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Kapitel 8 Anwendung des Lagrangre-Formalismus 8.1 Eindeutigkeit der Lagrange-Funktion Die Lagrange-Funktion, die nach dem Hamiltonschen Prinzip die Bewegung eines Systems charakterisiert, ist offenbar unbestimmt bez¨ uglich der Addition eines konstanten Faktors: Addiert man eine Konstante a zur Lagrange-Funktion, dann erh¨ oht sich die Wirkung S in Gleichung (7.29) um den konstanten Wert (t 2 t 1 )a, v¨ ollig unabh¨ angig von der durchlaufenen Bahnkurve. Dar¨ uberhinaus ist die Lagrange-Funktion auch unbestimmt gegen¨ uber der Addition einer beliebigen Funktion F (q, ˙ q,t), die sich als totale Ableitung nach der Zeit einer Funktion f (q,t) schreiben l¨ aßt, die von den Koordinaten und von der Zeit, nicht aber von den Geschwindigkeiten abh¨ angt: F (q, ˙ q,t)= d dt f (q,t). (8.1) Denn das bestimmte Integral von F liefert einen Beitrag t 2 t 1 F (q, ˙ q,t) dt = t 2 t 1 d dt f (q,t) dt (8.2) = f (q(t 2 ),t 2 ) f (q(t 1 ),t 1 ) , der nur von den Randpunkten abh¨ angt, sonst aber v¨ ollig unabh¨ angig von der durchlaufenen Bahn ist. Ein Beispiel f¨ ur eine solche Funktion ist F = a ˙ q, wobei a eine Konstante ist. Das heißt jedoch nicht, daß es keine geschwindigkeitsabh¨ angigen Potentiale gibt. Die Lagrangefunktion eines Elektrons in elektrischen und magnetischen Feldern aßt sich beispielsweise wie folgt schreiben: L = m 2 v 2 e(φ v · A). (8.3) 65

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Kapitel 8

Anwendung desLagrangre-Formalismus

8.1 Eindeutigkeit der Lagrange-Funktion

Die Lagrange-Funktion, die nach dem Hamiltonschen Prinzip die Bewegung einesSystems charakterisiert, ist offenbar unbestimmt bezuglich der Addition eineskonstanten Faktors: Addiert man eine Konstante a zur Lagrange-Funktion, dannerhoht sich die Wirkung S in Gleichung (7.29) um den konstanten Wert (t2 −t1)a, vollig unabhangig von der durchlaufenen Bahnkurve. Daruberhinaus ist dieLagrange-Funktion auch unbestimmt gegenuber der Addition einer beliebigenFunktion F (q, q, t), die sich als totale Ableitung nach der Zeit einer Funktionf(q, t) schreiben laßt, die von den Koordinaten und von der Zeit, nicht aber vonden Geschwindigkeiten abhangt:

F (q, q, t) =d

dtf(q, t). (8.1)

Denn das bestimmte Integral von F liefert einen Beitrag t2

t1

F (q, q, t) dt =

t2

t1

d

dtf(q, t) dt (8.2)

= f(q(t2), t2)− f(q(t1), t1) ,

der nur von den Randpunkten abhangt, sonst aber vollig unabhangig von derdurchlaufenen Bahn ist.

Ein Beispiel fur eine solche Funktion ist F = aq, wobei a eine Konstante ist.Das heißt jedoch nicht, daß es keine geschwindigkeitsabhangigen Potentiale gibt.Die Lagrangefunktion eines Elektrons in elektrischen und magnetischen Feldernlaßt sich beispielsweise wie folgt schreiben:

L =m

2v2 − e(φ− v ·A). (8.3)

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Auch wenn das Vektorpotential A nicht von der Zeit abhangt, wenn also gilt

∂A

∂t= 0, (8.4)

laßt sich der Ausdruck v ·A im Allgemeinen trotzdem nicht als totale Ableitungnach der Zeit einer Funktion f(q, t) schreiben, denn die totale Ableitung desVektorpotentials nach der Zeit,

dA

dt=∂A

∂t+∂A

∂x

∂x

∂t+∂A

∂y

∂y

∂t+∂A

∂z

∂z

∂t, (8.5)

kann trotzdem von Null verschieden sein, wenn das Vektorpotential A raumlichnicht konstant ist.

