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Leseprobe aus: ISBN: 978-3-499-00522-0 Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf www.rowohlt.de.

Leseprobe aus - endlichkyss.de...nes Tierwesen gesichtet worden, und wenn ich hier rum-hänge, geht es mir durch die Lappen.» Ich wischte mei-nen Verdienst vom Tisch in meine Geldbörse

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Leseprobe aus:

ISBN: 978-3-499-00522-0Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf www.rowohlt.de.

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Maxym M. Martineau

SchattentanzDie Tiermagierin

Roman

Aus dem Englischen von Anita Nirschl

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Die Originalausgabe erschien 2019 unter demTitel «Kingdom of Exiles. The Beast Charmer»

bei Sourcebooks Casablanca, Naperville, Illinois.

Deutsche ErstausgabeVeröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch

Verlag, Hamburg, Dezember 2020Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg«Kingdom of Exiles» Copyright © 2019 by Sourcebooks

«Kingdom of Exiles» Copyright © 2019 by Maxym M. MartineauRedaktion Kathinka Engel

Covergestaltung Alexander KopainskiCoverabbildung Shutterstock

Illustrationen Copyright © Sourcebooks/Aud Koch/ShutterstockSatz aus der Questa

Gesamtherstellung CPI books GmbH, Leck, GermanyISBN 978-3-499-00522-0

Die Rowohlt Verlage haben sich zu einer nachhaltigenBuchproduktion verpflichtet. Gemeinsam mit unseren Partnern

und Lieferanten setzen wir uns für eine klimaneutraleBuchproduktion ein, die den Erwerb von Klimazertifikaten

zur Kompensation des CO2-Ausstoßes einschließt.www.klimaneutralerverlag.de

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Kapitel 1LEENA

als der Abend hereinbrach, standen drei Dinge fest: DerLammfleischeintopf war absolut beschissen, mein wie-seläugiger Kunde gierte nach mehr als den Tierwesen inmeinem Besitz, und jemand beobachtete mich.

Zwei dieser drei Dinge waren völlig normal.Ich schob den Teller beiseite und stützte die Ellbogen

auf den schweren Holztisch. Mein Kunde hielt zwei Se-kunden lang durch, bevor sein Blick zu dem Medaillon inForm eines Buchs wanderte, das in meinem Ausschnittbaumelte. Er schob die dicken Finger zwischen Hals undKragen seines vornehmen Rocks und zog leicht an demStoff.

«Haben Sie, was ich will?» Sein schwerer Gold-ring schimmerte im Kerzenlicht. Darauf eingraviert wardas Bild einer Waage: das Symbol der Bank Wilheims.Ein Geschäftsmann. Ein seltener Besucher im Nächtli-chen Narren, meiner bevorzugten Schwarzmarkt-Taver-ne. Ich betastete den kleinen Bronzeschlüssel, der inmeiner Tasche versteckt war.

«Kann sein.» Ich schob den Blechteller noch weiterfort. «Wie haben Sie mich gefunden?» Dez, der Barkee-per, verhalf mir zu den meisten meiner Kunden, aberBrokatröcke und der Nächtliche Narr passten nicht zu-sammen.

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Unruhig veränderte ich meine Haltung in der Sitzni-sche, weil sich das unsichtbare Augenpaar tiefer in mei-nen Hinterkopf bohrte, und nahm eine schwache, flüch-tige Bewegung in den Schatten wahr. Eine Bewegung,die unbemerkt bleiben sollte, aber ich hatte gelernt, aufsolche Dinge vorbereitet zu sein.

«Dez liefert Spirituosen an eine Bar in Wilheim, dieich frequentiere. Er sagte, du könntest Dinge beschaf-fen.» Er nahm seine Wurstfinger wieder aus den Faltenseines Kragens und legte die Hände flach auf den Tisch.

Glaubhaft. Dez brannte einen verdammt guten Ge-würzschnaps, den er nebenher verkaufte – eine billigeund doch leckere Alternative zu dem überteuerten Alko-hol, der innerhalb der sicheren Stadtgrenzen von Wil-heim hergestellt wurde. Aber das erklärte den heimli-chen Beobachter noch nicht.

Versteckte Augen folgten mir, als ich den Blick su-chend über die Tische schweifen ließ.

