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November 2015 www.ebg.admin.ch
Informationsblatt 17
Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Kontext häuslicher Gewalt
Häusliche Gewalt – Informationsblatt
17 Gewalt gegen Kinder und Jugendliche 2
Dieses Informationsblatt widmet sich der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche1 im Kontext häuslicher
Gewalt. Im ersten Abschnitt wird ein kurzer Überblick über Gewalt gegen Kinder und Jugendliche generell
gegeben, um dann vertieft auf die Problematik des Miterlebens von Gewalt zwischen den Eltern respektive
erwachsenen Bezugspersonen2 und den daraus resultierenden Folgen für die betroffenen Kinder und
Jugendlichen einzugehen.
A. Formen der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
Folgende Formen der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche werden unterschieden3:
Körperliche Gewalt wie Schläge und andere gewaltsame Handlungen wie Verbrennen, Würgen oder Schütteln. Darunter fällt auch die körperliche Gewalt als „Erziehungsmassnahme“;
Psychische Gewalt wie Drohen, Beschimpfen, Blossstellen, Demütigen, Verachten, Abwerten, Isolieren oder Ignorieren. Auch das Miterleben elterlicher Paargewalt und die Instrumentalisierung von Kindern und Jugendlichen in eskalierenden Elternkonflikten wird als eine Unterform der psychischen Gewalt betrachtet.
4
Mit sexueller Gewalt bzw. Missbrauch ist jede sexuelle Handlung mit oder ohne Körperkontakt gemeint, die eine Person unter Ausnützung eines Machtverhältnisses an einer anderen Person gegen deren Willen vornimmt. Dazu zählt auch die Verheiratung von Minderjährigen und die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern durch Kinderprostitution, Kindersextourismus oder Kinderpornographie;
Physische und psychische Vernachlässigung wie Verweigerung oder Entzug der notwendigen Fürsorge (Ernährung, Pflege), Aufsicht (Betreuung, Schutz vor Gefahren) und Anregung (zur motorischen, geistigen, emotionalen und sozialen Entwicklung);
Das Miterleben von elterlicher Paargewalt bedeutet, dass Kinder und Jugendliche während der Gewalttätigkeit zwischen den erwachsenen Bezugspersonen im Raum anwesend sind, gewalttätige Auseinandersetzungen im Nebenraum mit anhören, die Auswirkungen der Gewalt in Form von Verletzungen oder Verzweiflung des gewaltbetroffenen Erwachsenen erleben, etc.;
Institutionelle Gewalt umfasst Gewalt gegen Kinder in Institutionen (z.B.: Heim, Psychiatrie, Gefängnis), von jenen Personen, die eigentlich für ihr Wohl sorgen sollten;
Strukturelle Gewalt entsteht durch bestimmte Normen und Strukturen in einer Gesellschaft und wird durch diese auch aufrechterhalten. Sie umfasst kinderfeindliche Lebensbedingungen (z.B. im Strassenverkehr, Wohnungsbau, fehlende Spielmöglichkeiten, Kinderarbeit), aber auch indirekt auf Kinder wirkende Bedingungen wie die Arbeitsbedingungen der Eltern, ökonomische und soziale Ressourcen;
Gesundheitsschädigende und menschenrechtsverletzende Praktiken; vor allem Genitalverstümmelung betrifft überproportional Kinder;
Menschenhandel;
Systematische Ausnützung von Kindern für Straftaten durch kriminelle Organisationen;
1 Bis zum vollendeten 18. Lebensjahr wird von einem „Kind“ gesprochen, dies gilt sowohl für die schweizerisches Rechtslage (Art. 14 Zivilgesetzbuch;
ZGB) als auch für internationales Recht (Art. 1 UNO Kinderrechtskonvention; KRK). Daher wird auch in diesem Informationsblatt von „Kindern“ gesprochen
und damit auch Jugendliche bis zum vollendeten 18. Lebensjahr umfasst. 2 Im Kontext dieses Informationsblattes wird unter Gewalt in der elterlichen Paarbeziehung nicht nur Gewalt zwischen den leiblichen Eltern verstanden,
sondern auch Stiefelternteile, neue erwachsene Bezugspersonen oder (neue) Partner/-innen eines Elternteils mitumfasst. Damit sollen alle denkbaren Kind-Eltern-Beziehungen erfasst werden, in denen Kinder Gewalt erleben und miterleben. 3 Siehe unter vielen Bericht Bundesrat 2012; Bundesamt für Sozialversicherung 2005; UNO Generalsekretär 2006.
4 So bspw. in Commitee on the Rights of the Child (2011), S. 9.
Häusliche Gewalt – Informationsblatt
17 Gewalt gegen Kinder und Jugendliche 3
Kulturelle Gewalt umfasst Normen oder Werthaltungen, welche die oben genannten Gewaltformen
legitimieren, rechtfertigen, verschönern oder verleugnen;
Ebenso aber auch die von Kindern gegen sich selbst gerichtete Gewalt wie Suizid, Selbstverstümmelung
und Risikoverhalten.
1. Ausmass der Gewalt gegen Kinder
Im Jahr 2006 hat die UNO die erste umfassende Studie5 zu Gewalt gegen Kinder veröffentlicht. Sie stellt
einen Wendepunkt in der Diskussion um Gewalt gegen Kinder dar, da diese immer noch sehr häufig unter
dem Deckmantel von unhinterfragten Traditionen oder scheinbar angemessenen und (zum Teil rechtlich)
legitimierten Erziehungsmassnahmen versteckt wird.
Eines der Hauptprobleme bei der Bekämpfung der Gewalt gegen Kinder ist häufig die „Unsichtbarkeit“ dieser
Gewaltformen. Einerseits haben Kinder Angst über die erlebte Gewalt zu sprechen, sie können sie nicht als
etwas Unrechtes einordnen oder sie haben keine Sprache für das Erlebte. Andererseits sind in vielen Fällen
gerade jene Personen, die ihnen Sicherheit und Geborgenheit geben sollten die Täter/-innen, weshalb
Kinder häufig zu Recht befürchten, dass ihnen nicht geglaubt wird.
Gemäss WHO6
sind weltweit kleinere Kinder der körperlichen Misshandlung am stärksten ausgesetzt,
während die höchsten Raten des sexuellen Missbrauchs unter Kindern in der Pubertät oder unter
Jugendlichen zu finden sind. Geschlechterspezifisch lässt sich sagen, dass Jungen häufiger geschlagen und
überhaupt körperlich bestraft werden als Mädchen, während letztere stärker der Gefahr ausgesetzt sind,
Opfer von Kindestötung, sexuellem Missbrauch und Vernachlässigung zu werden.
2. Ausmass der Gewalt gegen Kinder in der Schweiz
Gewalt gegen Kinder ist auch in der Schweiz ein nicht zu vernachlässigendes Problem. Aussagen über das
Ausmass der Gewalt sind schwierig, weil es sich dabei immer noch um ein stark tabuisiertes Thema handelt.
Besonders schwer ist es zudem Zahlen zu Gewalt im frühkindlichen Alter zu erhalten, da Säuglinge und
Kleinkinder noch wenig ausserfamiliären Kontakt haben und daher das Erkennen von Gewalt gegen Kinder
dieser Altersgruppe umso schwerer ist.
