Vorbehalte mittragen) werden unse-res Erachtens jedoch nicht dadurch gefördert, dass man den einkom-mensschwächsten Personen Konsumverzicht auferlegt. Vielmehr muss dieQualität des Konsums sich wandeln, zum Beispiel vom Autoverkehr zumÖV und Langsamverkehr oder von den Verschleisstextilien hin zu langle-bigen, biologisch und sozialverträglich produzierten Kleidern. Auch derEnergie- und Materialverbrauch muss drastisch reduziert werden.

2 Man mag solche Berechnungen fragwürdig finden, weil sie einerseits aufAnnahmen basieren, die angezweifelt werden können, andererseits denTrend fördern, alles und jedes zu ökonomisieren und erstrangig unterGeldaspekten zu beurteilen. Trotzdem können solche Überlegungen hel-fen, die Sicht auf den umfassenden Nutzen zu stärken, den soziale Inves-titionen erzeugen.

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3 Eine Lösung für das Dilemma zwischen Integration und Produktivitätbieten die IV-Teilrenten, die wir auch in der AEV weiterführen wollen. Sieerlauben es, Leistungsverminderungen durch eine Teilrente zu vergüten;die Unternehmen können so Behinderte weiter beschäftigen, ohne die Zu-satzkosten selbst tragen zu müssen.

4 Mit einer adäquaten Bildungspolitik und einer menschlichen Gestaltungder Arbeitswelt können solche Ausweitungen allerdings vermieden wer-den. Arbeitsbedingte psychische Belastungen und Stress müssen reduziertwerden, und die Bildungspolitik muss dazu beitragen, dass die Beschäf-tigten ihre beruflichen Qualifikationen in genügendem Masse entwickelnkönnen, um dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel zu be-wältigen und mitzugestalten. Damit kann eine Trendwende bei den ar-beitsbedingten psychischen Erkrankungen eingeleitet werden.

5 Die Arbeitgeber sind zudem verpflichtet, die AEV-Taggelder im Rahmender Lohnfortzahlungspflicht nach OR auf 100% aufzustocken.

6 Die durchschnittliche Bezugsdauer von Taggeldern aller ALV-BezügerIn-nen betrug im Schnitt der Jahre 1997 bis 2006 94,6 Tage.

7 Dabei lassen wir ausser acht, dass gemäss unserem Modell nur jene AEV-Versicherten unbeschränkte Taggelder beziehen könnten, die mindestensfünf Jahre Beiträge entrichtet haben. Der Betrag würde also geringer aus-fallen.

8 Bezieht eine Person während eines ganzen Jahres das durchschnittlicheTaggeld in der heutigen Arbeitslosenversicherung, so erhält sie einen Be-trag von 33’070 Franken. Demgegenüber werden in der Sozialhilfe proFall 22’270 Franken aufgewandt (Zahlen 2006).

9 Man könnte sich fragen, ob es nicht einfacher wäre, die IV-Komponenteaus dem BVG-Bereich herauszulösen und der AEV einzugliedern. Aller-dings wird damit ein Sozialwerk einbezogen, das einer ganz anderen Fi-nanzierungslogik folgt. Dies dürfte einige Probleme aufwerfen. Deshalbhaben wir in unserem Modell auf die Integration der BVG-IV-Renten ver-zichtet.

10 Wer sich der Erziehung eines unter zehn Jahre alten Kindes gewidmet undwährend dieser Zeit keine Taggelder bezogen hat, aber innerhalb der letz-ten vier Jahre vor der Erstanmeldung 12 Beitragsmonate nachweisenkann, hat heute Anspruch auf Arbeitslosen-Taggelder. Durch jede weitereNiederkunft wird die Rahmenfrist für die Beitragszeit um höchstens zweiJahre verlängert.

11 Diese Summe ergibt sich aus dem Total der Einnahmen in der obligatori-schen Unfallversicherung, minus der Einnahmen der staatlichen SUVA.Quelle: BfS, Statistisches Lexikon

12 Ein Lohnprozent in der AHV entsprach im Jahr 2006 einem Betrag von2594 Millionen Franken.

13 Diese Summe erhält man, wenn man die IV-Beiträge der Arbeitnehmer(0.7%) in der Höhe von 1815,8 Millionen Franken auf 100 Prozent hoch-rechnet (Quelle BfS, Statistisches Lexikon, Tabelle T13.2.1.2).

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Huffschmid, Jörg: Jenseits der Spekulationskrise – Das Diktat der Finanz-märkte und Perspektiven der Gegensteuerung. In: Blätter für deutsche undinternationale Politik 11/2007.

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Die AEV und die Gender-Frage

Ruth Gurny

Angesichts der Tatsache, dass die schweizerische Gesellschaftnach wie vor durch eine massive Ungleichheit zwischen denGeschlechtern gekennzeichnet ist, stellt sich die Frage, ob dieAEV dazu beitragen kann, diese Ungleichheit zu verringern.

Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern besteht in ersterLinie in der Diskriminierung der Frauen im ökonomischen Be-reich, wie etwa die Zusammenstellung der OECD (2007) nach-drücklich aufzeigt. Nach wie vor sind die Frauen ›zuständig‹für die unbezahlte Arbeit, die Männer für die bezahlte Er-werbsarbeit. Diese Situation ist unter anderem die Folge eineskulturellen Konstrukts aus dem 19. Jahrhundert (siehe z.B.Wecker, 2006), das noch immer wirksam ist: Erfolgreich wur-de propagiert, dass die (verheirateten) Frauen ausschliesslichfür Haushalt und Kinder zuständig seien. Bis weit in die zwei-te Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte deshalb das ›Hausfrauen-modell der männlichen Versorgerehe‹ eine starke normativeGeltungskraft. Entsprechend zurückhaltend wurden Struktu-ren der ausserfamiliären Kinderbetreuung auf- und ausgebaut.Kinderkrippen und Horte hatten lange vor allem den Charak-ter von ›Auffangseinrichtungen‹ für Kinder aus Problemfami-lien und für Kinder von FremdarbeiterInnen. Auch wenn nunseit den 1990er-Jahren der vermehrte Einbezug vor allem gutqualifizierter Frauen in die Erwerbsarbeit propagiert wird,wirkt das kulturelle Konstrukt über die ›eigentliche Aufgabeder Frauen‹ in der Schweiz noch immer nach. Familie und Be-ruf sind nach wie vor schlecht vereinbar, wie die Zahlen derSchweizerischen Arbeitskräfteerhebung SAKE für das Jahr2007 zeigen (Bundesamt für Statistik, 2008b):

• Nach wie vor sind es die Frauen, die zugunsten der Famili-enarbeit ihre Erwerbstätigkeit reduzieren oder ganz aufgeben.

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Mütter mit Partnern und Kindern unter 5 Jahren sind zu guteinem Drittel nicht erwerbstätig (34%).

• Frauen mit Kindern in Paarhaushalten arbeiten mehrheitlichTeilzeit (57%), oft mit tiefem Erwerbspensum.

• Mit steigender Kinderzahl nimmt der Anteil der nicht er-werbstätigen Mütter in Paarhaushalten zu, und der Beschäfti-gungsgrad unter den erwerbstätigen Mütter geht zurück.

Frauen sind auf dem Erwerbsarbeitsmarkt nach wie vor deut-lich schlechter gestellt als die Männer. Zusammenfassend wirdin der neuesten Studie zur Lohndiskriminierung zwischenMann und Frau unter anderem Folgendes festgehalten (Strub,Gerfin & Buetikofer, 2008):

• Frauen verdienen in der Privatwirtschaft im Schnitt noch im-mer fast 24 Prozent weniger als die Männer.

• Insgesamt sind lediglich rund 60 Prozent der durchschnittli-chen Lohndifferenz zwischen den Geschlechtern durch so ge-nannte Ausstattungseffekte zu erklären, das heisst daraufzurückzuführen, dass Frauen weniger gut ausgebildet sind,jünger sind und weniger Berufserfahrung respektive betriebs-spezifische Erfahrung aufweisen als die Männer.

• Fast 40 Prozent der Lohndifferenz können aber nicht durchdie oben genannten Ausstattungsmerkmale erklärt werden undsind als reine Lohndiskriminierung zu werten. Frauen verdien-ten 2006 fast 10 Prozent weniger, weil sie bei gleichen Ausstat-tungsmerkmalen nicht gleich wie die Männer entlohnt werden.

• In den meisten Branchen des dritten Sektors ist ein beträcht-licher Zuwachs des Lohnunterschieds über die Lohnverteilungzu beobachten. Mit anderen Worten: je höher die Löhne sind,desto grösser ist die Lohndifferenz zwischen Frauen und Män-nern. Dieser Befund kann als klare Evidenz für eine so ge-nannte ›gläserne Decke‹ im Dienstleistungssektor interpretiertwerden. ›Gläserne Decke‹ beschreibt den Umstand, dass es fürFrauen auf dem Weg nach oben in der Lohnhierarchie zuneh-mend schwieriger wird, den Männern zu folgen.

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• In praktisch allen Branchen des dritten Sektors ist die Lohn-diskriminierung umso grösser, je höher die Löhne sind. DiesesErgebnis impliziert, dass Diskriminierung im dritten Sektor diebesser verdienenden Frauen stärker trifft als die schlechter ver-dienenden. Die beobachtete ›gläserne Decke‹ ist somit auch aufdiskriminierendes Verhalten zurückzuführen.

• Das Ausmass der Lohndiskriminierung hat sich zwischen1998 und 2002 im Durchschnitt kaum verändert. Allerdingsgibt es Evidenz dafür, dass sich die Struktur in diesem Zeitraumverändert hat: Im unteren Lohnbereich haben sowohl derLohnunterschied zwischen Frauen und Männern als auch dieLohndiskriminierung abgenommen. Im oberen Lohnbereichhingegen hat die Lohndifferenz zugenommen. Dass sich dieLohnschere zwischen Frauen und Männern im oberen Lohn-bereich vergrössert hat, dürfte unter anderem mit der zuneh-menden Verbreitung von Sonderzahlungen (erfolgsabhängigeLohnbestandteile wie Boni, Prämien etc.) zusammenhängen,die vor allem Beschäftigten in Kaderpositionen und dort be-sonders den Männern zugute kommen.

• Der öffentliche Sektor wurde nur auf Bundesebene für dasJahr 2006 untersucht. Die Verhältnisse in der Bundesverwal-tung und den Institutionen mit Bundesbeteiligung unterschei-den sich bezüglich Lohn- und Beschäftigtenstruktur von jenenin der Privatwirtschaft. Bei der Bundesverwaltung und denBundesbetrieben beträgt die durchschnittliche Lohndifferenz18.1 Prozent und ist somit um einen Viertel weniger gross alsim privaten Sektor. Auch die Lohndiskriminierung ist geringerund beträgt im öffentlichen Sektor des Bundes 3.2 Prozent.

Care-Arbeit muss politisch gestaltet werden

Einer besonderen Situation und Belastung sind allein erziehen-de Mütter ausgesetzt. Sie sind gezwungenermassen stärker inden Erwerbsarbeitsmarkt integriert. Fast 9 von 10 allein erzie-henden Müttern sind erwerbstätig. Ihre Belastung durch beruf-liche und familiäre Aufgaben ist enorm (Bundesamt für Statis-

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tik, 2008b): Mütter, deren jüngstes Kind unter 5 Jahren alt ist,arbeiten total über 78 Stunden pro Woche. Die Belastung sinktetwas, wenn die Kinder grösser werden, liegt aber immer nochbei durchschnittlich 66 Stunden. Allerdings ist darauf hinzu-weisen, dass auch in Paarhaushalten in den Phasen, in denendie Kinder klein sind, eine sehr hohe Arbeitsbelastung auf bei-den Elternteilen lastet (Bundesamt für Statistik, 2008b): Män-ner wie Frauen arbeiten in diesem Fall insgesamt mehr als 70Stunden pro Woche für Familie und Beruf. In 8 von 10 Paar-haushalten tragen die Mütter die Hauptverantwortung für dieHaus- und Familienarbeit, selbst wenn sie ebenfalls erwerbs-tätig sind. Aber wie oben dargelegt, verteilt sich die Summe derzu leistenden Arbeiten sehr unterschiedlich auf die beiden Ge-schlechter. Die Männer sind zum grössten Teil voll in die Er-werbsarbeit involviert und leisten dort im Schnitt 41 Wochen-stunden, während die Frauen in der grossen Mehrzahl nur sehrkleine Pensen Erwerbsarbeit leisten. Bei den allein erziehendenMüttern kommt noch das massiv grössere Risiko dazu, Sozial-hilfe beziehen zu müssen, weil das erzielte Erwerbseinkommennicht ausreicht: Gemäss Report des Bundesamtes für Statistik(2008a) sind gesamtschweizerisch 17 Prozent aller allein Er-ziehenden von Sozialhilfe abhängig, bei Paaren mit Kindernsind es grad mal 2 Prozent aller Haushalte.

Die institutionelle Landschaft der schweizerischen Gesell-schaft ist von der Tatsache geprägt, dass die Zuständigkeit fürHaushalt und Kinder im Wesentlichen immer noch bei denFrauen angesiedelt wird. Hinzu kommt, dass diese Care-Arbeitals rein private Angelegenheit konzipiert ist. Für die Linke hin-gegen ist klar, dass auch die Care-Arbeit politisch gestaltet wer-den muss. Eine gleichstellungsorientierte Politik darf also nichtnur die Seite der Erwerbsarbeit fokussieren, sondern muss denBlick auf das Ganze (Stutz, 2006) richten. Was wäre denn abereine angemessene Care-Politik, also eine Politik, die die Auf-gaben der ›Fürsorge für andere‹ – und das meint hier insbe-sondere die Kinder- und Altenbetreuung – ernst nimmt? Pfau-Effinger (2006) schlägt folgende Kriterien zur Beurteilung derbestehenden Situation vor:

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• Qualität und Umfang der sozialen Rechte, Kinderbetreuungund Altenpflege in Anspruch nehmen: Hier geht es um dasRecht auf Krippen-, Hort- und Kindergartenplätze, aber auchauf zahlbare und angemessene Altersbetreuungsplätze, die denindividuell verschiedenen Bedürfnissen der alten MenschenRechnung tragen (siehe z.B. Gurny & Rieger, 2006). Unter an-derem gehört auch eine bezahlbare Spitex dazu.