Dagegen laßt sich die Funktion F = q2 nicht als totale Ableitung der Zeit einerFunktion f(q, t) schreiben. Wir konnen also nicht ohne weiteres einen Ausdruck,der proportional zur kinetischen Energie ist, zur Lagrangefunktion hinzufugen,ohne daß sich die resultierende Bahnkurve andert.

Wegen der Homogenitat und der Isotropie des Raumes muß die Lagrangefunk-tion invariant unter einer Translation oder Rotation des Koordinatensystems sein.Die Lagrangefunktion darf also nicht explizit von der Zeit oder den Koordinatenoder von der Richtung der Geschwindigkeiten abhangen. Wir konnten die La-grangefunktion daher als Funktion des Betrages der Geschwindigkeit schreiben.ublich, und vollig aquivalent, ist es, eine Lagrangefunktion L(q2) in Abhangigkeitdes Quadrats der Geschwindigkeit zu formulieren.

8.2 Das freie nicht-relativistische Teilchen

Wir versuchen im Folgenden, aus grundlegenden Annahmen die Lagrange-Funktion fur ein freies Teilchen zu bestimmen und allgemeine Aussagen fur dieLagrange-Funktion eines Systems wechselwirkender Teilchen zu gewinnen. Wirbeschranken uns zunachst auf Teilchen mit niedrigen Geschwindigkeiten, so daßwir die Galilei-Transformation verwenden konnen, und behandeln danach relati-vistische Teilchen, die die Lorentz-Transformation erfordern.

Betrachten wir ein freies Teilchen in einem Inertialsystem S. Dabei soll einInertialsystem ein Bezugssystem sein, das homogen bezuglich Raum und Zeit undisotrop bezuglich des Raumes sein. Das heißt, eine Verschiebung oder eine Dre-hung der Koordinatenachsen im Raum soll die Bewegungsgleichung nicht andern.Das Gleiche soll fur eine Verschiebung der Zeitachse und fur eine Transformationin ein gegenuber dem ursprunglichen Koordinatensystem gleichformig bewegtesKoordinatensystem gelten.

Aus der Homegenitat des Raumes folgern wir, dass die Lagrange-Funktion Lnicht vom Ort r des Teilchens abhangen darf, da sonst eine Verschiebung desKoordinatensystems zu einer anderen Bewegungsgleichung des Teilchens andern

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wurde. Aus der Isotropie des Raumes folgt, dass L nicht von der Richtung derGeschwindigkeit abhangen darf, da die Bewegungsgleichung sich andernfalls beieiner Drehung des Koordinatensystems andern wurde.

Die Lagrange-Funktion fur ein freies Teilchen muss sich daher als Funktion desQuadrats des Geschwindigkeitsvektors schreiben lassen. Als Ansatz verwendenwir eine zunachst unbekannte Funktion F (w) mit w = v2 und schreiben

L(v) = F (w) (8.6)

Nach dem Galileischen Relativitatsprinzip mussen wir zur gleichen Bewegungs-gleichung gelangen, wenn wir das Teilchen aus einem zweiten Inertialsystem S’beobachten, das gegenuber dem ersten mit der konstanten Geschwindigkeit du be-wegt ist, die wir hier infinitesimal klein wahlen wollen. Die Lagrange-Funktionenim in den Systemen S und S’ durfen sich deshalb, wie oben gezeigt, hochstensum die totale Ableitung einer Funktion f(r), die nur vom Ort r abhangt, unter-scheiden:

L(v − du) = L(v) +d

dtf(r) = L(v) +

∂f

∂r· v . (8.7)

Da wir die Relativgeschwindigkeit du hier infinitesimal klein gewahlt haben,konnen wir mit (8.6) die Lagrange-Funktionen im System S’ auch in der Form

L(v − du) = L(v) +∂F

∂w

∂w

∂v· du = L(v) +

∂F

∂w2v · du . (8.8)

Daraus folgt∂F

∂w2v · du =

∂f

∂r· v . (8.9)

Da die vorstehende Gleichung fur beliebige Geschwindigkeiten v gelten muss,folgt:

