21

kommt, dass der Nachbar ihrer Mutter eine alte …...Die Autorin LaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1978. Seither hat sie sich mit ihren Büchern über

  • Upload
    others

  • View
    4

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: kommt, dass der Nachbar ihrer Mutter eine alte …...Die Autorin LaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1978. Seither hat sie sich mit ihren Büchern über
Page 2: kommt, dass der Nachbar ihrer Mutter eine alte …...Die Autorin LaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1978. Seither hat sie sich mit ihren Büchern über

Als ihre verwitwete Mutter erkrankt, ist Tess McPhail gezwungen, sich der Familienkrisezu stellen. Ihre Schwestern bestehen nämlich darauf, dass die erfolgreiche Sängerin ihrenAnteil an den töchterlichen Pflichten übernimmt. Bald muss Tess jedoch feststellen, dasssie nach zwei Jahrzehnten Showbusiness der Kleinstadt gründlich entwachsen ist. Hinzukommt, dass der Nachbar ihrer Mutter eine alte Jugendliebe von Tess ist, dem sie einstübel mitgespielt hat. Verständlich, dass dieser Kenny Kronek sich nicht gerade von seinerherzlichsten Seite zeigt…

»Wieder gelingt es LaVyrle Spencer aufs Vortrefflichste, mit Wärme und IntelligenzCharaktere zu entwickeln, die das Herz des Lesers erobern.« Kirkus Reviews

Page 3: kommt, dass der Nachbar ihrer Mutter eine alte …...Die Autorin LaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1978. Seither hat sie sich mit ihren Büchern über

LaVyrle Spencer

Melodie des LebensRoman

Aus dem Amerikanischen von Elke Iheukumere

Page 4: kommt, dass der Nachbar ihrer Mutter eine alte …...Die Autorin LaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1978. Seither hat sie sich mit ihren Büchern über

Die AutorinLaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1978. Seither hat sie sichmit ihren Büchern über moderne Frauen, die mit Schwung und Humor das Leben und dieLiebe meistern, einen festen Platz auf den Bestsellerlisten erobert. LaVyrle Spencer lebtmit ihrem Mann in Minnesota, USA.

Page 5: kommt, dass der Nachbar ihrer Mutter eine alte …...Die Autorin LaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1978. Seither hat sie sich mit ihren Büchern über

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel Small Town Girl bei G.P. Putnam’s Sons, The PutnamBerkley Group, Inc., New York.

Besuchen Sie uns im Internet:www.weltbild.de

Copyright der Originalausgabe © 1997 by LaVyrle SpencerGenehmigte Lizenzausgabe © 2014 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg

Übersetzung: Elke IheukumereDie Rechte an der Nutzung der deutschen Übersetzung von Elke Iheukumere liegen beim Blanvalet Verlag, München, in

der Verlagsgruppe Random House GmbHCovergestaltung: Atelier Seidel - Verlagsgrafik, Teising

Titelmotiv: © ThinkstockphotoE-Book-Produktion: Datagroup int. SRL, Timisoara

ISBN 978-3-95569-263-6

Page 6: kommt, dass der Nachbar ihrer Mutter eine alte …...Die Autorin LaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1978. Seither hat sie sich mit ihren Büchern über

Small Town Girl

Um den alten Stadtplatz schleppt sich der Verkehr.Nach achtzehn langen Jahren kommt sie wieder her.Sie hat die Welt gesehen, jetzt kommt sie nach Haus.Der Kleinstadt fehlt so vieles, alles sieht anders aus.

Eine Rückkehr ist ihr verwehrt,das hat sie das Leben gelehrt.

Im Elternhaus lebt Mama schon eine Ewigkeit.Das alte Haus ist schäbig, ein Stück aus alter Zeit.Die gleiche alte Uhr tickt an der verblich’nen Wand.

Mama will nichts ersetzen, lässt alles im alten Stand.Mama freut sich sehr,

doch sich zu ändern fällt ihr schwer.

Wie wir uns verändern,wenn wir flügge sind,wie sich alles wendet,

was wir gewusst als Kind.

Alle Leute reden über den Jungen von nebenan.Er gehört zum Gestern, das ich nicht mehr sehen kann.

Die Fügungen des Lebens haben uns achtzehn Jahr’ getrennt,nur eine Nacht mit ihm beruhigt mein Herz, das brennt.

Sag’ ade,Tränen tun weh.

Ohne zurückzusehen verlässt sie die Heimatstadt.Tief im Inneren weiß sie, dass sie sich verändert hat.

Mit Augen voller Tränen blickt sie zu der verblich’nen Wandund flüstert dann ganz leise: Mama, lass bitte alles im

alten Stand.Ich kehre zurück,

muss noch viel lernen für mein Glück.

Page 7: kommt, dass der Nachbar ihrer Mutter eine alte …...Die Autorin LaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1978. Seither hat sie sich mit ihren Büchern über

1. Kapitel

Der schwarze 300 ZX mit den getönten Fenstern wirkte in Wintergreen, Missouri, miteiner Einwohnerzahl von eintausendsiebenhundertdreizehn Menschen völlig deplatziert.Alle blickten sich nach ihm um, als einen Gang heruntergeschaltet wurde und er dann mitdröhnendem Motor um den Stadtplatz herumfuhr, hinter Conn Hendricksons schwerfälligpolterndem Sinclair-Heizölwagen und Miss Elsie Bullards 78er Buick Sedan her, dessenTachometer noch nie die Geschwindigkeit von fünfzig Meilen angezeigt hatte, seit sie ihndamals aus dem Ausstellungsraum gefahren hatte. Auf offener Straße fuhr Miss Elsiefünfundvierzig, aber in der Stadt zog sie ausgewogene fünfzehn Meilen vor.

Der ZX war jetzt direkt hinter ihr, die Musik dröhnte durch die geschlossenen Fenster.Die Bremsen quietschten und der Wagen brach nach hinten aus und zog so dieAufmerksamkeit aller auf das Nummernschild aus Tennessee.

MAC, stand darauf.Und MAC sagte alles.Vier alte Männer kamen aus Wileys Bäckerei, ihr Atem roch noch nach Kaffee, sie

bohrten sich mit Zahnstochern in den Zähnen und verfolgten den Wagen mit ihrenBlicken.

»Da ist sie.«»Sie ist wieder da.«»Und sie gibt ziemlich an.«»Das tut sie. Ein toller Wagen, den sie da fährt.«»Was macht sie überhaupt hier? Sie kommt nicht gerade oft nach Hause.«»Ihre Momma steht kurz vor einer Hüftoperation. Sie ist nach Hause gekommen, um

sich eine Weile um sie zu kümmern, so habe ich es gehört.«»Wie kann sie überhaupt etwas sehen durch diese Fenster?«»Ich habe mir schon immer gedacht, dass Menschen, die so dunkle Fenster brauchen,

etwas zu verbergen haben, ist das nicht so, Delbert?«Sie sahen dem eleganten Wagen nach, der sich hinter den von Miss Elsie geklemmt

hatte. Der Verkehr um den Stadtplatz herum bewegte sich entgegengesetzt demUhrzeigersinn, und an diesem müßigen Dienstag im April lechzte Miss Elsie, die geradevon ihrer freiwilligen Schicht im Three-Rivers-Pflegeheim kam, nach einem Erdbeereis ausMiltons Drogerie. Sie tuckerte mit der Geschwindigkeit einer herunterbrennenden Kerzeum den ganzen Stadtplatz herum und suchte nach einem Parkplatz. Der ZX folgte ihr nureinen Meter von ihrer schweren Chromstoßstange entfernt.