• Qualität und Umfang der sozialen Rechte für Eltern bezie-hungsweise pflegende Angehörige, temporär selbst Aufgabender Betreuung und Pflege im privaten Haushalt übernehmen:Dazu zählen Freistellungsmöglichkeiten, um entsprechendeCare-Aufgaben übernehmen zu können, aber auch Elementeder Bezahlung und sozialen Sicherung für Eltern und Angehö-rige, die im privaten Haushalt Betreuungs- und Pflegeaufgabenwahrnehmen. Dazu gehört ferner das Recht auf Kurzabsenzen,wenn die Kinder krank sind, und insbesondere auch Mutter-schafts-, Vaterschafts- und generell Elternurlaub in einem Um-fang, der die Bezeichnung Urlaub auch verdient. Die Freistel-lung von der Erwerbsarbeit muss verbunden sein mit derGarantie, nach dem Urlaub wieder an den alten Arbeitsplatzzurückkehren zu können.

• Der Grad, in dem die Gleichverteilung der familialen Be-treuung und Pflege einerseits, der Erwerbsarbeit andererseitszwischen Frauen und Männern gefördert wird: Hier geht es ins-besondere um die aktive Förderung der Familienarbeit vonMännern, aber auch eine aktive Lohngleichheitspolitik und ei-ne Reduktion der Normalarbeitszeit, um die Gesamtbelastungvon Eltern auf ein vernünftiges Mass zu bringen.

Hinsichtlich dieser drei Kriterien steht die Schweiz nicht gut da:Sie erfüllt sie kaum oder höchstens ansatzweise. Betreuungs-und Pflegearbeit für Kinder oder andere Familienangehörige istund bleibt immer noch weitgehend Privat- und Frauensache.Zwar wird hier zu Lande das Bild der erwerbstätigen Muttersukzessive akzeptiert, und langsam werden Massnahmengetroffen, um die Familie an das Erwerbsleben anzupassen.

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Umgekehrt wird aber kaum darüber gesprochen, wie die Er-werbsarbeit umgestaltet werden müsste, um sie familientaug-lich zu machen und die Rolle der Väter nachhaltig zu verän-dern. Es dominiert eine Politik, die mit ›Modernization ofFamily Traditionalism‹ beschrieben wurde (Widmer u.a.,2005, zitiert nach Wecker, S. 233). Im Vergleich mit anderenreichen Industriestaaten hinkt die Schweiz beim Ausbau vonMutterschafts-, Vaterschafts- und Elternurlaub nach wie vorstark hinterher, wie die Studie von Ray, Gornick und Schmittzeigt (2008). Das gilt sowohl für die Dauer des gewährten Ur-laubs als auch für den Umfang der finanziellen Unterstützungwährend des Urlaubs. Entsprechend fordert die Linke Verbes-serungen. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund SGB bei-spielsweise fordert eine Erhöhung des gesetzlichen Minimumsdes Mutterschaftsurlaubs von heute 14 auf 18 Wochen undwill den Vaterschaftsurlaub in den Gesamtarbeitsverträgenverankern. Mittelfristig ist gemäss SGB ein bezahlter Elternur-laub von mindestens 26 Wochen einzuführen, wobei ein Teildavon zwingend von den Vätern bezogen werden muss (Bian-chi & Werder, 2008).

AEV: Fünf wichtige Schritte in die richtige Richtung

Was bringt der Reformvorschlag der AEV angesichts diesergrossen Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern? Um esgleich vorweg zu nehmen: Er geht die ungleiche Stellung derGeschlechter in der schweizerischen Gesellschaft nicht grund-legend an. Die AEV ist ›nur‹ ein Reformvorschlag für dasschweizerische Sozialversicherungssystem. Die ungleiche Ar-beitsteilung zwischen den Geschlechtern und die Lohndiskri-minierung von Frauen werden damit nicht aus der Welt ge-schaffen. Ebenso ist klar, dass die AEV, die als Sozialversiche-rung am Erwerbseinkommen anknüpft, bestehende Ungleich-heiten in der Lohnarbeitswelt vorläufig fortschreibt. Sie ist al-so kein Beitrag zu einer radikalen Genderreform und ersetzt inkeiner Weise die Auseinandersetzung und den Kampf für eineGleichbehandlung. Das Projekt AEV verdient aber unserer An-

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sicht nach auch aus Gendersicht Unterstützung, weil es unterdem Strich fünf wichtige Schritte in die richtige Richtungbringt:

• Die Armutsprävention in Familien und insbesondere beiallein Erziehenden kann als Lackmustest für eine gleichstel-lungspolitische Bewertung der Familienpolitik betrachtet wer-den (Rüling & Kassner, 2007). Diesen Test besteht die AEV: Siesorgt dafür, dass aus unbezahlter Arbeit in der Betreuung min-derjähriger Kinder ein weniger grosses Armutsrisiko entsteht.Dank der Einführung von Familienergänzungsleistungen wirddas Risiko, wegen der Kinderbetreuungsarbeit in die Armutabzudriften, massiv reduziert. Das ist insbesondere für alleinerziehende Frauen von grosser Bedeutung.

• Die gegenwärtige Flexibilisierungspolitik in der Lohnar-beitswelt birgt viele Risiken. Die AEV schafft beim für dieFrauen wichtigen Übergang von der Kinderbetreuung in die Er-werbsarbeit Sicherheit: Die Betroffenen – und das sind in derüberwiegenden Mehrzahl heute noch immer Frauen – erhaltenbedeutend bessere Taggelder, als es heute der Fall ist. Sie kön-nen in Ruhe eine Erwerbsarbeit suchen, die qualitativ undquantitativ ihren Anforderungen genügt.

• Die AEV bringt selbstständig Erwerbenden und damit auchvielen Frauen deutliche Verbesserungen, weil sie nun auch An-spruch auf Taggelder haben und weil das UVG-Obligatorium,das bisher nur für unselbstständige Erwerbstätige galt, auchauf sie ausgedehnt wird.

• Frauen sind überproportional stark von prekärer Arbeit be-troffen. Die AEV durchbricht die Abwärtsspirale bei den Ar-beitsbedingungen. Der Anspruch auf Decent Work hilft, dieTendenz in Richtung prekärer Arbeitsverhältnisse umzukeh-ren, was für viele Frauen von besonderer Bedeutung ist.

• Die AEV bringt eine kleine Verbesserung des Elternurlaubesmit der Ausdehnung des Mutterschaftsurlaubs von heute 14auf 16 Wochen.

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LiteraturBianchi, D. & Werder, C. (2008): Vereinbarkeit Familie und Beruf: Mehr Zeit

und Geld für Eltern, genügend familienergänzende Betreuung für Kinder.Newsletter Schweizerischer Gewerkschaftsbund (Vol. 08/15).

Bundesamt für Statistik (2008a): Die schweizerische Sozialhilfestatistik2006. Neuchâtel.

Bundesamt für Statistik (2008b): Eltern investieren viel Arbeit und Geld inihre Kinder. Neuchâtel.

Gurny, R. & Rieger, A. (2006): Altern und Alter. In Denknetz-Jahrbuch2006. edition 8, Zürich

OECD (2007): Women and Men in OECD Countries. OECD Publications,Paris.

Pfau-Effinger, B. (2006): Care im Wandel des wohlfahrtsstaatlichen Solida-ritätsmodells. In E. Carigiet, U. Mäder, M. Opielka & F. Schulz-Nies-wandt (Hrsg.), Wohlstand durch Gerechtigkeit. Rotpunkt-Verlag, Zürich.

Ray, R., Gornick, J. C. & Schmitt, J. (2008): Parental Leave Policies in 21Countries. Center for Economic and Policy Research, Washington D.C.

Rüling, A. & Kassner, K. (2007). Familienpolitik aus der Gleichstellungs-perspektive – Ein europäischer Vergleich. Friedrich Ebert Stiftung, Berlin.

Strub, S., Gerfin, M. & Buetikofer, A. (2008): Vergleichende Analyse derLöhne von Frauen und Männern anhand der Lohnstrukturerhebungen1998 bis 2006. Bundesamt für Statistik, Bern.

Stutz, H. (2006): Der Blick aufs Ganze: Care Economy und Erwerbsarbeit.In Denknetz-Jahrbuch 2006. edition 8, Zürich.

Wecker, R. (2006). Traditionen und Veränderungen. In E. Carigiet, U. Mä-der, M. Opielka & F. Schulz-Nieswandt (Hrsg.): Wohlstand durch Ge-rechtigkeit. Rotpunkt-Verlag, Zürich.

Widmer, E. u.a. (2005): What Pluralization of the Life Course? An Analysisof Personal Trajectories and Conjugal Interaction in Contemporary Swit-zerland. In H. Kriesi u.a. (Hrsg.), Contemporary Switzerland. Revisitingthe Special Case. Palgrave, Clippenham/Eastbourne.

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Zumutbare Arbeit in der AEV

Von Beat Ringger

Unser Modell einer Allgemeinen Erwerbsversicherung basiertauf der Voraussetzung, dass Individuen und Gesellschaft wech-selseitige Verpflichtungen erfüllen. In der Beschreibung unse-res Modells heisst es dazu: »Die Individuen sind verpflichtet,gesellschaftlich nützliche Arbeit zu leisten, damit die Gesell-schaft bestehen, sich reproduzieren und weiter entwickelnkann. Andererseits müssen die gesellschaftlichen Verhältnisseso gestaltet werden, dass allen Individuen die Teilnahme an ge-sellschaftlich nötiger Arbeit ermöglicht wird, einer Arbeit, dieden Bedingungen der Decent Work im Sinne der ILO ent-spricht. Das bedeutet, dass niemand zu demütigender, schädi-gender, schlecht bezahlter oder dequalifizierender Arbeitgenötigt werden kann.« (siehe dazu auch These 3 im Kapitel›Gute Arbeit für alle‹).

Diese Grundsätze müssen zum Tragen kommen, wenn Men-schen keine Erwerbsarbeit haben und sich individuell um eineStelle bemühen (müssen). Wir reden dabei auch von der»Pflicht der Versicherten, mit Unterstützung der zuständigenStellen alles Zumutbare zu unternehmen, um den Grund desErwerbsausfalls zu vermeiden oder zu verkürzen«. Die ent-scheidende Frage lautet demnach: Was darf als zumutbare Ar-beit gelten? Das Thema taucht auch in einer weiteren Situationauf, nämlich dann, wenn Langzeiterwerbslosen, die keine Stel-le finden, Beschäftigungs- und Arbeitsprogramme unterbreitetwerden Die Frage lautet hier: Welchen Anforderungen müssensolche Angebote genügen?

Zu unserer Antwort einleitend einige Bemerkungen. Die rea-len Arbeitsverhältnisse sind das Ergebnis gesellschaftlicherAuseinandersetzungen. Dabei treffen unterschiedliche Vorstel-lungen und Interessen aufeinander, vor allem jene der Unter-nehmensleitungen auf jene der abhängig Beschäftigten. Es wäreeine Illusion zu glauben, diese Gegensätze liessen sich rein

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gesetzgeberisch im Rahmen einer Erwerbsersatzversicherungüberwinden. Die Auseinandersetzung darüber, wie Arbeit aus-gestaltet wird, wie lange gearbeitet wird, welche Löhne bezahltwerden sollten oder welche Rechte abhängig Beschäftigte be-sitzen sollten und müssten, wird immer wieder neu geführtwerden müssen. Die AEV kann und will sie nicht ersetzen.Hingegen setzen wir uns mit Engagement für Lösungen ein, diedie Position der abhängig Beschäftigten stärken. Erwerbslo-sigkeit ist für die Betroffenen eine grosse Belastung. Andauerndhohe Arbeitslosenraten schwächen die individuelle und kol-lektive Stellung der Lohnabhängigen in der Gesellschaft. So-zialversicherungen müssen hier dagegenhalten.

Die Kommission Sozialbereich der Gewerkschaft der öf-fentlichen Dienste vpod schreibt in ihrer Broschüre ›Teillohn-jobs, Existenzsicherung und Erwerbsarbeit‹ (vpod, 2007, S.3):»Sie kennen wahrscheinlich den Stuhltanz, ein Gruppenspiel,das auch als Reise nach Jerusalem bekannt ist. Auf ein Zeichenhin müssen sich alle auf einen Stuhl setzen. Im Raum befindetsich jedoch ein Stuhl weniger, als Leute mitspielen. In jederRunde fällt diejenige Person raus, die keinen Stuhl erobernkann. Ähnlich funktioniert ein Arbeitsmarkt, auf dem zu wenigStellen angeboten werden. Auch hier gibt es nicht genug›Stühle‹ für alle. Erschwerend kommt dazu, dass sich unter denvorhandenen Stühlen eine Reihe von wackeligen Klappsitzenbefindet: Schlecht bezahlte, unsichere Arbeitsstellen. DieChancen, einen Stuhl zu erhalten, sind zudem extrem ungleichverteilt. Das Rennen beginnt schon unmittelbar nach derobligatorischen Schulzeit. Wer am Anfang Probleme kriegt,dem werden Bleigewichte an die Füsse gebunden.« Das Spielwerde verschärft, wenn »von Unternehmerseite ein ständigerDruck ausgeübt wird, reguläre Stühle durch Klappsessel zu er-setzen: Arbeit auf Abruf, befristete Anstellungsverhältnisse undTemporärstellen«. Das führe dazu, dass »die Tendenz steigt,eine Gruppe von Menschen lebenslänglich auf die Klappsitzezu verweisen«. Deshalb sei es entscheidend, sich dafür einzu-setzen, dass für alle Mitspielenden anständige Stühle bereitstünden, das heisst, annehmbare Arbeit verfügbar sei. Ersatz-

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massnahmen wie Arbeitslosengelder oder Sozialhilfe bleibendemgegenüber immer unbefriedigend: »Solange zu wenig guteStühle bereit stehen, kann das Ziel nur darin bestehen, dieBetroffenen möglichst gut ›im Spiel‹ zu halten. Ohne dass des-wegen andere geschädigt werden.« Wir schliessen uns diesenAusführungen voll und ganz an.