Anhaltspunkte über das Ausmass der Gewalt gegen Kinder in der Schweiz liefern folgende Studien und
Berichte:
Zum Ausmass von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung in der Familie: Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats Fehr (07.3725) „Gewalt und Vernachlässigung in der Familie: notwendige Massnahmen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und der staatlichen Sanktionierung“ vom 27. Juni 2012, S. 16ff. Online unter www.bsv.admin.ch, under Themen, Kinder- und Jungendfragen
Zum Ausmass von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche: Averdijk Margit, Müller-Johnson Katrin, Eisner Manuel. 2011. Sexual victimization of children and adolescents in Switzerland. Final Report for the UBS Optimus Foundation. Online unter www.optimusstudy.org
Zum Ausmass der Mitbetroffenheit von Kindern von elterlicher Paargewalt siehe unten Kapitel B.1
5 UNO Generalsekretär 2006. Teilnehmende der Studie waren Regierungen, NGOs, Parlamentarier/-innen, UN Organisationen, Menschenrechtsorganisa-
tionen und Kinder selbst. In regionalen Treffen wurde das Thema besprochen und Empfehlungen für die Studie erstellt. 6 WHO (2002), S. 21f.
Häusliche Gewalt – Informationsblatt
17 Gewalt gegen Kinder und Jugendliche 4
B. Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Kontext häuslicher Gewalt
Kinder sind im familiären Verband von verschiedenen Gewaltformen betroffen. Insbesondere zu nennen sind
die physische, psychische und sexuelle Kindesmisshandlung, die Vernachlässigung und das Miterleben
elterlicher Paargewalt.
Der Schwerpunkt der folgenden Ausführungen wird auf der Mitbetroffenheit von Kindern von Gewalt in der
elterlichen Paarbeziehung7 liegen. Lange Zeit wurde die Mitbetroffenheit von Kindern bei Gewalt in der
elterlichen Paarbeziehung unterschätzt oder zu wenig wahrgenommen – insbesondere von staatlichen
Institutionen, aber auch von der Forschung. In den letzten Jahren hat die Forschung begonnen, sich mit
diesem Thema auseinander zu setzen und die Auswirkungen der Gewalt zwischen Eltern auf ihre Kinder zu
untersuchen8. Ebenso ist die Sensibilität und das entsprechende Handeln der intervenierenden Stellen
gestiegen9.
Mitbetroffenheit von Gewalt in der elterlichen Paarbeziehung bedeutet, dass Kinder während der
Gewalttätigkeiten im selben Raum anwesend sind, diese in einem Nebenraum mitanhören oder die
Auswirkungen der Gewalt – wie Verletzungen oder Verzweiflung – an den Eltern wahrnehmen. Kinder
werden bei elterlicher Paargewalt nicht nur Zeug/-innen verbaler Auseinandersetzungen, sondern auch von
Tätlichkeiten, massiven Drohungen bis hin zu schwerer physischer und sexueller Gewalt. Kinder erleben
dabei nicht nur Gewalt in bestehenden Beziehungen, sondern auch Trennungsgewalt – hierzu gehört auch
die Bedrohung für Kinder, in eskalierenden Trennungsphasen instrumentalisiert zu werden oder die Gewalt
in Übergabesituationen bei Besuchskontakten10
.
Kinder, die in einem solchen familiären Kontext aufwachsen, sind mit hoch konfliktuell aufgeladenen
Situationen respektive einer chronischen Atmosphäre von Gewalt konfrontiert, mit der Unberechenbarkeit
menschlichen Verhaltens und mit der Destruktivität von Gewalt in zwischenmenschlichen Beziehungen.
Aufgrund der teilweise gravierenden Folgen wird die kindliche Mitbetroffenheit von Gewalt in
Paarbeziehungen in der Kinderrechtskonvention als Form von psychischer Gewalt respektive emotionaler
Verwahrlosung anerkannt11
.
Oft glauben mitbetroffene Kinder, Schuld am Streit der Eltern zu sein. Kinder geraten nicht selten selber
zwischen die Fronten, indem sie dem gewaltbetroffenen Elternteil, in der Regel der Mutter, helfen wollen; sie
versuchen die Mutter zu schützen und/oder sie werden mit den Folgen der Gewalt konfrontiert. So helfen sie
z.B. der Mutter nach der Misshandlung, trösten sie oder fliehen mit ihr – je nach (Nicht-)Vorhandensein eines
sozialen Netzes – in ein Frauenhaus, zu Verwandten oder Freund/-innen. (POM, 2013:1; Steiner, 2012:14f.)
Dennoch werden Kinder bei Interventionen häufig immer noch „übersehen“ und es wird wenig auf ihre
Bedürfnisse in dieser für sie ausserordentlich schwierigen Situation eingegangen. Dies liegt zum einen an
fehlenden Ressourcen bei den intervenierenden Institutionen, aber zum anderen auch an der mancherorts
noch mangelnden Wahrnehmung von mitbetroffenen Kindern als Gewaltopfer.
7
Darunter wird physische, psychische und/oder sexuelle Gewalt in bestehenden oder aufgelösten Paarbeziehungen der Eltern, eines Elternteils oder der
sorgeberechtigten bzw. erziehenden Person verstanden (vgl. Bericht Bundesrat 2012). 8 Vgl. Kavemann 2013; Seith 2006; Kindler 2013; Strasser 2013; Seith, Kavemann 2007; UNICEF 2006, Bericht Bundesrat 2012. Siehe auch Meier 2011;
Stiftung Kinderschutz Schweiz 2009; IEFH 2010; BMFSFJ 2012. 9 Beispiele für die Schweiz finden sich unten im Kapitel B.5.
10 Siehe dazu das Informationsblatt 6 „Gewalt in Trennungssituationen“ auf www.ebg.admin.ch, Häusliche Gewalt.
11 Siehe Kinderrechtskonvention UNKRK Art. 19; General comments Nr. 13/2011 (CRC/C/GC/13).
Häusliche Gewalt – Informationsblatt
17 Gewalt gegen Kinder und Jugendliche 5
Mit der Revision der Bestimmungen zur elterlichen Sorge wurde indessen explizit verankert, dass Gewalt im
elterlichen Umfeld gegen Kinder die Befähigung der Eltern zur Ausübung des elterlichen Sorgerechts in
Frage stellt12
.
Das Miterleben von elterlicher Paargewalt ist auch ein Risikofaktor, später im Erwachsenenleben selbst
Opfer oder Täter/-in von Partnerschaftsgewalt zu werden. Diese Auswirkung auf das spätere Leben ist vor
allem als Folge des Aufwachsens in einem Klima der Gewalt und des Machtmissbrauchs erklärbar.
Gewaltfreie Konfliktlösungsstrategien bekamen von elterlicher Paargewalt mitbetroffene Kinder zuhause
nicht vorgelebt und nicht selten entwickeln betroffene Kinder stereotype Geschlechtsrollenbilder. Studien
belegen diesen intergenerationalen Gewaltkreislauf, weisen jedoch darauf hin, dass das Miterleben von
Gewalt alleine nicht ausreichend erklärt, warum eine Person in einer Beziehung gewalttätig wird.
Häusliche Gewalt kann zudem ein Risikofaktor für Jugendgewalt sein; oft haben die betroffenen Kinder auch
Probleme, positive Freundschaftsbeziehungen aufzubauen. Insgesamt wird festgestellt, dass das „blosse“
Miterleben von Gewalt zwischen den Eltern einen Einfluss auf das Erlernen von Beziehungsfähigkeiten hat.
1. Ausmass mitbetroffener Kinder von elterlicher Paargewalt
Die UNO schätzt, dass zwischen 133 und 275 Millionen Kinder weltweit Zeug/-innen von Gewalt in der elterlichen Paarbeziehung werden.
Aufgrund der bisherigen Forschungserkenntnisse kann davon ausgegangen werden, dass zwischen 10 und 30 % aller Kinder und Jugendlichen im Verlauf ihrer Kindheit Gewalt in der elterlichen Paarbeziehung miterleben.