∂F

∂w2du =

∂f

∂r. (8.10)

Da in dieser Gleichung die Variable w nur im Faktor ∂F/∂w auftritt, muss Feine lineare Funktion in w sein:

F (w) = αw + β . (8.11)

Da konstante Terme in der Lagrange-Funktion unerheblich sind, wahlen wir β =0. Der konstante Faktor α bleibt vorerst unbestimmt, denn im Falle freier Teilchenkann er beliebig gewahlt werden, da aus der Lagrange-Funktion

L(v) = αv2 (8.12)

unabhangig von der Wahl des Faktors α immer die Bewegungsgleichung

d

dt

∂L

∂v

= 2α

dv

dt= 0 , (8.13)

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alsov = const. (8.14)

folgt.Betrachten wir nun zwei freie, nicht miteinander wechselwirkende Teilchen,

die durch die Lagrange-Funktionen L1 und L2 beschrieben werden sollen. EineLagrange-Funktion L fur das Gesamtsystem, das aus diesen beiden freien Teilchenbesteht, hat in voller Allgemeinheit die Form

L(v1,v2) = L1(v1) + L2(v2) + L1,2(v1,v2) . (8.15)

Partielle Ableitung nach v1 und nachfolgende totale Ableitung nach der Zeitliefert

d

dt

∂L

∂v1

=

d

dt

∂L1

∂v1

+d

dt

∂L1,2

∂v1

. (8.16)

Nun wird die Bewegungsgleichung des ersten Teilchens, die ja nach Voraussetzungnicht vom zweiten Teilchen abhangig sein soll, schon vollstandig durch den erstenSummanden auf der rechten Seite von Gleichung (8.16) beschrieben. Die Funkti-on L1,2(v1,v2) muss also dergestalt sein, dass sie nichts zur Bewegungsgleichungdes ersten Teilchens beitragt. Fur das zweite Teilchen konnen wir genauso argu-mentieren, so dass wir die Funktion L1,2 weglassen und die Lagrange-Funktiondes Gesamtsystems in der Form

L(v1,v2) = L1(v1) + L2(v2) (8.17)

schreiben konnen. Wenn wir statt zwei freien, nicht wechselwirkenden Teilchenviele solcher Teilchen betrachten, konnen wir ahnlich vorgehen. Allgemein konnenwir daher die Lagrange-Funktion eines Systems von N nicht wechselwirkendenTeilchen als Summe der N Lagrange-Funktionen fur einzelne freie Teilchen schrei-ben:

L(v1,v2, . . . ,vN) = α1v21 + α2v

22 + . . .+ αNv

2N . (8.18)

Im Falle eines Systems von Teilchen, die miteinander wechselwirken, mussenwir die Lagrange-Funktion (8.18) um einen Term erganzen, der diese Wechselwir-kung berucksichtigt. Die Erfahrung lehrt, dass sich in der Mechanik alle Wech-selwirkungen zwischen zwei Teilchen durch eine Funktion beschreiben lassen, dieausschließlich vom Abstand zwischen den beiden Teilchen abhangt. Die Lagrange-Funktion lautet dann

L(v1,v2, . . . ,vN) =Ni=1

αiv2i −

i,j

Ui,j(|ri − rj|) . (8.19)

Offenbar gilt∂Ui,j

∂ri= −∂Ui,j

∂rj, (8.20)

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eine Aussage, die aquivalent zum dritten Newtonschen Gesetz ist. Im Falle vonwechselwirkenden Teilchen sind die konstanten Faktoren αi nicht mehr beliebig,denn wir erhalten die Bewegungsgleichungen

dv

dt=

1

2αi

j

∂(Ui,j + Uj,i)

∂ri. (8.21)

Die Funktionen Ui,j geteilt durch den Faktor αi legen eine Eigenschaft des Teil-chens i fest, namlich wie stark das Teilchen durch Wechselwirkungen mit anderenTeilchen beschleunigt wird. Wir konnen also nicht uber die Ui,j und uber die αi

gleichzeitig frei verfugen. Sobald wir etwa α1 willkurlich bestimmt haben, sind alleU1,j und damit wiederum alle ubrigen αi festgelegt. Um zur gleichen Schreibweisewie in der Newtonschen Mechanik zu kommen, wahlen wir speziell α = m/2,wobei m die Masse ist, die durch einen Prototypen festgelegt werden muss. DieLagrange-Funktion fur ein System von Teilchen lautet damit