Zumutbare Arbeit in der Arbeitslosenversicherung

Die aktuelle Regelung zur Frage der zumutbaren Arbeit, wie siedas Bundesgesetz über die obligatorische Arbeitslosenversiche-rung und die Insolvenzentschädigung (Arbeitslosenversiche-rungsgesetz, AVIG) festhält, ist unseres Erachtens verbesse-rungswürdig. Einzelne zentrale Bestimmungen genügen denAnforderungen an Decent Work nicht und müssen für die An-liegen der AEV korrigiert werden. Wir zitieren den bestehen-den Artikel 16 AVIG in voller Länge, unsere Kommentare undVorschläge haben wir kursiv unmittelbar nach den zu korri-gierenden Abschnitten hingesetzt.

AVIG Art. 16Zumutbare Arbeit

1 Der Versicherte muss zur Schadensminderung grundsätzlichjede Arbeit unverzüglich annehmen.

2 Unzumutbar und somit von der Annahmepflicht ausgenom-men ist eine Arbeit, die:

a. den berufs- und ortsüblichen, insbesondere den gesamt- odernormalarbeitsvertraglichen Bedingungen nicht entspricht;

b. nicht angemessen auf die Fähigkeiten oder auf die bisherigeTätigkeit des Versicherten Rücksicht nimmt;

c. dem Alter, den persönlichen Verhältnissen oder dem Ge-sundheitszustand des Versicherten nicht angemessen ist;

d. die Wiederbeschäftigung des Versicherten in seinem Berufwesentlich erschwert, falls darauf in absehbarer Zeit über-haupt Aussicht besteht;

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Diese Bestimmung muss geändert werden. Was darf denn alszumutbar gelten, wenn eine Wiederbeschäftigung im bisheri-gen Beruf unwahrscheinlich ist? Wir schlagen folgende Neu-formulierung vor:d. die Wiederbeschäftigung des Versicherten in seinem Berufwesentlich erschwert. Falls auf eine solche Wiederbeschäfti-gung in absehbarer Zeit keine Aussicht besteht, ist Arbeit nurzumutbar, wenn sie eine neue berufliche Perspektive eröffnet,die den bestehenden Qualifikationen des Stellensuchenden an-gemessen ist.

e. in einem Betrieb auszuführen ist, in dem wegen einer kol-lektiven Arbeitsstreitigkeit nicht normal gearbeitet wird;

f. einen Arbeitsweg von mehr als zwei Stunden je für den Hin-und Rückweg notwendig macht und bei welcher für den Ver-sicherten am Arbeitsort keine angemessene Unterkunft vor-handen ist oder er bei Vorhandensein einer entsprechenden Un-terkunft seine Betreuungspflicht gegenüber den Angehörigennicht ohne grössere Schwierigkeiten erfüllen kann;

Wir erachten einen Arbeitsweg von vier Stunden pro Tag als zuhoch. Das ist rund die Hälfte der Normalarbeitszeit! Die Ar-beitswege dauern in der Schweiz im Schnitt 70 Minuten proTag. Zudem ist es unseres Erachtens unerlässlich, dass auf diesoziale Verankerung der Betroffenen Rücksicht genommenwird. Wir schlagen folgende Neuregelung vor:f. an einem Arbeitsort liegt, der eine angemessene Weiterfüh-rung der sozialen Kontakte und die Erfüllung der Betreuungs-pflichten gegenüber den Angehörigen verunmöglicht und einenArbeitsweg von mehr als 75 Minuten je für den Hin- undRückweg notwendig macht;

g. eine ständige Abrufsbereitschaft des Arbeitnehmers überden Umfang der garantierten Beschäftigung hinaus erfordert; h. in einem Betrieb auszuführen ist, der Entlassungen zumZwecke vorgenommen hat, Neu- oder Wiedereinstellungen zuwesentlich schlechteren Arbeitsbedingungen vorzunehmen;oder

i. dem Versicherten einen Lohn einbringt, der geringer ist als

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70 Prozent des versicherten Verdienstes, es sei denn, der Versi-cherte erhalte Kompensationsleistungen nach Artikel 24 (Zwi-schenverdienst); mit Zustimmung der tripartiten Kommissionkann das regionale Arbeitsvermittlungszentrum in Ausnahme-fällen auch eine Arbeit für zumutbar erklären, deren Entlöh-nung weniger als 70 Prozent des versicherten Verdienstes be-trägt.

Auch diese letzte Bestimmung erachten wir als ungenügend. Sieöffnet die Schleusen für eine Abwärtsspirale, in der Erwerbs-lose wesentlich schlechter entlöhnte – eventuell gar zeitlich be-fristete – Arbeit annehmen müssen, auf deren Basis dann dieneuen Ansprüche auf Taggelder berechnet werden. Bereits inder zweiten Runde kann so ein zumutbarer Lohn von 49 Pro-zent des ursprünglichen Erwerbseinkommens zustande kom-men. Unser Vorschlag für die Neuformulierung dieses Para-grafen lautet:i. dem Versicherten einen Lohn einbringt, der geringer ist als80 Prozent des versicherten Verdienstes, es sei denn, der Ver-sicherte erhalte Kompensationsleistungen nach Artikel 24(Zwischenverdienst). Nimmt ein Versicherter eine Stelle an, de-ren Lohn unterhalb des ursprünglichen Verdienstes liegt, giltwährend fünf Jahren bei einer allfälligen erneuten Bezugsbe-rechtigung der höhere ursprüngliche Verdienst als Basis für dieBerechnung des Taggeldanspruches.

Arbeitsintegrationsprojekte

Eine zweite Situation, in der das Gebot von Decent Work er-füllt sein muss, betrifft Arbeitsintegrationsprogramme, wie siesinnvoller Weise Menschen angeboten werden, die über länge-re Zeit keine Erwerbsarbeit finden. Im Sinne einer Orientie-rungshilfe führen wir nachstehend Gütekriterien an, die derSchweizerische Gewerkschaftsbund in einem Positionspapiervom 12.2.2008 im Hinblick auf Arbeitsintegrationsprojektefür SozialhilfebezügerInnen formuliert hat (SGB, 2008). DieSGB-Position mag in einzelnen Punkten zu diskutieren geben;als Orientierung scheint sie uns aber zweckdienlich. Der SGB

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verlangt die kumulative Erfüllung der nachstehenden Kriterien,die wir in Auszügen zitieren:

»1. Arbeitsprojekte müssen so angelegt sein, dass sie bestehen-de Arbeitsplätze nicht konkurrenzieren.

Begründung: Stellen Arbeitsintegrationsprojekte eine Konkur-renz zum regulären Gewerbe dar, so ist die Gefahr gross, dassaufgrund des Kostendrucks und der Verdrängungseffekte, dievon Arbeitsintegrationsprojekten ausgehen, der Lohndruckauf dem Arbeitsmarkt für bestimmte Tätigkeiten und Bereichezunimmt, schlimmstenfalls sogar reguläre Stellen gefährdetsind. Dies gilt insbesondere für Stellen im öffentlichen Bereich.1

2. Jedes Arbeitsintegrationsprojekt muss einen Qualifizierung-und Betreuungsaspekt beinhalten.

Begründung: Das Arbeitsintegrationsprojekt soll die Wieder-eingliederung in den Arbeitsmarkt erleichtern. Darum müssensolche Angebote Betreuungs- und Qualifikationsaspekte bein-halten. Bei reinen Routinetätigkeiten ist die Gefahr gross, dassdie einst erworbenen Fähigkeiten verloren gehen. (…)

3. Die Arbeitsintegrationsprojekte müssen den Sozialpartnernvor Ort unterbreitet werden und benötigen deren vorgängigeZustimmung. Zudem müssen diese – ebenfalls in Zusammen-arbeit mit den Gewerkschaften – regelmässig kontrolliert wer-den. Die Durchführung ist staatlichen oder gemeinnützigenOrganisationen zu übertragen.(…)

4. Die Anstellung ist zeitlich zu beschränken. Eine Verlänge-rung ist in begründeten Fällen möglich.(…)

5. Eine Anstellung im Rahmen eines Arbeitsintegrationspro-jektes darf nur dann verbindlich gemacht werden, wenn demSozialhilfebezüger oder der Sozialhilfebezügerin ein fairerLohn und eine Motivations- oder Integrationszulage zuge-standen wird. Darüber hinaus müssen die Arbeitsintegrations-projekte für die Sozialhilfeempfangenden zumutbar und ver-hältnismässig sein.

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Begründung: Der Erfolg von Arbeitsintegrationsprojektenhängt entscheidend von der Motivation der Betroffenen ab.Zudem könnten unmotivierte Teilnehmende sich negativ aufdas gesamte Projekt auswirken. Die Verpflichtung zur Annah-me einer Stelle muss also mittels positiver Anreize erfolgen.Eine Verknüpfung der Sozialfürsorge mit der Pflicht resp. demZwang zur Annahme einer Arbeit (›workfare‹), ohne dass da-bei eine faire Gegenleistung geboten wird, verletzt die Würdedes Menschen.«

Anmerkungen1 Original-Anmerkung des SGB: Der Spardruck, unter dem die öffentlich

Hand seit Jahren leidet, macht es für dieses attraktiv, gewisse Aufgaben,die wenig Qualifikation erfordern, in solche Projekte auszulagern. Damitmissachtet just der Arbeitgeber, der eigentlich Vorbildfunktion haben soll-te, fundamentale Grundsätze der Gleichbehandlung. Der Druck auf dieLöhne der regulär Angestellten ist denn auch hier sehr real.

LiteraturBundesgesetz über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die In-

solvenzentschädigung (Arbeitslosenversicherungsgesetz, AVIG). http://www.admin.ch/ch/d/sr/c837_0.html

Schweizerischer Gewerkschaftsbund SGB. SGB-Bedingungen für Arbeitsin-tegrationsprojekte der Sozialhilfebehörden. Bern, 2008

vpod Verbandskommission Sozialbereich. Integrieren und qualifizieren stattabschieben. Zur Auseinandersetzung um Teillohnjobs, Existenzsicherungund Erwerbsarbeit Zürich 2007

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FAQ – Häufig gestellt Fragen zur AEV

Von Ruth Gurny

1. Welche Verbesserungen bringt die AEV?Die AEV schliesst wichtige Lücken: Wer krank wird, ist neu ob-ligatorisch gegen Erwerbsausfall versichert, und dank der Ein-führung von Familien-Ergänzungsleistungen (EL) wird das Ar-mutsrisiko Kinder stark gemildert. Wer arbeitslos wird, erhältohne zeitliche Begrenzung Taggelder. Die Situation von Frau-en und Männern, die nach einer Phase der Kinderbetreuungwieder ins Erwerbsleben einsteigen wollen, wird verbessert.Die selbstständig Erwerbenden werden umfassend in das Ver-sicherungssystem integriert.

2. Wäre es nicht gescheiter, die jetzigen Sozialversicherungenauszubauen und die vorhandenen Lücken zu schliessen, stattein völlig neues System zu lancieren?Neben den Lücken im aktuellen System gibt es mehrere weite-re Gründe für eine grundsätzliche Neukonzeption unseres So-zialversicherungswesens:

• Das bisherige Sozialversicherungssystem ist ein undurch-schaubarer Dschungel, in dem sich auch ExpertInnen verlieren.Es enthält viele Doppelspurigkeiten, ist intransparent und in-effizient.

• Im heutigen System werden die Betroffenen zwischen den ve-schiedenen Sozialversicherungen hin und her geschoben. Solaufen sie Gefahr, zum Sozialhilfefall zu werden, bis sich dieAkteure der einzelnen Versicherungen untereinander geeinigthaben, wer denn zuständig sei.

• Gegenwärtig werden im Rahmen einzelner Revisionen Lei-stungen abgebaut und die Bedingungen für den Bezug von Lei-stungen erschwert. Eine einheitliche Sozialversicherung schiebteiner solchen Abbaupolitik im ›Reihum-Verfahren‹ einen Rie-gel.

• Mit einer einheitlichen allgemeinen Erwerbsversicherung

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wird die Solidarität unter den Betroffenen gestärkt. Die Be-hinderten können nicht mehr gegen die Unfallopfer ausgespieltwerden, die Arbeitslosen nicht mehr gegen die Working Poor.

3. Auch die AEV verlangt von den Leuten eine Arbeitsleistung.Ist das nicht nach wie vor Workfare statt Welfare?Die AEV verpflichtet die Menschen, Arbeit zu leisten, sofernsie aufgrund ihrer körperlichen und psychischen Verfassungdazu in der Lage sind. Neu gibt es nicht nur diese einseitige Ver-pflichtung, sondern vielmehr eine gegenseitige Verpflichtungvon Individuum und Gesellschaft: Nicht nur das Individuumwird in die Pflicht genommen, sondern auch die Gesellschaft.Die Gesellschaft muss so ausgestaltet sein, dass sie allen Arbeitzu fairen Bedingungen zur Verfügung stellen kann.

Gegenüber den Mechanismen von Workfare-Regelungengibt es einen weiteren wichtigen Unterschied: Statt Erwerbslo-se in die Abwärtsspirale ›Aussteuerung – Sozialhilfe‹ fallen zulassen, zahlt ihnen die AEV unbegrenzt Taggelder aus, bis eineErwerbsarbeit angeboten werden kann, die den Kriterien vonDecent Work entspricht.

4. Welche Arbeit ist im Rahmen der AEV zumutbar? Wer ent-scheidet das?Als zumutbar gelten im Rahmen der AEV diejenigen Arbeiten,die den Kriterien der Internationalen Arbeitsorganisation ILOfür gute Arbeit (Decent Work) entsprechen. Dazu gehören un-ter anderem die Sicherheit des Arbeitsplatzes und des Einkom-mens. Die Arbeitsbedingungen dürfen die Gesundheit nichtschädigen. Zudem besteht ein Recht auf Weiterbildung undQualifizierung. Dabei ist klar, dass die Inhalte des Begriffs guteArbeit, damit die Zumutbarkeit einer Arbeit, laufend ausge-handelt werden müssen. Es ist also wichtig, dass die Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer in den Aufsichtsgremien derAEV gut und kompetent vertreten sind.

5. Welchen Beitrag leistet die AEV, um das Problem der Wor-king Poor zu lösen?Mit der Integration einer Familien-EL entschärft die AEV eine

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wichtige strukturelle Armutsquelle der arbeitenden Bevölke-rung. Die in der Regel unbegrenzte Fortzahlung von Taggel-dern bei Arbeitslosigkeit verhindert, dass Langzeitarbeitsloseausgesteuert und in die Sozialhilfe abgeschoben werden. Wich-tig ist auch, dass Selbstständige besser gestellt werden. Leiderkann aber auch die AEV den Skandal, dass gewisse Menschentrotz Erwerbsarbeit nicht genug Geld zum Leben haben, nichtaus der Welt schaffen. Das Problem der Unterbeschäftigungund der Mangel an Arbeitsplätzen muss mit anderen Mittelnangegangen werden, zum Beispiel durch Schaffung sinnvollerneuer Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst und durch Arbeits-zeitverkürzung. Weiterhin aktuell bleibt auch der Einsatz füreinen anständigen Mindestlohn.