Im Inneren des Sportwagens hörte Tess McPhail auf zu singen und sagte laut: »Bewegdeinen Hintern, Miss Elsie!«

In den letzten fünf Stunden hatte sie ihrer eigenen Stimme auf einem groben Mitschnittihres kurz vor der Veröffentlichung stehenden Albums gelauscht, das sie in den letztenWochen in Nashville aufgenommen hatte. Ihr Produzent, Jack Greaves, hatte ihr das Band

Page 8: kommt, dass der Nachbar ihrer Mutter eine alte …...Die Autorin LaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1978. Seither hat sie sich mit ihren Büchern über

gestern gegeben, als sie gerade das Studio verlassen wollte. »Hör es dir an auf dem Wegnach Missouri«, hatte er gemeint. »Und dann rufst du mich an, wenn du angekommenbist, und lässt mich wissen, was du davon hältst.«

Das Band lief noch immer, während Tess ungeduldig mit einem langen, pflaumenblaulackierten Fingernagel auf das Lenkrad klopfte.

»Elsie, würdest du voranmachen!«Miss Elsie, deren struppiges weißes Haar von hinten aussah wie ein Ball aus

Flaumfedern, umklammerte mit beiden Händen fest das Lenkrad und fuhr weiterhin imSchneckentempo um den Platz herum. Endlich erreichte sie die Ecke, an der sie abbiegenwollte, blinkte nach rechts und machte Tess den Weg frei. Mit quietschenden Reifen fuhrTess weiter, schaltete, trat den Gashebel durch und spurtete die Sycamore hinauf; dabeimurmelte sie: »Gütiger Himmel, Kleinstädte.«

Diese hier hatte sich nicht verändert, seit sie vor achtzehn Jahren von hierweggegangen war. Es gab noch immer das Gerichtsgebäude aus rotem Backstein aufdem Stadtplatz, die alten Ladenpassagen um den Platz herum, noch immer standen diealten Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg an den Straßenecken, sahen dem Verkehr zuund warteten auf die nächste Parade, die sie aus dem Alltagstrott herausholte. Und auchdie alten Häuser entlang der Sycamore waren die gleichen geblieben. Auch wenn dieHickorybäume jetzt größer waren, sahen die meisten Häuser noch genauso aus wiedamals, als Tess den Abschluss von der High-School gemacht hatte. Dort drüben warMindy Alversons Haus: Ob ihre Eltern wohl noch dort lebten? Und was war aus Mindygeworden, Tess’ bester Freundin in dieser Zeit? Dort drüben lebte früher Mrs. Mabry. Siehatte Geometrie unterrichtet, und es war ihr nie gelungen, in Tess auch nur ein FünkchenInteresse für dieses Fach zu wecken. Tess war ein Mädchen gewesen, das all dieUnterrichtsfächer, die nichts mit Musik oder den kreativen Künsten zu tun hatten, nur amRande interessierten. Immer hatte sie behauptet, sie würde den Unterrichtsstoff nichtbrauchen, weil sie doch nach ihrem Abschluss eine große Country-und-Western-Sängerinwerden würde. Und dort war auch das Haus, in dem dieses vorlaute Gallamore-Mädchengewohnt hatte, das Mädchen, das in dem Jahr die Hauptrolle bekommen hatte, in demTess’ Klasse Oklahoma aufgeführt hatte! Tess hatte die Rolle der Laurie so gern spielenwollen, dass sie geweint hatte, als die Rollenbesetzung verkündet worden war. Allehatten gesagt, dass eigentlich ihr diese Rolle zugestanden hätte; nur weil CindyGallamores Vater im Schulausschuss saß, war sie ausgewählt worden und nicht Tess.

Nun, sie hatte es Cindy Gallamore gezeigt, oder etwa nicht? Sie fragte sich, was diegute alte Cindy heute wohl tat. Wahrscheinlich machte sie sich einmal im Monat dieDauerwelle selbst und beschäftigte sich damit, Windeln zu wechseln – in einem dieserdüsteren kleinen Häuser, die Keksschachteln glichen, während gerade Tess McPhailsneuester Nummer-Eins-Country-Hit aus dem Radio dröhnte – hinter dem Stapelschmutzigen Geschirrs auf Cindys Anrichte.

Tess ließ noch ein letztes Mal das Band von »Tarnished Gold« laufen und lauschte mitkritischer Aufmerksamkeit. Im Großen und Ganzen gefiel es ihr. Es gefiel ihr sogar sehr,

Page 9: kommt, dass der Nachbar ihrer Mutter eine alte …...Die Autorin LaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1978. Seither hat sie sich mit ihren Büchern über

mit Ausnahme eines einzigen Akkordes, der sie noch immer störte, auch nachdem sie dasStück schon etwa fünfzig oder sechzig Mal auf dem Weg hierher gehört hatte.

Sie fuhr an Judys und Eds Haus an der Thirteenth Street vorüber. Die Garagentür standoffen und ein Wagen war darin zu sehen, doch Tess sang weiter und warf nur einenflüchtigen Blick auf das Haus. Judy und ihre verdammt gebieterische Aufforderung.

»Mommas andere Hüfte muss auch noch operiert werden, und diesmal wirst du dichum sie kümmern«, hatte Judy erklärt.

Was hatte Judy schon für eine Ahnung von einer großen Karriere? Alles, was sie inihrem Leben getan hatte, war, einen Schönheitssalon zu führen. Sie hatte nicht denleisesten Schimmer, was es bedeutete, mitten aus der Arbeit zu den Aufnahmen einesneuen Albums weggeholt zu werden. Eine ganze Plattenfirma plante die Herausgabedieses Albums zu einem Datum, das schon vor mehr als einem Jahr festgesetzt wordenwar.

Aber Judy war eifersüchtig auf den Erfolg ihrer Schwester, das war sie schon immergewesen, und indem sie sich jetzt wichtig machte, rächte sie sich an Tess.

Das Letzte, was Judy ihr am Telefon gesagt hatte, war: »Du wirst hier sein, Tess, undversuche nicht, dich zu drücken!«

Dann gab es noch Tess’ mittlere Schwester, Renee. Sie lebte am anderen Ende derStadt und ihre Tochter Rachel sollte in vier Wochen heiraten. Es war verständlich, dassRenee in den letzten wenigen Wochen vor der Hochzeit noch sehr viel zu tun hatte. Aberhätten sie die Operation nicht verschieben können? Immerhin hatte Mom schon seit ihrerersten Operation vor zwei Jahren gewusst, dass auch die zweite Hüfte operiert werdenmusste.

Tess bog auf die Monroe Street ein und Erinnerungen überfielen sie, während sie dieStraße entlangfuhr. An diesen sechs Häuserblocks vorüber war sie sieben Jahre lang zurSchule gegangen. Sie hielt vor dem Haus ihrer Mutter an, stellte den Motor ab und starrteauf das Haus. Lieber Himmel, es sah heruntergekommen aus. Sie stöpselte ihr Telefonaus und stieg dann aus. Neben dem Wagen blieb sie stehen und schob sich dieHosenbeine ihrer engen Jeans hinunter, eine zierliche Frau mit einer übergroßenSonnenbrille, Cowboystiefeln und baumelnden indianischen Ohrringen aus Silber undTürkisen, mit Haar in der Farbe eines irischen Setters und heller, sommersprossiger Haut.

Ihr Herz sank, als sie das Haus betrachtete. Warum, um alles in der Welt, hatte ihreMutter es nur so herunterkommen lassen? Der Bungalow aus der Zeit vor dem ZweitenWeltkrieg war aus roten Ziegeln gebaut, aber die weiße Farbe der Holzverkleidungblätterte ab und die Stufen, die zur Veranda führten, waren schief getreten. Der Gartensah bemitleidenswert aus. Die Steinplatten auf dem Fußweg waren brüchig undabgesunken, und der Lebensbaum war so groß geworden, dass er dasWohnzimmerfenster überragte. Löwenzahn wuchs im Vorgarten.

