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Der Kardiologe Leitlinien Kardiologe 2020 · 14:162–167 https://doi.org/10.1007/s12181-020-00378-0 Online publiziert: 21. Februar 2020 © Deutsche Gesellschaft für Kardiologie - Herz- und Kreislaufforschung e.V. Published by Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature - all rights reserved 2020 N. Marx 1 · S. Frantz 2 · A. K. Gitt 3 · A. Zirlik 4 1 Med. Klinik I – Kardiologie, Angiologie und Internistische Intensivmedizin, Uniklinik RWTH Aachen, Aachen, Deutschland 2 Medizinische Klinik und Poliklinik I, Universitätsklinikum Würzburg, Würzburg, Deutschland 3 Medizinische Klinik B – Abteilung für Kardiologie, Klinikum der Stadt Ludwigshafen gGmbH, Ludwigshafen am Rhein, Deutschland 4 Universitätsklinik für Innere Medizin, Klinische Abteilung für Kardiologie, LKH-Univ. Klinikum Graz, Graz, Österreich Kommentar zu den Leitlinien (2019) der European Society of Cardiology (ESC) zu „Diabetes, Prädiabetes und kardiovaskuläre Erkrankungen“ BeimKongressderEuropäischenKardio- logengesellschaſt (ESC) 2019 wurden die neuen Leitlinien für Diabetes, Prädiabe- tes und kardiovaskuläre Erkrankungen [2] vorgestellt, die in Zusammenarbeit der ESC mit der EASD (European As- sociation for the Study of Diabetes) er- stellt wurden. In die Empfehlungen dieser Leitlinien sind die in den letzten Jahren veröffentlichten Daten aus großen kar- diovaskulärenEndpunktstudienmitneu- en antidiabetisch wirksamen Substanzen eingeflossen und haben zu einer völlig neuenPositionierungvonblutzuckersen- kenden Medikamenten in der Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse bei Patien- ten mit Diabetes mellitus geführt. Zum einen wurde die individuelle Kategorisie- rung von Patienten mit Diabetes entspre- chend ihrem kardiovaskulären Risiko in den Vordergrund gestellt und das Kon- zept einer einheitlichen Primär- und Se- kundärpräventionbeiDiabetesverlassen, und zum anderen richtet sich die Wahl der blutzuckersenkenden Medikamente für die kardiovaskuläre Risikoreduktion nun nach der verfügbaren Evidenz, kar- diovaskuläre Ereignisse zu reduzieren. Einteilung nach kardiovaskulärem Risiko Vor dem Hintergrund, dass Patienten mit Diabetes mellitus bereits ohne Vorliegen einer kardiovaskulären Erkrankung ei- ne deutlich eingeschränkte Prognose ha- ben, wurde die Unterscheidung in Pri- mär- und Sekundärprävention bei Dia- betes verlassen und durch die Einteilung in Risikogruppen ersetzt. Entsprechend werden Patienten mit Diabetes in die Gruppen mit sehr hohem, hohem oder moderatem Risiko eingeteilt. Patienten mit sehr hohem Risiko sind solche mit Diabetes und etablierter Sehr hohes Risiko Paenten mit DM und kardiovaskulärer Erkrankung oder Endorganschäden a oder 3 oder mehr Risikofaktoren b oder frühem Beginn eines Typ-1-Diabetes (>20 Jahre) Hohes Risiko Paenten mit einer Diabetesdauer ≥10 Jahren ohne Endorganschäden a mit einem anderen Risikofaktor Moderates Risiko Junge Paenten (T1DM <35 Jahre; T2DM <50 Jahre) mit einer Diabetesdauer <10 Jahre, ohne andere Risikofaktoren Abb. 1 8 Kardiovaskuläre Risikokategorien bei Patienten mit Diabetes mellitus (nach ESC[European Society ofCardiology]-Leitlinie 2019). a Proteinurie,eingeschränkte Nierenfunktion (eGFR[geschätzte glomeruläre Filtrationsrate] ≤30 ml/min/1,73 m 2 ), linksventrikuläre Hypertrophie oder Retinopathie. b Alter, Hypertonie, Dyslipidämie, Rauchen, Übergewicht. DM Diabetes mellitus, T1DM Typ-1-Diabetes mellitus, T2DM Typ-2-Diabetes mellitus kardiovaskulärer Erkrankung oder End- organschaden oder 3 oder mehr Risiko- faktoren oder frühem Beginn eines Typ- 1-Diabetes mit langer Dauer >20 Jahre. In die Kategorie hohes Risiko werden solche Patienten eingeteilt mit Diabetes- dauer 10 Jahre ohne Endorganschaden, aber mit einem weiteren Risikofaktor. In die Rubrik Patienten mit moderatem Risiko fallen junge Patienten (Typ-1- Diabetes unter 35 Jahre oder Typ-2- Diabetes unter 50 Jahre) mit einer Dia- betesdauer unter 10 Jahren ohne andere Risikofaktoren (. Abb. 1). Diese Eintei- lung ist von entscheidender Bedeutung für die Reduktion des kardiovaskulären 162 Der Kardiologe 3 · 2020

