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Insel Verlag · 2015. 10. 25. · reflexiver Moderne heraus Gegenstrategien zu entwickeln. HeinrichWilhelmSchfer,1955,Dr.theol. habil.,Dr.phil.(Soziologie), ... eines Weltfriedens

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  • Ist Fundamentalismus das Symptom eines »Zusammenpralls der Kul-turen«? Wie funktioniert er? In welchem Verh�ltnis steht er zu denvielf�ltigen Gestalten der Moderne? Spielt der Bezug auf bestimmtereligiçse Inhalte eine Rolle? Was kann �berhaupt als »fundamenta-listisch« bezeichnet werden?Heinrich Sch�fer entwickelt einen handlungstheoretischen Funda-

    mentalismusbegriff mit zwei formalen Kriterien: Absolutsetzung desEigenen und gesellschaftliche Dominanzstrategie. UnterschiedlicheFundamentalismen bilden sich heraus unter den spezifischen Anfor-derungen von jeweils regionalen Modernen. Sie trachten, diese Mo-dernen zu ver�ndern – nicht sie einfach zu negieren. Dazu verwan-deln sie, aus der Position sozialer Zwischenschichten, gesellschaftlicheInteressenkonflikte in Identit�tskonflikte.Im islamischen Fundamentalismus bringt sich der Protest gegen

    eine von außen oktroyierte s�kulare Moderne zum Ausdruck, der –vermittelt �ber die religiçse Symbolik der »Einheit Gottes« – nachinnen und außen auf gewaltsamen Widerstand hinausl�uft. Der US-amerikanische Fundamentalismus ist dem politisch-religiçsen Ur-sprungsmythos der USA verpflichtet. Charismatisch-apokalyptischeReligiosit�t profiliert sich heute folglich u. a. in der Unterst�tzung he-gemonialer Außenpolitik. Weltweit gesehen beobachten wir einenKampf zwischen selbst gew�hlten Vertretern globaler Oberschichtund revolution�rer Mittelschicht.Europa steht dazwischen. Es hat die Chance, aus seiner Tradition

    reflexiver Moderne heraus Gegenstrategien zu entwickeln.

    HeinrichWilhelm Sch�fer, 1955, Dr. theol. habil., Dr. phil. (Soziologie),1983-86 Feldforschung zu religiçsen Bewegungen in B�rgerkriegenZentralamerikas; 1998-2003 Forschungsgruppe zu Religionen in derGlobalisierung,Weltkirchenrat, Genf; 1995-2003 Professor f�r Syste-matische Theologie und Soziologie in Lateinamerika; 2003-2006 Lehr-auftrag f�r Religionssoziologie, Hannover; seit 2006 ordentlicherProfessor f�r Systematische Theologie und Religionssoziologie, Bie-lefeld. Forschungsschwerpunkte: religiçse Identit�ten, StrategienundKonflikte; Friedensethik; Bourdieu; transnationale Pfingstbewe-gung; Fundamentalismus.

  • HEINRICH WILHELMSCH�FER

    KAMPF DERFUNDAMENTALISMEN

    RADIKALES CHR I STENTUM ,RADIKALER I S LAM

    UND EUROPAS MODERNE

    VERLAG DERWELTRELIGIONEN

  • Gefçrdert durch dieUdo Keller Stiftung Forum Humanum

    Bibliographische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

    in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographischeDaten sind im Internet abrufbar.

    http://dnb.d-nb.de

    � Verlag der Weltreligionenim Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2008

    Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der �bersetzung,des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragung

    durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

    (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

    oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.Einband: Hermann Michels und Regina Gçllner

    Satz: H�mmer GmbH,Waldb�ttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

    Bindung: Buchbinderei Lachenmaier, ReutlingenPrinted in GermanyErste Auflage 2008

    ISBN 978-3-458-71017-2

    1 2 3 4 5 6 – 13 12 11 10 09 08

  • KAMPF DER FUNDAMENTALISMEN

    7

  • f�rK

    8

  • INHALT

    Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Pr�missen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

    Fundamentalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18Religiçse Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22Modernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