Was tut Mom nur mit dem ganzen Geld, das ich ihr schicke?Noch vor einigen Jahren hätte Mary McPhail kein Unkraut auf der Wiese vor ihrem Haus

geduldet. Aber damals waren ihre Hüften noch gesund gewesen. Tess holte ihre

Page 10: kommt, dass der Nachbar ihrer Mutter eine alte …...Die Autorin LaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1978. Seither hat sie sich mit ihren Büchern über

übergroße graue Tasche aus weichem Leder aus dem Wagen, schlug die Tür zu und liefzum Haus. Als sie über den brüchigen Gehweg ging, musste sie wieder daran denken, wieihre kleinen Freundinnen mit ihren Puppenwagen hier gespielt hatten, während sie mitMelody, ihrer singenden Puppe, auf den Stufen der Veranda Vorstellungen gegeben hatte.

Noch ehe sie die Treppe vor der Haustür erreicht hatte, öffnete ihre Mutter die Tür undstrahlte sie an. »Ich hatte doch recht, als ich glaubte, ich hätte eine Autotür gehört!«Mary McPhails Freude war unverkennbar, sie öffnete die Fliegentür und breitete dannbeide Arme aus. »Tess, Liebling, du bist gekommen!«

»Hey, Momma.« Tess lief die Stufen hinauf und drückte ihre Mutter an sich. Sie hieltensich fest und schaukelten hin und her. Hinter ihnen fiel die Tür zu und sie waren gefangenin dem winzigen Vorraum. Mary war einen halben Kopf kleiner und fünfundvierzig Pfundschwerer als ihre Tochter, sie hatte ein rundes Gesicht und trug eine Brille mit einemMetallgestell. Als Tess sich ein wenig von ihr zurückzog, um sie anzusehen, entdeckte sieTränen in Marys Augen.

»Darfst du überhaupt herumlaufen, Momma?« In Tess’ Stimme konnte man nochimmer den Akzent des südwestlichen Missouri erkennen.

»Natürlich darf ich das. Ich bin gerade aus dem Krankenhaus gekommen. Man hat mirden Operationssaal gezeigt, hat mir Blut abgenommen, und ich musste in so eine kleinePlastikröhre pusten, damit sie sehen konnten, ob ich genug Luft in meinen Lungen habe,um die Operation zu überstehen. Und wenn ich all das habe tun können, dann werde ichwohl auch noch meine Tochter zur Begrüßung in den Arm nehmen dürfen. Nimm dieseverflixte Sonnenbrille ab, damit ich erkennen kann, wie mein kleines Mädchen aussieht.«

Tess lächelte und nahm die Sonnenbrille ab. »Ich bin es doch nur.« Sie streckte beideArme zur Seite aus.

»Nur du. Ganz bestimmt – nur du, wo ich dich seit neun Monaten nicht mehr gesehenhabe.« Mary drohte Tess mit dem Finger.

»Ich weiß. Es tut mir leid, Momma. Es war eine verrückte Zeit, wie üblich.«»Dein Haar sieht anders aus.« Mary packte sie bei den Ellbogen und betrachtete sie

aufmerksam. Tess’ Haar war in Stufen geschnitten und fiel im Nacken zerzaust bis überden Kragen ihres T-Shirts, wogegen es vorn gerade die Ohren bedeckte.

»Die Frisur haben sie mir für mein neues Album verpasst.«»Wer?«»Cathy.«»Cathy? Wer ist das noch gleich?«»Cathy Mack, meine Stylistin. Ich habe dir doch von Cathy erzählt.«Mary winkte ab. »Ich glaube schon, aber es arbeiten so viele Leute für dich, die kann

ich gar nicht alle auseinanderhalten. Und, Himmel, Mädchen, du bist so dünn geworden.Geben sie dir denn da unten in Nashville nichts zu essen?«

»Ich bemühe mich absichtlich, so schlank zu bleiben, Momma, das weißt du doch – unddu weißt auch, dass so etwas nicht von selbst kommt –, also bitte, versuche gar nichterst, mich zum Essen zu zwingen, okay?«

Page 11: kommt, dass der Nachbar ihrer Mutter eine alte …...Die Autorin LaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1978. Seither hat sie sich mit ihren Büchern über

Mary wandte sich um und humpelte ins Haus. »Nun, ich würde denken, wenn du so vielGeld verdienst, dann könntest du auch ein wenig besser essen.«

Tess widerstand dem Wunsch, mit den Augen zu rollen. Sie setzte ihre Sonnenbrillewieder auf und folgte Mary ins Haus. Sie gingen durch das niedrige Wohnzimmer, das dieganze Vorderseite des Hauses einnahm. Das Zimmer lag nach Westen, es hatte unebenverputzte Wände und abgenutzte Möbel standen darin – das auffallendste Stück darunterwar ein Klavier. Von den drei Bogengängen in der gegenüberliegenden Wand führte dermittlere nach oben, der rechte ins Bad und zu Marys Schlafzimmer und der linke zurKüche und dem hinteren Teil des Hauses. Mary humpelte durch den linken.

»Ich dachte immer, Country-Sängerinnen trügen langes Haar.«»Schon lange nicht mehr, Momma. Die Dinge in der Country-Musik haben sich

geändert.«»Aber du hast all deine hübschen Naturlocken geglättet. Ich habe deine Locken immer

sehr geliebt.«»Sie möchten, dass ich modern aussehe.«Marys eigenes Haar könnte auch einen Friseur gebrauchen, dachte Tess und starrte auf

eine Stelle auf ihrem Hinterkopf, wo sie die Kopfhaut sehen konnte. Mary hatte esaufgegeben, ihr Haar zu färben, sie ließ es natürlich wachsen, und es hatte jetzt einesilbrig-graue Farbe. Doch noch viel schlimmer war die schmerzhafte Art, wie sie sichvorwärts bewegte. Immer wenn sie das Gewicht auf ihr rechtes Bein verlagerte,schwankte sie zu dieser Seite und musste sich an Möbeln oder an der Wand festhalten.

»Bist du sicher, dass es gut ist, wenn du herumläufst, Momma?«»Die Operation wird mich noch lange genug von den Beinen holen. Solange ich noch

herumhumpeln kann, werde ich das auch tun.«Sie war eine gedrungene, untersetzte Frau von vierundsiebzig Jahren, in einen

abscheulichen alten Hosenanzug aus Polyester gekleidet, der ausgebeult war. Die Hosewar lavendelfarben, das Oberteil war einmal weiß gewesen, mit einem Muster ausStiefmütterchen, die mittlerweile so verblasst waren, dass sie kaum noch zu erkennenwaren. Der Anzug war mindestens fünfzehn Jahre alt. Tess fragte sich, ob ihre Mutterheute im Krankenhaus wohl so gekleidet gewesen war. Sie fragte sich auch, was mit demeleganten seidenen Hosenanzug geschehen war, den sie ihr bei Nordstroms gekaufthatte, als sie im letzten Herbst auf der Konzerttournee in Seattle gewesen war.

»Die Küche sieht noch immer so aus wie früher«, bemerkte sie, als Mary Wasser in dieKaffeemaschine goss.