Von dem schmiedeeisernen Kerzenleuchter an denDeckenbalken hingen Spinnweben herab. Auf den klapp-rigen Stühlen saßen Stammgäste in schmuddeligen Rö-cken, verschlagene Blicke begleiteten ihr Flüstern überillegale Geschäfte. Welcher von ihnen interessierte sichfür mich?

Ein Ratsmitglied? Ein potenzieller Kunde?Meine Schläfen pochten, und ich zwang mich, den

Blick meines Kunden zu erwidern. «Zum Beispiel eineGyss.»

Der Mann richtete sich auf. Ein begieriges Lächelnentblößte gelbe Zähne zwischen spröden Lippen. «Ja.Mir wurde gesagt, du hättest eine im Angebot.»

«Die sind nicht billig.»Er verzog das Gesicht. «Ich weiß. Dez sagte, sie wür-

de mich einhundert Taler kosten.»

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Einhundert? Ich warf einen Seitenblick zu Dez. Dochder steckte mitten in einer angeregten Unterhaltung miteinem Gast und bemerkte es nicht. Einhundert war vielfür eine Gyss. Er hatte mir damit einen Gefallen getan.Ich hätte den Schlüssel gleich an Ort und Stelle über-geben können, aber mir bot sich hier eine seltene Ge-legenheit: ein unvernünftiger, verzweifelter Geschäfts-mann auf der Suche nach Glück. Warum sonst sollte ereine Gyss wollen?

«Einhundertfünfzig.»Er sprang so jäh auf die Füße, dass er um ein Haar den

Tisch umgeworfen hätte, und zog damit die Aufmerk-samkeit jedes Verbrechers in diesem Laden auf sich. Dezhob demonstrativ eine Augenbraue und ballte die Fäus-te, woraufhin der Geschäftsmann verlegen wieder Platznahm.

Er räusperte sich, und seine Finger kehrten in dieSpeckfalten seines Halses zurück. «Einhundertfünfzigist viel.»

Ich verschränkte die Arme hinter dem Kopf, lehntemich lässig zurück und zuckte mit den Schultern. «IhreEntscheidung.»

«Ich werde jemand anderen finden. Ich habe es nichtnötig, mich über den Tisch ziehen zu lassen.»

«Nur zu.» Ich wies mit einem Nicken zu den ruhigenTischen um uns herum. «Obwohl keiner von denen je ei-ne Gyss für Sie im Angebot haben wird. Die sind nichtwie ich.»

Zischend stieß er den Atem aus. «Sind alle Tiermagierso hinterhältig?»

Ich lehnte mich vor und schenkte ihm mein bestesGrinsen. «Diejenigen, die mit Ihnen Geschäfte machen?Oh ja.»

«Verdammt.» Er kniff sich in den Nasenrücken. «Alsogut. Einhundertfünfzig. Aber wehe, diese Gyss funktio-

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niert nicht. Dann musst du mich auf andere Weise ent-schädigen.» Bewusst langsam hob er die Hand zum Kinnund strich mit dem Daumen an seinem schwabbeligenKiefer entlang. Ein schwaches Glimmen flackerte in sei-nem Blick auf, und ich verschränkte die Knöchel unterdem Tisch, um mich davon abzuhalten, ihm einen Trittzu verpassen. Ich brauchte das Geld, und ich wollte mirmeine neuen Stiefel nicht an seinem Schritt schmutzigmachen.

Nur mit Mühe hielt ich das Knurren in meiner Stimmezurück. «Ich kann Ihnen versichern, dass die Gyss IhreWünsche erfüllen wird. Einen alle sechs Monate.»

«Ausgezeichnet.» Er streckte seine Hand aus undwartete darauf, dass ich einschlug, um den Handel zubesiegeln.

«Sie wissen, dass die Gyss für jeden Wunsch eine Be-zahlung verlangt, richtig?»

Seine Hand zuckte. «Ja, ja. Kein Wunsch ohne Gegen-leistung.»

«Und ich bin nicht verantwortlich für das, was dieGyss fordert. Das ist Sache des Tierwesens, nicht mei-ne.»

«In Ordnung. Jetzt mach schon, bevor dieses Drecks-loch noch von Schildwächtern durchsucht wird.»