    2 Im Haus des Islams . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32Ungl�ubige – Moderne als Herrschaft . . . . . . . . . . 32

    Modernisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33Herrschaft und Islamismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 37Konfliktstrukturen – Moderne als doppelteUnterwerfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

    Es gibt keinen Gott außer Gott – Theologie . . . . 50Wahrnehmung – doppelte Unterwerfung . . . . . 51Sunna – die Einheit der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . 54Shı̄ ’a – die Geistlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71Apokalyptik – Herrschaft und Zeit . . . . . . . . . . 74

    Und Muhammad ist sein Prophet – Strategien . . . 77Religiçse Revolution? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78Das Feld der Ehre – Zivilreligion des Islams? . 87Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

    3 America! America! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95God’s own Country – Moderne als Freiheit . . . . . 96Vorl�ufer – Die Stadt auf dem Berge . . . . . . . . . 96Der Kampf um ›America‹ und die Welt . . . . . . . 104Konfliktstrukturen – Moderne als dreifacheChance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

    Praise the Lord – Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122Wahrnehmung – Konflikt als Chance . . . . . . . . 123Wort – Bibel und Prophetie . . . . . . . . . . . . . . . . . 127Raum – Geist und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135Zeit – Apocalypse now? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

    9

  • And Pass the Ammunition! – Strategien . . . . . . . . 149Religiçse Konterrevolution? . . . . . . . . . . . . . . . . 153Ground Zero – Zivilreligion ›Americas‹? . . . . . 166Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

    4 Kampfzone und Alarm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177Macht und Gerechtigkeit – Ressourcen Global . . 179Bruch und Untergang – Politische Theologien . . . 189

    5 Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198Revolution, Politik und Religion – ZumSonderstatus Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199Technokratie und Demokratur – Fundamentalis-mus der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206Freiheit, Gleichheit, Br�derlichkeit – Europ�ischeIdentit�tspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

    Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240

    10 inhalt

  • VORWORT

    Es eifre jeder seiner unbestochenen,von Vorurteilen freien Liebe nach!Lessing, Ringparabel

    Die These vom Kampf der Kulturen sei zweifellos richtig,denn der Koran sehe diesen Kampf durchaus vor, und die Ideeeines Weltfriedens sei nur ein westliches M�rchen, sagte Osa-ma bin Laden im Oktober 2001 in einem Interview mit demJournalisten Tayseer Allouni.1 Diese Sicht auf die gegenw�r-tige Weltlage eint ihn mit Pat Robertson, Jerry Falwell und an-derenAngehçrigen des fundamentalistischenund ›theokonser-vativen‹ Establishments in den USA sowie mit Theoretikernder US-amerikanischen Außenpolitik.

    Die Behauptung, es tobe ein Kampf der Kulturen bezie-hungsweise der Religionen, dient Fundamentalisten h�benund dr�ben dazu, den Rest der Welt auf ihre Weltsicht ein-zuschwçren. Sie ist eing�ngig. Wie viele falsche Ansichten re-klamiert sie die Evidenz des ersten Eindrucks f�r sich. Des-halb wird sie leichtfertig in Medien und Politik wiederholt.Liberal denkende Menschen begeben sich damit der Mçglich-keit, komplexe Sachlagen differenziert zu bedenken. Funda-mentalisten hingegen sind mit der flachen These bestens be-dient. Sie eignet sich zur Mobilisierung und Polarisierung.Fundamentalisten brauchen einen Kampf der Kulturen undder Religionen; sie brauchen die Abgrenzung, die Frontlinien.So war in der fundamentalistischen Literatur des Westensschon Anfang der neunziger Jahre, sehr bald nach dem Zu-sammenbruch des »real existierenden Sozialismus«, der Islamals geborener Feind der westlichen Zivilisation beherrschen-des Thema. Ein Kampf der Kulturen ereignet sich, nach fun-damentalistischer Sicht, heute vor allem zwischen Islam undChristenheit.