Mit zunehmender Schwere der Gewalt zwischen den Eltern steigt auch die Gefahr für die Kinder, selbst misshandelt zu werden. Nach heutigem Erkenntnisstand wird davon ausgegangen, dass 30-60 % der Kinder, die im Kontext von Gewalt in der elterlichen Paarbeziehung aufwachsen, selbst unter Gewalt leiden.
Es wird geschätzt, dass in der Schweiz jährlich 27‘000 Kinder von häuslicher Gewalt mitbetroffen sind (EBG, 2013:80), davon überproportional viele im Alter von 0 – 6 Jahren (Kanton Basel-Stadt: 44 %; JSB, 2012:11)
Kinder sind bei Polizeieinsätzen in Fällen von Gewalt in der elterlichen Paarbeziehung sehr häufig
anwesend. Eine wissenschaftliche Untersuchung aus Deutschland13
sowie verschiedene kantonale Statistiken aus der Schweiz geben an, dass in über der Hälfte der Fälle Kinder bzw. Jugendliche beim Polizeieinsatz anwesend waren. Dabei handelte es sich überwiegend um Kinder unter 14 Jahren, in 29 % der Fälle waren Kleinkinder im Alter von ein bis drei Jahren anwesend.
2. Folgen der Mitbetroffenheit von Paargewalt
Die Folgen miterlebter Gewalt in der elterlichen Paarbeziehung14
sind sehr unterschiedlich und hängen vom
Alter, dem Entwicklungsstand des Kindes, von den persönlichen Ressourcen des Kindes und vom Ausmass
der miterlebten Gewalt ab.
12
Vgl. Art. 311 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB; BBl 2011 9077, 9109. Siehe auch Bericht Bundesrat 2012, S. 44. 13
Helfferich, Kavemann 2004. 14
Siehe unter vielen Kindler 2013; Meier 2011; Bericht Bundesrat 2012; Stiftung Kinderschutz Schweiz 2009; Helfferich, Kavemann 2004.
Häusliche Gewalt – Informationsblatt
17 Gewalt gegen Kinder und Jugendliche 6
Der mittlerweile erreichte Forschungsstand zu Entwicklungsbeeinträchtigungen bei Kindern, die Paargewalt
miterleben mussten, beläuft sich auf weltweit deutlich mehr als fünfhundert empirische Untersuchungen
(Kindler, 2013:28).
20 – 44 % der mitbetroffenen Kinder zeigen klinisch bedeutsame Verhaltensauffälligkeiten in Form einer ausgeprägten Niedergeschlagenheit, Depressionen oder Ängstlichkeit nach Innen oder in Form von Unruhe oder Aggressivität nach Aussen (Wurdak/Tahn 2001 in Kindler, 2013:30).
Von Paargewalt betroffene Kinder tragen gegenüber Kontrollgruppen ein drei- bis sechsfach erhöhtes Risiko behandlungsbedürftiger Auffälligkeiten (ebd.:32).
Gemäss einer Studie mit Jugendlichen ging miterlebte Paargewalt mit einer verdoppelten Rate an posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) einher, die bis auf das Fünffache anstieg, wenn der oder die Jugendliche über Angst um das Leben des geschlagenen Elternteils berichtete (Zinzow et al. 2009 in ebd.:32).
Bis zu 90 % aller Patient/-innen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung geben Gewalterfahrungen in der Vorgeschichte an (Schmeck & Schmid, 2011:7).
40 % der von Gewalt mitbetroffenen untersuchten Kinder weisen ernsthafte Entwicklungsrückstände oder bedeutsame Schulschwierigkeiten aus (Kindler; 2013:37).
Mitbetroffene Kinder weisen im Vergleich zu Kontrollgruppen häufiger Regulationsprobleme auf (z.B. Schlaf- und Essstörungen) oder klagen über Beschwerden wie Kopf- und Bauchschmerzen. Diese werden als mögliche Folgewirkung chronischer Aktivierung bzw. Überforderung des physiologischen Stressverarbeitungssystems betroffener Kinder interpretiert.
Soziale Entwicklungsbeeinträchtigungen bei von häuslicher Gewalt mitbetroffenen Kindern manifestieren sich gemäss verschiedener Längsschnittstudien in Gleichaltrigenbeziehungen sowie in Form von späterem Erdulden bzw. Ausüben von Beziehungsgewalt im Erwachsenenalter (Kindler, 2013:37) oder in einem späteren kriminellen Verhalten (Fonagy 2004 in Schmeck & Schmid, 2011:12).
Die Gewalt gegen die Mutter oder den Vater löst nahezu durchgehend erheblichen Stress aus: Sie wird als Bedrohung der Bindungsbeziehung erlebt und beeinträchtigt die innere emotionale Sicherheit.
Jedoch darf die Fähigkeit von Kindern, diese Erlebnisse zu bewältigen und sich vor den negativen
Auswirkungen dieser Erfahrungen zu schützen – die sogenannte Resilienz15
– nicht unterschätzt werden
bzw. kann diese Fähigkeit auch gefördert werden. So gelten gewisse Faktoren als resilienzfördernd: Zum
einen sind diese auf der individuellen Ebene vorhanden – wie hohe Intelligenz, schulischer Erfolg,
kontaktfreudiges Temperament oder auch ein realistisch-positives Selbstkonzept. Daneben sind aber auch
soziale Faktoren entscheidend, um Kinder vor bleibenden Schäden zu schützen – wie eine positive
emotionale Beziehung zu mindestens einer stabilen Bezugsperson (z.B. Lehrperson), die Zugehörigkeit zu
einer Gemeinschaft oder die soziale Förderung des Kindes in ausserschulischen Aktivitäten.
Dennoch muss das Aufwachsen von Kindern mit elterlicher Paargewalt als strukturelle Gefährdung des
Kindeswohls betrachtet werden, da diese zu Entwicklungsstörungen und spezifischen Beeinträchtigungen
der psychischen Gesundheit der betroffenen Kinder führen kann, die ohne Intervention Langzeitschäden
nach sich ziehen kann. Gerade vor diesem Hintergrund müssen die Folgen der Mitbetroffenheit von Kindern
von elterlicher Paargewalt auch für die Gesellschaft berücksichtigt und entsprechende
Unterstützungsangebote bereitgestellt werden.
15
Ausführlich dazu Meier 2011; Bericht Bundesrat 2012.
Häusliche Gewalt – Informationsblatt
17 Gewalt gegen Kinder und Jugendliche 7
3. Miterleben von häuslicher Gewalt und weitere Belastungsfaktoren in der Familie
Ein Teil der mitbetroffenen Kinder erfährt in der Familie nebst der häuslichen Gewalt auch weitere
Belastungen. Schon 1997 konnte gezeigt werden, dass das eigene Misshandlungsrisiko bei wiederholten
Gewalttätigkeiten in der Paarbeziehung achtmal höher war als bei Kindern, die nicht von häuslicher Gewalt
betroffen waren. Gemäss mehreren Untersuchungen an Kindern in Frauenhäusern wurden 30 – 60 % der
Kinder durch den (Ex-)Partner der Mutter auch selbst misshandelt. Auch das Risiko, Opfer von sexualisierter
Gewalt zu werden, stieg. (Wetzels und Pfeiffer 1997 in Heynen, 2013:230; Kindler, 2013:38 und 42). Auch
aus den im Rahmen der Evaluation der zürcherischen Projekte zur zeitnahen Kinderansprache nach
häuslicher Gewalt erhobenen Daten geht hervor, dass mindestens 40 % der Kinder nicht nur Zeugen von
Gewaltvorfällen waren, sondern auch selber aktuell oder in der Vergangenheit körperlich und psychisch
misshandelt worden sind (MMI, 2012:5).