KommentarzudenLeitlinien (2019)derEuropeanSocietyof ... · GLP-1-RA-Monotherapie a Metformin-Monotherapie Typ 2 DM – unbehandelte Patienten Hinzunahme von Metformin Erwäge Hinzunahme

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Der KardiologeLeitlinien

Kardiologe 2020 · 14:162–167https://doi.org/10.1007/s12181-020-00378-0Online publiziert: 21. Februar 2020© Deutsche Gesellschaft für Kardiologie -Herz- und Kreislaufforschung e.V. Published bySpringer Medizin Verlag GmbH, ein Teil vonSpringer Nature - all rights reserved 2020

N. Marx1 · S. Frantz2 · A. K. Gitt3 · A. Zirlik4

1Med. Klinik I – Kardiologie, Angiologie und Internistische Intensivmedizin, Uniklinik RWTH Aachen,Aachen, Deutschland

2Medizinische Klinik und Poliklinik I, UniversitätsklinikumWürzburg, Würzburg, Deutschland3Medizinische Klinik B – Abteilung für Kardiologie, Klinikum der Stadt Ludwigshafen gGmbH,Ludwigshafen am Rhein, Deutschland

4Universitätsklinik für Innere Medizin, Klinische Abteilung für Kardiologie, LKH-Univ. KlinikumGraz, Graz,Österreich

Kommentar zu den Leitlinien(2019) der European Society ofCardiology (ESC) zu „Diabetes,Prädiabetes und kardiovaskuläreErkrankungen“

BeimKongressderEuropäischenKardio-logengesellschaft (ESC) 2019 wurden dieneuen Leitlinien für Diabetes, Prädiabe-tes und kardiovaskuläre Erkrankungen[2] vorgestellt, die in Zusammenarbeitder ESC mit der EASD (European As-sociation for the Study of Diabetes) er-stelltwurden. IndieEmpfehlungendieserLeitlinien sind die in den letzten Jahrenveröffentlichten Daten aus großen kar-diovaskulärenEndpunktstudienmitneu-en antidiabetisch wirksamen Substanzeneingeflossen und haben zu einer völligneuenPositionierungvonblutzuckersen-kendenMedikamenten in der Reduktionkardiovaskulärer Ereignisse bei Patien-ten mit Diabetes mellitus geführt. Zumeinenwurde die individuelle Kategorisie-rung vonPatientenmitDiabetes entspre-chend ihrem kardiovaskulären Risiko inden Vordergrund gestellt und das Kon-zept einer einheitlichen Primär- und Se-kundärpräventionbeiDiabetesverlassen,und zum anderen richtet sich die Wahlder blutzuckersenkenden Medikamentefür die kardiovaskuläre Risikoreduktionnun nach der verfügbaren Evidenz, kar-diovaskuläre Ereignisse zu reduzieren.

Einteilung nachkardiovaskulärem Risiko

VordemHintergrund, dassPatientenmitDiabetes mellitus bereits ohne Vorliegeneiner kardiovaskulären Erkrankung ei-ne deutlich eingeschränkte Prognose ha-ben, wurde die Unterscheidung in Pri-mär- und Sekundärprävention bei Dia-betes verlassen und durch die Einteilungin Risikogruppen ersetzt. Entsprechendwerden Patienten mit Diabetes in dieGruppen mit sehr hohem, hohem odermoderatem Risiko eingeteilt.