    11

  • Die These vom Kampf der Kulturen2 hat sich in den einein-halb Jahrzehnten seit ihrer Publikation allerdings auch zueinem starken politikbestimmenden Paradigma entwickelt.Wenn religiçse Fundamentalisten mit diesemWeltmodell ope-rieren, erhçhen sie ihren eigenen politischen Einfluß und ra-dikalisieren zugleich das Modell. Wenn das Modell nichtschon immer fundamentalistisch war,3 so wird es sp�testensjetzt zu einem Instrument im Kampf der Fundamentalistenverschiedener Couleur gegeneinander und um die Hegemoniein ihren jeweils eigenen Kulturen. Mit der Rede vom Kampfder Kulturen erwecken Fundamentalisten den Eindruck, ihrKampf sei ein Kampf aller, und sie seien die legitimen Repr�-sentanten der Zivilisationen, die sie beherbergen – ein alterfundamentalistischer Traum: ganze Gesellschaften f�r die ei-genen Ziele zu mobilisieren.Als liberal denkender Mensch – gleich ob Muslim, Christ

    oder Agnostiker – weiß man hingegen: In den ›Grenzberei-chen‹ der Kulturen gibt es weniger Bruchlinien und Konflikteals weite Felder toleranten und kooperativen Handelns. Undwer lange im Ausland gelebt hat, weiß auch, daß Fremdheitund Befremden normal sind und noch lange keinen Kampfvon Kulturen oder Religionen heraufbeschwçren. Je mehraber geistiger Provinzialismus und/oder Dominanzbestrebendie Sicht begrenzen und das Eigene als absolut erscheinen las-sen, um so bedrohlicher erscheint das Fremde – ganz gleich,ob das Eigene eine religiçse oder eine nichtreligiçse �berzeu-gung ist. Je mehr also das Modell des Kampfes der Kulturenhandlungsleitend wird f�r Politik, Gesellschaft und Religion,um so gef�hrdeter sind diese Felder gemeinsamen Lebens.Um die Spielr�ume der Freiheit, des Zusammenlebens undder Kooperation offenzuhalten, ist es n�tzlich, die Logikder Fundamentalisten zu begreifen und ihren Strategien denBoden zu entziehen.

    Es ist allerdings auch unerl�ßlich, einen kritischen Blick aufden Begriff der Moderne zu werfen. Nicht selten hçrt man,Fundamentalisten f�hrten einen militanten Kampf gegenden modernen Westen und seine Errungenschaften, wie etwa

    12 vorwort

  • eine s�kulare Legitimation von Politik. Was aber beinhaltetder Begriff der ›Moderne‹, insbesondere der der ›westlichenModerne‹? Werden hier nicht unbedacht normative Inhaltemittransportiert, die sich angesichts der historischenModerni-sierungsprozesse im Westen wie �berall sonst auf der Welt�berhaupt nicht halten lassen?Kommt ein normativer und ein-zig auf ›den Westen‹ konzentrierter Begriff ›der Moderne‹nicht allzu leicht in das Fahrwasser der interkulturellen und in-terreligiçsen Kulturkampf-Rhetorik? Es spricht vieles daf�r,auch den Begriff der Moderne einer Pr�fung zu unterziehen,wenn man ein wirksames Gegengift gegen fundamentalisti-sche Praxis zu entwickeln sucht, ohne sich selbst in den Kampfder Fundamentalismen verwickeln zu lassen.

    Dieser Kampf der Fundamentalismen hat mittlerweile dieGestalt weltweiten Terrors und Gegenterrors angenommen –ein Krieg des Terrors viel eher als ein ›Krieg gegen den Terror‹.Die fundamentalistischen Zentren liegen irgendwo im mittle-ren Osten – vielleicht immer noch im pakistanisch-afghani-schen Grenzgebiet – und am Potomac River.4 Im Kampf derFundamentalismen ist Europa zwischen die Fronten geraten –und zwar auch deshalb, weil es in Europa keinen genuinen reli-giçsen Fundamentalismus gibt. Das birgt politische, kulturelleund religiçse Vermittlungschancen f�r Europa. Diese liegenaber gerade nicht in einem programmatischen S�kularismus,sondern in einem besonderen Selbstverst�ndnis europ�ischerKultur sowie in einem spezifischen Verh�ltnis von Kultur undReligion. Dieses wird in besonderer Weise vom hermeneuti-schen Strang europ�ischer Moderne repr�sentiert, den ichim letzten Kapitel diskutieren werde.