L(v1,v2, . . . ,vN) =Ni=1

mi

2v2i −

i,j

Ui,j(|ri − rj|) . (8.22)

8.3 Das relativistische freie Teilchen

Die Bewegungsgleichungen

d

∂L

∂uµ

− ∂L

∂xµ= 0 (8.23)

sollen invariant unter Lorentz-Transformationen sein. Man kann zeigen, dass dannauch die Lagrange-Funktion L Lorentz-invariant sein muss. Außerdem hangt Laufgrund der Homogenitat des Raumes und der Zeit nicht von xµ ab. Aufgrundder Lorentz-Invarianz von L und der Isotropie des Raumes kann L auch nichtvon den einzelnen Komponenten der Vierergeschwindigkeit abhangen, sondernnur vom Betrag uµu

µ.Als Ansatz fur die Lagrange-Funktion verwenden wir eine noch unbekannte

Funktion f(z) und schreiben

L = f(z) mit z = uµuµ = gµνu

µuν . (8.24)

Fur die partiellen Ableitungen erhalten wir

∂L

∂uµ=∂f

∂z

∂z

∂uµ= 2f ′uµ . (8.25)

Hier ist f ′, die Ableitung von f nach z an der Stelle z = uµuν , eine Konstante,

da auch uµuµ eine Konstante ist. Aus der Lagrange-Gleichung folgt jetzt

d

∂L

∂uµ

= 2f ′duµ

dτ= 0 . (8.26)

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Die Bewegungsgleichung eines freien, relativistischen Teilchens lautet daher

duµ

dτ= 0 . (8.27)

Welche Funktion f wir wahlen spielt offenbar fur die Bewegungsgleichung des frei-en Teilchens keine Rolle. Eine spezielle Wahl fur f bestimmt nur den konstantenFaktor f ′, der keinen Einfluss auf die Bewegungsgleichung hat. Wir verwendenim Folgenden die Funktion

f(z) =1

2mz , (8.28)

wobei m die Ruhemasse des Teilchens ist. Die Lagrange-Funktion des freien,relativistischen Teilchens lautet dann

L =1

2muµu

ν . (8.29)

Wir definieren den Viererimpuls

pµ = muµ (8.30)

und schreiben die Bewegungsgleichung in der Form

dpµ

dτ= 0 . (8.31)

8.4 Minkowski-Kraft

Fur ein Teilchen, das mit seiner Umgebung wechselwirkt, schreiben wir dieLagrange-Funktion in der Form

L =1

2muµu

ν − V , (8.32)

wobei V eine orts- und zeitabhangige Funktion ist, die wir als Potential bezeich-nen. Wir setzen diese Lagrange-Funktion in die Lagrange-Gleichung (8.23) einund erhalten die Bewegungsgleichungen

dpµ

dτ=∂V

∂xµ. (8.33)

Wir bezeichnen die vier partiellen Ableitungen des Potentials als Vierer- oderMinkowski-Kraft

F µ =∂V

∂xµ. (8.34)

Die Bewegungsgleichungen (8.33) konnen wir mit Hilfe der Minkowskikraft auchin der Form

F µ =dpµ

dτ(8.35)

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Page 7: Kapitel 8 Anwendung des Lagrangre- · PDF fileKapitel 8 Anwendung des Lagrangre-Formalismus 8.1 Eindeutigkeit der Lagrange-Funktion Die Lagrange-Funktion, die nach dem Hamiltonschen

schreiben.Als Beispiel betrachten wir ein Teilchen mit der Ruhemasse m, auf das in

seinem Ruhesystem eine konstante Kraft mit dem Betrag f = ma in positivex-Richtung wirkt. Der Einfachheit halber sei die Bewegung des Teilchens auf diex-Achse beschrankt. Wir betrachten das Teilchen im System S, in dem es sichzur Zeit t = 0 am Ort x(0) = 0 befindet und die Geschwindigkeit v(0) = 0hat. Zu einem willkurlich gewahlten Zeitpunkt sei das System S’, das sich mit vgegen S bewegt, das Ruhesystem des Teilchens. In S’ lautet die Viererkraft nachVoraussetzung