»Sie ist alt, aber mir gefällt sie so.«Die Küche hatte weiße Schränke mit Arbeitsplatten aus braun beschichtetem

Kunststoff, die so abgenutzt waren, dass sie an einigen Stellen schon ganz weiß waren.Tess hatte schon oft mit Mary geschimpft, weil sie keine Unterlage benutzte, aber Maryschnitt noch immer alle Sachen auf der Arbeitsplatte neben der Spüle. Die Wände derKüche waren mit einer grässlichen Tapete mit orangefarbenen Blumen tapeziert und anden Fenstern hingen orangefarbene Gardinen mit einem Blumenmuster. Dann gab es

Page 12: kommt, dass der Nachbar ihrer Mutter eine alte …...Die Autorin LaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1978. Seither hat sie sich mit ihren Büchern über

noch eine Uhr mit dem Bild eines Sees auf dem Zifferblatt und einen Elektroherd mit einergroßen Beule. Die hatte er bekommen, weil Judy einmal mit dem Topf dagegengestoßenwar, als die drei Mädchen sich stritten, wer das Popcorn machen sollte. Und neben demHerd thronte auf der in düsterem Braun gestrichenen Anrichte ein selbst gebackenerNusskuchen, in dem sich in jedem Stück ungefähr dreihundert Kalorien versteckten.

Tess unterbrach ihre Betrachtung. »Oh, Momma, du hast doch nicht etwa ...«Mary wandte sich um und sah, wohin Tess’ Blicke gingen. »Natürlich habe ich. Ich

konnte doch nicht zulassen, dass mein kleines Mädchen nach Hause kommt, ohne dassihre Lieblingsspeisen auf sie warten.«

Etwas in der Art, wie sie die Worte »kleines Mädchen« aussprach, ging Tess auf dieNerven. Sie war fünfunddreißig Jahre alt, und sie war von zu Hause weggegangen, gleichnachdem sie ihren Abschluss an der High-School gemacht hatte. Ihr Gesicht und ihr Namewaren den meisten Amerikanern so bekannt wie das des Präsidenten und ihr Einkommenüberstieg das Seine um ein Mehrfaches. Sie hatte das alles mit ihrem Talent, ihrerKreativität und einer Geschäftstüchtigkeit geschafft, die der Wall Street würdig gewesenwäre. Doch ihre Mutter bestand noch immer darauf, Tess ihr »kleines Mädchen« zunennen. Die wenigen Male, wo Tess sie korrigiert hatte, indem sie behauptete: »Ich binnicht mehr dein kleines Mädchen«, hatte Mary verwirrt und verletzt reagiert. Deshalbsagte Tess jetzt nichts.

»Kochst du diesen Kaffee für mich?«, fragte sie.»Du kannst doch keinen Nusskuchen essen, ohne dazu Kaffee zu trinken.«»Ich trinke kaum noch Kaffee, Momma ... und ich sollte auch keinen Kuchen essen.«Mary warf ihr über ihre Schulter einen Blick zu. Ihre überschwängliche Laune

verschwand und sie drehte langsam den Wasserhahn zu. Der verwirrte Ausdruck lagwieder in ihren Augen, der Ausdruck einer Generation, die sich bemühte, dienachfolgende zu verstehen. »Oh ... na ja ... dann ... was soll’s ...« Sie blickte auf den halbgefüllten Topf, dann ließ sie das Wasser wieder auslaufen. »Dann werde ich den Kaffeeeben für mich selbst kochen.«

»Hast du kein Obst, Mom?« Tess ging zum Kühlschrank und öffnete die Tür.»Obst?«, fragte Mary, als habe ihre Tochter gerade pâté de foie gras gefordert.»Ich esse sehr viel Obst und ich könnte jetzt etwas brauchen. Ich habe seit dem

Frühstück nichts mehr gegessen.«»Ich habe noch ein paar Dosenpfirsiche.« Mary öffnete die Tür eines Schrankes und

beugte sich unbeholfen vor.»Ja, das wäre nett, aber ich kann sie mir selbst holen. Hey, warum setzt du dich nicht

und lässt mich die Arbeit tun?«»Es geht mir auch nicht besser, wenn ich sitze. Ich mache das schon. Warum holst du

nicht deine Sachen aus dem Wagen und bringst sie nach oben?« Mary hatte die Pfirsichegefunden und suchte in der Schublade nach einem Büchsenöffner. Tess griff in dieSchublade und legte ihre Hand auf die ihrer Mutter.

»Weil ich nach Hause gekommen bin, um mich um dich zu kümmern, und nicht

Page 13: kommt, dass der Nachbar ihrer Mutter eine alte …...Die Autorin LaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1978. Seither hat sie sich mit ihren Büchern über

umgekehrt. Also, du lässt mich das jetzt machen.«Die Pfirsiche waren in dicken Sirup eingelegt und hatten eine verschrumpelte,

gummiartige Haut über einem weichen Fruchtfleisch, doch Tess nahm eine Gabel und aßsie gleich aus der Dose. Dabei wanderte sie in der Küche hin und her, sie sah sich dieNotizen an, die an einer Pinnwand neben dem Telefon hingen. Die Pinnwand selbst waraus hässlichem Plastik und sah aus wie grüne Erbsen. Schulbilder ihrer Nichten undNeffen hingen daran, eine Notiz, die Telefonrechnung zu überprüfen, um festzustellen, obman ihre Gespräche falsch abgerechnet hatte, und einige Lebensmittelcoupons, die ihreMutter aus den Zeitungen ausgeschnitten hatte. Tide – fünfundzwanzig Cent billiger.Wieder einmal fragte sich Tess, was ihre Mutter wohl mit dem Geld tat, das sie ihrschickte. Es irritierte sie, dass Mary noch immer Coupons aus den Zeitungen ausschnitt,mit denen sie fünfundzwanzig Cent sparen konnte, wenn das doch so verdammt unnötigwar!

Mary öffnete die Tür des Kühlschrankes. »Ich habe dir dein Lieblingsessen gemacht –Hamburger und Tater Tots. Ich könnte es jetzt gleich in den Ofen stellen, aber« – siewarf einen Blick auf die Uhr an der Wand – »es ist erst vier Uhr und es dauert eineStunde, bis es gar ist. Fünf Uhr ist zu früh zum Abendessen, vielleicht sollten wir also nochetwas warten und ...«

»Die Pfirsiche reichen aus für den Augenblick, Momma. Ich weiß, dass du immer erstum sechs Uhr zu Abend isst.«

Sie sah die Erleichterung in Marys Gesicht, als diese feststellte, dass sie ihren Zeitplanfür das Abendessen nicht ändern musste. Tater Tots waren Tess’ Lieblingsessengewesen, als sie zwölf Jahre alt war. Heutzutage aß sie nur noch einmal in der WocheRindfleisch, und tiefgefrorene Tater Tots kamen bei ihr gar nicht mehr auf den Tisch.Schließlich besaß sie eine ganze Kollektion maßgeschneiderter Konzertkleidung in derGröße achtunddreißig, die zwischen acht- und zehntausend Dollar das Stück gekostethatte. Sie nahm die Büchse mit den Pfirsichen mit an den Küchentisch und setzte sich.Mitten auf dem Tisch stand eine Topfpflanze auf einem Plastikuntersetzer, der so hässlichwar, wie Tess noch keinen gesehen hatte. Genau wie das Oberteil von Marys Hosenanzugmusste er einmal weiß gewesen sein. Doch jetzt war er vergilbt und verbogen, wie alteFischschuppen sah er aus.

Mary goss sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sich zu Tess an den Tisch. Vorsichtigsank sie auf dem Stuhl mit den Beinen aus Chrom und dem aufgeplatzten Sitz aus Vinyl,der sich unter einem Kissen aus braunen und orangefarbenen Blumen versteckte. Sieblickte auf Tess’ übergroßes T-Shirt mit den vier Gesichtern darauf und einem Logo.