    In diesem Buch – in gewissem Sinne ein Essay – werde ichin knapper Form �berlegungen zu den genannten Fragestel-lungen vortragen. Zu Beginn mçchte ich einige Pr�missenmeiner �berlegungen darlegen. Die beiden wichtigsten Vor-aussetzungen sind eine sehr formale Definition dessen, wasFundamentalismus ist, sowie eine Differenzierung des Be-griffs der Moderne. Unter diesem Blickwinkel werde ich allesWeitere entwickeln und damit ausprobieren, essayer, was eine

    13vorwort

  • solche Definition zum Vorschein bringt. Zun�chst werde ichreligiçse Bewegungen in der islamischen Welt sowie in denUSA skizzieren und fundamentalistische Z�ge an ihnen aufzei-gen. Sodann werde ich einige Bedingungen des Kampfes derFundamentalismen erçrtern. Abschließend werde ich einige�berlegungen zu drei Strçmungen der europ�ischenModernein diesem Kontext anstellen.

    Der Fokus auf den Kampf der islamischen und US-amerika-nischen Fundamentalismen und die Zwischenposition Euro-pas kçnnte den Eindruck erwecken, daß ich in islamischenL�ndern und in den USA keine liberal und tolerant denkendenMenschen vermute. Das Gegenteil ist der Fall. Es gibt sehrviele, von denen ich das Gl�ck habe, ein ger�ttelt Maß zu ken-nen. Nur geht es in diesem Buch eben nicht um Liberalit�t undToleranz, sondern um einen ganz besonderen Typ der Gefahrf�r diese Tugenden. Wenn also im letzten Kapitel von einerhermeneutisch begr�ndeten pluralistischen Einstellung zurWirklichkeit die Rede ist, dann ist immer auch mitgedacht,daß es rund umdenGlobus vieleMenschen gibt, die – entspre-chend den spezifischen Formen ihrerKulturen – ebenfalls Plu-ralit�t f�r normal halten, kritisch ihre eigene Endlichkeit re-flektieren und so �ber Grenzen hinweg gespr�chsf�hig sind.

    Mit Fundamentalismenbesch�ftige ichmich seit Anfang derachtziger Jahre. In dieser Zeit der Revolutionen war ich in Mit-telamerika zun�chst in der Entwicklungszusammenarbeit t�-tig. Sodann f�hrte ich ein Forschungsprojekt �ber religiçseBewegungen in Kriegsgebieten durch. FundamentalistischeOrganisationen aus den USA kamen dabei wie selbstverst�nd-lich in den Blick und wurden von mir mittels Feldforschungin den USAuntersucht. Die iranische Revolutionwar in doppel-ter Hinsicht aus der Ferne interessant: Sie war eine Revolutionwie andere in der Dritten Welt auch, doch sie war als religiçseVeranstaltung eben auch ganz anders als die anderen. �ber dieJahre habe ichmich immer wieder mit demThemabesch�ftigt,zuletzt zwischen 1998 und 2003 am akademischen Zentrumdes Weltrates der Kirchen in Bossey (Genf ) unter der Leitungvon Julio de Santa Ana in einer internationalen Forschungs-

    14 vorwort

  • gruppe zu FragenvonReligionundGlobalisierung.Die imvor-liegenden Buch zur Sprache kommenden Beobachtungen und�berlegungen sind aus den langj�hrigen Detailstudien all die-ser Projekte entstanden.