Patienten mit sehr hohem Risiko sindsolche mit Diabetes und etablierter

Sehr hohes Risiko Pa�enten mit DM und kardiovaskulärer Erkrankungoder Endorganschädena

oder 3 oder mehr Risikofaktorenb

oder frühem Beginn eines Typ-1-Diabetes (>20 Jahre)

Hohes Risiko Pa�enten mit einer Diabetesdauer ≥10 Jahren ohne Endorganschädena

mit einem anderen Risikofaktor

Moderates Risiko Junge Pa�enten (T1DM <35 Jahre; T2DM <50 Jahre) mit einer Diabetesdauer <10 Jahre, ohne andere Risikofaktoren

Abb. 18 Kardiovaskuläre Risikokategorien bei PatientenmitDiabetesmellitus (nach ESC[EuropeanSocietyofCardiology]-Leitlinie 2019). aProteinurie, eingeschränkteNierenfunktion (eGFR [geschätzteglomeruläre Filtrationsrate] ≤30ml/min/1,73m2), linksventrikuläre Hypertrophie oder Retinopathie.bAlter,Hypertonie,Dyslipidämie,Rauchen,Übergewicht.DMDiabetesmellitus,T1DMTyp-1-Diabetesmellitus, T2DM Typ-2-Diabetesmellitus

kardiovaskulärer Erkrankung oder End-organschaden oder 3 oder mehr Risiko-faktoren oder frühem Beginn eines Typ-1-Diabetes mit langer Dauer >20 Jahre.In die Kategorie hohes Risiko werdensolche Patienten eingeteilt mit Diabetes-dauer ≥10 Jahre ohne Endorganschaden,aber mit einem weiteren Risikofaktor.In die Rubrik Patienten mit moderatemRisiko fallen junge Patienten (Typ-1-Diabetes unter 35 Jahre oder Typ-2-Diabetes unter 50 Jahre) mit einer Dia-betesdauer unter 10 Jahren ohne andereRisikofaktoren (. Abb. 1). Diese Eintei-lung ist von entscheidender Bedeutungfür die Reduktion des kardiovaskulären

162 Der Kardiologe 3 · 2020

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Leitlinien

-

Kardiovask. Erkrankung oder hohes/ sehr hohes Risiko

(Endorganschaden, multiple Risikofaktoren)+

SGLT-2-Inhibitor oderGLP-1-RA-Monotherapiea Metformin-Monotherapie

Typ 2 DM – unbehandelte Patienten

Hinzunahme von Metformin

Erwäge Hinzunahme der anderen Substanzklasse (GLP-1-RA oder SGLT-2i) mit kardiovaskulärem Benefit

DPP-4i falls nicht mit GLP-1-RA behandelt

BasalinsulinTZD (nicht bei Patienten mit Herzinsuffizienz)

Sulfonylharnstoff

DPP-4i GLP-1-RA SGLT-2ib TZD

SGLT-2ioder TZD

GLP-1-RA, DPP-4i

oder TZD

SGLT-2i,DPP-4i oderGLP-1-RA

SGLT-2ioder TZD

Falls HbA1c oberhalb des Zielwertes

Hinzunahme weiterer Substanzen

Falls HbA1c oberhalb des Zielwertes

Erwäge Hinzunahme Sulfonylharnstoffe mit Basalinsulin:erwäge moderne Sulfonylharnstoffemit niedrigem Hypoglykämierisikoerwäge Basalinsulin mit niedrigem Hypoglykämierisiko

Falls HbA1c oberhalb des Zielwertes

Falls HbA1c oberhalb des Zielwertes

Falls HbA1c oberhalb des Zielwertes

Empfehlungsgrad I Empfehlungsgrad IIa

Abb. 28 Therapiealgorithmus zur kardiovaskulären Risikoreduktionmit blutzuckersenkenden Sub-stanzenbei unbehandeltenPatientenmit Typ-2-Diabetesmellitus (Typ 2 DM) (nach ESC[EuropeanSo-ciety of Cardiology]-Leitlinie 2019).GLP-1-RA „glucagon-like peptid 1 receptor antagonist“,DPP-4iDi-peptidyl-Peptidase-Inhibitor-4,TZDGlitazon,SGLT-2Natrium/Glukose-Cotransporter-2,SGLT-2iNatri-um/Glukose-Cotransporter-2-Inhibitor. aVerwendung von Substanzenmit nachgewiesenemkardio-vaskuläremBenefit. bFalls eGFR (geschätzte glomeruläre Filtrationsrate) angemessen

Risikos durch antidiabetisch wirksameSubstanzen.