6. Was bringt die AEV den selbstständig Erwerbenden?Eine volle Integration in die Versicherung und damit umfas-sende Verbesserungen. Selbstständig Erwerbende haben neuebenfalls Anspruch auf Taggelder und sind obligatorisch gegenUnfall und Krankheit versichert.

7. Was bringt die AEV bei prekärer Arbeit und flexibilisiertenArbeitsverhältnissen?Die AEV kann die mit prekärer Arbeit verbundenen Problemeentschärfen, aber nicht umfassend lösen. Es braucht zusätzlichgeeignete Regelungen im Arbeitsrecht und im Obligationen-recht (OR), um beispielsweise Menschen zu schützen, die Ar-beit auf Abruf leisten und dabei eine schleichende Pensenab-nahme oder stark schwankende Pensen in Kauf nehmen müs-sen.

8. Was bringt die AEV den Frauen?Es sind nach wie vor grösstenteils Frauen, die die Kinderbe-treuung übernehmen. Mit der Einführung von Familien-ELwird das Risiko, wegen dieser Aufgabe in die Armut abzudrif-ten, erheblich reduziert. Das ist insbesondere für allein erzie-hende Frauen von grosser Bedeutung. Ferner schafft die AEVfür diese Frauen beim Übergang von Phasen der Kinderbe-treuung in die Erwerbsarbeit mehr Sicherheit: Die Betroffenen

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erhalten bedeutend bessere Taggelder, als es heute der Fall ist.Sie können in Ruhe eine Erwerbsarbeit suchen, die qualitativund quantitativ ihren Anforderungen genügt.

9. Was tut die AEV, um das Armutsrisiko Kinder einzudäm-men?Familien, deren Einkommen nicht für die Existenzsicherungausreicht, haben ein Recht auf Ergänzungsleistungen. Denkbarist hier eine Anlehnung an das so genannte Tessiner Modell,das aus zwei Teilen besteht: Erstens aus der Kinder-EL für Kin-der von 0 bis 18 Jahren. Diese Leistung hat den Zweck, denminimalen Lebensbedarf von Kindern und Jugendlichen zusichern. Zweitens aus der Eltern-EL für Haushalte mit Kindernvon 0 bis zum 3. Geburtstag und einem Einkommen, das trotzKinder-EL immer noch unter dem Existenzminimum liegt. Die-se Leistung hat den Zweck, die Existenz der gesamten Familiemit Kindern unter drei Jahren zu sichern, und ist als Entgelt fürden Erwerbsausfall respektive die Zeitkosten für die Betreuunggedacht. Dieser Teil der Ergänzungsleistung deckt die Differenzzwischen dem verfügbaren Einkommen des Haushalts unddem Familienbedarf gemäss den Ergänzungsleistungen zurAHV/IV.

10. Wieso deckt die AEV nur einen Teilbereich der Care-Tätig-keiten ab?Die AEV konzentriert sich darauf, aus der Verrichtung unbe-zahlter Arbeit in der Betreuung minderjähriger Kinder kein Ar-mutsrisiko entstehen zu lassen. Die finanzielle Sicherung jenerMenschen, die pflegebedürftige erwachsene Familienmitgliederund/oder NachbarInnen betreuen, muss anders gelöst werden.Dabei gilt es besonders zu beachten, dass das Selbstbestim-mungsrecht der betreuten Personen nicht verletzt wird. Diesemüssen selber entscheiden können, wer für sie Betreuungsar-beit leistet. Allenfalls kommen Modelle analog der aktuell dis-kutierten Assistenzentschädigungen in Frage. Auch die be-rechtigte Forderung nach der Einführung eines Vaterschafts-und Elternurlaubs muss an einem anderen Ort als im Rahmender AEV gelöst werden.

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11. Die AEV sieht in bestimmten Fällen Taggelder vor, in an-deren Renten. Wieso?Das Prinzip ist einfach: Taggelder werden all jenen ausgerich-tet, die entweder vermittelbar oder nur auf Zeit erwerbsun-fähig sind. Renten dagegen sind für Menschen bestimmt, dieauf absehbare Zeit nicht oder nur beschränkt vermittelbarsind. Mit den Teilrenten sollen Menschen unterstützt werden,die auf Dauer nur beschränkt erwerbsfähig sind. So wird dieSozialhilfe entlastet, die immer mehr Leute unterstützen muss,die in ihrer Erwerbsfähigkeit eingeschränkt sind, von der IVaber nicht anerkannt werden.

12. Was bedeutet ›vermuteter Lohn‹?Der Begriff wird in der Arbeitslosenversicherung schon heuteverwendet und bezieht sich auf jene Versicherten, die von derBeitragspflicht befreit sind. Es handelt sich um Personen, diedie Auflage einer Beitragszeit von zwölf Monaten nicht erfül-len konnten, sei es nun wegen einer Ausbildung, Krankheit,Mutterschaft oder einem Haftaufenthalt. Diese Personen ha-ben Anspruch auf Arbeitslosentaggelder in Form gewisser Pau-schalen, deren Höhe vom Stand der Ausbildung abhängt. DieAEV erweitert das Prinzip: In zwei Situationen soll nicht mehrdie Pauschale, sondern das mutmasslich erzielbare Einkommenfür die Taggeldberechnung massgebend sein. Diese Bestim-mung betrifft zum einen Leute, die nach längeren Phasen derKinderbetreuungsarbeit wieder ins Erwerbsleben einsteigen,zum anderen Personen, die eine berufliche Weiterbildung ab-solviert haben.

13. Gibt es eine Obergrenze der Taggelder und Renten?Die AEV sieht, analog zur heutigen Arbeitslosenversicherung,eine Obergrenze vor. Diese Obergrenze beträgt zurzeit CHF10'500 pro Monat. Die AEV-Beiträge werden allerdings aufdem gesamten Lohn erhoben, wie es in der AHV, IV und EOheute schon der Fall ist.

14. Werden auch Teilrenten gewährt?Ja, wie in der heutigen IV gibt es auch in der AEV Teilrenten

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(Viertel-, Halb- oder Dreiviertel-Renten), je nachdem, wiestark die Erwerbsfähigkeit längerfristig eingeschränkt ist.

15. Wird bei der Berechnung der Renten ein ›Karriere-‹ re-spektive ›Entwicklungszuschlag‹ vorgesehen?Die Regelungen, wie sie vor der 5.IVG-Revision galten, wer-den in der AEV übernommen: Wenn die betroffene Person das45. Altersjahr noch nicht überschritten hat, wird bei der Er-mittlung der Rente ein Zuschlag in Prozenten des massgeben-den durchschnittlichen Jahreseinkommens aufgerechnet. FürGeburts- und Frühinvalide beträgt die Rente mindestens 1331/3 Prozent der minimalen Vollrente.

16. Wie steht es mit den Kinderrenten?Auch hier werden die heutigen IV-Regelungen übernommen:Personen mit einer Rente haben für jedes Kind, das das 18. Al-tersjahr noch nicht vollendet hat, Anspruch auf eine Kinder-rente im Betrag von 40 Prozent ihrer eigenen Rente. Für Kin-der in der Ausbildung wird die Kinderrente bis zum Abschlussder Ausbildung, längstens aber bis zum vollendeten 25. Alter-sjahr gewährt.

17. Wäre es nicht gescheiter, die Prävention zu verbessern, stattsich auf das Abfedern bereits entstandener Probleme zu kon-zentrieren?Natürlich ist es besser, Probleme gar nicht erst entstehen zu las-sen. Deshalb ist die AEV auch in der Prävention aktiv und lei-stet hier verschiedene Beiträge. Der AEV liegt ein zentraler Ge-danke zugrunde: Den Menschen dank guter Arbeit eine auto-nome Lebensführung zu ermöglichen. Wo dieses Anliegen inFrage gestellt ist, kommt dank verbessertem Case-Manage-ment die Früherkennung und Prävention zum Zug. Weiter –und das ist von grosser Wichtigkeit – bietet die AEV an Stelleder bisherigen unüberschaubaren Menge von Akteuren einekonsolidierte Versicherung, die – ähnlich der SUVA – stark aneiner umfassenden Unfall- und Krankheitsprävention interes-siert ist.

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18. Was ist mit den Menschen, die nicht arbeiten dürfen, etwaden Flüchtlingen und Asyl Suchenden?Diese Frage muss im Rahmen der Asylpolitik und einer Revi-sion des Asylgesetzes neu geregelt werden.

19. Was bringt die AEV jenen Menschen, die ihre Erwerb-schancen durch Fort- und Weiterbildung verbessern wollen?Die AEV stützt die Massnahmen zum Erhalt der Qualifikatio-nen, wie man sie heute etwa in der ALV oder IV kennt. Aller-dings sind wir der Meinung, dass diese Massnahmen nichtgenügen. Es braucht eine deutliche Verbesserung im Stipen-dienwesen und weitere Massnahmen zur Stützung der berufli-chen Aus- und Weiterbildung. Die Bildung darf jedoch nichtzum Anhängsel der rein beruflichen Qualifikation und der Ver-wertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt werden. Deshalb muss dasProblem der Ersatzeinkommen (Stipendien) während Bil-dungsphasen im Rahmen eines neu zu schaffenden Bildungs-gesetzes geregelt werden.

20. Welche weiteren Massnahmen sind nötig, damit die AEVoptimal zum Tragen kommt?Damit die AEV ihre Wirkung voll entfalten kann, sind ver-schiedene weitere Initiativen wichtig:• die Schaffung eines eidgenössischen Bildungsgesetzes

• die Revision des Gesetzes rund um die Alterssicherung

• Anstrengungen, um eine anständige Mindestlohnpolitik zuetablieren

• der Ausbau der Strukturen für die familienexterne Kinder-betreuung

• Anstrengungen, um genügend gute Arbeit für alle zu schaf-fen. Dazu gehören Arbeitszeitverkürzungen und die Schaffungneuer Stellen im Service Public, zum Beispiel in der Care-Eco-nomy.

21. Die AEV dürfte wohl nicht alle Probleme des Erwerbsar-beitsmarktes zu lösen. Was kann sie nicht leisten?Die Allgemeine Erwerbsversicherung gibt nicht vor, alle Pro-bleme zu lösen. Insbesondere ist sie kein Ersatz für Mindest-

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lohn-Regelungen. Ferner kann die AEV nicht alle Problemeauffangen, die durch die Flexibilisierung des Arbeitsmarktesentstehen. Hier sind geeignete Regelungen im Arbeitsrecht undim OR anzustreben. Ein weiteres wichtiges Problem, das dieAEV nicht löst, ist die schwache Unterstützung von Menschenmit Kinderbetreuungspflichten. Hier braucht es einen Elternur-laub und genügend Kinderbetreuungsplätze in guter Qualität.

22. Wie sieht es mit den Kosten aus?Auf der Kostenseite führt die AEV zu drei Wirkungen:

1. Die für die AEV nötigen Staatsbeiträge steigen gegenüberheute um 580 Millionen Franken pro Jahr.

2. Die Mehrheit der abhängig Beschäftigten zahlt bereits heu-te Beiträge an (private) kollektive Krankentaggeld-Versiche-rungen. Wird dieser Punkt berücksichtigt, sinken die Beitrags-Lohnprozente für ArbeitnehmerInnen um 0.38 Prozent,während der Arbeitgeberanteil leicht, um 0.12 Prozent, steigt.Selbstständig Erwerbende bezahlen 8.15 Prozent über das steu-erbare Einkommen, das sie im Verlauf der letzten zwei Jahreerzielt haben.

3. Die AEV führt zu Mehreinnahmen von mindestens 900 Mil-lionen Franken pro Jahr, weil auf sämtliche Lohnanteile Bei-tragsprozente geschuldet sind (keine Begrenzung nach oben!).Diese Mehreinnahmen können genutzt werden, um einen gros-sen Teil der aktuellen Defizite der IV zu beseitigen.

23. Wie soll die AEV finanziert werden?Die Finanzierung der AEV-Leistungen orientiert sich an denModellen der bestehenden Sozialversicherungen: Arbeitende,Arbeitgeber und Staat beteiligen sich daran. Arbeitnehmer undArbeitgeber entrichten lohnprozentuale Abgaben, selbststän-dig Erwebende prozentuale Abgaben auf ihrem versteuertenReineinkommen (das auch die Basis für die Leistungsberech-nung ist). Als öffentliche Mittel sind Steuermittel einzusetzen.Wenn die Arbeitslosigkeit über einen bestimmten Prozentsatzsteigt, tritt eine Solidaritätssteuer auf hohe Gewinne, Einkom-men und Vermögen in Kraft, deren Erträge in die AEV fliessen.

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Gute Arbeit für alle?Die AEV im gesellschaftspolitischen Kontext

Im Jahr 2006 formulierten zehn Denknetz-Mitglieder anläss-lich einer Tagung die nachstehenden Thesen. Wir stellen unse-ren Vorschlag einer Allgemeinen Erwerbsversicherung explizitin den Kontext, der in den Thesen dargelegt ist. Genauer: DieAEV kann als Ausarbeitung dessen gelten, was die vierte Thesefordert.

Sozialpolitische Reformvorschläge werden nie im luftleerenRaum entwickelt. Sie beziehen sich (implizit oder explizit) aufdas reale gesellschaftliche Geflecht,, in das sie eingreifen wol-len. Reformvorschläge müssen folglich auch einer Gesamt-schau entsprechen, wenn sie als ganzheitlich gedacht geltenwollen. Sie benötigen eine übergeordnete Strategie, die auf dieFrage antwortet, wie gesellschaftliche Verhältnisse zum Besse-ren entwickelt werden können. Nachstehend ist eine solcheStrategie skizziert.