Aber auch weitere Belastungen erleben Kinder, die von Paargewalt mitbetroffen sind, häufiger. So müssen
Mitbetroffene von häuslicher Gewalt häufiger als andere Kinder die Suchterkrankung eines oder beider
Elternteile bewältigen (Dong et al. 2004 in Kindler, 2013:38). Oder Kleinkinder, die wiederholt häusliche
Gewalt bezeugen, werden häufiger vernachlässigt (De Young, Kenardy & Cobham, 2011 in Vilén Zürcher,
2014).
Für die Praxis relevant ist die Erkenntnis, dass sich die ganz überwiegende Mehrzahl der von zwei oder
mehr dieser Belastungen betroffenen Kinder ohne hilfreiche Intervention von aussen nicht positiv entwickeln
kann (Kindler, 2013:38). Angesichts der hohen Quote von 30 – 60 % von mitbetroffenen Kindern, die auch
selbst misshandelt werden, sollte sich diese Erkenntnis bei der Einschätzung der Gefährdung von
mitbetroffenen Kindern wegen häuslicher Gewalt deutlich und konsequent niederschlagen. Miterlebte
Paargewalt stellt jedoch auch dann einen Belastungsfaktor mit im Mittel bedeutsamen kindlichen
Entwicklungsbeeinträchtigungen dar, wenn keine anderen Entwicklungsrisiken beobachtbar sind (ebd.:40).
Ein Grund dafür ist, dass die wahrgenommene Bedrohung oder Verletzung einer engen Bezugsperson
nahezu durchgängig erheblichen Stress auslöst: Die Gewalt gegen die Mutter oder den Vater wird als
Bedrohung der Bindungsbeziehung erlebt und beeinträchtigt die innere emotionale Sicherheit. Der mit
Paargewalt einhergehende Verlust an innerer emotionaler Sicherheit erwies sich als Teilerklärung für die bei
den betroffenen Kindern beobachtbaren Entwicklungsbeeinträchtigungen. Zudem tragen gewaltbezogene
Gedanken und Sorgen über die Gewalt hinaus zur kindlichen Belastung bei (ebd:46).
Das Ausüben von Paargewalt steht in Zusammenhang mit bedeutsamen Einschränkungen der
Erziehungsfähigkeit des tatausübenden Elternteils. Nebst der erhöhten Häufigkeit an
Kindesmisshandlungen bei Elternteilen, die gegen den anderen Elternteil Gewalt anwenden, konnte auch
eine ausgeprägte Selbstbezogenheit, geringe erzieherische Konstanz oder übermässig autoritäre
Erziehungsvorstellung nachgewiesen werden, was eine positive Erziehung und Bindungsgestaltung sehr
erschwert. Gleichzeitig erkennen Väter mehrheitlich keine Belastungseffekte bei ihren Kindern infolge der
Paargewalt, oder erwarten Veränderungen weniger bei sich selbst als vielmehr bei der Partnerin (Salisbury
et al. 2009 & Rothman et al. 2007 in Kindler, 2013:42; Fonagy 2004 in Schmeck & Schmid, 2011:11).
Dennoch kann der Wunsch, ein guter Vater zu sein manchmal dazu führen, dass Männer eher Hilfe in
Anspruch nehmen (Perel/Peled 2008 & Harne 2011 in Kindler, 2013:43). Von zentraler Bedeutung für die
Praxis ist zudem die Erkenntnis, dass positive väterliche Fürsorgemerkmale Belastungsreaktionen von
Kindern eher verstärken als sie sie abmildern, wenn sie nicht mit einer deutlichen Abkehr von Gewalt
verbunden sind (Skopp et al. 2007; Maliken/Katz, in Kindler, 2013:42).
Häusliche Gewalt – Informationsblatt
17 Gewalt gegen Kinder und Jugendliche 8
Bei der Erziehungsfähigkeit des gewalterleidenden Elternteils konnte zwar gemäss über zwei Dutzend
Studien ein erstaunlich hoher Anteil an Müttern noch ein weitgehend unauffälliges Fürsorge- und
Erziehungsverhalten aufbringen. Dennoch findet sich ein überdurchschnittlich hoher Anteil an unsicheren
oder desorganisierten Mutter-Kind-Bindungsmustern. Mehrere Studien dokumentieren Einschränkungen in
Fürsorge und Erziehung aufgrund von gewaltbedingtem Stress und teilweise sich ausbildenden
Belastungsreaktionen wie Depressionen oder Posttraumatischen Belastungsstörungen PTBS (Kindler,
2013:43). So zeigen z.B. zwischen 60-80 % der Frauen in Frauenhäusern Symptome einer PTBS (Gomolla,
2009 in Schmeck & Schmid, 2011:19). Gleichzeitig zeigte sich gemäss verschiedener Verlaufsstudien, dass
zeitweise bestehende Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit nach einer Beendigung der Paargewalt
abgebaut werden konnte. Mütterliches Fürsorge- und Erziehungsverhalten nach Paargewalt hat also
positiven wie negativen Einfluss auf das Ausmass kindlicher Belastungsreaktionen und Verhaltensprobleme.
Entsprechend bietet die Unterstützung der Fürsorgefähigkeit der Mutter eine positive Unterstützung der
Entwicklung der Kinder, wobei die Effekte nicht so gross waren, als dass die Unterstützung der mütterlichen
Erziehungsfähigkeit als alleiniger Ansatzpunkt genügen würde (Kindler, 2013:43ff.). Ein Grund für den
eingeschränkten Effekt kann unter anderem die Tabuisierung der Gewalt durch den gewaltbetroffenen
Elternteil sein. So sprechen zwei Drittel der gewaltbetroffenen Frauen in Frauenhäusern nicht über das
Erlebte mit ihren Kindern und vermeiden das Thema aktiv (Gomolla, 2009 in Schmeck & Schmid, 2011:6).
Auf diese Weise sind Kinder auch von ihren engsten Bezugspersonen in der Bewältigung des
Gewaltproblems alleine gelassen.
Diese Erkenntnisse sind für die Praxis insofern von hoher Bedeutung, als sie zeigen, dass der Weg über die
Unterstützung des gewaltbetroffenen Elternteils alleine nicht genügt, sondern dass das Kind selbst eine
zeitnahe kindergerechte Unterstützung bzw. nur schon grundlegende Information über das Vorgehen
braucht. Vor allem aber zeigt es auch, dass dem Stoppen der Gewalt und damit einer Fokussierung auf den
gewaltausübenden Elternteil eine Priorität zukommt, die bislang zu wenig als Aufgabe des Kindesschutzes
angesehen wurde.
4. Unterstützung
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass
a) beim Miterleben von Gewalt in der elterlichen Paarbeziehung, also der Bedrohung oder Verletzung der
engsten Bezugsperson, von einer Kindeswohlgefährdung auszugehen ist, die ein angemessenes,
zeitnahes staatliches Handeln erfordert;
b) zur Minderung der Kindeswohlgefährdung grundsätzlich alle Involvierten häuslicher Gewalt in den Fokus
genommen werden müssen; d.h. das staatliche Eingreifen erfordert Schutz und Unterstützung des
mitbetroffenen Kindes, Schutz und Unterstützung des gewaltbetroffenen Elternteils und eine
Inverantwortungnahme und Unterstützung des tatausübenden Elternteils.
Bevor nun auf die Unterstützung des mitbetroffenen Kindes fokussiert wird, soll kurz auf die Notwendigkeit
des Schutzes und der Unterstützung des gewaltbetroffenen Elternteils sowie einer Inverantwortungsnahme
und Unterstützung des tatausübenden Elternteils aus der Perspektive des Kindesschutzes eingegangen
werden.