Therapiealgorithmus beiPatientenmit Typ-2-Diabetes

Der neue Algorithmus zur kardiovasku-lären Risikoreduktion durch blutzucker-senkende Substanzen bei medikamentösunbehandelten Patienten mit Typ-2-Diabetes sieht – unabhängig von HbA1c-Wert – zunächst eineKategorisierungdesPatienteneinsprechend seines kardiovas-

kulären Risikos vor (. Abb. 2). Patientenmit Atherosklerose-assoziierter kardio-vaskulärer Erkrankung oder hohem/sehrhohem Risiko sollten als Klasse-Ia-Emp-fehlung einen SGLT-2-Inhibitor (SGLT-2: Natrium/Glukose-Cotransporter-2)oder eine GLP-1-Rezeptor-Agonist-Mo-notherapie (GLP: „glucagon-like pep-tid“) mit solchen Substanzen erhalten,für die ein kardiovaskulärer Benefitgezeigt werden konnte. Für SGLT-2-Inhibitoren beruht diese Evidenz aufder EMPA-REG OUTCOME-Studie

mit Empagliflozin [12], dem CANVAS-Trial-Programm mit Canagliflozin [8]und der DECLARE-TIMI 58-Studie mitDapagliflozin [11] sowie der unlängstveröffentlichten CREDENCE-Studie mitCanagliflozin [9]. In 3 dieser 4 Studienkonnte eine Reduktion des 3-Punkt-MACE-Endpunktes (kardiovaskulärerTod, nichttödlicherMyokardinfarkt odernichttödlicher Schlaganfall) gegenüberPlacebo gezeigtwerden. Zusätzlich zeigtesich für alle in diesen Studien untersuch-ten SGLT-2-Inhibitoren eine signifikanteReduktionderHospitalisierungfürHerz-insuffizienz oder des kardiovaskulärenTodes. Die Evidenz für GLP-1-Rezeptor-Agonisten beruht auf den Ergebnissenvon 5 Endpunktstudien (LEADER: Li-raglutide vs. Placebo [7]; SUSTAIN-6:subkutanes Semaglutide vs. Placebo [6];HARMONY: Albiglutide vs. Placebo [4];REWIND: Dulaglutide vs. Placebo [3];PIONEER-6: orales Semaglutide vs. Pla-cebo [5]). In 4 der 5 Studien konnte einesignifikante Reduktion des 3-Punkt-MACE-Endpunktes (kardiovaskulärerTod, nichttödlicherMyokardinfarkt odernichttödlicher Schlaganfall) gezeigt wer-den.

Liegenbei einemPatientenmitTyp-2-Diabetes weder kardiovaskuläre Erkran-kungen noch ein sehr hohes/hohes kar-diovaskuläres Risiko vor, so sollte eineMetformin-Monotherapie erwogen wer-den (Klasse-IIaC-Empfehlung). Die Evi-denz für Metformin begründet sich aufder1998veröffentlichtenUKPDS-Studie,in der in einer Subgruppe von 342 über-gewichtigen Patienten eine signifikanteReduktion des Risikos für einen aku-tenMyokardinfarkt durchMetformin imVergleich zu einer konventionellen blut-zuckersenkenden Therapie gezeigt wer-den konnte [1].

ImnächstenSchritt soll dannevaluiertwerden, ob der HbA1c-Wert im Zielbe-reich liegt (s. unten). Ist dies nicht derFall, sollte bei zuvor unbehandelten Pati-enten mit kardiovaskulärer Erkrankungoder hohem/sehr hohem Risiko Metfor-min hinzugefügt werden, wohingegen inder Metformin-Monotherapiegruppe ei-ne ganze Reihe weiterer Antidiabetikazur Verfügung steht. Im weiteren Ver-lauf empfehlen die Leitlinien eine kon-sekutive Hinzunahme anderer glukose-

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senkender Substanzen, um den HbA1c-Wert-Zielbereich zu erreichen.

Bei Patienten, die bereits mit Metfor-min behandelt sind, sollte auf dem Bo-denderRisikokategorie in gleicherWeiseverfahren werden und ein SGLT-2-Inhi-bitor oder GLP-1-Rezeptor-Agonist mitnachgewiesenem kardiovaskulärem Be-nefit ergänzt werden (. Abb. 3).

Entscheidend in diesem Algorithmusim Vergleich zu den alten Leitlinien ist,dass in der initialen Therapie nicht derHbA1c-Wert, sondern das individuellekardiovaskuläre Risiko des Patientenim Vordergrund steht und dementspre-chend eine Therapie begonnen werdensollte.