    Es sei noch eine Anmerkung zum Sprachgebrauch gemacht.Das Land ›Vereinigte Staaten von Amerika‹ wird hierzulandeoft mit dem K�rzel ›Amerika‹ bezeichnet. Mir f�llt das schwer,denn meine Familie und ich haben etwa 15 Jahre in Lateiname-rika gelebt – also auch in ›Amerika‹, nur eben nicht in den ›Ver-einigten Staaten von . . .‹. Etwas spitzfindig kçnnte man mei-nen, daß die Benennung der USA mit ›Amerika‹ dieses eineLand f�r das Ganze des Kontinents nimmt, daß dieses Parspro toto sozusagen eine semantische Verdichtung der Mon-roe-Doktrin darstellt. Ich werde im folgenden hingegen spezi-fisch zu reden versuchen. Eine hçfliche Form scheint mir zusein, in deutscher Sprache die USAmit dem Eigennamen anzu-reden, den die dortigen B�rger ihrem Land selbst geben:›America‹. Diese Selbstbezeichnung konnotiert die dortigeModerne als ein spezifisches zivilisatorisches Projekt – im Un-terschied zu anderen amerikanischen Projekten von Moderne,etwa dem von Costa Rica oder dem von Brasilien.

    Bevor ich mit meinen Ausf�hrungen zur Sache beginne,mçchte ich noch einigenMenschen danken, die zumGelingendes Buches beigetragen haben. Initial mçchte ich dem Bielefel-der Kollegen Wilhelm Heitmeyer f�r den richtigen Tip imrichtigen Moment danken. Dann ist es mir ein Vergn�gen,dem alten Genfer Kollegen und Freund Ulrich Schoen, denHannoveraner Kollegen Peter Antes und Ina Wunn (drei Reli-gionswissenschaftlern und Islam-Experten also) sowie HerrnPatrick Hahne, Jens Kçhrsen und Leif Seibert f�r ein kriti-sches Gegenlesen und n�tzliche Hinweise zu danken. MeinerNew Yorker Kollegin Marcia Pally danke ich f�r anregendeGespr�che �ber Religion in ›America‹ und die �berlassungeines luziden Vortrags. Und last, but not least mçchte ich mei-nem Team einen herzlichen Dank aussprechen f�r Unterst�t-zung mit Recherche, Lauferei, arabischen Umschriften, Com-puterbasteleien und den vielen technischen T�tigkeiten, die

    15vorwort

  • immer in der letzten Minute erledigt werden m�ssen: AnnaHçcker, Kareba Mahmut, Natascha Nemetschek, Elena Ram-baks und Axel Stockmeier; und – in letzter Minute – JuliaGeisweid und Max Klasen. Meiner Familie sei ganz beson-ders herzlich daf�r gedankt, daß sie mich vier Wochen langauf tiefer akademischer ›Tauchstation‹ mit mehr als nur Sauer-stoff versorgt hat.

    Bielefeld, Ostern 2007

    16 vorwort

  • 1PR�MI S SEN

    Fundamentalisten sind immer die anderen – so jedenfalls inder politischen und religiçsen Polemik. Manche Forscher mei-nen, man solle deshalb besser auf den Begriff verzichten undsich den sozialen Lagen und den sachlichen Interessen derjeweiligen Bewegungen zuwenden.1 Man kann auch eine an-dere Schlußfolgerung ziehen. Der Begriff ist inGebrauch, alsosollte man ihn nicht der Polemik �berlassen. Mir scheint zwei-erlei nçtig: Wir sollten einen Fundamentalismusbegriff ver-wenden, den die jeweils anderen auch auf seine Verwenderanwenden kçnnen. Er sollte darum so formal wie mçglich aus-fallen. Zudem sollte der Begriff nicht zum Pauschalisieren tau-gen, sondern zum genauen Hinsehen auf die Lagen und Anlie-gen von Akteuren anleiten. Marty und Appleby haben schonvor ihrem großen Forschungsprojekt darauf aufmerksam ge-macht:DieAmish-Familie Yoder lebt religiçsklar definiert, tra-ditionell und zur�ckgezogen – nicht fundamentalistisch. DieFamilie Morris, obere Mittelschicht und Southern Baptist, istebenfalls religiçs aktiv – und zwar fundamentalistisch.2 Esist also nicht alles fundamentalistisch, was man aus seiner eige-nen Perspektive daf�r h�lt. Nur ein relativ enger Fundamenta-lismus-Begriff ermçglicht entsprechende Unterscheidungen.