Häusliche Gewalt – Informationsblatt
17 Gewalt gegen Kinder und Jugendliche 9
a. Umgang mit dem gewaltausübenden Elternteil aus der Perspektive des Kindesschutzes
In Anbetracht der Forschungserkenntnisse sind das Stoppen der Gewalt sowie die Stärkung der
Erziehungskompetenz des gewaltausübenden Elternteils prioritäre Ansatzpunkte, um die
Kindeswohlgefährdung zu senken. Genau im Umgang mit gewaltausübenden Elternteilen kommen
Institutionen des Kindesschutzes jedoch regelmässig an ihre Grenzen (Eisinger, 2012). Die Bereitschaft zur
Kooperation zwecks Stoppen der Gewalt ist bei vielen Gewaltausübenden gering bis nicht vorhanden – die
Verantwortung für die Gewalt wird eher abgeschoben als übernommen (siehe dazu auch Schüler,
2013:218).
Demgegenüber können gewaltausübende Elternteile sehr aktiv werden, wenn es um die Kontakte zu ihren
Kindern geht. Zu beobachten ist tatsächlich, dass auch von institutioneller Seite die Kontaktgestaltung zu
den Kindern häufig in den Vordergrund rückt, während der prioritäre Ansatzpunkt, nämlich den
gewaltausübenden Elternteil durch geeignete Massnahmen zu unterstützen um die Gewalt zu stoppen und
damit die Kindesschutzgefährdung zu reduzieren, ins Hintertreffen gerät.
Kindesschutzrechtliche Massnahmen zum Stoppen der Gewalt und der Stärkung der Erziehungsfähigkeit
des gewalttätigen Elternteils sind nicht nur in Anbetracht eines Zusammenbleibens vieler Familien auch nach
häuslicher Gewalt gerechtfertigt, sondern haben auch nach einer Trennung durch den weiteren persönlichen
Verkehr mit den Kindern eine hohe Bedeutung. Vergessen wird zudem gerne, dass häusliche Gewalt seinen
Fortgang bei Nichtbehandlung häufig in zukünftigen Beziehungen mit neuen (Stief-)Kindern findet (mehr
dazu in Gloor/Meier, 2014).
Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden haben die Möglichkeit, Massnahmen wie z.B. Gewaltberatungen
oder ein Lernprogramm gestützt auf Art. 307 Abs. 3 ZGB anzuordnen; dies wurde auch im Zusammenhang
mit der Regelung des Besuchsrechts / persönlichen Verkehrs für zulässig erklärt16
. Diese
kindesschutzrechtliche Möglichkeit wird heute noch zu wenig genutzt. Sie sollte bei vorliegender häuslicher
Gewalt regelmässig geprüft und angeordnet werden. Eine zukünftige Gestaltung der Betreuung oder des
persönlichen Verkehrs zwischen gewaltausübendem Elternteil und mitbetroffenem Kind sollte dabei an den
erfolgreichen Besuch von Gewaltberatungen oder Lernprogrammen geknüpft werden. In der Schweiz
existieren in vielen Kantonen Täter/-innenberatungsstellen, zudem gibt es einige Lernprogramme für
Gewaltausübende in Paarbeziehungen (siehe www.fvgs.ch und EBG 2008).
Sofern Weisungen kein taugliches Mittel darstellen, um der Gefährdung des Kindeswohls zu begegnen, ist
ein (vorübergehender oder dauerhafter) Entzug bzw. die Verweigerung des persönlichen Verkehrs zu
prüfen. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass die jüngere juristische Doktrin mit Blick auf
psychiatrische Forschungsergebnisse zu Zurückhaltung bei der Gewährung von (begleiteten)
Besuchskontakten in Fällen von erwiesener häuslicher Gewalt oder begründetem Verdacht auf sexuellem
Missbrauch mahnt: Um eine erneute Traumatisierung des Kindes zu vermeiden, sollte regelmässig kein
begleiteter Besuchskontakt gewährt werden, so lange die konkrete Gefahr der Gewaltausübung gegen den
anderen Elternteil oder dem Kind besteht (Büchler, 2015:11f).
Abschliessend kann gesagt werden, dass der zivilrechtliche Kindesschutz mit der Weisungsmöglichkeit in
eine Gewaltberatung ein effektiver Weg ist, gewaltausübende Elternteile zeitnah in Verantwortung zu ziehen
16
BGer, 5A_457/2009 in Büchler, 2011:537; siehe auch Urteil des Obergerichtes des Kantons Zürich, PQ140067 vom 6.1.2015.
Häusliche Gewalt – Informationsblatt
17 Gewalt gegen Kinder und Jugendliche 10
und auf eine Gewaltreduktion hinzuwirken, welche das mitbetroffenen Kind entlastet. Diese Chance sollte
wenn immer möglich genutzt werden.
b. Schutz und Unterstützung des gewaltbetroffenen Elternteils
Die Unterstützung der Erziehungsfähigkeit des gewalterleidenden Elternteils, i.d.R. der Mutter, ist ein gut
etablierter, breit gefächerter und der meist gewählte Ansatzpunkt im Kinderschutz, um die
Kindeswohlgefährdung zu mindern. Zentral bei der Unterstützung des gewaltbetroffenen Elternteils seitens
Kindesschutz ist dabei die Berücksichtigung zweier Erkenntnisse aus der neuesten Forschung resp.
Praxisbeobachtung: Zum einen stehen Gewaltopfer vor einem regelrechten Arbeitsberg nach häuslicher
Gewalt. Nicht selten hat das Gewaltopfer, in der Regel die hauptbetreuende Mutter, je mehrmalige Kontakte
mit bis zu 10 Institutionen zu bewältigen (Gloor/Meier 2014). Zum anderen kommt es noch regelmässig zu
Konflikten zwischen Handlungsstossrichtungen verschiedener Institutionen. Wenn zum Beispiel eine
Wegweisung(sverlängerung) des tatausübenden Elternteils zum Schutz vor Gewalt verfügt wurde, wird nicht
selten „mangels erheblicher Traumatisierung“ das Kontaktverbot gegenüber den mitbetroffenen Kindern
aufgehoben17
. Eine solche Handhabung geht von der Annahme aus, dass mit der Trennung der Eltern die
Gewalt aufhöre, und die Besuchs- und Kontaktregelung zwischen Kind und gewaltausübendem Elternteil
(i.d.R. Vater) losgelöst von der Gewaltproblematik zwischen den Elternteilen eingerichtet werden könne.
Abgesehen davon, dass diese Annahme den oben beschriebenen Charakteristika und Folgen von
häuslicher Gewalt wiederspricht, ist sie mit praktischen Schwierigkeiten wie Terminabsprachen und
Kindsübergaben ausserhalb des verbotenen Rayons via Dritte verbunden. Zudem erhöht sie erneut die
Belastung des gewaltbetroffenen Elternteils in einer Phase, die der Beruhigung und Orientierung dienen soll.
Hier zeigt sich der Bedarf einerseits nach einer besseren Koordination zwischen den verschiedenen
involvierten Stellen sowie nach einem kohärenten Handeln18
. Koordiniertes und kohärentes Handeln kann zu
einer erheblichen Entlastung des hauptbetreuenden Elternteils und damit auch zur Stärkung bzw.
Wiedererlangung der Erziehungsfähigkeit beitragen.
c. Unterstützung des mitbetroffenen Kindes
Alle bisherigen Studien inkl. die oben zusammengetragenen Forschungserkenntnisse zu Folgen des
Miterlebens von elterlicher Paargewalt unterstreichen die dringliche Notwendigkeit systematischer und
zeitnaher Abklärung der Situation der betroffenen Kinder und die zentrale Bedeutung von spezifischen
Unterstützungsangeboten19
.