Schildwächter? Das hätte er wohl gern. Die muskel-bepackten Soldaten der Hauptstadt würden sich nicht indie Nähe dieses Schandflecks wagen. Direkt an die West-seite des Nächtlichen Narren drängten sich die schwä-renden finsteren Wälder des Kitskaforsts. Die verirrten,markerschütternden Schreie der Monster, die gelegent-lich die Luft zerrissen, reichten aus, um selbst die tap-fersten Männer abzuschrecken.

Nein, Schildwächter kamen nie hierher.

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Ich ergriff die ausgestreckte Hand des Geschäfts-manns. Feuchtkalte Haut glitt über meine Handfläche,und ein Schauer kroch mir über den Arm.

Er ließ los und zog einen samtenen Geldbeutel ausseiner Tasche. Als er an den Lederschnüren zog, klim-perten eine Handvoll Silber- und Goldmünzen auf denTisch.

Einhundertfünfzig Taler. Witzig, dass kieselsteingro-ße flache Metallscheiben solchen Wert haben konnten.Wir, die wir außerhalb von Wilheims Schutz leben, muss-ten um unser Geld kämpfen. Unsere Mittel einteilen.Meine letzten Taler waren für ein dringend benötigtesPaar neue Lederstiefel draufgegangen. Dieser Mann hat-te wahrscheinlich feine Seidenpantoffeln für jede Gele-genheit.

Mit so viel Geld aber konnte ich etwas viel Wichtige-res als Fußbekleidung bekommen. Ich schob die Hand inmeine Tasche und holte einen bronzenen Schlüssel her-aus. Das Prickeln von Macht strahlte von dem Metall inmeine Hand aus, und ich warf dem Geschäftsmann einenweiteren Blick zu. «Sind Sie mit dem Tiermagiergesetzvertraut?»

Sein Blick war auf den Schlüssel fokussiert. «Das Kau-fen und Verkaufen von Tierwesen ist streng verboten,ich weiß.»

Ich drehte den Schlüssel zwischen Daumen und Zei-gefinger. «Nicht das. Das Tiermagiergesetz dient dazu,die Tierwesen zu schützen. Sollte ich je herausfinden,dass Sie diese Gyss misshandeln, habe ich das Recht, Siezu töten. Auf jede Weise, die ich als angemessen erach-te.»

Das Gesicht des Mannes wurde blass, und Schweißtränkte den Kragen seines Rocks. «Du machst Witze.»

«Über Tierwesen mache ich keine Witze.» Ich ließ denSchlüssel auf den Tisch fallen. Mit schiefgelegtem Kopf

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schenkte ich ihm ein wölfisches Lächeln. «Immer nochinteressiert?»

Er zögerte nur einen Atemzug lang, dann schnapp-te er sich den Schlüssel mit seinen fetten Fingern undsteckte ihn in seine Brusttasche.

«Das wird nicht nötig sein. Ich werde die Gyss gutbehandeln.»

Er verabschiedete sich mit einem Nicken und standvom Tisch auf. Ich hob kurz das Kinn, meine Miene un-beweglich.

«Denken Sie gut darüber nach, bevor Sie sich etwaswünschen. Die Folgen können drastisch sein.» Ein ver-trauter unbehaglicher Schauer durchrieselte mich. Ichhandelte nur äußerst ungern mit Gyss, aber seine Be-dürfnisse schienen einfach zu sein. Geld. Macht. Er wärenie in der Lage, die Forderung zu erfüllen, die die Gyssfür mehr stellte.

Diese Gyss würde nicht gegen mich verwendet wer-den. Es würde nicht ein zweites Mal geschehen.

Die Bandbreite ihrer Möglichkeiten hing von ihremMeister ab, und dieser Mann war zu einfach gestrickt,um wirkliches Unheil anzurichten. Nein, meine einsameExistenz war noch ein paar hundert Jahre lang sicher. Esgab Tiermagier, die fast dreihundert Jahre alt wurden.Im reifen Alter von neunundzwanzig hatte ich noch jedeMenge Zeit.

Die unsichtbaren Blicke, die ich meinem geheimnis-vollen Beobachter zu verdanken hatte, bohrten sich wieDolche in meinen Rücken. Vielleicht überschätzte ichmeine Lebensspanne.