Der neue Algorithmus wird ergänztdurch die Therapieempfehlungen für ei-neglukosesenkendeTherapie.Nebendenoben bereits angesprochenen Aspektenbekommt Empagliflozin eine Klasse-Ib-Empfehlung zur Reduktion der Morta-lität bei Patienten mit Diabetes mellitusTyp 2 und kardiovaskulären Erkrankun-gen. Die Daten hierfür stammen aus derEMPA-REG OUTCOME-Studie, in derEmpagliflozin im Vergleich zu PlacebodieGesamtmortalität reduzierte [12].FürLiraglutide besteht eine Klasse-Ib-Emp-fehlung bei Patienten mit Typ-2-Diabe-tes mit kardiovaskulären Erkrankungenoder hohem/sehr hohem Risiko zur Re-duktion der Mortalität. Die Empfehlun-genberuhenaufderLEADER-Studieundderdort beobachtetenReduktionderGe-samtmortalität durch Liraglutide vs. Pla-cebo [7].

HbA1c-Zielwerte

In Bezug auf den HbA1c-Zielwert emp-fehlen die aktuellen Leitlinien einenHbA1c-Wert von unter 7% oder<53mmol/mol insbesondere bei jun-gen Patienten und solchen mit kurzerDiabetesdauer, wobei das Therapiezielbezüglich des HbA1c-Wertes individuellan Alter und Komorbiditäten sowie Dia-betesdauer angepasst werden sollte. Zieldieser normnahen HbA1c-Einstellung istdie Reduktion mikrovaskulärer Kompli-kationen bei Patienten mit Diabetes.

Zusammenfassung · Abstract

Kardiologe 2020 · 14:162–167 https://doi.org/10.1007/s12181-020-00378-0© Deutsche Gesellschaft für Kardiologie - Herz- und Kreislaufforschung e.V. Published by SpringerMedizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature - all rights reserved 2020

N. Marx · S. Frantz · A. K. Gitt · A. Zirlik

Kommentar zu den Leitlinien (2019) der European Society ofCardiology (ESC) zu „Diabetes, Prädiabetes und kardiovaskuläreErkrankungen“

ZusammenfassungDie neuen ESC(European Society ofCardiology)-Leitlinien „Diabetes, Prädiabetesund kardiovaskuläre Erkrankungen“, die inZusammenarbeit der ESC mit der EuropeanAssociation for the Study of Diabetes (EASD)erstellt wurden, sind eine Weiterentwicklungder 2013 veröffentlichten Leitlinien. In dieaktuelle Version von 2019 sind die in denletzten Jahren veröffentlichten Daten ausgroßen kardiovaskulären Endpunktstudienmit neuen antidiabetisch wirksamen

Substanzen eingeflossen und haben zueiner völlig neuen Positionierung vonblutzuckersenkendenMedikamenten in derReduktion kardiovaskulärer Ereignisse beiPatientenmit Diabetesmellitus geführt.

SchlüsselwörterBlutzuckersenkende Medikamente ·Antidiabetische Therapie · Acetylsalicylsäure ·Lipide · Kardiovaskuläre Ereignisse

Comments on the ESC guidelines (2019) on diabetes, prediabetesand cardiovascular diseases

AbstractThe new European Society of Cardiology(ESC) guidelines on diabetes, prediabetes andcardiovascular diseases, which were compiledin collaboration of the ESC with the EuropeanAssociation for the Study of Diabetes (EASD),are a further development of the guidelinespublished in 2013. In the current versionfrom 2019 recently published data from largecardiovascular endpoint studies with newantidiabetic substances are included. These

have led to a completely new positioningof hypoglycemic agents for the reductionof cardiovascular events in patients withdiabetesmellitus.

KeywordsHypoglycemic drugs · Antidiabetic treatment ·Acetylsalicylic acid · Lipids · Cardiovascularevents

Thrombozytenaggregations-hemmung

Änderungen in den neuen Leitlinien gibtes ferner bezüglich der Gabe von Ace-tylsalicylsäure (ASS) bei Patienten ohnekardiovaskuläre Erkrankungen. In die-sem Kollektiv empfehlen die neuen Leit-linien, dass ASS bei Patienten mit Dia-betes und moderatem kardiovaskuläremRisikonicht gegebenwerden sollte (Klas-se III, B). Bei Patienten ohne kardiovas-kuläreErkrankung,abermit sehrhohem/hohemRisiko kann dieGabe von niedrigdosierter ASS (75–100mg/Tag) erwogenwerden, falls keine Kontraindikationenbestehen (Klasse IIb, A). Zusätzlich wirdals Klasse-IIA-Empfehlung die Gabe ei-nes Protonenpumpeninhibitors bei sol-chen Patienten empfohlen, die eine ASS-Monotherapie oder eine duale Plättchen-

therapie oder eine orale Antikoagulati-onstherapie bekommen, sofern einhohesRisiko für gastrointestinale Blutung vor-liegt.