So kann z.B. die Trennung vom gewaltausübenden Elternteil zwar zunächst eine gewisse Beruhigung
schaffen, aber die Nachwirkungen des Erlebten bleiben und die eingetretenen Schäden werden damit nicht
beseitigt (Schüler, 2013:215). Zudem wird Gewalt auch häufig von Seiten des gewalterleidenden Elternteils
tabuisiert, so dass das Kind auf sich alleine gestellt ist.
Kindern, die im Kontext von Gewalt in der elterlichen Paarbeziehung aufwachsen, wird ihr Recht auf ein
sicheres und stabiles Zuhause genommen. Diese Kinder brauchen Erwachsene, denen sie vertrauen
können und die ihnen jene Stabilität und Sicherheit geben, die ihnen in ihrer Familie vorenthalten wurden.
17
Siehe dazu das Informationsblatt 13 „Rechte von betroffenen Personen häuslicher Gewalt in Zivilverfahren“ auf www.ebg.admin.ch, Häusliche Gewalt,
Kapitel D.3. Siehe auch Büchler, 2015 Kapitel 3.c. S11f. 18
Auf die besondere Herausforderung der Zusammenarbeit zwischen den beiden Planeten „Kindesschutz“ und „Bekämpfung von Paargewalt“ geht Ma-rianne Hester ein (http://bjsw.oxfordjournals.org/content/41/5/837.abstract). 19
Vgl. unter vielen Seith, Kavemann 2007; AWO Kreisverband Schwerin 2006; Stiftung Kinderschutz Schweiz 2009; Meier 2011; Bericht Bundesrat 2012.
Häusliche Gewalt – Informationsblatt
17 Gewalt gegen Kinder und Jugendliche 11
Sie benötigen individuelle, zeitnahe und bedarfsgerechte Unterstützung, daher muss bei jedem Angebot, ob
Einzel- oder Gruppentherapie, die aktuelle Lebenssituation des Kindes, seine persönliche Sicherheit, die
aktuellen Belastungen und seine individuellen Möglichkeiten der Verarbeitung des Erlebten miteinbezogen
werden. Ebenso wichtig ist die Berücksichtigung von schützendem und unterstützendem, aber auch von
gefährdendem und belastendem Verhalten von Familienmitgliedern. Auch Probleme in der Schule müssen
Beachtung finden.
Wichtig ist es, den Kindern immer wieder zu bestätigen, dass Gewaltanwendung falsch ist und dass es
alternative Möglichkeiten zur Konfliktbewältigung gibt. Sie sollen andere Rollenmodelle kennen lernen und
mit einer positiveren Lebenseinstellung in die Zukunft blicken. Kinder, die zu Hause Gewalt erleben, sollen
erkennen, dass sich Dinge ändern können und Gewalt beendet werden kann und dass sie dem Kreislauf der
Gewalt nicht hilflos ausgeliefert sind.
Je schneller eine hilfreiche und auf Kinder zugeschnittene Intervention einsetzt und mit den Kindern über
das Erlebte gesprochen wird, desto eher besteht die Möglichkeit, dass sie ihre traumatischen Erlebnisse
bewältigen können. Deshalb ist es entscheidend, dass Kinder im Interventionsprozess sichtbar werden.
Angemessenes staatliches Handeln erfordert zunächst in jedem Fall eine individuelle, professionelle
Einschätzung der Kindeswohlgefährdung, bei welcher nebst der Risikoprognose auch die persönlichen
Ressourcen und Schutzfaktoren der Kinder erhoben werden (siehe z.B. POM, 2013a:4ff.). So sind
Generalisierungen der berichteten Befunde auf Kinder, die nur bei einer oder bei sehr wenigen
Gelegenheiten eine nicht verletzungsträchtige Gewalt in Abwesenheit eines Musters psychischer
Misshandlung erlebt haben, nicht ohne weiteres möglich (Schuler, 2013:15).
Ob ein Machtgefälle in der Beziehung vorliegt, es zu übermässiger Kontrolle und Gewaltanwendung kommt,
sollte Ziel der sozialen Anamnese sein (Klopfstein, 2012:1). Praktische Unterstützung bieten hierfür
Leitfäden und Merkblätter – wie zum Beispiel jener des Kantons Bern (POM, 2013), welche über
www.toolbox-haeusliche-Gewalt.ch abrufbar sind. Auch das Gutachten zu „Intensität von Häuslicher Gewalt“
bietet Orientierungshilfe (Gloor/Meier, 2012).
Eng verknüpft mit der Sicherheit der Kinder ist auch jene des gewaltbetroffenen Elternteils. Diese Tatsache
sollte bei der Frage des Besuchsrechts berücksichtigt werden. Richterinnen und Richter sollten ihre
Entscheidungen vor dem Hintergrund des Fachwissens über Trennungsgewalt und den damit verbundenen
Risiken treffen. Keinesfalls sollte das Besuchsrecht über das Recht des Kindes auf Sicherheit gestellt
werden20
.
Ebenso muss Gewalt zwischen den Eltern Einfluss auf die Erteilung des Sorgerechts haben. Eltern, die
während der Beziehung gewalttätig waren – auch wenn die Gewalt nicht direkt gegen das Kind gerichtet war
– sollten nicht unhinterfragt ein Sorgerecht erhalten. Diesem Umstand soll mit der Änderung der Regelung
der gemeinsamen elterlichen Sorge Rechnung getragen werden. Gemäss Art. 311 Abs. 1 Ziff. ZGB stellt
häusliche Gewalt die Befähigung der Eltern zur Ausübung der elterlichen Sorge in Frage21
. Gewalttätigkeit
ist neu explizit als Grund aufgeführt, der die Kindesschutzbehörde ermächtigt bzw. verpflichtet, dem
gewalttätigen Elternteil die elterliche Sorge zu entziehen. Dabei soll es keine Rolle spielen, ob das Kind
direkt Opfer häuslicher Gewalt wird oder ob es davon indirekt betroffen ist, weil sich die häusliche Gewalt
20
Siehe dazu das Informationsblatt 6 „Gewalt in Trennungssituationen“ auf www.ebg.admin.ch, Häusliche Gewalt. 21
Botschaft zu einer Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Elterliche Sorge), BBl 2011 9077, 9109; online unter http://www.admin.ch/ch/d/ff/2011/9077.pdf.
Häusliche Gewalt – Informationsblatt
17 Gewalt gegen Kinder und Jugendliche 12
gegen den andern Elternteil richtet. Die Umsetzung der Bestimmungen wird zeigen, inwieweit die
Neuregelung tauglich ist, Kinder vor weiteren Gewaltbelastungen zu schützen22
.
5. Angebote für mitbetroffene Kinder in der Schweiz
a. Projekte und Einsatzkonzepte
In der Schweiz wird der Mitbetroffenheit von Kindern von elterlicher Paargewalt kontinuierlich mehr
Aufmerksamkeit gewidmet. Dies zeigt sich unter anderem auch darin, dass verschiedene (Pilot-)Projekte
und Einsatzkonzepte zur Unterstützung von mitbetroffenen Kindern am Laufen sind.
Im Folgenden wird exemplarisch auf drei Beispiele hingewiesen:
Kanton Zürich
Im Kanton Zürich unterstützen die Projekte „KidsCare“ des Vereins Pinocchio Zürich23
und „KidsPunkt“ des
Jugendsekretariates Winterthur Kinder nach miterlebter Gewalt zwischen den Eltern. Betroffene Kinder
werden von den Beraterinnen/Beratern rasch kontaktiert und erhalten Raum und Gelegenheit, mit
spielerischen Methoden das Erlebte zum Ausdruck zu bringen. Eine professionelle, kindsorientierte
Beratung, die den Kindern neben Information und Aufklärung Problemlösungsstrategien im Umgang mit
belastenden Situationen sowie erste Verarbeitungshilfen bietet, stellt das Kernelement der Intervention dar.