Nachdem ich dem Geschäftsmann dabei zugesehenhatte, wie er aus der Taverne floh, lehnte ich mich zu-rück in die Polster der Sitznische, um meine Münzen zuzählen. Mit den Augen meines Verfolgers auf mir, hatteich keinen Grund zur Eile. Ein Dieb vielleicht? Taler wa-

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ren schwer zu kriegen, und ich hatte mehr als genug,um an die Südküste und wieder zurück zu gelangen. DerMyad und die Gelegenheit, meinem Volk meinen Wert zubeweisen, waren zum Greifen nah.

Ich musste nur noch an das Blut eines Mörders gelan-gen – freiwillig und ohne Bedingungen gegeben. Es wareine notwendige Zutat für die Zähmung eines Myads undetwas, auf das ich im Nächtlichen Narren lange wartenkonnte, wo die feilschenden Stammkunden einen Gefal-len nicht von einem Schuldschein unterscheiden konn-ten. Darum würde ich mich in Ortega Mar kümmern.Fürs Erste musste ich dort hinkommen, bevor das Tier-wesen wieder verschwand.

«Brichst du auf?» Dez schob sich auf die gegenüber-liegende Bank der Sitznische. Ein breites Grinsen straff-te die gezackte Narbe, die von seinem Ohrläppchen zuseinem Kinn lief. Mit seinem kantigen Kiefer und dereinmal zu oft gebrochenen Nase hatte er einen rauenCharme an sich. «Es ist schön, dich hier zu haben.»

Ich spielte mit einer der Silbermünzen. Über der Ta-verne zu wohnen, hatte seine Vorzüge. Während ich Dezrasch musterte, kehrten meine Gedanken zur letztenNacht zurück, als wir uns in den Laken vergnügt hatten.Körperliche Erfüllung ohne Verpflichtungen, zumindestfür mich. Wir hatten dieses Thema nie angeschnitten,aber ich ertappte ihn oft dabei, dass sein Blick auf mirlag, wenn er es nicht sollte. Irgendwann würde ich michdarum kümmern müssen. Ich war nur bedingt bereit, et-was von mir zu geben.

«Ich werde nur kurz fort sein. Im Süden ist ein selte-nes Tierwesen gesichtet worden, und wenn ich hier rum-hänge, geht es mir durch die Lappen.» Ich wischte mei-nen Verdienst vom Tisch in meine Geldbörse.

«Du weißt, dass du niemandem hier irgendetwas be-weisen musst», sagte er mit leiser Stimme, während sein

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Blick mich von Kopf bis Fuß musterte. «Verdammt, dubist ohne jeden Zweifel der beste Mensch in diesem La-den.»

«In deinen Augen.» Meine Leute würden lieber einenfleischfressenden Tormalac zu sich nach Hause einla-den, als mich wieder unseren heiligen Boden betretenzu lassen. «Tiermagier sind nur so stark wie die Wesenin ihrer Obhut. Ich muss vorbereitet sein.»

«Vorbereitet worauf?», fragte Dez.Ich wusste, was er wollte. Ein bisschen Ehrlichkeit.

Eine Spur Vertrauen. Aber ich konnte einfach nicht. Eshatte einen Grund, warum ich meilenweit die einzigeTiermagierin war. Wüsste er die Wahrheit, könnten sieihn dazu benutzen, mich zu finden. Der Rat der Tierma-gier kannte weitaus schlimmere Urteile als Exil.

«Ich komme wieder. Du weißt, dass ich diesen Ort lie-be.»

«Du weißt, dass du mich liebst.» Ein weiterer Hoff-nungsschimmer.

«Und du weißt, dass ich mit Liebe nichts am Hut ha-be.» Ich beugte mich vor, und langsam eroberte ein Lä-cheln mein Gesicht. «Aber das bedeutet nicht, dass ichdeine Gesellschaft nicht genieße.»

Seine Augen glänzten. «Soll mir recht sein. Einstwei-len.»

Hitze entflammte in meinem Bauch. Vielleicht wür-den ein paar Stunden mehr nicht schaden. «Kann Belin-da auf die Bar aufpassen?» Das verträumte Schankmäd-chen mit den zwei linken Händen hüpfte munter durchdie Taverne, dass das Bier und Ale nur so schwappten.Sie konnte beim besten Willen nicht mit einem Servier-tablett umgehen, aber dass ihre Brüste Geld einbrach-ten, ließ sich nicht von der Hand weisen.