»Was bedeutet das, ›Southern Smoke‹?«, fragte sie.Tess blickte auf ihre Brust. »Oh, das ist der Name einer Band, die ich kenne. Sie

versuchen, berühmt zu werden, aber bis jetzt haben sie es noch nicht geschafft. Ich binein paarmal mit einem der Gitarristen ausgegangen. Dieser hier ... siehst du?« Tess zogdas T-Shirt gerade und deutete auf ein bärtiges Gesicht.

Mary zog die Augen zusammen. »Wie heißt er denn?«

Page 14: kommt, dass der Nachbar ihrer Mutter eine alte …...Die Autorin LaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1978. Seither hat sie sich mit ihren Büchern über

»Burt Sheer.«»Burt Sheer, hm. Wie lange gehst du denn schon mit ihm aus?«»Oh, erst ein paar Monate.«»Ist es etwas Ernstes?«»In unserem Geschäft?« Tess lachte. »Besser nicht.«»Aber warum denn nicht?«»Mit seinen Konzertterminen und meinen Auftritten in ganz Amerika, wo ich

hundertfünfzig Konzerte im Jahr gebe? Und zusätzlich dazu nehme ich noch dieses neueAlbum auf, das eine riesige Menge an Zeit kostet. Dann muss ich noch die Werbetourdafür machen, wohin auch immer die Plattenfirma mich schickt ... na ja, ich habe Burt indieser ganzen Zeit genau viermal gesehen. Und dabei musste ich sogar noch ein paarmalmit Jack streiten, weil er der Meinung war, ich sollte nach Hause gehen und schlafen undmir nicht noch Burts Band im Stockyard anhören, nachdem ich bis zehn Uhr am Abend imAufnahmestudio gewesen war.«

»Was ist denn Stockyard?«»Ein Restaurant und ein Club, in den wir manchmal gehen.«»Und wer ist gleich Jack noch einmal?«»Jack Greaves ... mein Plattenproduzent.«»Oh, richtig.« Tess sah, wie der kleine Hoffnungsschimmer aus den Augen ihrer Mutter

schwand und sie wusste, dass Mary nicht verstand, worum es ging. Sie konnte dieTatsachen nicht akzeptieren, dass ihre jüngste Tochter die Karriere einer Ehe und Kindernvorgezogen hatte. Für eine Frau wie Mary McPhail, die ganz in ihrer Rolle als Mutteraufging, war dies gleichbedeutend mit einem verschwendeten Leben.

»Das erinnert mich daran – ich muss unbedingt Jack anrufen. Er überspielt gerade nocheinige Musikspuren auf einen meiner neuen Songs und ich muss unbedingt mit ihmdarüber reden. Es wird nicht lange dauern.«

Sie benutzte ihre Kreditkarte für den Anruf von dem Telefon an der Wand in der Küche,und sie erreichte Jack im Wildwood Studio, da sie wusste, dass er heute dort arbeitete.

»Hi, Jack.«»Mac! Schön, von dir zu hören. Bist du bei deiner Mutter?«»Jawohl, Sir. Ich bin gesund und munter hier angekommen.«»Wie geht es ihr?«»Na ja, so mittelmäßig.«»Also, dann sag ihr doch bitte von mir, dass ich hoffe, dass alles gut gehen wird.«»Danke, das werde ich ihr sagen. Hey, ich habe mir den ganzen Weg hierher

›Tarnished Gold‹ angehört und der Akkord auf dem Wort ›irren‹ stört mich noch immer.Ich denke, dieser Akkord sollte ein ›Es‹ sein und kein ›E‹. Das würde dem Wort selbst vielmehr Pathos geben.« Sie sang ihm die Stelle vor und gestikulierte dabei mit der Hand, alswürde sie die Töpfe auf dem Küchenregal dirigieren. »Verstehst du, was ich meine, Jack?... Kannst du Carla noch einmal ins Studio holen, um die Stelle neu aufzunehmen? ... Hatsie noch immer Probleme mit ihrer Stimme? ... Na ja, dann bitte sie darum, wirst du das

Page 15: kommt, dass der Nachbar ihrer Mutter eine alte …...Die Autorin LaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1978. Seither hat sie sich mit ihren Büchern über

tun? ... Danke, Jack, und dann schickst du mir die neue Aufnahme bitte per Express,sobald sie fertig ist, aber du brauchst dir nicht erst die Zeit zu nehmen, alleszusammenzumischen, ehe ich nicht die neue Aufnahme gehört habe, okay? Du hast dieTelefonnummer meiner Mutter und auch die Adresse, stimmt’s? Morgen werde ich nichthier sein – morgen ist die Operation –, aber ich rufe dich aus dem Krankenhaus an.Sicher. Danke, Jack. Tschüs.«

Als sie den Hörer aufgelegt hatte, sah sie in das erstaunte Gesicht ihrer Mutter. »Duwillst etwas ganz neu aufnehmen, nur wegen einer einzigen Note?«

»So wird das immer gemacht. Manchmal nehmen wir eine ganze Klangspur auf undbenutzen sie dann hinterher gar nicht. Und in der letzten Woche hat Jack einenKonzertgeiger ins Studio geholt, weil ich darauf bestanden habe, denn eine Geige hateinen völlig anderen Klang als eine Fidel, und ich fand, dass dieser Song ein Geigensolohaben sollte an einer Stelle, wo ...«

Das Telefon läutete und unterbrach sie, und Mary versuchte aufzustehen. Sie zucktezusammen, weil ihr die Bewegung wehtat. »Ich gehe dran«, sagte Tess schnell. »Ichstehe ja noch hier.« Sie griff nach dem Hörer. »Hallo?«

»Oh ... du bist also doch gekommen.« Es war ihre Schwester Judy, mit sehr wenigWärme in ihrer Stimme. »Ich wollte mich nur versichern, dass du auch da bist.«

»Ich bin hier. Vor ungefähr einer halben Stunde bin ich gekommen.«»Wie ich gehört habe, bist du mit dem Wagen gekommen.«»Woher hast du das gehört?«»Die Leute in der Stadt haben dein Nummernschild gelesen.«Tess wandte ihrer Mutter den Rücken zu. »Ich fand, ich sollte meinen eigenen Wagen

haben, während ich hier bin«, meinte sie. »Vier Wochen sind ...« Sie hielt inne, ihreMutter konnte jedes Wort hören.

Judy beendete den Satz für sie. »Eine lange Zeit ... Ich weiß. Ich habe Mutter beimletzten Mal versorgt, du erinnerst dich doch sicher.«

Einen Augenblick lang herrschte feindseliges Schweigen, während die beidenSchwestern sich wieder an die Unterhaltung erinnerten, als Judy ihrer jüngeren Schwesterbefohlen hatte, nach Hause zu kommen.