Evaluationsergebnisse vom Marie Meier Institut 2012 zu den beiden Projekten zeigen, dass eine proaktive,
zeitnahe, flexible und bedarfsgerechte Unterstützung von Kindern, die von Häuslicher Gewalt betroffen sind,
zielführend ist. Die Mehrheit der Kinder war bei Interventionsbeginn deutlich psychisch belastet (Messung
mit dem Screeningverfahren: 59%). Zudem stellten die Beraterinnen bei knapp drei Vierteln der Kinder
verschiedene Symptome und Verhaltensauffälligkeiten fest. Bereits wenige, auf die Zielgruppe
zugeschnittene Gespräche führten bei der Mehrheit der Kinder (je nach Messinstrument 68% bis 76%) zu
einer messbaren Abnahme der bei allen nachgewiesenen Belastung und der Symptomatik (MMI, 2012:6)
sowie zu einer Unterstützung und Stärkung der häufig mehrfach belasteten Mütter / Familien und der
mitbetroffenen Kinder.24
Die Evaluation betont über die unmittelbaren Effekte auf die Kinder hinaus die Wichtigkeit und
Herausforderung einer intensiven Kooperation mit anderen Akteuren im Feld zwecks vernetzter
Unterstützung der Familien, da die Mehrheit der Familien Mehrfachbelastungen sowie eine chronifizierte
Gewaltgeschichte aufweist. Speziell erwähnt wird der Bedarf nach professioneller Unterstützung der
gewaltausübenden Väter im Hinblick auf die Kontaktgestaltung in Abstimmung zu den Bedürfnissen der
Kinder bzw. dem Schutz der Familie (MMI, 2012:7ff.).
22
Siehe dazu auch Gutachten von Andrea Büchler, 2015: „Elterliche Sorge, Besuchsrecht und Häusliche Gewalt“, online unter www.ebg.admin.ch, Häusli-
che Gewalt unter Publikationen zu Gewalt 23
Im Rahmen der „Hilfe durch Dritte“ durch die kantonale Opferhilfestelle Zürich (mit-)finanziert 24
Interessant dabei ist insbesondere der Hinweis, dass die Daten über die Fälle im Jahr 2011, welche die Vormundschaftsbehörden aufgrund einer Meldung von Häuslicher Gewalt durch die Polizei bearbeitet haben, zeigten, dass sich die Interventionsgruppe der Projekte nicht entscheidend von dieser Vergleichsgruppe unterschied. Die Projekte haben also Familien erfasst, welche ähnliche Merkmale aufweisen wie diejenigen Familien, die nicht von den Projekten beraten werden konnten. (MMI, 2012:5)
Häusliche Gewalt – Informationsblatt
17 Gewalt gegen Kinder und Jugendliche 13
Kanton Waadt
Im Kanton Waadt wurde ein interdisziplinäres Einsatzkonzept aufgebaut.25
Es besteht aus einer Stelle, die
Gewalt abklärt und feststellt (Abteilung Gewaltmedizin – UMV), einer Abklärungsstelle für Kinder (CAN
Team) und einer Betreuungseinrichtung (Les Boréales).
Die 2006 eröffnete Abteilung Gewaltmedizin bietet eine gerichtsmedizinische Sprechstunde für erwachsene
Opfer von zwischenmenschlicher Gewalt, sei es Gewalt in der Partnerschaft, in der Familie oder in der
Gemeinschaft. Bei einem Drittel der Sprechstunden geht es um eheliche und familiale Gewalt und die Opfer
sind hauptsächlich Frauen. In diesen Sprechstunden wird die Gefährlichkeit der Gewaltsituation eingeschätzt
und grosses Gewicht auf das Risiko von Rückfällen und von Gewalt gegen andere Personen, insbesondere
Kinder, gelegt.
Sind in Fällen häuslicher Gewalt, die in der Abteilung Gewaltmedizin behandelt werden, Kinder betroffen,
werden diese automatisch ans CAN Team (Child Abuse Neglect Team) weitergeleitet. Das CAN Team
wurde 1994 am Lausanner Universitätsspital gegründet und hat den Auftrag, Kindsmisshandlungen
abzuklären und zu behandeln sowie Prävention zu betreiben. Seit es mit der Abteilung Gewaltmedizin
zusammenarbeitet, werden dem CAN Team sehr viel mehr Kinder zugewiesen, die Zeugen von Gewalt
zwischen ihren Eltern geworden sind. Das Ziel dieser Sprechstunde ist es, die schädlichen Auswirkungen
der Gewalt zwischen den Eltern auf die Kinder möglichst gering zu halten und Schutzmassnahmen zu
ergreifen.
Wenn Kinder Gewalt zwischen den Eltern erleben, kann dies nachhaltige Konsequenzen haben, die eine
spezielle Betreuung der ganzen Familie nötig machen. Diese Betreuung bieten die Boréales, eine kantonale
Einrichtung für Einzel- und Familienpsychotherapie. Sie betreut Personen aller Altersgruppen, die von
Gewalt in Partnerschaften betroffen sind.
Kanton Bern
Der Regierungsrat hat Ende 2014 die Realisierung der Umsetzungsplanung „Kindesschutz bei häuslicher
Gewalt 2015-2017“ (RRB 1393/2014) beschlossen und die Interventionsstelle gegen Häusliche Gewalt
beauftragt, vier Massnahmen und fünf Projekte umzusetzen. Die Massnahmen stützen sich auf die
Erfahrungen und die Evaluation einer zweijährigen Pilotphase „Kindesschutz bei häuslicher Gewalt im
Kanton Bern“26
.
Die Massnahmen zielen
auf eine Intensivierung und Institutionalisierung der Zusammenarbeit zwischen den Bereichen des
Kindes- und Jugendschutzes und der kantonalen Interventionsstelle Häusliche Gewalt, um mitbetroffene
Kinder bedarfsgerecht unterstützen zu können;
auf eine Information in allen Regionen des Kantons Bern über das Thema Kindesschutz bei häuslicher
Gewalt;
25
Für weitere Informationen siehe Cheseaux, Duc Marwood und Romain Glassey, 2013. 26
Die Evaluation und weitere Informationen finden Sie auf der Homepage der Berner Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt (in Deutsch und Franzö-sisch): http://www.pom.be.ch/pom/de/index/direktion/ueber-die-direktion/big/Kindesschutz.html.
Häusliche Gewalt – Informationsblatt
17 Gewalt gegen Kinder und Jugendliche 14
auf eine Überprüfung des Leitfadens zu Beratungsgesprächen mit Kindern mit den anwendenden Beratungsstellen sowie ein besseres Bekanntmachen des Leitfadens. Der Kanton Bern hat 2010 einen Leitfaden zum Umgang mit Kindern bei häuslicher Gewalt verabschiedet, der allen im Kanton mit Kindesschutz bzw. häuslicher Gewalt befassten Stellen und Institutionen als Grundlage dienen soll, eine einheitliche Haltung bei der Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls bei häuslicher Gewalt zu entwickeln. Dazu definiert er einheitliche Handlungsabläufe bei der Intervention zum Schutz der betroffenen Kinder und listet die bestehenden, im Bedarfsfall beizuziehenden, Hilfsangebote auf.
Zudem soll ein Leitfaden zuhanden Opferhilfe erarbeitet werden, um die Vorgehensweise bei
Kindeswohlgefährdungen zu vereinheitlichen.