Dez machte sich nicht die Mühe, den Blick von mir zulösen, um nachzusehen. «Sie kommt schon zurecht.»

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«Gut.»Gerade als ich aufstehen wollte, durchschnitt ein

schrilles Heulen meinen Verstand, und meine Füße wa-ren wie festgewachsen. Iky, mein getarntes Tierwesen,das ich bei allen Schwarzmarktgeschäften bereithielt.Mit Sinnen, die schärfer waren als die Klinge einesSchildwächters, nahm er in der Enge der Taverne je-de Veränderung sofort wahr. Wir hatten schon einigeBegegnungen mit miesen Mördern und Dieben gehabt.Nichts, womit er nicht zurechtkam.

Aber wie es aussah, machte mein unsichtbarer Beob-achter doch noch seinen Zug. «Wir werden wohl ein an-dermal darauf zurückkommen müssen.»

Ich suchte die Tische ab. Dem Anschein nach waralles in Ordnung. Niemand sprang auf. Niemand ver-suchte, die einzige Tür der Taverne zu blockieren. DieStammgäste, die ich im Lauf der Jahre kennengelernthatte, waren tief in ihrer eigenen Welt versunken undnicht im Geringsten an meinen Geschäften interessiert.Aber da das Gewicht des Blickes abrupt verschwundenund die Anzahl der Anwesenden immer noch dieselbewar, stimmte hier eindeutig etwas nicht.

«Was? Warum?» Unbehaglich rutschte Dez auf derBank herum.

«Waren hier irgendwelche zwielichtigen Typen inletzter Zeit?»

Er zog eine Augenbraue hoch. «Ernsthaft?»«Zwielichtiger als sonst, meine ich.»Jede Belustigung wich aus seiner Stimme. «Was ist

los?»«Ich werde beobachtet. Oder wurde es. Iky hat eine

Veränderung bemerkt.»Dez’ harter Blick wanderte zu dem schiefen Garde-

robenständer an der Wand. An den Haken hingen ver-gessene abgetragene Mäntel wie Blätter, die nicht ster-

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ben wollten. Dort lag Iky am liebsten auf der Lauer. Dezhatte ihn einmal entdeckt, als er beiläufig einen weite-ren vergessenen Mantel an den Kleiderständer gewor-fen und danebengetroffen hatte. Ein schwebendes ro-tes Kleidungsstück jagte sogar den Stammgästen desNächtlichen Narren einen Schrecken ein.

«Also gut. Versprich mir, dass du auf dich aufpasst.»«Natürlich.» Ich legte ihm die Hand auf die Schulter.

«Ehe du dich versiehst, bin ich wieder zurück.»«Sicher.» Dez stand auf und wandte sich mit ausge-

breiteten Armen an die Menge. «Mir ist gerade eine Ideefür ein neues Tagesgericht gekommen, Leute! Gepökel-tes Schwein mit roter Paprika.» Ein Signal, das nur hiesi-ge Gesetzlose wirklich verstehen würden: Gefahr, mög-licher Spion.

Einen Moment lang versteiften sich alle. Augen zuck-ten sprunghaft umher, bevor das träge Murmeln alltäg-licher Unterhaltungen – über das Wetter, den bevorste-henden Ball der Königsfamilie, alles außer dem eigentli-chen Grund unserer aller Anwesenheit hier – die Luft er-füllte. Nachdem seine verschlüsselte Warnung Wirkunggezeigt hatte, nahm Dez seinen Platz hinter dem Tresenwieder ein, um Gläser zu polieren und dabei mit einemAuge die Tür und mit dem anderen seine Gäste im Blickzu behalten.

Geh immer davon aus, dass Spitzel da sind. Dez’ frü-here Warnung ging mir durch den Kopf, als ich die Handnach dem abgegriffenen eisernen Türknauf ausstreck-te, dicht gefolgt von einem immer noch unsichtbarenIky. Wie lange hatte mein Handel mit dem Geschäfts-mann gedauert? Ich hatte Iky schon vorher in Positiongebracht, was bedeutete, dass seine Zeit in unserer Weltschwand. Ich würde ihn bald zurück ins Refugium, insReich der Tierwesen, schicken müssen. Ohne Zeit zu ver-

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lieren, stieß ich die Tür auf und trat mit wachsamen Au-gen hinaus in die Nachtluft.