    Zudem ist ›Fundamentalismus‹ keine Wesenheit. Begriffesind nur Modelle – eine sp�tmoderne Selbstverst�ndlichkeit,die allerdings immer wieder aus dem Blick ger�t, wenn von›dem‹ Islam, ›dem‹ Monotheismus, ›dem‹ Westen usw. die Re-de ist. Religion generell w�re falsch verstanden, wenn man sieessentialistisch begriffe, als ein ›Ph�nomen sui generis‹ zumBeispiel, als ein ›Etwas‹ also, das vollkommen aus sich selbstheraus entst�nde und so interpretierbar w�re. Ich begreife Re-ligion, wie ich weiter unten noch skizzieren werde, als prakti-

    17

  • sche Logik, eine Form »sinnlich menschlicher T�tigkeit«(Marx), wenn man so will, f�r deren Verst�ndnis die praxeolo-gische Soziologie Pierre Bourdieus sich vorz�glich eignet.Fundamentalisten sind aus dieser Sicht Menschen, die sichin sozialen Bewegungen organisieren und mit bestimmtenProblemen ihrer Gesellschaften auseinandersetzen, die f�rsie wichtig sind. Das Grundproblem f�r Fundamentalisten,so heißt es h�ufig, sei ›die‹ Moderne. Doch auch f�r ›die‹ Mo-derne trifft zu, was f�r den Fundamentalismusbegriff zutrifft:Moderne ist keine eindeutige Wesenheit, sondern eine hçchstvielgestaltige Form menschlicher Praxis.

    Unter diesen Voraussetzungen sei zun�chst der Begriff desFundamentalismus definiert.

    fundamental i smus

    Im Unterschied zu vielen anderen Forschern schlage ich hiereinen strikt formalen Begriff3 des religiçsen Fundamentalis-mus vor: Fundamentalistisch sind solche Bewegungen, die(1) religiçse �berzeugungen (irgendwelche Glaubensinhalte)absolut setzen und (2) daraus eine gesellschaftliche Dominanz-strategie ableiten, die das private und çffentliche Leben demDiktat ihrer religiçsen �berzeugungen zu unterwerfen sucht.Der Kontext (3) f�r eine solche Strategie ist die grundlegendePolitisierung aller Lebensverh�ltnisse in Modernisierungspro-zessen.

    Das erste Kriterium zielt auf eine bestimmte Art der Identi-t�tsbildung ab. Die Akteure ziehen un�berwindbare Grenzengegen�ber anderen, indem sie ihrer eigenen Glaubens�berzeu-gung absolute (und damit auch universale) Geltung zuschrei-ben. Die Absolutsetzung von �berzeugungen ist – entgegeneinem verbreiteten Irrtum – keineswegs allgemeine religiçsePraxis. Religiçser Umgang mit dem Absoluten ist hçchst diffe-renziert.4 Fundamentalisten setzen sich durch Verabsolutie-rung zun�chst von liberalen Angehçrigen ihrer eigenen Re-ligion ab, die zu H�retikern abgestempelt werden. Sodann

    18 1 pr�missen

  • heben sie sich religiçs-symbolisch aus ihrem jeweiligen gesell-schaftlichen Diskurs- und Herrschaftszusammenhang heraus.Der zur Identit�tskonstruktion verwendete Glaubensinhaltkann dabei sehr unterschiedlich sein; er ist keineswegs immereine Schrift (die Bibel oder der Koran), wie das von vielen Au-toren betont wird. Fundamentalisten kçnnen auch den Mahdı̄,die Kraft des Heiligen Geistes, das Beispiel der Herrschaft desPropheten in Medina oder sonst etwas favorisieren. In jedemFalle ist mit der Art der Selbstzuschreibung immer eine pas-sende Art der negativen Fremdzuschreibung von Identit�tauf die Gegner verbunden. Die jeweiligen Glaubensinhaltesind dabei allerdings nicht gleichg�ltig. Sie sind an religiçseTraditionen gebunden, entsprechen einer spezifischen Wahr-nehmung gesellschaftlicher Krisen und sind an den gesell-schaftlichen Handlungschancen der Akteure orientiert. Nurso kçnnen sie religiçsen Sinn stiften, spezifische Identit�tenherausbilden, zur gesellschaftlichen Mobilisierung beitragenund �ber religiçse Identit�tsbezeugungen Politik gestalten.