Ruth Gurny, Beat Ringger

Gute Arbeit für alle: Realistisches und notwendiges Ziel

1.Eine dauerhaft hohe Erwerbslosenquote und die Zunahmeprekärer Arbeitsverhältnisse bedrohen die demokratischenGrundlagen der Gesellschaft. Sie setzt die Menschen unter exis-tenziellen Druck, fördert die Entsolidarisierung, schränkt dieProblemlösungsfähigkeit der Politik bedrohlich ein (z.B. Um-weltschutz und Klimapolitik), fördert die Machtkonzentrationin den Händen der Wirtschaftseliten und schwächt die sozialenSicherungssysteme. Sie bereitet den Nährboden für Nationa-lismus, Rassismus und für autoritäre, repressive politischeStrömungen.

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Page 127: InhaltAEV 20.4.2009 9:41 Uhr Seite 1 Ruth Gurny, Beat Ringger Die … · 2017-08-19 · Andreas Rieger Stéphane Rossini Silvia Schenker 10 InhaltAEV 20.4.2009 9:41 Uhr Seite 10

2.Gute Arbeit für alle ist deshalb ein zentrales gesellschaftspoli-tisches Ziel. Es ist eng verknüpft mit einer breiten Palette vongesellschaftspolitischen Anliegen: Mit der Gleichberechtigungvon Frau und Mann, mit der Schaffung global gerechter Ver-hältnisse, mit der Friedenspolitik, mit der nachhaltigen Umge-staltung von Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei gilt es, die ge-samte gesellschaftlich notwendige Arbeit gerecht zu verteilen,sei sie nun Erwerbsarbeit im engeren Sinn oder nicht direkt anden Erwerb gekoppelte Arbeit in der Kinderbetreuung, derprivaten Pflege etc.

3.Es reicht nicht aus, Arbeit für alle anzustreben. Die Qualitätder Arbeit muss genau so Beachtung finden wie die Quantität.Gute Arbeit heisst: Arbeit sichert die Existenz und die Teil-nahme am gesellschaftlichen Leben. Sie wird unter menschen-würdigen Bedingungen erbracht, ist frei von Diskriminierun-gen und von Schädigungen der physischen und psychischenGesundheit. Die Arbeitenden haben ein Recht auf verbindlicheMitbestimmung bei der Gestaltung ihrer Arbeitsbedingungen.Jeder Mensch hat Anrecht auf eine Arbeitsbiographie, die ihmdie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit erlaubt.

Dies bedingt auch das Recht auf eine gute berufliche Grund-ausbildung und auf ständige berufliche Weiterbildung.

Der Zwang zur Ausübung jeder beliebigen Arbeit steht da-zu im schärfsten Widerspruch und wird von uns vehementzurückgewiesen. Arbeitslosigkeit darf nicht durch prekäre Ar-beit ersetzt werden.

4.Wir stehen ein für eine soziale Grundsicherung für alle, diekeine Erwerbsarbeit leisten, weil sie Leistungen in der unbe-zahlten Care Economy erbringen, weil sie an Erwerbsarbeitverhindert sind (z.B. Unfall oder Krankheit), oder weil nichtgenügend gute Erwerbsarbeit für alle angeboten wird. Diesesoziale Grundsicherung soll ein sozialversicherungsmässig ver-ankertes Recht sein, auf das die Betroffenen Anspruch haben.

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Die Grundsicherung muss die Teilnahme am gesellschaftlichenLeben und an der Kultur ermöglichen, nicht nur das blossematerielle Überleben.

5.Verschiedene Seiten schlagen die Einführung eines bedin-gungslos garantierten gesellschaftlichen Grundeinkommens(Minimaleinkommens) vor und verbinden dies mit der Aussa-ge, es sei nicht mehr genügend Erwerbsarbeit für alle vorhan-den. Eine solche Sicht lehnen wir ab. Sie verstetigt die Spaltungzwischen den Erwerbsarbeitenden und den BezügerInnen vonSozialleistungen, statt auf ihre Überwindung abzuzielen. Wirstehen ein für Arbeitszeitverkürzungen für alle und für einebessere Berufsbildung, und fördern damit eine Orientierungauf gemeinsame Ziele.

6.Die demographische Entwicklung bietet in den nächsten zwan-zig Jahren günstige Rahmenbedingungen, damit Vollbeschäf-tigung wieder zu einem realistischen Ziel wird. Mittelfristignimmt der Anteil der Berufstätigen an den Bevölkerungenpraktisch in ganz Europa ab, was unbedingt für eine Über-windung der Massenarbeitslosigkeit genutzt werden muss.Deshalb ist Erhöhung des Rentenalters die ›dümmste‹ allermöglichen Strategien. Sie wird von neoliberaler Seite vor allemdeshalb betrieben, weil diese ein hohes Interesse an der Auf-rechterhaltung einer »natürlichen Arbeitslosigkeit« (MiltonFriedman) hat, um den Druck auf Löhne, Arbeitszeiten undArbeitsintensität aufrecht zu erhalten.

7.Wenn die Produktivität der Arbeit steigt, dann ist die Verkür-zung der Arbeitszeit eine unausweichliche Erscheinung. DieFrage ist nicht ob, sondern in welcher Form sie verkürzt wird:Als Arbeitslosigkeit für einen Teil der Erwerbstätigen oder alsArbeitszeitverkürzung für alle.

Es ist selbstredend, dass wir für die zweite Variante eintre-ten. Angesichts der zunehmenden Intensivierung der Arbeit

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und der weit verbreiteten Flexibilisierung der täglichen Ar-beitszeiten drängen sich Verkürzungen in folgenden Formenauf: die Vier-Tage-Woche als Standard, mehr Ferien (z.B. achtWochen für alle), bezahlte Sabbaticals, Elternurlaube, ein tie-feres und flexibles Rentenalter.

Der verschärfte globale Standortwettbewerb scheint gegenArbeitszeitverkürzungen zu sprechen. Allerdings werden dieZwänge dieses Wettbewerbs übertrieben: Wären sie so grosswie von bürgerlicher Seite normalerweise behauptet, dannwären Unterschiede in der jährlichen Arbeitszeit von Vollzeit-beschäftigten in der Grössenordnung von 20% innerhalb Eu-ropas gänzlich unmöglich.

Trotzdem wäre es von grossem Vorteil, Arbeitszeitverkür-zungen weltweit, zumindest aber europaweit durchzusetzen.Wir schlagen deshalb vor, eine entsprechende europäischeKampagne zu entwickeln.

8.Parallel zur Arbeitszeitverkürzung sind auch die Löhne zusichern. Wir schlagen deshalb eine europäisch koordinierteMindestlohnpolitik vor, wie sie in den entsprechenden Thesenanlässlich der WSI-Denknetz-Tagung vom April 2005 formu-liert worden sind. Kernpunkt ist die Forderung nach einemMinimaleinkommen, das mindestens 50% des Mittelwertesder Löhne des jeweiligen Landes erreicht.

9.Nichterwerbstätigkeiten der Care Economy, beispielsweiseKinderbetreuung, private Pflege und Haushaltführung, sindsozial und wirtschaftlich stärker abzustützen. Die Ausrichtungsubstantieller Kindergelder, die Schaffung von Elternurlaubenund die Verkürzung der Normalarbeitszeiten verbessern dieBedingungen, unter denen unersetzliche Betreuungsarbeit iminnersten, privaten Beziehungsnetz der Menschen geleistet wer-den kann – von Männern ebenso wie von Frauen. Parallel da-zu ist das Angebot der familienergänzenden Kinderbetreuungerheblich zu verbessern und allen Bevölkerungsschichten zu-gänglich zu machen. Dies fördert die soziale Integration der

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Kinder und mildert mögliche Nachteile, die auf den Herkunfts-familien lasten, z.B. nach einem Kulturwechsel bei Immigrant-Innen, bei ungenügender Bildung, oder wenn beide Eltern vollerwerbstätig sein müssen.

Die Sozialversicherungen sind so zu gestalten, dass die Tätig-keit in der Care Economy im Bezug auf die Bezugsberechtigungund den Leistungsumfang zu keinen Diskriminierungen führt.

10.Ein zentrales Mittel der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit ist ei-ne beschäftigungsorientierte Wirtschaftspolitik. Sie ist in ihrerklassischen Ausprägung antizyklische Wirtschaftspolitik unddämpft bzw. verhindert Wirtschaftskrisen durch die Vergabevon beschäftigungswirksamen öffentlichen Aufträgen, dieStützung der Kaufkraft, die Steuerung der Zinssätze und derverfügbaren Geldmenge. Diese Politik muss wieder viel stärkerauf die Stützung der Beschäftigung ausgerichtet und von einerdogmatisch fixierten Inflationsbekämpfung weggeführt wer-den. Letztlich kann eine Wirtschaftskrise oder eine Finanzkri-se der Sozialwerke nur durch bessere Beschäftigung und mehrKaufkraft für die einkommensschwachen Schichten überwun-den werden.

11.Eine solche beschäftigungsorientierte Wirtschaftspolitik mussjedoch kombiniert werden mit gesellschaftlich sinnvollen Zie-len (z.B. Umweltschutz, Soziale Gerechtigkeit, Regionalpolitik,nachhaltige Innovationsförderung). Nur eine solche Verknüp-fung verhindert unerwünschte Nebenwirkungen oder gar le-bensfeindliche Projekte wie die Förderung der Rüstungsindus-trie.

Staatliche Investitionsförderung ist klar an Nachhaltigkeits-ziele zu binden, wie dies zumindest ansatzweise in den beschäf-tigungswirksamen Investitionshilfeprogrammen der 90er Jahrenoch möglich war. Die Verbindung von Beschäftigungswirk-samkeit und Nachhaltigkeit ist auch in vielen andern Bereichendurchaus möglich, so in der regionalen Wirtschaftsförderung,in der Industriepolitik, in der Energiepolitik. Gerade letztere ist

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ein unrühmliches Beispiel, wie bürgerliche Interessenvertreter-Innen im Parlament fortschrittliche Lösungen zugunsten vonAlternativenergieträgern konsequent abwürgen.

12.Der Service public stellt in den entwickelten Ländern bereitsheute einen beträchtlichen Anteil an der Gesamtwirtschaft.Hier wird gesellschaftlich unentbehrliche Arbeit geleistet, dienach demokratisch ermittelten Regeln gestaltet werden kann.Durch den Erhalt und Ausbau von Bereichen wie Bildung, Ge-sundheitsversorgung und familienergänzende Kinderbetreuungkönnen das Lebensniveau der Menschen und ihre beruflichenQualifikationen wesentlich verbessert werden. Allgemein zu-gängliche Infrastrukturen (Mobilität, Kommunikationsmittel,Energieversorgung, Wasserversorgung usw.) müssen nach denGeboten der Nachhaltigkeit entwickelt und umgebaut werdenund gehören in den Besitz der Allgemeinheit.

Der Ausbau des Service public ist in den so genannten Ent-wicklungsländern eine erstrangige Aufgabe, die die Unterstüt-zung durch die ›entwickelten‹ Ländern erfordert und eine Füllevon Arbeit generiert.

Die öffentlichen Dienste müssen zudem ausgeweitet werdenauf Bereiche wie die Versorgung der Bevölkerung mit Lebens-mitteln, Medikamenten und medizinischen Gütern, und dieZugänglichkeit zu den Mitteln der Informationsgesellschaft istweltweit zu verbessern.

13.Wichtige Optionen, den Einfluss der Demokratie auf Wirt-schaft und Beschäftigung zu stärken, sind die Konzepte derWirtschaftsdemokratie und die Etablierung einer Demokrati-schen Bedarfs-Ökonomie, wie sie von einer Denknetz-Fach-gruppe vorgeschlagen wird. Die Demokratische Bedarfs-Öko-nomie konzipiert die öffentlich-demokratische Steuerung einesTeils der Privatwirtschaft. Den privaten Akteuren wird ein Setvon ökologischen und sozialen Bedingungen auferlegt; im Ge-genzug erhalten sie Investitionsbeiträge und Kredite aus einemdemokratisch kontrollierten Akkumulationsfonds (›Zukunfts-

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bank‹). Die Demokratische Bedarfs-Ökonomie arbeitet mitoffenen Patenten und Open Source-Konzepten.

14.Dem globalen Standortwettbewerb setzen wir global gültige,soziale und ökologische Mindeststandards entgegen, wie siedurch die Deklaration der Menschenrechte und die Arbeit derILO (International Labor Organisation) fundiert sind. Anstatthinzunehmen, dass der Standortwettbewerb Druck in Rich-tung einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen ausübt,kann und soll mit Hilfe solcher Standards eine positive Dyna-mik ausgelöst werden. Die Zielrichtung ist klar: Soziale Grund-sicherung; Teilhabe an Gesellschaft, Bildung, Kultur; Gesund-heit, Freiheitsrechte, Würde, Nachhaltigkeit und Diskriminie-rungsfreiheit.

15.In Europa droht eine Welle der Verschlechterung der Arbeits-verhältnisse und damit eine erneute Verschärfung der Arbeits-losigkeit. In verschiedenen Ländern sollen – ausgerechnet! –Arbeitszeitverlängerungen durchgesetzt werden, so in Deutsch-land, Frankreich und der Schweiz.

Demgegenüber schlagen wir eine europäische Konferenz›Gute Arbeit für alle‹ vor. Eine solche Konferenz versucht,gemeinsame Perspektiven zu entwickeln und den Menschen-rechten in der Arbeitswelt zum Durchbruch zu verhelfen. Siekönnte die Arbeit der ILO und anderer relevanter Gremien kri-tisch begleiten. Sie müsste gemeinsames Handeln in globalerSichtweise fördern.

Zürich, 22.8.2006Hans Baumann, Ruth Gurny, Anne Gurzeler, Colin Metzger,Andreas Rieger, Beat Ringger, Holger Schatz, Walter Schöni,Bernhard Walpen, Adrian Zimmermann

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Anhang

Das AEV-Modell kurz und bündig

Zielsetzung und LeistungenDie Allgemeine Erwerbsversicherung AEV dient der umfassendenAbdeckung des Risikos eines Erwerbsausfalls bei Mutterschaft,Zivil- und Militärdienst, Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit oderInvalidität. Sie deckt den Existenzbedarf der versicherten Personendurch Taggelder und Renten. Im Bedarfsfall werden die AEV-Rentenbei Personen, deren Versicherungsschutz ungenügend ist, aufgestocktdurch Ergänzungsleistungen. Für Familien mit Kindern wird eineFamilien-Ergänzungsleistung (EL) eingeführt, die sich am TessinerModell orientiert. In jenen Fällen, in denen das Taggeld inklusive all-fälliger Familien-EL das Existenzminimum nicht zu decken vermag,springt subsidiär die Sozialhilfe ein.