Blutdruckeinstellung

Hier folgen die neuen Leitlinien denESC/ESH(Europäische Fachgesellschaf-ten für Hypertonie)-Empfehlungen zurBlutdruckeinstellung von 2018 [10]. BeiPatienten mit Diabetes soll die arterielleHypertonie individualisiert behandeltwerden. Der systolische Zielwert von130mmHg sollte angestrebt werdenund bei guter Verträglichkeit ein Wert<130mmHg, jedoch sollte der systoli-sche Blutdruck nicht unter 120mmHgliegen.

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Leitlinien

DPP-4i GLP-1-RA SGLT-2ib TZD

SGLT-2ioder TZD

GLP-1-RA, DPP-4i

oder TZD

SGLT-2i,DPP-4i oderGLP-1-RA

SGLT-2ioder TZD

Falls HbA1c oberhalb des Zielwertes

Hinzunahme weiterer Substanzen

Falls HbA1c oberhalb des Zielwertes

Erwäge Hinzunahme Sulfonylharnstoff oder Basalinsulin:erwäge moderne Sulfonylharnstoffe mit niedrigem Hypoglykämierisikoerwäge Basalinsulin mit niedrigem Hypoglykämierisiko

Falls HbA1c oberhalb des Zielwertes

Falls HbA1c oberhalb des Zielwertes

Erwäge Hinzunahme der anderen Substanzklasse (GLP-1-RA oder SGLT-2i) mit kardiovaskulärem Benefit

DPP-4i falls nicht mit GLP-1-RA behandelt

BasalinsulinTZD (nicht bei Patienten mit Herzinsuffizienz)

Sulfonylharnstoff

Falls HbA1c oberhalb des Zielwertes

-

Kardiovask. Erkrankung oder hohes/ sehr hohes Risiko

(Endorganschaden, multiple Risikofaktoren)+

SGLT-2-Inhibitor oderGLP-1-RA-Monotherapiea

Fortführung der Metformin-Therapie

Typ 2 DM – mit Metformin-Therapie

Empfehlungsgrad I Empfehlungsgrad IIa

Abb. 38 Therapiealgorithmus zur kardiovaskulären Risikoreduktionmit blutzuckersenkendenSubstanzen bei Patientenmit Typ-2-Diabetesmellitus (Typ 2 DM)mitMetformin-Therapie (nachESC[European Society of Cardiology]-Leitlinie 2019).GLP-1-RA „glucagon-like peptid 1 recep-tor antagonist“,DPP-4iDipeptidyl-Peptidase-Inhibitor-4, TZDGlitazon, SGLT-2Natrium/Glukose-Cotransporter-2, SGLT-2iNatrium/Glukose-Cotransporter-2-Inhibitor. aVerwendung von Substanzenmit nachgewiesenem kardiovaskuläremBenefit. bFalls eGFR (geschätzte glomeruläre Filtrationsrate)angemessen

Lipidsenkende Therapie

Weitere entscheidende Neuerung inder 2019-Leitlinie ist die Empfehlung,dass Patienten mit Typ-2-Diabetes undmoderatem kardiovaskulärem Risikoeinen LDL(„low-density lipoprotein“)-Zielwert unter 100mg/dl erreichen soll-ten. Patienten mit Typ-2-Diabetes undhohem kardiovaskulärem Risiko sollteneinen LDL-Wert unter 70mg/dl anstre-ben, und bei Patienten mit sehr hohemRisiko liegt das LDL-Ziel jetzt bei un-

ter 55mg/dl. First-line-Therapie bleibtweiterhin die Gabe von Statinen.