    Das zweite Kriterium schr�nkt den Fundamentalismusbe-griff auf Dominanzstrategien ein. MaxWeber hat zwischen re-ligiçsen Strategien der Weltflucht und der Weltbeherrschungunterschieden. Wenn man beide auf den Fundamentalismus an-wendet,5 wird der Begriff unscharf. Menschen, die sich vor ex-tremer Repression sch�tzen, indem sie sich in eine abgeschlos-sene Gemeinschaft zur�ckziehen und die Welt fliehen, ihreMitmenschen ansonsten aber in Frieden lassen und sie freund-lich gr�ßen, sollten nicht als Fundamentalisten bezeichnetwerden. Schon Martin Marty weist mit dem zitierten Beispielder Amish-Familie Yoder hierauf hin. Einweiter Fundamenta-lismusbegriff w�rde solche Menschen mit Zeitgenossen zu-sammenw�rfeln, die ihre Existenzberechtigung darin sehen,der �ffentlichkeit durch Identit�tspolitik absolute Begriffevon Gut und Bçse aufzunçtigen oder gar Gewalt zu diesemZwecke anzuwenden. Mit einer breit angelegten empirischenUntersuchung konnte ich genau dies f�r die Pfingstbewegungin der j�ngeren lateinamerikanischen Moderne nachweisen:Es gibt in ein und derselben religiçsen Bewegung Strçmun-

    19fundamental i smus

  • gen, die sich in Enklaven zur�ckziehen, und andere, die ag-gressive politische und wirtschaftliche Machtstrategien verfol-gen. Beide setzen ihre religiçsen �berzeugungen absolut, dieeinen zum Schutz, die anderen zum Machterwerb. Wenn derFundamentalismusbegriff in religiçsen, sozialen und politi-schen Zusammenh�ngen trennscharf sein soll, empfiehlt essich, mit Shmuel Eisenstadt6 dem ›jakobinischen‹ Charakterdes Fundamentalismus besonderes Gewicht beizumessen.Fundamentalisten versuchen, bestimmte Praxisfelder odergar ganze Gesellschaften nach ihrem in gesellschaftspoliti-schen Utopien geronnenen Glauben zu gestalten – notfalls,aber keineswegs immer, mit Gewalt. Genau diese aktive Teil-nahme an der grundlegenden Politisierung der Gesellschaft(und nicht der Gebrauch von Medien und Boden-Luft-Rake-ten) macht Fundamentalismen zu modernen sozialen Bewegun-gen.

    Die beiden genannten Kriterien – Absolutsetzung und Do-minanzstrategie – sind abh�ngig voneinander. Eine be-stimmte Handlungsweise kann nur dann als fundamentali-stisch bezeichnet werden, wenn sie beiden Kriterien gen�gt.Die bloße Absolutsetzung eigener �berzeugungen kann, wieschon gesagt, ein Schutz gegen Repression sein, ohne daß Uni-versalit�tsanspr�che praktisch geltend gemacht oder wirksamwerden. Absolutsetzung der eigenen �berzeugungen ist alsonur im Zusammenhang mit Dominanzstrategien fundamenta-listisch. Umgekehrt kann man keineswegs jede revolution�reBewegung, die etwa gegen einen Diktator rebelliert, um allge-meine politische Beteiligung durchzusetzen, nur deshalb alsfundamentalistisch bezeichnen, weil sie von ihrem Recht aufgewaltsamen Widerstand Gebrauch macht. Die Revolutionin ›America‹ zum Beispiel wandte Gewalt an, um Demokratiezu etablieren. Gesellschaftliche Dominanzstrategien sind alsonur im Zusammenhang mit Absolutsetzung fundamentali-stisch.

    Zudem wird deutlich, daß es nicht viel Sinn hat, von ›dem‹Fundamentalismus zu reden. Wenn man annimmt, daß ver-schiedene Bewegungen mit sehr unterschiedlichen Glaubens-

    20 1 pr�missen