F′ = (0,ma, 0, 0) . (8.36)

Mit Hilfe der Lorentz-Transformation erhalten wir aus F′ die Viererkraft in S:

F = (γvma/c, γma, 0, 0) . (8.37)

Wir konnen jetzt die vom Koordinatensystem unabhangige Bewegungsgleichung

F 1 =dp1

dτ(8.38)

speziell fur das System S formulieren. Fur die x-Komponente erhalten wir so

γma =dp1

dτ= γ

d

dt(γmv) (8.39)

oder

f = ma =d

dt(γmv) . (8.40)

Die Vereinfachung dieser Bewegungsgleichung mit Hilfe der dynamischen Massem = γm zu

f =d

dt(mv) (8.41)

ist nur fur den Fall gultig, daß Kraft und Bewegung parallel zueinander stehenund wird hier nicht weiter verwendet. Die Losung dieser Bewegungsgleichung istaufwendig, so daß hier nur das Ergebnis

v(t) =c

cat

2+ 1

(8.42)

und

x(t) = ct

cat

2+ 1− c

at

(8.43)

angegeben werden soll. Die Richtigkeit dieser Losung laßt sich durch Einsetzenin (8.40) uberprufen. Zu Beginn der Bewegung ist γ ≈ 1 und t ≪ c/f und wirerhalten das zweite Newtonsche Gesetz

f = mdv

dt(8.44)

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Page 8: Kapitel 8 Anwendung des Lagrangre- · PDF fileKapitel 8 Anwendung des Lagrangre-Formalismus 8.1 Eindeutigkeit der Lagrange-Funktion Die Lagrange-Funktion, die nach dem Hamiltonschen

mit den bekannten Losungen

v(t) = at (8.45)

und

x(t) =1

2at2 . (8.46)

Mit zunehmender Zeit nahert sich die Geschwindigkeit v asymptotisch der Licht-geschwindigkeit. Die Beschleunigung ist aus der Sicht von S jedoch nicht konstant,sondern strebt gegen Null. Wenn die Ruhemasse Null ist, bewegt sich das Teilchenstets mit Lichtgeschwindigkeit und die Bahnkurve ist durch x(t) = ct gegeben.

8.5 Lagrangesche Multiplikatoren

Die Methode der Lagrangeschen Multiplikatoren dient zum Auffinden von Ex-tremwerten unter Nebenbedingungen. Der Anschaulichkeit wegen betrachten wirzunachst eine Funktion f(x, y), die von zwei Variablen x und y abhangt, und un-ter der Nebenbedingung g(x, y) = 0 maximiert werden soll. In diesem Fall konnenwir uns die Menge aller Punkte (x, y), die die Nebenbedingung g = 0 erfullen, alsKurve in der x− y−Ebene vorstellen (rote Linie in Abb. 8.1).

Abbildung 8.1: Methode der Lagrangeschen Multiplikatoren [Quelle:www.wikipedia.de]

Im allgemeinen Fall, wo die Funktion f von n Variablen abhangt, und kunabhangige Nebenbedingungen erfullt werden mussen, wird durch die Neben-bedingungen eine k-dimensionale Hyperflache im n-dimensionalen Vektorraumdefiniert.

Der Gradient∂g

∂r=

∂g/∂x∂g/∂y

(8.47)

(rote Pfeile in Abb. 8.1) steht stets senkrecht auf der durch g festgelegten Kurve.Wir konnen uns diese Tatsache wie folgt klarmachen: Sei r0 = (x0, y0) ein Punkt

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der die Nebenbedingung g = 0 erfullt und r0 + dr0 ein benachbarter Punkt derdurch die infinitesimale Verschiebung dr0 = (dx, dy) aus r0 hervorgeht. Es giltdann

g(x0 + dx, y0 + dy) =∂g

∂r· dr , (8.48)

wobei der Gradient von g an der Stelle r0 ausgewertet wird. Wenn auch(x0 + dx, y0 + dy) die Nebenbedingung g = 0 erfullt, dann ist der Vektor dr tan-gential zur durch die Nebenbedingung festgelegten Kurve, und außerdem mussdie linke Seite von (8.48) verschwinden. Daher muss auch das Skalarprodukt aufder rechten Seite von (8.48) Null sein, so dass der Gradient von g senkrecht aufder Kurve stehen muss.