Zusammenfassend erfolgt mit denneuen Leitlinien der Europäischen Kar-diologengesellschaft zu Diabetes undkardiovaskulärenErkrankungen auf demBoden der in den letzten 6 Jahren hin-zugekommenen Evidenz aus großenkardiovaskulären Endpunktstudien einklarer Paradigmenwechsel: In derThera-piemit blutzuckersenkenden Substanzensteht nicht die HbA1c-Senkung im pri-mären Fokus, sondern die kardiovasku-

läre Risikoreduktion. Entsprechend derRisikostratifizierung des Patienten soll-ten zunächst unabhängig vom HbA1c-Wert solche Substanzen verabreicht wer-den, für die ein kardiovaskulärer Benefitund ggf. eine Reduktion der Gesamt-mortalität gezeigt werden konnten. Einweiterer entscheidender Schritt ist, dassMetformin für die kardiovaskuläre Ri-sikoreduktion nicht mehr First-line-Therapie für alle Patienten ist, sondernals Klasse-IIa-Empfehlung für Patien-ten mit moderatem kardiovaskuläremRisiko erwogen werden sollte. DieseEmpfehlung leitet sich strikt aus derEvidenz der UKPDS-Studie ab. Die Tat-sache, dass ein Großteil der Patientenin den angesprochenen kardiovasku-lären Outcome-Studien bei EinschlussMetformin in der Basismedikation hat-te, widerspricht dem nicht: In einigender Studien wurden entsprechende Sub-gruppenanalysen durchgeführt, und esfand sich kein Unterschied in der Ef-fektivität der untersuchten Substanzenin Abhängigkeit von der Metformin-Gabe. Die Wahrscheinlichkeit, dass diegünstigen Effekte der verschiedenenSubstanzen von der begleitenden Met-formin-Therapie abhängen, wurde vonder Leitlinienkommission als so ge-ring eingeschätzt, dass auf dem Bodender gegenwärtigen Evidenz Metforminnicht mehr als First-line-Therapie zurRisikoreduktion eingesetzt wird. Wohlaber kommt diese Substanz zum Ein-satz, wenn es um das Erreichen desHbA1c-Wertes geht. Ungeachtet dessensollte der Blutzucker bei Patienten mitDiabetes normnah eingestellt werden,um v. a. mikrovaskuläre Ereignisse zureduzieren.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. N. MarxMed. Klinik I – Kardiologie, Angiologie undInternistische Intensivmedizin, Uniklinik RWTHAachen52074, Pauwelsstr. 30 Aachen, [email protected]

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Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt. N.Marx hat Vorträge gehal-ten für Boehringer Ingelheim, Sanofi-Aventis,MSD,BMS, AstraZeneca, Lilly, NovoNordisk; N.Marx hatForschungsprojekte durchgeführt, die vonBoehrin-ger Ingelheimunterstütztwurden, und als Berater fürAmgen, Boehringer Ingelheim, Sanofi-Aventis,MSD,BMS, AstraZeneca, NovoNordisk fungiert. SämtlicheHonorare sind andieUniklinik Aachengegangen,undN.Marx hat für seine Tätigkeit keine persönlichenHonorare erhalten. Darüber hinaus hat dieUniklinikAachenHonorare für die Leitung klinischer StudienvonBoehringer IngelheimundNovoNordisk erhal-ten. Vorträge bzw. BeratertätigkeitwurdendurchS. Frantz für die FirmenAmgen, AstraZeneca, Bayer,Boehringer IngelheimundSanofi-Aventis durchge-führt. A.K. Gitt hat von folgenden FirmenfinanzielleUnterstützung erhalten für Vorträge, TeilnahmenanAdvisory Boards, allgemeine Beratung, ungebundeneForschungsunterstützungoder sonstigemedizinisch-wissenschaftliche Leistungen: Alexion, Amgen, Astra-Zeneca, Berlin-Chemie, Boehringer Ingelheim, Bristol-Myers Squibb, Daiichi Sankyo, Eli Lilly,Merck,MSD,NovoNordisk, Novartis, Pfizer, Regeneron, Sandoz, Sa-nofi. A. Zirlik hat Berater- oder Vortragshonorare undReiseunterstützung von folgenden Firmenerhalten:BayerHealth Care, AstraZeneca, Boehringer Ingel-heim, Sanofi-Aventis, Pfizer, Novartis, Bristol-MyersSquibb, Daiichi Sankyo.

Für diesenBeitragwurden vondenAutoren keineStudien anMenschenoder Tierendurchgeführt.Für die aufgeführten Studiengelten die jeweils dortangegebenen ethischenRichtlinien.

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