Schließlich fragte Judy: »Wie geht es ihr denn heute? Sie musste wegen derVoruntersuchungen ins Krankenhaus und man hat sie wohl auch herumgeführt und ihralles erklärt. Ich nehme an, das hat sie ermüdet.«

Tess wandte sich zu ihrer Mutter um. »Judy möchte wissen, wie du dich fühlst,Momma.«

»Sag ihr, es geht mir gut. Die Schwester meint, mein Hämoglobin ist normal undmeine Lungenfunktion ist gut, also ist für morgen alles bereit.«

Tess wiederholte die Worte ihrer Mutter. »Nun, grüße sie von mir«, meinte Judy. »Sagihr, dass ich heute Abend nicht mehr kommen kann, aber ich werde im Krankenhaus sein,ehe sie morgen früh in den Operationssaal muss. Du musst dafür sorgen, dass sie umsechs Uhr im Krankenhaus ist, denn die Operation ist für halb sieben angesetzt. Hat sie

Page 16: kommt, dass der Nachbar ihrer Mutter eine alte …...Die Autorin LaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1978. Seither hat sie sich mit ihren Büchern über

dir das gesagt?« Judy stellte diese Frage mit scharfer Stimme.»Keine Sorge, sie wird da sein.«»Na gut. Dann werden wir uns also morgen sehen.«Mary versuchte noch einmal, von ihrem Stuhl aufzustehen. »Augenblick, ich möchte mit

ihr sprechen.«»Warte. Momma möchte mit dir reden.«Mit großer Mühe stand Mary auf und ging zum Telefon hinüber. Als sie mit Judy sprach,

trat Tess zu dem Fenster neben dem Küchentisch und starrte hinaus. Das Fenster gingauf den Garten neben dem Haus hinaus, in dem einige übergroße, wucherndeRhododendronbüsche ihr Grundstück vom Grundstück der Andersons nebenan trennten.

»Hey, Liebes. Danke, dass du die Lebensmittel für mich geholt hast. Ich bezahle siedir, wenn wir uns das nächste Mal sehen ... Nein, nein, nein, du wirst mir nicht meineLebensmittel bezahlen! Ich sorge schon dafür, dass du das Geld bekommst. Ich finde esnett von dir, dass du sie für mich geholt hast. Wie ist es Nicky ergangen bei seinemLaufwettbewerb? ... Oh, ist das nicht wundervoll? Und hat Tricia ein Kleid für denSchulball gefunden? ... So weit weg! Konnte sie in der Stadt nichts finden? ... Nun, siewird bezaubernd aussehen, da bin ich ganz sicher. Sag ihr, sie soll sich richtig gutamüsieren, ich werde am Samstagabend an sie denken ... Okay, werde ich ... ja ... ja.Tschüs.«

Während sie Marys Unterhaltung mit ihrer Schwester lauschte, hatte Tess das Gefühl,als sei sie Lichtjahre entfernt von ihrer Familie. Diese verband eine Beziehungmiteinander, bei der sie einander beinahe täglich sahen, und auch die Sorgen, die Tessalle hinter sich gelassen hatte, als sie ihr Zuhause verließ. Telefongespräche aus Houstonund Oklahoma City waren nicht das Gleiche wie Lebensmittel, die man dem anderen inden Kühlschrank räumte, oder wie das Leben der Enkelkinder, die ihre Großmutterbeinahe täglich sahen.

Auf der anderen Seite klangen ihre Sorgen in Tess’ Ohren belanglos, verglichen mitihren eigenen. Hatten sie schon im Haus des Gouverneurs gesungen oder Preise in derHauptsendezeit im Fernsehen entgegengenommen? Hatten sie Hallen mit dreißigtausendFans gefüllt, deren Eintrittsgelder für Dutzende von Menschen den Lebensunterhaltbedeuteten, angefangen von den Studiotechnikern über die Diskjockeys, Bühnenhelfer biszum Produzenten, von Los Angeles bis New York? Hatten sie sich Sorgen machen müssen,um Termine einzuhalten für ein Plattenalbum, für das die Werbung und derAuslieferungstermin schon feststanden, noch ehe die Songs überhaupt geschriebenwaren?

Ballkleider, Laufwettbewerbe und Lebensmittel – all diese Dinge berührten das Lebenvon Tess nicht länger. Und so sollte es auch sein.

Mary legte den Hörer wieder auf. »Ich schwöre dir ... Judy hat in dieser Woche alleHände voll zu tun. Sie hat am Dienstag für Rachel ein Fest zum Anlass ihrer Hochzeitgegeben und der Schulball findet an diesem Samstag statt. Jedes Mädchen in der Schulehat einen Termin in ihrem Laden gemacht, um sich von ihr das Haar frisieren zu lassen,

Page 17: kommt, dass der Nachbar ihrer Mutter eine alte …...Die Autorin LaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1978. Seither hat sie sich mit ihren Büchern über

sie hat also unheimlich viel zu tun. Und wie es aussieht, hat Nicky an jedem Abend nachder Schule irgendeine Sportveranstaltung, bei der sie auch dabei sein muss. Und als wäredas noch nicht genug, hat Tricia auch noch darauf bestanden, bis nach Cape Girardeau zufahren, um ein Ballkleid zu kaufen. Ich sage Judy immer wieder, dass sie den Kindernauch mal etwas abschlagen muss.«

»So wie du es bei uns gemacht hast?«, antwortete Tess.Mary sah sie überrascht an. »Habe ich bei euch Nein gesagt?«»Ich erinnere mich an ein paar Gelegenheiten. Eine davon war, als ich mir einen

gepolsterten Büstenhalter kaufen wollte, weil ich ganz verrückt war nach Kelvin Hazlitt,der zwei Jahre älter war als ich und mich überhaupt nicht angesehen hat. Ich dachte,wenn ich Brüste hätte wie ... na ja, du weißt schon ...« Tess machte mit den Händen dieentsprechende Bewegung und hob sie vor ihre Brust. »Wie ein schwangeres Rhinozeros,dann würde Kelvin mich bitten, mit ihm auszugehen. Ich mache dir noch heute einenVorwurf, weil er es nicht getan hat.«

Mary lachte vergnügt und humpelte zum Tisch. »Kelvin Hazlitt ist mittlerweile schondas dritte Mal verheiratet. Gut, dass ich damals Nein gesagt habe.«

»Ein anderes Mal hast du Nein gesagt, als ich mich tätowieren lassen wollte.«»Tätowieren! Himmel, daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern.«»Aber sicher. Mindy hatte eine Tätowierung, und ich dachte damals, ich müsste all das

haben, was Mindy hatte. Hast du übrigens etwas von Mindy gehört? Ich bin am Haus ihrerEltern vorbeigekommen und habe mich gefragt, was wohl aus ihr geworden ist.«

»Mindy ist wieder in der Stadt. Sie und ihr Mann besitzen ein Geschäft fürHaushaltsgeräte hier in der Stadt und sie haben drei Kinder, die alle noch zur Schulegehen. Eines davon ist in der gleichen Klasse wie eines von Renees Kindern, glaube ich.«

Während Mary weitererzählte, stellte Tess die restlichen Pfirsiche in den Kühlschrankund legte die Gabel in die Spüle. Aus dem Fenster über der Spüle konnte sie auf deranderen Seite einer kleinen Gasse den Hinterhof von Mrs. Kronek sehen. Die beidenHäuser wurden durch den unbefestigten Weg getrennt, und die beiden Grundstückewaren einander vollkommen gleich, nur spiegelverkehrt. Die beiden Häuser, dieGartenwege, Wäscheleinen, Gärten und Garagen stimmten überein wie die Flecken aufden Flügeln eines Schmetterlings. Die Garagen waren alt, sie standen einzeln direkt andem Weg, sodass die beiden Tore zu dem Weg einen rechten Winkel bildeten. WährendTess aus dem Fenster sah, begann eines der Tore sich zu heben, dann fuhr ein Wagenüber den Weg und in Mrs. Kroneks Garage. Einen Augenblick später trat ein großer Mannin einem Anzug aus der Garage, der in der Hand einen Aktenkoffer trug. Er ließ dasGaragentor offen, blickte zu ihrem Haus hinüber und ging dann über den Hinterhof zurHintertür von Mrs. Kroneks Haus.