Nehmen wir nun zusatzlich an, r0 sei das gesuchte Extremum von f unterder Nebenbedingung g = 0. Dann konnen wir den Funktionswert von f in einembenachbarten Punkt r0 + dr0, der ebenfalls die Nebenbedingung g = 0 erfullt, inder Form

f(x0 + dx, y0 + dy) = f(x0, y0) +∂f

∂r· dr (8.49)

schreiben. Da f am Punkt r0 extremal sein soll muss f(x0, y0) = f(x0+dx, y0+dy)und damit

∂f

∂r· dr = 0 (8.50)

sein. Da dr wie schon gesagt tangential zur Kurve ist, muss daher im Punkt r0auch der Gradient von f senkrecht auf der Kurve stehen. Der Gradient von fmuss also ein Vielfaches des Gradienten von g sein:

∂f

∂r+ λ

∂g

∂r= 0 (8.51)

Dabei ist λ ein zunachst unbekannter Parameter.Wir konnen Gleichung (8.51) auch so interpretieren, dass eine notwendige

Bedingung fur das Vorliegen eines Extremums, das die Nebenbedingung erfullt,ist, dass der Gradient der Funktion

h = f + λg (8.52)

verschwindet. Um das Extremum tatsachlich zu bestimmen muss noch der Pa-rameter λ aus Gleichung (8.51) mit Hilfe der Nebenbedingung g = 0 eliminiertwerden.

Dieses Verfahren ist haufig vorteilhaft, gegenuber der alternativen Methode,mit Hilfe der Nebenbedingung eine der Variablen x oder y zu eliminieren, so dassf nur noch als Funktion einer Variablen vorliegt, und anschließend das Extremumvon f(y) beziehungsweise f(x) zu suchen.

Die Methode der Lagrangeschen Multiplikatoren lasst sich auch auf dieAufstellung der Lagrange-Funktion anwenden, wenn nicht alle Koordina-ten unabhangig sind, weil beispielsweise Nebenbedingungen vorliegen. Wenn

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L(q1, . . . , qn) die Lagrange-Funktion fur den Fall ist, dass alle Koordinaten qiunabhangig sind, dann kann die Lagrange-Funktion L′(q1, . . . , qn) fur den Falleiner Nebenbedingung g(q1, . . . , qn) = 0 in der Form

L′(q1, . . . , qn) = L(q1, . . . , qn) + λg(q1, . . . , qn) (8.53)

geschrieben werden.

8.6 Lagrange-Dichte

Besteht ein System nicht aus einer endlichen Anzahl von Teilchen sondern auseinem Kontinuum, mussen wir statt einer Langrange-Funktion eine Lagrange-Dichte formulieren. Wir machen uns dies am Beispiel einer schwingenden Saiteklar.

Zunachst fassen wir die Saite als Kette der Lange ℓ auf, die aus N diskretenMassenpunkten besteht, die auf der x-Achse in Abstanden von ∆x = ℓ/(N − 1)angeordnet sind und durch Federn miteinander verbunden sind. Die Federkon-stante sei D, was einem Elastizitatsmodul der Federn von E = D∆x entspricht.Wir nehmen der Einfachheit halber an, dass die Federn eine Ruhelange von Nullhaben. Andernfalls bekommen wir, zumindest fur starkere Schwingungen der Ket-te, ein nichtlineares Verhalten. Die Gesamtmasse der Kette betragt M , so dassjeder einzelne Massenpunkt die Masse m =M/N besitzt.