Die genehmigten Projekte beinhalten nebst Weiterbildungsangeboten insbesondere auch ein
„Gruppenpsychotherapieangebot“, bei welchem mitbetroffene Kinder mithilfe von Geschichten und Figuren
auf ihre Ängste, Hoffnungen und Befürchtungen angesprochen werden.
b. Weitere Projekte und Informationen
Neben den Kantonen Bern, Zürich und Waadt engagieren sich auch weitere Kantone in diesem Bereich und
haben entsprechende Pilotprojekte zu zeitnaher Kinderansprache und Unterstützungsangeboten gestartet.
Die Dokumentationsstelle „Kinder und häusliche Gewalt“ des Kantonspolizei Thurgau bietet eine gute
Übersicht über die Projekte in der Deutschschweiz sowie Informationen über Veranstaltungen, politische
Vorstösse und Grundlagendokumente sowie zahlreiche Literaturhinweise.
Kantonspolizei Thurgau: Dokumentationsstelle „Kinder und häusliche Gewalt“
Für die Romandie: www.violencequefaire.ch
Buchtipp für mitbetroffene Kinder
Bildungsstelle Häusliche Gewalt Luzern (Hrsg.). 2011. Vom Glücksballon in meinem Bauch“. Kinder erleben
Häusliche Gewalt. Bilderbuch mit Begleitmaterial. Luzern.
Bestellung unter: www.verlagmebesundnoack.de/Vom-Gluecksballon-in-meinem-Bauch
Adressen
Adressen von Beratungs- und Unterstützungsangeboten können über die Koordinations-, Interventions- und
Fachstellen gegen häusliche Gewalt erfragt werden. Deren Adressen finden Sie auf der Webseite des
Fachbereichs Häusliche Gewalt des EBG unter dem Stichwort Koordination und Vernetzung.
c. Was kann die Schule tun?
Der wichtigen Rolle der Schule bzw. der Lehrpersonen bei der Erkennung und Unterstützung von
gewaltbetroffenen Kindern wird mittels Informationsbroschüren Rechnung getragen. Diese stellen wichtige
Informationen zu häuslicher Gewalt, den Auswirkungen auf Kinder und den Möglichkeiten der Unterstützung
der betroffenen Kinder durch die Schule zur Verfügung. Lehrpersonen werden dazu aufgefordert ihre
Verantwortung wahrzunehmen und unter Beizug professioneller Beratungsstellen zu helfen. Die Broschüren
geben auch Tipps wie sich Lehrpersonen verhalten sollten, wenn Kinder oder Eltern auf sie zukommen und
von Gewalt in der Familie berichten.
Häusliche Gewalt – Informationsblatt
17 Gewalt gegen Kinder und Jugendliche 15
Kanton Bern: „Häusliche Gewalt. Was kann die Schule tun?“, deutsch – französisch
Kanton Zürich: „Häusliche Gewalt – Was tun in der Schule?“
Kanton Thurgau „Häusliche Gewalt – Was kann/muss die Schule tun?“
Weitere Projekte finden Sie in der Toolbox des Fachbereichs Häusliche Gewalt FHG unter dem Stichwort
„Schule“.
6. Handlungsbedarf
In den letzten Jahren ist die Problematik der Mitbetroffenheit von Kindern und Jugendlichen bei Gewalt in
der elterlichen Paarbeziehung ins Blickfeld der Forschung und der Praxis getreten. Nicht nur auf
internationaler Ebene, sondern auch in der Schweiz beschäftigen sich immer mehr Institutionen mit diesem
Thema und versuchen diese Mitbetroffenheit zu thematisieren und auf die Bedürfnisse der Kinder und
Jugendlichen aufmerksam zu machen27
. Die Erkenntnis, dass Mitbetroffenheit von Gewalt in der elterlichen
Paarbeziehung eine Form von psychischer Gewalt ist und schwere Folgen für sie haben kann, selbst wenn
sie nicht direkt Ziel der Gewalt sind, setzt sich durch und führt dazu, dass diesem Problembereich mehr
Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Um die Situation mitbetroffener Kinder zu verbessern, stehen nebst der Unterstützung auch die Prävention
im Zentrum. Dazu werden insbesondere folgende Massnahmen empfohlen28
:
Sensibilisierung beteiligter Institutionen aber auch der Eltern für die Problematik;
Integration des Themas in schulische Konzepte zur Gewaltprävention;
Erkennen der betroffenen Kinder29
;
Schaffen von bedarfsspezifischen Unterstützungs- und Beratungsangeboten und Erleichterung des
Zugangs zu diesen Angeboten (insbesondere für betroffene Kinder);
Verbesserung der Koordination der involvierten Institutionen;
Anerkennung von mitbetroffenen Kindern als Opfer nach dem Opferhilfegesetz OHG;
Konsequente Inverantwortungsnahme des gewaltausübenden Elternteils, auch über
kindesschutzrechtliche Massnahmen.
27
Vgl. dazu vor allem die Studie „Häusliche Gewalt aus Sicht von Kindern und Jugendlichen“ von Corinna Seith im Rahmen des NFP 52 Programms; nähere Informationen dazu unter: http://www.nfp52.ch. 28
Vgl. unter vielen Stiftung Kinderschutz Schweiz 2009; Meier 2011; Bericht Bundesrat 2012. 29
In diesem Zusammenhang wird z.B. der Bundesrat ausgehend vom Postulat 12.3206 (Yvonne Feri) einen Bericht über den Stand der Umsetzung von Screenings zu innerfamiliärer Gewalt bei Kindern im schweizerischen Gesundheitswesen verfassen; weitere Informationen zum Postulat unter http://www.parlament.ch/.
Häusliche Gewalt – Informationsblatt
17 Gewalt gegen Kinder und Jugendliche 16
C. Quellen
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enschaftlicherSchlussbericht_2012_d.pdf
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Fällen häuslicher Gewalt. Schwerin.
Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats Fehr (07.3725) „Gewalt und Vernachlässigung in der
Familie: notwendigen Massnahmen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und der staatlichen
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http://www.bsv.admin.ch/themen/kinder_jugend_alter/00066/index.html?lang=de - sprungmarke0_23
Büchler Andrea. 2010. Zivilrechtliche Aspekte der Ausgestaltung der elterlichen Kontakte zu Kindern in
Fällen von Trennung nach häuslicher Gewalt, Gutachten zuhanden des EBG. Zürich.
https://www.ebg.admin.ch/ebg/de/home/dokumentation/publikationen/publikationen-zu-gewalt.html
Büchler Andrea. 2015. Elterliche Sorge, Besuchsrecht und Häusliche Gewalt. Die Zuteilung der elterlichen
Sorge und zivilrechtliche Aspekte der Ausgestaltung der elterlichen Kontakte zu Kindern bei Trennung nach
häuslicher Gewalt. Gutachten zuhanden des EBG. Zürich.
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Häusliche Gewalt – Informationsblatt
17 Gewalt gegen Kinder und Jugendliche 17
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Auf unserer Webseite www.ebg.admin.ch unter Häusliche Gewalt finden Sie weitere Informationsblätter zu
verschiedenen Aspekten des Themas häusliche Gewalt.
In der Schweiz existiert eine Vielzahl von Arbeits- und Informationsmaterialien zur Prävention, Intervention
und Postvention häuslicher Gewalt. Die Toolbox Häusliche Gewalt bietet Zugang zu diesem Fundus
praxiserprobter Materialien mit Schwerpunkt Gewalt in Paarbeziehungen. Dazu gehören Leitfäden,
Broschüren, Checklisten, Merkblätter, Unterrichtsmaterialien, Musterbriefe, Dokumentationen und anderes
mehr.