»Wer ist denn das?«, wollte Tess wissen.Mary trat neben sie und sah aus dem Fenster. »Aber das ist doch Kenny Kronek, du

erinnerst dich sicher an ihn.«»Kenny Kronek?« Tess sah, wie er die Treppe hinaufging und dann in dem

Page 18: kommt, dass der Nachbar ihrer Mutter eine alte …...Die Autorin LaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1978. Seither hat sie sich mit ihren Büchern über

Wintergarten aus Glas verschwand. Er war groß und schlank, mit dunklem Haar. Der Windblies seine Krawatte zur Seite, und ehe die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, warf er nocheinen Blick zu ihrem Haus hinüber. »Du meinst doch nicht etwa diesen Sonderling, der inder Schule immer Nasenbluten hatte?«

»Tess, du solltest dich schämen. Kenny Kronek ist ein netter Junge.«»Oh, Momma, das hast du immer schon gesagt, nur weil er Lucilles Sohn ist und sie

deine beste Freundin war. Aber du weißt genauso gut wie ich, dass er ein Dummkopf war,wie es schlimmer keinen gegeben hat. Er war so dumm, er konnte noch nicht einmal übereinen Kreidestrich laufen, ohne darüber zu stolpern. Und all diese Pickel, die er hatte! Ichkann noch immer die Aknesalbe riechen, mit der er sich eingeschmiert hat.«

»Kenny hat sich um seine Mutter gekümmert bis zu ihrem Tod, und es gibt viele netteMenschen auf der Welt, die ein wenig ungelenk sind, Tess. Außerdem ist er ein wirklichguter Vater, und er kümmert sich sehr gut um das Haus, seit Lucille gestorben ist, ichkann mich in keinerlei Hinsicht über ihn beklagen.«

»Willst du damit sagen, dass es wirklich eine Frau gegeben hat, die diesen Manngeheiratet hat?«

»Natürlich hat ihn jemand geheiratet. Ein Mädchen, das er im College kennengelernthat, Stephanie. Aber jetzt sind die beiden geschieden.«

»Kein Wunder«, murmelte Tess leise vor sich hin und wandte dem Fenster den Rückenzu.

»Tess«, sagte ihre Mutter, mit einer leisen Ermahnung in der Stimme.»Nun ja, er hat immer ...« Tess gestikulierte mit den Händen, als fände sie nicht das

richtige Wort. »Er hat mich immer so angesehen. Du weißt schon, was ich sagen will.« Sietat, als würde ein Schauer durch ihren Körper laufen. »Er war ein solcher Schleimer.«

»Das finde ich gar nicht.«»Du vielleicht nicht, aber alle Mädchen in der Schule, das ist ganz sicher.«»Ach, Tess, komm schon.«»Es stimmt aber. Das einzige Fach, das wir zusammen hatten, war der Chor, als ich

noch in der unteren Klasse war und er in der höheren. Weißt du noch, als wir zu demChorfestival nach St. Louis gefahren sind? Wir sind mit dem Bus gefahren, und Kenny hatsich neben mich gesetzt, und ich bin ihn nicht wieder losgeworden. Er saß neben mir, mitall seinen Pickeln und seinem langen, dürren Hals und diesem Adamsapfel, der aussahwie eine Pampelmuse in einer Socke. Und er wurde so rot und war so verlegen, dass ersofort wieder Nasenbluten bekam. Und sein Haar – Himmel, Mutter, weißt du noch, wieer immer sein Haar kämmte? Wir saßen also nebeneinander in diesem Bus, und erversuchte, mit mir Händchen zu halten!«

»Na und, was ist denn schon dabei?«»Mutter, das war in den Siebzigerjahren! Die meisten Mädchen, die ich kannte,

schliefen schon mit ihren Freunden. Und ausgerechnet Kenny Kronek – der größte Trottelvon allen – kommt zu mir und versucht, all seinen Mut zusammenzunehmen, um meineHand zu halten! Ich schwöre dir, meine Freundinnen haben sich so sehr über mich lustig

Page 19: kommt, dass der Nachbar ihrer Mutter eine alte …...Die Autorin LaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1978. Seither hat sie sich mit ihren Büchern über

gemacht, dass ich dachte, ich würde sterben.«»Ihr Kinder wart so gemein zu ihm.«»Mom, es gab Kinder, mit denen war man befreundet, und andere Kinder, von denen

wollte man nichts wissen. Und Kenny Krones gehörte entschieden in die zweite Gruppe.«»Trotzdem hättest du ein wenig netter zu ihm sein können.«»Nein, ganz bestimmt nicht. Nicht zu diesem Trottel. Er hätte sich nur ein wenig

umsehen müssen, hätte sich die anderen ansehen müssen, um festzustellen, wie idiotischer selbst aussah, und er hätte sich dann ändern müssen. Doch das hat er nie getan.Wenn er mit uns zusammen sein wollte, dann hätte er sich ein wenig mehr Mühe gebenmüssen.«

Mary zeigte ihren Unwillen nicht gern offen, doch gab es genug Anzeichen dafür – einMuskel in ihrem Gesicht, der sich anspannte, die Art, wie sie die Kaffeetasse in die Handnahm und sie zur Spüle trug. Mir ruhiger Stimme erwiderte sie: »Warum holst du nichtdein Gepäck aus dem Wagen und stellst dann den Wagen vor die Garage? Dort steht ersicher besser, als wenn du ihn die Nacht über auf der Straße stehen lässt, einen so teurenWagen.«

Tess wusste, dass ihre Mutter sie auf diese Art zurechtwies, und sie verspürte einendicken Kloß im Hals. Wieso traf einen der Unmut einer Mutter nur um so vieles schwererals der eines anderen Menschen? Tess konnte die schwierigsten geschäftlichenVerhandlungen führen, in der Welt der Unterhaltungsindustrie bewegte sie sich wie einProfi, sie traf ihre eigenen Entscheidungen und produzierte Musik, für die sie Respekt – jasogar Ehrfurcht – erntete. Doch jetzt war sie noch keine Stunde zu Hause und fühltebereits die Einschränkungen, die ihr auferlegt wurden, weil sie versuchte, an einen Ortzurückzukehren, dem sie längst entwachsen war.

Sie fuhr bis zum südlichsten Ende des Häuserblocks und bog von dort in die Gasse ein,vorbei an alten Schuppen und an Garagen, hinter denen sie als Kind Verstecken undFußball mit alten Dosen gespielt hatte, vorüber an Magnolienbäumen und wildem Wein,der Dinge überwuchert hatte, die er eigentlich gar nicht überwuchern sollte. Es gab dortStapel aus schwarz gewordenem Holz und alte Fässer, die nicht mehr gebraucht wurden.Jedes Haus besaß einen Garten. Diese Gärten waren üppig grün und so alt, dass ihreGrenzen überwuchert waren von Bäumen, die ihre Samen zwischen den Schuppen verteilthatten, und von Büschen, die in die Nachbargrundstücke hineinwuchsen. Aber hier inWintergreen, ein Stück über dem Stiefelabsatz von Missouri, wo Nachbarn noch wirklicheNachbarn waren und es seit zwanzig oder dreißig Jahren gewesen waren, kümmerte sichniemand um den genauen Grenzverlauf.