In der Taverne zu bleiben, stand nicht zur Debatte.Was, wenn der Rat der Tiermagier meinen Verbrechenschließlich doch noch auf die Spur gekommen war? Ichdurfte Dez oder sein Etablissement nicht in Gefahr brin-gen. Dieser Ort war ein sicherer Hafen für jene, die nir-gendwo anders hingehen konnten. Mich eingeschlossen.

Ich warf einen Blick nach Osten in Richtung Wilheim,unserer Hauptstadt. Ich hatte nie die Gelegenheit ge-habt, durch die strahlend weißen Mauern aus Marmorund Diamanten zu schreiten. Die konzentrischen, un-durchdringlichen Türme, die sich so hoch emporreck-ten, dass sie die Wolken küssten, bewachten einen ein-drucksvollen Berg. Dort lebte die königliche Familie. Dievom Glück Begünstigten. Den meisten von uns, die inden Randgebieten ihr Leben fristeten, war es aus demeinen oder anderen Grund verboten, die in Zauber ge-hüllten Elfenbeintore zu passieren.

Kopfschüttelnd beschleunigte ich meinen Schritt. Ob-wohl sich die Gerichtsbarkeit der königlichen Familietechnisch gesehen über den ganzen Kontinent von Len-dria erstreckte, wusste jeder, dass ihr Gesetz jenseitsdieser glänzenden Steine nicht galt. Hier draußen re-gierten Macht, Dunkelheit und dubiose Geschäfte. Ikygab ein weiteres Heulen von sich, und mein Blick flogzum Waldrand. Mein Beobachter war zurück. Unsicht-bar für mich, aber nicht vor den Sinnen meines Tierwe-sens verborgen. Mein Ziel war der Bahnhof, aber wenndieser Beobachter wirklich Teil des Rats war, wollte ichvermeiden, dass sie Wind von dem Myad bekamen undmir mein Tierwesen vor der Nase wegschnappten. Zu-erst musste ich mich also um diese Bedrohung kümmern.

Ich weiß, dass du da bist, Mistkerl.

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Ich schlug den Kragen meiner Jacke hoch und gingden gewundenen, ungepflasterten Weg entlang, dermich weiter von Wilheim und dem Bahnhof fortbrachte.Rauslocken, festnageln, fertig. Kinderspiel. Die sinkendeSonne kroch auf die wilden Baumwipfel des Kitskaforstszu. Tief in Schatten gehüllt, zitterten die dunklen Blät-ter in der Luft der Abenddämmerung, und ein kleinesPfeifen drang an meine Ohren. Schon allein die Dichteder Wälder beschwor bei denjenigen, die nicht mit ihnenvertraut waren, ein gewisses Maß an Panik herauf – hierdraußen konnte man ein Augenpaar nicht von übergro-ßen Pinesco-Schoten unterscheiden.

Nadeln und Mulch knirschten unter meinen knieho-hen Stiefeln, und meine Füße protestierten unter demSchmerz von hartem Leder, das auf meine Gelenkedrückte. Bald schon würde ich die Stiefel eingetragenhaben und mir mehr Münzen wünschen, um die Löcherzu flicken.

Ein Zweig knackte in der Ferne, und ich streckte dierechte Hand aus. Eines der vielen Monster des Waldesoder mein Verfolger?

Das Symbol der Tiermagier, ein kahler Rosenholz-baum auf meinem rechten Handrücken, erwachte jähzum Leben. Ein wirres Geflecht aus Wurzeln breitetesich wie eine Tätowierung über meine Knöchel aus undwand sich knorrig in alle Richtungen um meine Finger-spitzen. Iky reagierte auf den Strom von Macht und ent-fernte sich von mir. Suchend. Verfolgend.

Das Verschwinden seines wässrigen Geruchs machtemich nervös, aber ich musste meinem Verfolger eine Ge-legenheit geben zuzuschlagen. Dann würde Iky die Sch-linge zuziehen.