OrganisationAnalog zur heutigen Arbeitslosenkasse, werden mehrere Kassen mitdem Vollzug der AEV betraut. Die Regionalstellen der Kassen über-nehmen Beratungs-, Begleitungs- und Betreuungsfunktionen für dieVersicherten. Die Geldmittel werden durch eine zentrale Ausgleichs-stelle mit tripartit besetzten Aufsichtsorganen verwaltet. Die Versi-cherten können die Kasse wechseln und verfügen über frei zugängli-che Rechtsmittel, um Entscheide der AEV rechtlich anfechten zukönnen. Es wird eine Ombudsstelle eingerichtet.

Versicherte und anspruchsberechtigte PersonenDie AEV umfasst alle natürlichen Personen im erwerbsfähigen Alter,die in der Schweiz eine Erwerbstätigkeit ausüben oder/und als vor-übergehend Nichterwerbstätige in der Schweiz Wohnsitz haben undnoch nicht im AHV- Alter sind.Die Grundregel lautet: Anspruchsberechtigt für Taggeldleistungen,Renten und Sachleistungen sowie Teilnahme an kollektiven Leistun-gen sind alle in der Schweiz wohnhaften Personen im versichertenAlter, sofern sie die Volksschule und/oder eine Berufsbildung in derSchweiz absolviert oder mindestens ein Jahr in der Schweiz ihren fes-ten Wohnsitz haben.

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Die Anspruchsregelungen der heutigen Sicherungssysteme werdenübernommen, sofern sie besser sind als die oben beschriebene Grund-regel. Beispielsweise können Leistungsansprüche, die aus Unfall oderKrankheit erwachsen, vom ersten Tag einer Festanstellung an geltendgemacht werden.

FinanzierungDie AEV wird mit Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen sowiemit öffentlichen Mitteln finanziert und erfolgt gemäss dem Ausga-ben-Umlageverfahren. Die in einer Periode eingenommenen Beiträgewerden zur Deckung der Leistungen derselben Periode verwendet.Die AEV-Ausgleichskassen rechnen die Differenz zwischen den Bei-tragseinnahmen und den Ausgaben periodisch mit der zentralen Aus-gleichsstelle über einen Ausgleichsfonds ab.Steigt die Arbeitslosigkeit über einen bestimmten Grenzwert, wirdeine Solidaritätssteuer auf hohe Gewinne, Einkommen und Vermö-gen wirksam, deren Erträge in die AEV fliessen.Beitragspflichtig sind alle versicherten Personen und die Arbeitgeber.Die natürlichen Personen tragen nach ihrer wirtschaftlichen Leis-tungsfähigkeit zur Finanzierung der Versicherung bei. Bei Erwerbs-tätigen wird die Leistungsfähigkeit nach Massgabe ihres Erwerbsein-kommens bemessen, bei Nichterwerbstätigen nach Massgabe ihrerKaufkraft (Vermögen, aktuelles Ersatzeinkommen).Die Beitragspflicht beginnt für Erwerbstätige am 1. Januar des 18.Altersjahres, für Nichterwerbstätige am 1. Januar des 21. Alters-jahrs. Die Beitragspflicht endet mit der Erreichung des AHV-Alters.

LeistungenDie AEV umfasst folgende Leistungsarten:

Taggelder• Die Höhe des Taggeldes bemisst sich am versicherten Erwerbsein-kommen und umfasst 80 Prozent des zuletzt versicherten Taglohnes.70 Prozent des zuletzt versicherten Verdienstes erhält, wer keine Un-terhaltspflicht gegenüber Kindern hat. Nach Abschluss einer Aus-bildung, der Preisgabe der Selbstständigkeit oder einem längeren Ar-beitsunterbruch wird ein mutmasslich erzielbares Erwerbseinkom-men berechnet. Es wird ein maximal ausbezahltes Taggeld ermitteltin der Höhe dessen, was heute die Arbeitslosenkasse gewährt. Kin-derzulagen sind zu 100 Prozent versichert. Der zeitlich unbeschränk-te Anspruch auf Taggelder gilt für Leute, die mindestens fünf Jahre

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Wohnsitz in der Schweiz hatten. Für die anderen gelten die heute inder ALV geltenden Beschränkungen.

• Taggelder werden der Teuerung angepasst.

• Ist die Arbeitsunfähigkeit auf einen berufsbedingten Unfall odereine berufsbedingte Krankheit zurückzuführen, sind die Arbeitgeberverpflichtet, im Sinne der Verantwortlichkeit und Schadenersatz-pflicht die AEV-Taggelder (und auch die Renten) mindestens auf die-jenigen Sätze aufzustocken, die das heutige Unfallversicherungsge-setz vorsieht.

• Bei sonstiger Krankheit schuldet der Arbeitgeber während der ers-ten 30 Tage der Krankheit den vollen Lohn.

• Mutterschaftsurlaub: Mütter haben während des 16-wöchigenMutterschaftsurlaubs Anrecht auf Taggelder im Umfang von 80 Pro-zent des zuletzt versicherten Lohnes.

• Bei selbständig Erwerbenden werden die Taggelder auf der Basisdes Reineinkommens aus selbständiger Tätigkeit während der letztenzwei Jahre berechnet.

• Frauen (und Männer), die nach Phasen der Kinderbetreuung wie-der in den Erwerbsarbeitsmarkt zurückkehren, haben das Recht, denUmfang ihrer künftigen Erwerbstätigkeit selber festzulegen. Die Ver-mittelbarkeit muss gewährleistet sein. Ihr Taggeld orientiert sich amvermuteten Lohn.

• Dieselbe Regelung gilt bei (Wieder-)Eintritt in die Erwerbsarbeitnach Phasen der Weiterbildung.

• Die Leistungen nach Abschluss einer Erstausbildung entsprechenden heute geltenden Taggeldern für Beitragsbefreite.

Renten• An Menschen, deren Erwerbsfähigkeit wegen einer körperlichenoder psychischen Beeinträchtigung voraussichtlich länger oder an-dauernd beeinträchtigt oder verunmöglicht ist, wird eine Rente aus-bezahlt. Analog der heutigen Regelung der IV sind auch Teilrentenvorgesehen. Die Höhe der Renten orientiert sich an der Höhe des zu-letzt bezogenen Taggeldes. Die Renten sind analog dem Mischindexder AHV indexiert und werden mit einem Entwicklungszuschlag(früher: Karrierezuschlag) versehen. Dieser Zuschlag berechnet sichanalog den IV-Regelungen vor der 5. IV-Revision. Der Grund für denRentenbezug wird periodisch überprüft.

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Ergänzungsleistungen• Die Familien-Ergänzungsleistungen (EL) umfassen zum Einen Leis-tungen für Kinder von 0 bis 16 Jahren und decken deren minimalenLebensbedarf. Der Anspruch entspricht dem Fehlbetrag zwischenden anrechenbaren Einnahmen und den anrechenbaren Ausgabengemäss dem Gesetz zu den Ergänzungsleistungen zu AHV/IV, höchs-tens jedoch einem maximalen Betrag, der den hypothetischen Kin-derkosten entspricht. Dazu kommt die Familien-EL für Familien mitKindern unter drei Jahren, deren Einnahmen trotz der Kinder-EL dasExistenzminimum nicht erreichen. Bei Haushalten mit zwei odermehr erwachsenen Personen und mindestens einem Kind unter dreiJahren wird immer ein hypothetisches Nettoerwerbseinkommen an-gerechnet, unabhängig davon, ob es auch wirklich erzielt wird. BeiErwerbslosigkeit kann dieses Erwerbseinkommen aus AEV-Taggel-dern bestehen Mit anderen Worten: Sind die Eltern (teilweise) arbeitslos, so müssen sie im zumutbaren Rahmen vermittelbar sein. Zu denanrechenbaren Ausgaben gehören auch die Kosten für die Betreuungder Kinder.

• Bei den Ergänzungsleistungen an IV-RentnerInnen werden die gel-tenden Regelungen übernommen.

Sozialhilfe• In jenen Fällen, in denen die Taggelder kleiner sind als das sozialeExistenzminimum, aber kein Anspruch auf eine Familien-EL besteht,springt subsidiär die Sozialhilfe ein. Vermögen und übrige Einkom-mensquellen (z.B. Erbschaften, Kapitalerträge oder Mieterträge ausLiegenschaften) werden angerechnet. Kriterien und Leitplanken derSozialhilfe sind gesamtschweizerisch einheitlich festgelegt.

Sachleistungen• Die AEV übernimmt Ausgaben für Hilfsmittel, die für die Erzielungeines Erwerbs und die Alltagsbewältigung notwendig sind (u.a. An-passungen des Arbeitsplatzes an körperliche Behinderungen der Er-werbstätigen, Anpassungen der individuellen Transportmittel, Anpassungen im Wohnumfeld etc.)

Prävention• Die AEV engagiert sich für eine umfassende Unfalls- und Krank-heitsprävention am Arbeitsplatz und in der Freizeit.

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Ausbildungs-, Integrations- und Beschäftigungsmassnahmen• Die AEV beinhaltet Integrationsangebote für Menschen, die zurWiedererlangung ihrer Arbeitsfähigkeit Unterstützung benötigen.

• Die AEV leistet Beiträge an die Beschäftigung von Menschen mitdauerhaften Beeinträchtigungen.

• Solange dies nicht in anderen Gesetzen geregelt ist, leistet die AEVBeiträge zur Förderung der Berufsbildung für Menschen mit beson-deren Bedürfnissen und Beeinträchtigungen.

Vollzug, Geltendmachen von Leistungen• Für Geld- und Sachleistungen richtet die von einem Erwerbsausfallbetroffene Person ihren Anspruch an die AEV-Ausgleichskasse. Diebetroffene Person ist verpflichtet, die erforderlichen Unterlagen ein-zureichen.

• Es besteht eine Pflicht der Versicherten, mit Unterstützung der zu-ständigen Stellen alles Zumutbare zu unternehmen, um den Grunddes Erwerbsausfalls zu vermeiden oder zu verkürzen. Dabei habensie einen Anspruch auf Decent Work gemäss den Definitionen derILO.

• Wer aufgrund seiner individuellen gesundheitlichen und/oder psy-chischen Verfassung in der Lage ist, zumutbare Arbeit zu leisten, die-ser Pflicht aber nicht nachkommt, hat lediglich Anrecht auf das ver-fassungsmässig garantierte soziale Existenzminimum. Vermögen undandere Einkommensquellen werden angerechnet.

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L’AGR: le modèle en aperçu

Objectif et prestationsL’AGR sert à couvrir de manière globale le risque d’une perte de reve-nu en cas de maternité, de service civil et militaire, de maladie, d’ac-cident, de chômage ou d’invalidité. Elle couvre en outre le minimumvital des personnes assurées par le biais d’indemnités journalières etde rentes. En cas de besoin, les rentes de l’AGR sont augmentées pourles personnes avec une protection d’assurance insuffisante au moy-en de prestations complémentaires. En ce qui concerne les famillesavec enfants, une prestation complémentaire pour familles est intro-duite, prestation qui s’oriente d’après le modèle tessinois. Pour les casoù l’indemnité journalière complétée par d’éventuelles prestationspour familles ne suffirait pas, c’est l’aide sociale qui entre en jeu àtitre subsidiaire.

OrganisationDe façon analogue aux actuelles caisses de chômage, plusieurs cais-ses se voient confier le mandat d’exécution de la caisse générale. Lesdifférentes agences régionales assument des fonctions de conseil etd’encadrement pour les assuré-e-s. Les ressources financières sontgérées par un bureau central de compensation où siègent des orga-nes de surveillance tripartite.Les personnes assurées ont la possibilité de changer de caisse et dis-posent librement de moyens juridiques pour pouvoir, le cas échéant,contester des décisions de l’AGR. En outre, un bureau d’ombudsman(médiateur) est mis en place.

Personnes assurées et ayants droitL’AGR englobe toutes les personnes physiques actives qui exercentun travail rémunéré en Suisse et/ou celles n’exerçant passagèrementaucune activité lucrative, habitant en Suisse et n’ayant pas encoreatteint l’âge de la retraite.La règle de base s’énonce comme suit: les bénéficiaires d’indemnitésjournalières, de rentes et prestations en nature ainsi que de prestati-ons collectives comprennent toutes les personnes assurées en raisonde leur âge et domiciliées en Suisse; la condition est cependant qu’el-les aient terminé l’école obligatoire et/ou soient au bénéfice d’une for-mation professionnelle en Suisse, ou qu’elles puissent faire valoir undomicile fixe durant au moins une année en Suisse (sont enregistréesainsi, par exemple, des femmes qui ont des enfants à leur charge,viennent en Suisse et veulent de nouveau travailler).

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Les réglementations relatives aux ayants droit des systèmes d’assu-rance actuels sont reprises pour autant qu’elles soient meilleures quela règle de base précitée. Par exemple, on peut faire valoir un droitaux prestations découlant d’un accident ou d’une maladie dès le pre-mier jour d’un engagement fixe.

FinancementL’AGR est financée par les cotisations des salarié-e-s et des employ-eurs de même que par des moyens publics; en outre, le financementest effectué conformément au principe du système de financementpar répartition. Les cotisations encaissées durant une période sontutilisées pour la couverture des prestations de la période en question.Les caisses de compensation de l’AGR décomptent la différence ent-re les rentrées de cotisations et les dépenses de manière périodiqueavec le bureau central de compensation, et ce, par le biais du fondsde compensation.Si le chômage dépasse une certaine valeur limite, un impôt de soli-darité sur des gains, revenus et fortunes élevées est appliqué, et dontles recettes sont versées à l’assurance.Ont l’obligation de cotiser toutes les personnes assurées ainsi que lesemployeurs. Les personnes physiques doivent contribuer au finan-cement de l’assurance en fonction de leur capacité économique. Ence qui concerne les salarié-e-s, cette capacité est calculée selon leurrevenu et pour les personnes n’exerçant aucune activité lucrative, elleest déterminée d’après leur pouvoir d’achat (fortune et revenu de sub-stitution).Pour les salarié-e-s, l’obligation de cotiser débute le 1er janvier del’année où ces personnes ont 18 ans révolus alors que pour celles sansactivité lucrative, le 1er janvier de l’année où elles ont 21 ans révo-lus. Cette obligation de verser des cotisations prend fin à l’âge de laretraite.