Im Gleichgewicht befinden sich alle Massenpunkte genau auf der x-Achse, je-der einzelne Massenpunkt kann jedoch in Richtung der y-Achse ausgelenkt wer-den. Wir numerieren die Massenpunkte mit dem Index i und bezeichnen dieAuslenkungen der Massenpunkte mit yi. Nach dem Hookeschen Gesetz hat eineFeder die potentielle Energie Du2/2, wenn u ihre Auslenkung aus der Ruhelageist. Im Gleichgewicht, wenn alle yi Null sind, hat die Kette daher die potentielleEnergie

N−1i=1

1

2D∆x2 (8.54)

Fur beliebige Auslenkungen yi hat die Feder zwischen den Massenpunkten i undi+ 1 die Lange

∆x2 + (yi+1 − yi)2 (8.55)

und die potentielle Energie der Kette lautet dann

N−1i=1

1

2D∆x2 + (yi+1 − yi)

2 (8.56)

Da nur die Anderungen der potentiellen Energie, nicht aber deren absoluter Wertfur die Bewegungsgleichung von Bedeutung sind, konnen wir die potentielle Ener-gie um einen willkurlichen Betrag verschieben und fur die potentielle Energie der

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Abbildung 8.2: Schwingende Saite.

Kette den Ausdruck

U =1

2D

N−1i=1

(yi+1 − yi)2 =

1

2E

N−1i=1

yi+1 − yi

∆x

2

∆x (8.57)

verwenden.Die kinetische Energie der Kette ist

T =Ni=1

1

2my2i (8.58)

Wir fuhren jetzt die Liniendichte der Masse

ρ =M

ℓ=

m

∆x

N

N − 1(8.59)

ein und schreiben die kinetische Energie in der Form

T =Ni=1

1

2ρ∆x

N − 1

Ny2i (8.60)

Die Lagrange-Funktion der Kette lautet dann

L = T − U =1

2ρN − 1

N

Ni=1

y2i∆x−1

2E

N−1i=1

yi+1 − yi

∆x

2

∆x (8.61)

Wir fuhren jetzt den Grenzubergang N → ∞ durch, um von der Kette aus end-lich vielen diskreten Massenpunkten zu einer kontinuierlichen Saite uberzugehen.Dabei ersetzen wir die Summen durch ein Integrale uber x und der Differenzen-quotient im Ausdruck fur die potentielle Energie wird durch die Ableitung derFunktion y(x, t) nach x ersetzt:

L =1

x2

x1

y2i dx−1

2E

x2

x1

y′2 dx (8.62)

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Wir wollen die Lagrange-Funktion jetzt als Integral uber eine Lagrange-Dichte Lschreiben:

L =

x2

x1

L dx (8.63)

Der Vergleich von (8.62) und (8.63) zeigt, dass wir die Lagrange-Dichte in derForm

L =1

2ρy2 − 1

2Ey′2 (8.64)

schreiben mussen. Fur die Wirkung der Saite gilt dann

S[y] =

t2

t1

x2

x1

L(y) dx dy (8.65)

Gesucht ist jetzt also eine Funktion y(x, t), fur die die Wirkung S[y] extremalwird. In Analogie zu den Lagrange-Gleichungen 2. Art schreiben wir als Bedin-gung

d

dt

∂L∂y

+

d

dx

∂L∂y′

− ∂L∂y

= 0 (8.66)

Im Unterschied zur Herleitung in Abschnitt 7.7 mussen wir die Lagrange-Dichteauch nach y′ partiell ableiten, da die Lagrange-Dichte im Allgemeinen explizitvon y′ abhangt. Zwar ist y′ festgelegt, wenn y(x) fur alle x bekannt ist, aber esreicht nicht aus, nur y zu varieren. Die partielle Ableitung von L sagt ja nuretwas daruber aus, wie sich L andert, wenn wir y an der Stelle x variieren undalle anderen Variablen von L konstant bleiben, also auch y′.

Wir wollen Gleichung (8.66) jetzt auf die Lagrange-Dichte der Saite anwenden.Wir erhalten dann

d

dt(ρy)− d

dx(Ey′) = ρy − Ey′′ = 0 (8.67)

Wenn wir

c =

E

ρ(8.68)

als Wellengeschwindigkeit der Saite definieren, dann erhalten wir die Wellenglei-chung der schwingenden Saite in ihrer ublichen Form:

y′′ − 1

c2y = 0 (8.69)

8.7 Zeitunabhangige Schrodinger-Gleichung

Wir betrachten in einem eindimensionalen Raum ein mikroskopisches Teilchen,das durch die reelle Wellenfunktion ψ(x) beschrieben wird. Ohne weitere Be-grundung gehen wir davon aus, dass die kinetische Energie des Teilchens durch