Marys Garage war genauso alt wie die der anderen und sie brauchte dringend einenneuen Anstrich. Überraschenderweise besaß sie jedoch ein neues Tor. Vor dieses Torstellte Tess jetzt ihren Wagen und warf einen Blick auf das Haus auf der anderen Seiteder Gasse. Alles war frisch gestrichen und gepflegt, nirgendwo rankte wilder Wein undkein einziges Stück Abfall lag herum. Ein Pluspunkt für den heiligen Kenny, dachte Tesssarkastisch, nahm ihr Gepäck aus dem Wagen und ging zum Haus. Auf dem Weg über

Page 20: kommt, dass der Nachbar ihrer Mutter eine alte …...Die Autorin LaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1978. Seither hat sie sich mit ihren Büchern über

den Hinterhof stellte sie fest, dass ihre Mutter es irgendwie geschafft hatte, den Gartenzu bestellen. Dieser Garten war Tradition, ganz gleich, wie unnütz er auch war oder welchgroße Schmerzen ihre Mutter hatte ertragen müssen, als sie auf Knien die Saatausgebracht hatte. Tess bemerkte, dass alles wunderbar wuchs, weil der Frühling indiesem Jahr sehr früh eingesetzt hatte. Und wenn sie richtig rechnete, dann würde siewohl in den nächsten vier Wochen auch für den Garten sorgen dürfen. Ganz sicher würdedas ihre Fingernägel ruinieren! Und ihre Fingernägel waren eines ihrer Markenzeichen.

Die Treppe zur Hintertür hatte drei Stufen mit einem Handlauf aus schwarzem Eisen aneiner Seite. Tess fragte sich, wie Mary diese Stufen wohl nach der Operation schaffenwürde. Im Inneren des Hauses gab es einen kleinen Flur, von wo aus die Tür in den Kellerführte und man über eine weitere Stufe nach rechts durch eine Tür in die Küche gelangte.Als Tess das Haus erreicht hatte und mit ihrem Gepäck durch die Küche ging, rief sie überihre Schulter: »Hey, Momma, du hättest mit deiner schlimmen Hüfte nicht auch noch denGarten bestellen sollen.«

Sie war schon im Wohnzimmer, als Mary antwortete: »Oh, das habe ich gar nichtgetan. Kenny hat das in diesem Jahr für mich gemacht.«

Tess blieb abrupt stehen und trat dann von der ersten Stufe der Treppe wiederherunter, die sie gerade hatte hinaufgehen wollen. Sie blickte zu dem Bogengang, der indie Küche führte. Doch sie konnte nur die Tischbeine und das Fenster dahinter erkennen,und im Geiste stellte sie sich vor, wie der picklige Kenny Kronek Mutters Tomatengepflanzt hatte.

»Er hat einen Rotorpflug«, erklärte Mary weiter. »Und er hat es mir angeboten, alsohabe ich zugestimmt.«

Der heilige Kenny mit dem Rotorpflug, dachte Tess und verzog das Gesicht, als sie dieTreppe hinaufpolterte.

Mary rief ihr hinterher: »Und hast du mein neues Garagentor gesehen? Er hat es fürmich eingebaut.«

Tess hielt mitten in der Bewegung inne, ihr Gepäck stellte sie auf der Treppe ab. DerTölpel hatte auch noch das Garagentor eingebaut? Was beabsichtigte er wohl damit?

Die obere Etage des Hauses bestand aus nur einem Raum mit schrägen Wänden undje einem Fenster an beiden Seiten. Die Mädchen hatten dieses Zimmer immer dieBaracke genannt, als sie noch darin wohnten. Drei Betten standen mit dem Kopfendegegen die südliche Wand, die Treppe befand sich an der östlichen Seite, und um dieTreppenöffnung herum war ein kräftiges, selbst gebautes Geländer, das dafür sorgte,dass niemand hinunterfallen konnte. Gleich am oberen Ende der Treppe war ein Fenster,von dem aus man in den Garten des heiligen Kenny sehen konnte. Tess ging daranvorbei, ohne auch nur einen Blick hinauszuwerfen, sie ging um das Geländer herum undblickte zur anderen Seite des Raumes.

Die Betten standen links, neben jedem Bett stand eine Kommode. Am anderen Endedes Raumes befand sich unter dem Fenster ein kleiner Toilettentisch und nach rechts hinwaren kleine Schränke in Kniehöhe unter der Dachschräge eingebaut. Tess legte ihr

Page 21: kommt, dass der Nachbar ihrer Mutter eine alte …...Die Autorin LaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1978. Seither hat sie sich mit ihren Büchern über

Gepäck auf das hinterste Bett. Die Reihenfolge, in der die Mädchen in den Bettenschliefen, hing von ihrem Alter ab. Das Bett, das der Treppe und damit auch dem Badunten am nächsten war, gehörte der Ältesten, Judy, im mittleren Bett schlief Renee, unddas Bett an der anderen Seite des Raumes war das Bett von Tess, denn sie war dasBaby. Sie hatte es immer gehasst, wenn man sie das Baby der Familie nannte, und jetztfühlte sie einen Anflug von selbstgefälliger Zufriedenheit, weil sie diejenige war, die ihrZuhause verlassen und das Beste aus sich gemacht hatte.

Sie sah sich um und ging dann zu der Kommode hinüber, an der sie gesessen und zumersten Mal in ihr Tagebuch geschrieben hatte, dass sie Sängerin werden wollte. Hierhatte sie von Renee gelernt, Make-up zu benutzen; und von hier aus hatte sie mitgeschürzten Lippen auf die Straße hinuntergestarrt, wenn sie zur Strafe in ihr Zimmergeschickt worden war. Warum eigentlich? Es fiel ihr schwer, sich daran zu erinnern, aberso etwas war früher oft passiert. Und wahrscheinlich hatte sie es auch verdient, nahm siean.

Auf dem Toilettentisch stand eine leere Parfümflasche von Love’s Baby Soft und einegerahmte Fotografie von Judy mit zwei ihrer Freundinnen aus der Highschool. Danebenentdeckte Tess ein rosa Glasschälchen mit einem Perlmuttknopf, einem kleinen Ring,einem Haarband und ein paar Staubflocken. In das Holz des Tisches hatte Tess im Jahr1977 mit einem Kugelschreiber den Namen Elvis gedrückt. Es war das Jahr gewesen, indem sie ihren Highschool-Abschluss gemacht hatte. Auch wenn der Tisch seither einpaarmal gestrichen worden war, so sah man den Namen noch immer. Tess war mit derMusik von Elvis aufgewachsen und damals war er ihr Idol gewesen: Wenn er es schaffenkonnte, dann würde sie es auch schaffen. Sie strich mit der Fingerspitze über das Wort,dann machte sie die kleine Lampe mit dem Lampenschirm aus billigem Plastik an. Sieknipste sie wieder aus und öffnete dann die Schublade der Kommode. Etwas rollte darinherum und Tess griff hinein und holte einen Bonne-Bell-Lippenstift mit Root-Bier-Geschmack hervor. Sie öffnete ihn und roch daran. Eine Woge von Nostalgie hüllte sie ein– sie war wieder dreizehn Jahre alt und bekam ihre ersten Seidenstrümpfe; sie warvierzehn und benutzte Parfüm für Erwachsene; sie war fünfzehn und hatte ihre erstewirkliche Verabredung mit einem Jungen. Sie rieb mit dem Lippenstift über ihre Lippen. Erwar klebrig geworden, und mit dem Handrücken wischte sie sich über die Lippen undlegte den Lippenstift dann in die Kommode zurück.

Mit beiden Händen stützte sie sich auf den Toilettentisch und blickte aus dem Fensterauf die Straße hinunter. Von hier aus hatte sie nach den Autos Ausschau gehalten, wennihre Freunde sie abholen kamen. Die Bäume im Vorgarten waren gewachsen, und vonhier oben konnte man die zersprungenen Platten im Gehweg noch viel besser erkennen,auch die hellen Flecken auf dem Rasen und das Unkraut. Die Sonne stand gerade nochüber den Dächern der Häuser auf der anderen Straßenseite, wo sie sich als Babysitter ihrerstes Taschengeld verdient hatte.

Von unten hörte sie die Stimme ihrer Mutter. »Tess? Soll ich jetzt das Essen in denOfen schieben?«