PrestationsL’AGR comprend le type de prestations suivants:

Indemnités journalières• Le montant de l’indemnité journalière se calcule en fonction du re-venu assuré et englobe 80% du dernier salaire assuré. Obtient 70%du dernier salaire assuré quiconque n’a pas d’enfants à charge. Auterme d’une formation, d’une activité indépendante ou d’une inter-ruption de travail d’une certaine durée, un revenu lucratif présumé

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est calculé. Une indemnité journalière maximale est déterminée, dontle montant correspond à celui octroyé actuellement par la caisse dechômage; les allocations pour enfants sont assurées à 100%. Ledroit à des indemnités journalières illimité dans le temps s’appliqueaux personnes domiciliées pendant au moins 5 ans en Suisse. Pourles autres personnes, les limitations stipulées dans l’actuelle assu-rance-chômage sont valables.

• Les indemnités journalières sont adaptées au renchérissement.

• Si l’incapacité de travailler est consécutive à un accident ou à unemaladie professionnelle, les employeurs sont tenus, dans le sens dela responsabilité et de l’obligation de verser des dommages-intérêts,d’augmenter les indemnités journalières de l’AGR (et aussi concer-nant les rentes) à hauteur minimale des taux prévus par l’actuelle loisur l’assurance-accidents (LAA).

• En cas d’autre maladie, l’employeur est tenu de verser le salaire in-tégral durant les 30 premiers jours de maladie de la personne con-cernée.

• Congé de maternité: les mères peuvent faire valoir des indemnitésjournalières durant les 16 semaines du congé de maternité à hauteurde 80 % du dernier salaire assuré.

• Pour les indépendant-e-s, les indemnités journalières sont calculéessur la base du revenu net gagné durant les 2 dernières années de l’ac-tivité indépendante en question.

• Les femmes (et les hommes) qui retournent dans le marché du tra-vail après des phases de prise en charge des enfants ont le droit defixer elles-mêmes/eux-mêmes le taux d’occupation de leur activitélucrative future. Le placement doit être garanti. Leur indemnité jour-nalière respective s’oriente d’après le salaire présumé.

• La même réglementation est en vigueur en cas de (re)commence-ment d’un travail lucratif à la suite de phases de formation continue.

• Les prestations au terme d’une formation initiale correspondentaux indemnités journalières actuellement en vigueur pour les per-sonnes exemptées de cotiser.

Rentes• Une rente est versée aux personnes dont la capacité de travailler estentravée ou rendue impossible par une atteinte physique ou psychi-que s’étendant probablement sur une durée relativement longue oumême persistante. Il y a également lieu de prévoir des rentes partiel-

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les. Le montant des rentes s’oriente d’après celui de la dernière in-demnité journalière perçue. Les rentes sont indexées de façon analo-gue à l’indice mixte de l’AVS et sont pourvues d’un ›supplément dedéveloppement‹ (autrefois appelé ›supplément de carrière‹). Ce sup-plément se calcule de manière analogue aux réglementations de l’AIavant la 5e révision de la loi sur l’assurance-invalidité. Le motif duversement de la rente est vérifié périodiquement.

Prestations complémentaires• Prestations complémentaires pour familles: Elles englobent desprestations pour les enfants de 0 à 16 ans et couvrent le minimumvital. Le droit à ces prestations correspond au montant manquantentre les revenus et les dépenses déterminantes selon la loi sur lesprestations complémentaires à l’AVS/AI (LPC), au maximum cepen-dant le montant qui correspond aux coûts hypothétiques de l’enfant.A cela vient s’ajouter les prestations complémentaires pour les famil-les ayant des enfants en dessous de 3 ans, et dont le revenu ne suffitpas à couvrir le minimum vital malgré ces prestations. Pour les mé-nages à 2 adultes ou plus, et avec au minimum 1 enfant en dessousde 3 ans, c’est toujours un revenu net hypothétique qui est pris encompte, indépendamment du fait s’il est effectivement atteint. En casde chômage, ce revenu lucratif peut se composer d’indemnités jour-nalières en provenance de l’AGR. Si les adultes se trouvent (parti-ellement) au chômage, ils doivent être aptes au placement. Fontégalement partie des dépenses à prendre en compte les frais décou-lant de la prise en charge des enfants.

• Les réglementations en vigueur pour les prestations complémen-taires versées aux rentières et rentiers AI sont reprises.

Aide sociale• Dans les cas où les indemnités sociales sont inférieures au minimumvital social, mais où il n’existe aucun droit à des prestations com-plémentaires pour familles, l’aide sociale apporte son soutien de ma-nière subsidiaire. La fortune et d’autres sources de revenu (p. ex. héri-tages, revenus de capitaux ou de locations d’immeubles) sont prisesen compte. Les critères et les normes de l’aide sociale sont déterminésde manière uniforme pour l’ensemble du pays.

Prestations en nature• L’AGR prend en charge les dépenses pour les moyens auxiliairesqui sont nécessaires à l’obtention d’une activité lucrative et à la vie

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quotidienne (entre autres adaptations de la place de travail aux han-dicaps physiques des travailleurs/-ses; adaptations des moyens detransport individuels, de l’habitat, etc.)

Prévention• L’AGR s’engage en faveur d’une prévention maladie et accidentsglobale sur la place de travail et durant le temps libre.

Mesures de formation, d’insertion et d’occupation• Offres d’insertion professionnelle pour les personnes qui nécessi-tent de l’aide pour recouvrer leur capacité de travail.

• Contributions aux activités des personnes ayant des lésions dura-bles.

• Tant que cela n’est pas réglé dans d’autres lois: contributions ser-vant à encourager la formation professionnelle pour les personnesayant des lésions et besoins particuliers.

Application, exercice du droit aux prestations• Pour ce qui est des prestations financières et en nature, la personneconcernée par une perte de gain peut faire valoir son droit à la caissede compensation AGR. Cette personne est tenue de soumettre lesdocuments demandés.

• L’assuré-e a le devoir – avec le concours des offices compétents –d’entreprendre tout ce qu’on peut raisonnablement attendre de cettepersonne pour éviter la raison de la perte de gain ou de réduire sadurée. A cet égard, il/elle a droit à un travail décent (›decent work‹)aux termes de l’OIT.

• Quiconque est capable, sur la base de sa santé et/ou de sa constitu-tion psychique individuelle, de fournir un travail qu’on peut raison-nablement demander, mais qui ne se conforme pas à cette obligati-on, a uniquement la possibilité de faire valoir son droit au minimumvital social garanti par la Constitution. La fortune et d’autres sour-ces de revenu sont prises en compte.

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Literaturhinweise und weiterführende Links

1. Die soziale Sicherung in der SchweizÜberblicksliteratur Sozialversicherungen in der Schweiz:• Erwin Carigiet, Ueli Mäder und Jean-Michel Bonvin (Hg.) (2003):Wörterbuch der Sozialpolitik, Zürich. Onlineversion: www.socia-linfo.ch/cgi-bin/dicopossode/alpha.cfm?f=!&n=a• Dieter Widmer (2006): Die Sozialversicherung in der Schweiz (5.Auflage), Zürich, Basel, Genf• Otto Piller (2006): Die soziale Schweiz. Die schweizerischen So-zialwerke im Überblick, Bern/Stuttgart/Wien• Bundesamt für Statistik (2006): Gesamtrechnung der Sozialen Si-cherheit, Neuchatel, www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/13/22/publ.Document.113384.pdf• Gertrud E. Bollier (2007): Leitfaden schweizerische Sozialversiche-rung, 10. Auflage, Zürich

Vergleichbare sozialpolitische Vorstösse wie die AEVDie Idee einer Erwerbsausfallversicherung wird auch von CarloKnöpfel vertreten. Er ist Mitglied der Geschäftsleitung der Schwei-zerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS und Berater der sozialpo-litischen Kommission von Caritas Europa sowie Dozent an den Fach-hochschulen Nordwestschweiz, Zürich und Luzern.• Carlo Knöpfel (2008): Eine Erwerbsausfallversicherung für dieSchweiz, in: Jahrbuch Sozialhilfe der Stadt Basel. www.sozialhilfe.bs.ch/5-13_knoepfel.pdfIn eine ähnliche Richtung geht der Vorschlag des SP-NationalratsStéphane Rossini, indem er eine Säule mit Arbeitslosen-, Invaliden-,Unfall- und Mutterschaftsversicherung sowie der privaten Kranken-taggeldversicherung aufbauen will. Anders als bei der AEV verblie-ben bei diesem Modell jedoch die Unfall- und Invalidenversicherungsowie Leistungen an Familien in separaten Säulen.• Stéphane Rossini (2008): Für eine neue Vision der sozialen Sicher-heit, in: Rote Revue 1/2008. www.sp-ps.ch/fileadmin/downloads/Publikationen/Rote-Revue/RoteRevue_2008_1.pdf

Der politische Druck auf die SozialversicherungenEin Kommentar der NZZ zeigt exemplarisch, mit welchen Standard-argumenten ein umfassender Leistungsabbau in den Sozialversiche-rungen als ultima ratio nahegelegt wird. Stets wird dabei ein Defizitin den Kassen proklamiert. Die Logik dabei: »Noch mag die Bilanzausgeglichen sein, noch mag die AHV Überschüsse erzielen, doch

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morgen schon gibts rote Zahlen, welche schlussendlich von der jün-geren Generation ausgeglichen werden müssen.«• ›Asoziales Verhalten auf Pump‹. NZZ-Kommentar vom 14.3.09,www.denknetz-online.ch/IMG/pdf/Asoziales_Wirtschaften_auf_Pump.NZZ.14.3.09-2.pdf

Vereinbarkeit von Familie (Elternschaft) und BerufDie vpod Verbandskommission Frauen hat eine grundlegende Bro-schüre zur familienergänzenden Kinderbetreuung herausgegeben.Demnach findet in der Schweiz zwar ein quantitativer Ausbau ent-sprechender Angebote wie Kitaplätze statt, oftmals vollzieht sich die-ser Ausbau jedoch auf Kosten der Qualität und der Anstellungsbe-dingungen des Personals. Deshalb müssten die Gesamtaufwendun-gen für Kinderbetreuung, die in der Schweiz deutlich unter dem eu-ropäischen Standard liegen, deutlich angehoben werden.• vpod Frauen, Familienergänzende Tagesbetreuung für Kinder(2008). www.vpod.ch/fileadmin/vpod_zentrale_files/Interessengruppen/PDFs/Broschuere_Kinderbetreuung.pdf

Um eine bessere Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit zuerreichen, braucht es Massnahmen auf den drei Ebenen Zeit, Geldund Betreuungsinfrastrukturen, so der Schweizerische Gewerk-schaftsbund (SGB) in einem Grundsatz-Dokument.• www.sgb.ch/downloades-df/1508_CW_DB_Vereinbarkeit2.pdf• Caroline Knupfer, Carlo Knöpfel (2005): Wie viel bleibt einemHaushalt von einem zusätzlichen Erwerbseinkommen übrig? Stu-dienreihe Vereinbarkeit von Beruf und Familie Nr. 2, BernEinen Vergleich von Deutschland, Frankreich, Grossbritannien undSchweden unter dem Gesichtspunkt der Vereinbarkeit von Familieund Beruf liefern• Anneli Rüling, Carsten Kassner (2007): Familienpolitik aus derGleichstellungsperspektive. Ein europäischer Vergleich, Berlin 2007.http://library.fes.de/pdf-files/do/04262.pdf

Invalidenversicherung (IV)Rita Schiavi und Alex Schwank dokumentieren Beiträge einer vonden heute zur Unia fusionierten Gewerkschaften GBI, SMUV undVHTL organisierten Tagung aus dem Jahre 2004. Die Tagung rich-tet sich gegen den zunehmenden Druck auf die IV-Versicherung(›Scheininvalide‹), der letztlich im Zuge der 5-IV Revision zu einemmassivem Leistungsabbau sowie verschärften Zugangskriterienmündete.

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• Rita Schiavi, Alex Schwank (Hg.) (2005): Invalidenversicherungund Behinderte unter Druck, Zürich.Ein von Avenir Suisse herausgegebenes Buch zeigt die ›wahren Ursa-chen‹ der Zunahme der IV-Fälle auf. Auch wenn die politischenSchlussfolgerungen fragwürdig sind, bietet die Publikation fundier-te Daten zur zunehmenden ›Invalidisierung‹ von Arbeitslosigkeit biszum Jahre 2006.• Monika Bülter, Katja Gentinetta (2007): Die IV – eine Krankenge-schichte, Zürich.Zusammenfassung: www.avenir-suisse.ch/content/themen/effizienz-der-institutionen/iv-geschichte/mainColumnParagraphs/0/document1/iv_summary_dt.pdf

FiskalpolitikDie Steuergerechtigkeitsinitiative der SPS zielt auf einen Beschrän-kung des kantonalen Steuerunterbietungswettbewerbs bei der Be-steuerung sehr grosser Vermögen. Ab einem Einkommen von250000 Franken soll ein Mindestsatz von 22% greifen, ab einemVermögen von 2 Millionen Franken der Mindestsatz von 5%. Zurechnen sei dann mit insgesamt zwischen 250 und 300 MillionenFranken zusätzlichen Steuereinnahmen pro Jahr. www.steuer-gerechtigkeit.ch

Die Steuereinnahmen und Abgaben an öffentliche Sozialversiche-rungen (Fiskalquote) betrugen 2003 in der Schweiz 29.5% des Brut-toinlandprodukts, in den OECD-Ländern (Europa, USA, Kanada)36.3% und in der EU 40.5%. Angesichts der im Vergleich extremniedrigen Staatsquote der Schweiz wäre der Spielraum für eine stär-kere Besteuerung der einkommensstarken Schichten gegeben, soWerner Kallenberger in seinem Plädoyer für eine umfassende sozia-le Steuerreform in der Schweiz.• Werner Kallenberger (2008): Faire Steuern für eine gerechtere Welt,www.denknetz-online.ch/IMG/pdf/Faire_Steuern_fur_eine_gerechtere_Welt.pdfEine Studie der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich be-schäftigt sich empirisch mit der ökonomischen Dimension des Servi-ce Public. Dabei zeigt sich zum einen, dass eine hohe Staatsquotenicht das Wirtschaftswachstum schwächt und zum anderen, dass pri-vatisierte Leistungen keineswegs billiger sind als staatlich erbrachte.Der Autor Andres Frick fasst die Studie zusammen:• Andres Frick (2006): Der Service public aus ökonomischer Sicht,