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den Ausdruck +∞

−∞

1

2m(hψ′)

2dx (8.70)

beschrieben wird.1 Fur die potentielle Energie schreiben wir +∞

−∞V (x) (ψ)2 dx , (8.71)

wobei V (x) ein klassisches Potential ist. Wir konnen jetzt die Lagrange-Funktiondes Teilchens in der Form

L(ψ, ψ′) =

+∞

−∞

1

2m(hψ′)

2dx−

+∞

−∞V (x)ψ2 dx+ λ

+ inf

−∞ψ2 dx (8.72)

schreiben. Wir haben hier die Nebenbedingungψ2 dx = 1, dass namlich die

Wahrscheinlichkeit, das Teilchen irgendwo zu finden, eins sein muss, mit einemLagrangeschen Multliplikator λ zur Lagrange-Funktion addiert. Wir konnen dieLagrange-Funktion auch analog zu Gleichung (8.63) durch die Lagrange-Dichte

L =1

2m(hψ′)

2 − V (x)ψ2 + λψ2 (8.73)

ausdrucken. Wenn wir diese Lagrange-Dichte in die Lagrange-Gleichung (8.66)einsetzen, erhalten wir die sogenannte zeitunabhangige Schrodinger-Gleichung

h2

2m+ V (x)

ψ = Eψ (8.74)

als Bewegungsgleichung fur die Wellenfunktion ψ. Wir haben der Konventionwegen im letzten Schritt statt λ das E als Symbol fur den Langrangeschen Mul-tiplikator verwendet.

8.8 Zusammenfassung

Aus der Lagrange-Funktion kann man mit Hilfe der Lagrange-Gleichung die Be-wegungsgleichung und damit bei gegebenen Randbedingungen die Bahnkurve furein System erhalten. Umgekehrt kann man allerdings nicht aus der Bahnkurveeine eindeutig festgelegte Lagrange-Funktion erhalten. Verschiedene Lagrange-Funktionen konnen zur gleichen Bewegungsgleichung fuhren. Die Addition eineskonstanten Terms zur Lagrange-Funktion oder die Multiplikation mit einem kon-stanten Faktor andern die resultierende Bewegungsgleichung nicht. Daruber hin-aus darf zur Lagrange-Funktion ein beliebiger Ausdruck addiert werden, sofern

1Eine Motivation fur diese Annahme findet sich in Abschnitt 7.2. Ansonsten muss auf Dar-stellungen der Quantenmechanik verwiesen werden.

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Page 14: Kapitel 8 Anwendung des Lagrangre- · PDF fileKapitel 8 Anwendung des Lagrangre-Formalismus 8.1 Eindeutigkeit der Lagrange-Funktion Die Lagrange-Funktion, die nach dem Hamiltonschen

sich dieser als zeitliche Ableitung einer Funktion schreiben lasst, die nur von Ortund Zeit abhangt.

Symmetriebetrachtungen legen nahe, dass wir die Lagrange-Funktion einesfreien, nichtrelativistischen Teilchens in der Form L = mv2/2 schreiben konnen,wahrend das relativistische Teilchen durch L = muνu

ν/2 beschrieben wird. Be-schreibt man die Wechselwirkung eines Teilchens mit seiner Umgebung durch einPotential V , dann lautet die relativistische Lagrange-Funktion L = muνu

ν/2−V .Fuhrt man die Vierervektoren F µ und pµ ein, die als Minkowski-Kraft bezie-hungsweise als Viererimpuls bezeichnet werden, dann erhalt man mit Hilfe derLagrange-Gleichung die Bewegungsgleichung

F µ =dpµ

dτ, (8.75)

die in Analogie zum zweiten Newtonschen Gesetz formuliert ist.Der Lagrange-Formalismus fur diskrete Teilchen lasst sich auf kontinuierliche

Systeme ausweiten, indem man die Lagrange-Dichte L definiert. So lasst sich bei-spielsweise die Schwingung einer Saite behandeln oder die Schrodinger-Gleichungals Bewegungsgleichung fur eine Wellenfunktion verstehen.

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