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in: Denknetz Jahrbuch 2006, Zürich. Als Download: www.denknetz-online.ch/IMG/pdf/Frick_Jahrbuch06.pdf

ErbschaftssteuerDer frühere Chef des Zürcher Amt für Statistik liefert prägnanteZahlen zur Konzentration des Vermögens in der Schweiz und fordertu.a. die (Wieder-) Einführung einer Erbschaftssteuer ab einer Mil-lionen Franken.• Hans Kissling (2008): Reichtum ohne Leistung. Die Feudalisierungder Schweiz, Zürich. www.meudalismus.dr-wo.de/html/hans_kissling.htm• Heidi Stutz, Tobias Bauer, Susanne Schmugge (2007). Erben in derSchweiz. Eine Familiensache mit volkswirtschaftlichen Folgen. Buch-publikation des Forschungsprojekts innerhalb des NFP Projekts 52›Kindheit, Jugend und Generationenbeziehungen im gesellschaftli-chen Wandel‹. Zusammenfassung: www.buerobass.ch/pdf/2007/Erben_in_der_Schweiz_Zusammenfassung_deutsch.pdf• Heidi Stutz (2008): Erben in der Schweiz. Eine Familiensache mitvolkswirtschaftlichen Folgen, in: Denknetz Jahrbuch 2008, Zürich.Download: www.denknetz-online.ch/IMG/pdf/stutz.pdf

2. Sozialversicherungen im europäischen VergleichÜbersichtenDie europäische Kommission unterhält seit 1990 das System zur ge-genseitigen Information über den Sozialschutz (Mutual InformationSystem on SOCial Protection – MISSOC), um einen Informations-austausch zu den wichtigsten Sozialversicherungen zu ermöglichen.Dies beinhaltet Sach- und Geldleistungen bei Krankheit, Mutter-schaft und Invalidität, Leistungen im Alter und für Hinterbliebene,Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, Familienlei-stungen, Leistungen im Falle von Arbeitslosigkeit, Mindestsicherungund Leistungen bei Pflegebedürftigkeit. Dabei werden nicht nur dieLeistungen, ihre Höhe und Anspruchvoraussetzungen, sondern auchihre Finanzierung berücksichtigt. Die Schweiz (wie auch Island, Nor-wegen und Lichtenstein) hat sich dem Projekt angeschlossen. Die um-fangreiche und offen zugängliche Datenbank bietet neben Über-sichtsdarstellungen auch die Möglichkeit, selbst gewählte Vergleichediverser Indikatoren verschiedener Länder berechnen zu lassen undper Exel-Datei zu exportieren.MISSOC: http://ec.europa.eu/employment_social/spsi/missoc_en.htm

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Eine sehr gute, nach Kategorien gegliederte Überblickdarstellung derSysteme sozialer Sicherung, aber auch der Arbeitsgesetzgebung inden EU-Ländern bietet der Sozialkompass Europa, herausgegebenvom Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Berlin. Basierendauf Daten von Eurostat und MISSDOC von 2005 und teilweise von2006.• Sozial-Kompass Europa (2007). Soziale Sicherheit im Vergleich,BerlinDas Buch kann kostenlos als Druck bestellt werden unter. www.bmas.de/coremedia/generator/10612/sozial__kompass__europa__soziale__sicherheit__im__vergleich.html. Als PDF Datei im Download(10 MB): www.bmas.de/coremedia/generator/9836/sozial__kompass__europa__soziale__sicherheit__im__vergleich__cd__rom.html• Erwin Carigiet, Ueli Mäder, Michael Opieleka, Frank Schulz-Nies-wandt (Hrsg.) (2006): Wohlstand durch Gerechtigkeit. Deutschlandund die Schweiz im sozialpolitischen Ergleich, Zürich

Sozialausgaben der Schweiz im europäischen VergleichIm europäischen Vergleich steht die Schweiz bei den Ausgaben fürdie soziale Sicherung mittlerweile gut da. Noch im Jahre 2000 hink-te der Anteil der Sozialausgaben vom Bruttoinlandsprodukt (BIP), al-so die sogenannte Sozialstaatsquote mit ca. 25% dem EU-15 Durch-schnitt von 27,6% leicht hinterher. Im Jahre 2006 hat sich dieSchweiz nun mit ca. 28% im Durchschnitt eingependelt.• Statistisches Lexikon der Schweizer Bundesverwaltung 1996–2006www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/infothek/lexikon/bienvenue_login/blank/zugang_lexikon.Document.21391.xls• Bundesamt für Statistik (2006): Gesamtrechnung der Sozialen Si-cherheit, Neuchatelwww.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/00/02/sektoriel/04_02/04_02_01/04_02_01_01.print.html

Nordisches SozialstaatsmodellDas nordische Sozialmodell wird wahrgenommen als ein Modell, daseinen gut ausgebauten Sozialstaat mit wirtschaftlicher Effizienz ver-bindet. Die Staatsquote und auch die Sozialstaatsquote sind im in-ternationalen Vergleich sehr hoch, das Lohn- und Bildungsniveau so-wie die soziale Absicherung relativ gut. Das Themenheft 1/2009 derWSI-Mitteilungen relativiert dieses Bild. Die hauptsächlich skandi-navischen AutorInnen zeigen die Uneinheitlichkeit des nordischenModells, das zudem seit geraumer Zeit auch unter den neoliberalen

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Anpassungsdruck geraten ist. Ein ›sanfter‹ Übergang von Welfare zuWorkfare ist im Gange.• WSI-Mitteilungen 1/2009 ›Das Nordische Modell unter Anpas-sungsdruck‹, www.boeckler.de/169_94119.html• Lars Magnusson, Henning Jorgensen, Jon Erik Dolvik (2008): Eu-ropean lessons to be learned? ETUI, Brussels, 2008. www.etui.org/research/activities/Employment-and-social-policies/Books/The-Nordic-approach-to-growth-and-welfare

Entgeldfortzahlung bei KrankheitIn den meisten europäischen Ländern herrscht eine Lohnfortzah-lungspflicht durch den Arbeitgeber. Die zeitliche Begrenzung dieserZahlungen reicht von wenigen Kalendertagen (Spanien 15 Tage) biszu 52 Wochen (Niederlande). Die Höhe des Satzes schwankt zwi-schen 70% und 100%. Gleichzeitig sind häufig Obergrenzen des Ta-gesatzes vorgesehen. Nach dem Ende der Lohnfortzahlung kommenin der Regel obligatorische Krankentaggeldversicherungen oderKrankengelder der Krankenkassen (in Deutschland in Höhe zwi-schen 70% und 80% des Bruttolohns) zum Zug.• http://ec.europa.eu/employment_social/missoc/2003/missoc_71_de.htm

3. Erosion der ArbeitsverhältnisseWie der Industriesoziologe Klaus Dörre in seinem Beitrag ›Entsi-cherte Arbeitsgesellschaft‹ für die Zeitschrift Widerspruch 49 dar-legt, bezeichnet Prekarisierung im Anschluss an die wegweisende›Chronik der Lohnarbeit‹ von Robert Castel (1995 im Original er-schienen unter ›Les métamorphoses de la question sociale‹) eine um-fassende ›Rückkehr der Unsicherheit‹ in die Arbeitswelt. Diese Un-sicherheit betrifft längst nicht mehr nur die arbeitslosen ›Ausge-schlossenen‹ bzw. ›Entkoppelten‹ oder die in der ›Zone der Preka-rität‹ Beschäftigten im engeren Sinne. Unsicherheit wird mehr undmehr zum Merkmal der ›Zone der Integration‹ selbst: Die Angst vorder eigenen Ersetzbarkeit, vor Qualifikationsverlust und letztlichvor sozialem Abstieg prägt heute in zunehmenden Masse auch dieSphäre des unbefristeten Vollerwerbsarbeitsplatzes. Widerspruch 49/2007: Prekäre Arbeitsgesellschaft. www.widerspruch.chDie Erosion der Arbeitverhältnisse wird begleitet von einem zuneh-menden Druck seitens der sozialstaatlichen Institutionen, prekäre,unzumutbare, schädigende Arbeit um jeden Preis anzunehmen. DieHintergründe dieser auch Workfare genannten Politik beleuchtet:

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• Kurt Wyss (2008): Workfare. Sozialstaatliche Repression im Dienstdes globalisierten Kapitalismus, Zürich. www.edition8.ch/autoren/workfare.htmlZur Entwicklung von Workfare speziell in der Schweiz hat der glei-che Autor einen Beitrag in der Roten Revue 4/2005 verfasst:• Kurt Wyss (2005): Der Arbeitsbegriff in den revidierten SKOS-Richtlinien www.sp-ps.ch/fileadmin/downloads/Publikationen/Rote-Revue/RoteRevue_2005-4.pdf Wie die Sozialhilfe in der Schweiz Workfare begünstigt und welcheWidersprüche die sogenannte ›Aktivierung‹ dabei enthält, zeigt EvaNadai auf.• Eva Nadai (2006): Die Vertreibung aus der Hängematte, in: Denk-netz Jahrbuch 2006, www.denknetz-online.ch/IMG/pdf/Eva_Nadai.pdf

Die vpod Verbandskommission Sozialverbereich nimmt in einerBroschüre Stellung zur Auseinandersetzung um Teillohnjobs, Exis-tenzsicherung und Erwerbsarbeit. Die Kommission kritisiert die›Teillohnstellen‹, wie sie in Zürich für SozialhilfebezügerInnen ange-boten werden, formuliert Kriterien für die Beurteilung von Arbeits-integrationsprojekten und schlägt ein eigenes Modell dafür vor.• vpod-Verbandskommission Sozialbereich (2007): Integrieren undqualifizieren statt abschieben. Gratis zu bestellen via E-Mail [email protected].

Niedriglöhne und MindestlohnpolitikDiverse Grundlagentexte zur Lohnproblematik im Allgemeinen undzur Einkommensverteilung und Mindestlohnpolitik im Besonderenfinden sich unter der Rubrik ›Lohnpolitik‹ auf der Denknetz Web-page• www.denknetz-online.ch/spip.php?page=denknetz&id_rubrique=28&design=1&lang=deIn der Schweiz hat der Schweizerische Gewerkschaftsbund 1998 ei-ne erfolgreiche Mindestlohnkampagne geführt, in deren Folge Löh-ne unter 3000 Franken in den Jahren 2000 bis 2004 markant zurück-gegangen ist. In vielen Branchen mit GAV gelang es, die Löhne dieMindestlöhne deutlich über 3500 Franken zu heben.• Daniel Oesch (2008): Mindestlöhne in der Schweiz: Entwicklun-gen seit 1998 und Handlungsbedarf heute (SGB Dossier 56). http://sgb.ch/d-download/56_d-f_DO_Mindestloehne.pdfWeil jedoch in den letzten fünf Jahren die Mindestlöhne mit demmassiven Anstieg der Teuerung nicht Schritt hielten, haben die Ge-

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werkschaften im Jahr 2008 beschlossen, für die kommenden Jahredie Losung auszugeben: »Keine Mindestlöhne unter 3500 Frankenfür Ungelernte, keine Mindestlöhne unter 4500 Franken für Gelern-te«.• Pascal Pfister und Andreas Rieger (2008): Neuer Anlauf für an-ständige Mindestlöhne, in: Denknetz Jahrbuch 2008, Zürich.www.denknetz-online.ch/IMG/pdf/pfister-rieger.pdf

Denknetz Schweiz – ein Kurzporträt

Das Denknetz ist ein unabhängiger Verein mit rund 600 Einzel-mitgliedern. Es organisiert Tagungen, erarbeitet Thesen, entwickeltKonzepte und Reformvorschläge, betreibt eine Website, publizierteinen Infobrief und ein Jahrbuch. Das Denknetz ist den Grundwertender Freiheit, Gleichheit und Solidarität verpflichtet und unterstützteine Ausweitung der Demokratie auf alle relevanten gesellschaftli-chen Prozesse, auch auf die zentralen Entscheide über die Verwen-dung der ökonomischen Ressourcen. Das Denknetz baut Diskurs-netze mit sozialkritischer Ausrichtung auf und führt dabei Leute ausForschung und Lehre mit AkteurInnen aus Nichtregierungs-Organi-sationen, Gewerkschaften, Parteien und Bewegungen zusammen.Die Kernthemen des Denknetzes sind die mittel- und langfristigenEntwicklungen in der Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitspolitik. Ver-netzte Themenfelder werden nach Bedarf einbezogen (Umweltpoli-tik, Familienpolitik). Genderfragen und globale Aspekte sind Trans-versalthemen, die generell Beachtung erhalten. Mehr Informationen zur Mitgliedschaft im Denknetz und zu seinenaktuellen Aktivitäten sind unter www.denknetz-online.ch zu finden.

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Die Autorinnen und Autoren

Urs Chiara arbeitet selbständig im Büro SoliWerk (Büro für sozialeProjekte und Vernetzung). Er war von 1992–2002 als Gewerk-schaftssekretär des vpod Grischun tätig. Seit 2001 ist er Gemeinde-präsident von Almens (Domleschg) sowie nebenamtlicher Bezirks-richter.

Silvia Domeniconi ist Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin und arbeitetbei den Sozialen Diensten der Stadt Zürich, wo sie für die wirt-schaftliche und persönliche Hilfe für Erwachsene zuständig ist. Zu-vor arbeitete sie im Bereich der Arbeitsintegration.

Prof. Dr. Ruth Gurny ist Soziologin. Sie leitete bis zu ihrer Pensio-nierung Ende 2008 die Forschungsabteilung des Departements So-ziale Arbeit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaf-ten ZHAW.

Beat Ringger ist ausgebildeter Primarlehrer und ElektroingenieurHTL. Er leitet die Geschäftsstelle des Denknetz und ist Zentralse-kretär des Verbandes des Personals Öffentlicher Dienste (vpod), woer für die Bereiche Gesundheitswesen, Sozialpolitik und Soziale Dien-ste zuständig ist.

Avji Sirmoglu ist in einem Freiwilligen-Projekt in Basel (InternetcaféPlanet13) für Randständige und Erwerbslose engagiert. Sie ist dabeizuständig für die Öffentlichkeitsarbeit und organisiert das Kultur-programm.

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