Ein kalter Hauch streifte meinen Nacken.Ich wirbelte herum, stieß meine Hand vorwärts und

konzentrierte mich auf die Quelle von Macht, die un-

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ter der Oberfläche summte. Aber Iky hatte seine Aufga-be tadellos erledigt. Knapp außerhalb meiner Reichwei-te stand ein großer, schlanker, völlig in Schwarz geklei-deter Mann. Mit seiner voluminösen Frisur, der schma-len Silberfassung seiner Brille und den frisch poliertenAbendschuhen sah er aus, wie für eine Nacht in Wilheimgerüstet  – nicht für einen Spaziergang im Kitskaforst.Er war mit eng an die Seiten gedrückten Armen bewe-gungsunfähig gemacht, und aus seinen behandschuhtenFingern baumelte ein unbenutztes, glänzend schwarzesMesser.

Ich ließ meine Hand sinken, und das Symbol auf mei-ner Haut zog sich zurück. «Iky, wenn du so freundlichwärst.»

Endlich materialisierte sich Iky. Groß und ohne festeForm mit durchscheinender Haut passte er seine körper-liche Beschaffenheit, Farbe und Gestalt meinen Bedürf-nissen an. Iky hatte den Mann mit verlängerten Armenzu einem Bündel verschnürt und quetschte ihm die Brustso fest zusammen, dass er Mühe hatte, Luft zu holen.

«Gib ihm ein bisschen mehr Raum zum Atmen.»Iky lockerte seine Arme, und der Mann stieß ein

scharfes Keuchen aus.Die Schatten, die sich an die Äste des Waldes klam-

merten, schienen dunkler zu werden.«Wer bist du?»Keine Antwort. Harte eisgrüne Augen durchbohrten

mich. Die Konturen seines Gesichts verschärften sich,und eine kleine Ader pochte an seiner Schläfe.

«Warum hast du versucht, mich zu töten?» Bedeu-tungsvoll blickte ich auf das Messer. Er ließ es zu Bo-den fallen, und Iky schubste es mit einer neu geformtenExtremität in meine Richtung. Mit einem leisen, schmat-zenden Laut verschwand sie genauso schnell wieder inseiner Körpermasse, wie sie erschienen war.

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Der Mann kniff die schmalen Lippen zusammen. Einrauer Windstoß wehte weitere dünne Schatten herbei.Es war kein Geheimnis, dass die Wälder verflucht waren,aber diese Dunkelheit war dichter. Ungewohnt. Etwasanderes ging hier vor.

Kümmere dich um die Bedrohung und dann ver-schwinde so schnell wie möglich von hier.

«Iky?» Ich nickte meinem Tierwesen zu. Ikys Arme zo-gen sich zusammen, und der Mann schnappte nach Luft.«Wenn du mir nichts erzählst, wird es nur noch schlim-mer.»

Das scharfe Knacken einer splitternden Rippe durch-brach die Stille. Der Mann keuchte, Worte, die ich nichtverstehen konnte, vermischten sich mit schmerzerfüll-ten, pfeifenden Atemzügen. Ich warf Iky einen Blick zu,woraufhin er innehielt.

Der Blick meines Möchtegernmörders triefte vorMordlust. «Mir würde nicht einmal im Traum einfallen,dir irgendetwas zu erzählen.»

Ich runzelte die Stirn. «Ach ja? Iky, du weißt, was zutun ist.» Eine neue Extremität formte sich und wickeltesich um den kleinen Finger des Mannes. Mit einer plötz-lichen und doch fließenden Bewegung brach Iky ihn.

Der Mann unterdrückte einen Schrei. Er wurde untermeinen musternden Blicken kreidebleich. Ich hatte ihnim Nächtlichen Narren noch nie gesehen. Die meistender Männer und Frauen, die in die Taverne stolperten,waren von Narben gezeichnet, stanken nach schlech-ten Entscheidungen und noch schlimmeren Schicksalen.Aber dieser Mann? Von seinem perfekt geschnittenenHaar bis zum glatten Schimmern seiner sauberen Hautschrie alles an ihm privilegiert.

Ich widerstand dem Drang, zurück auf Wilheim zu bli-cken. «Wer bist du?»

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Ich machte ein paar Schritte vorwärts und musterteseine schwarze Kleidung. Eine langärmlige, geknöpfteTunika. Satin noch dazu. Eine schmal geschnittene Ho-se, deren Saum genau bis zu seinen Schuhen reichte.Nicht annähernd ätherisch genug, um ein Tiermagier zusein. Ganz gewiss nicht glänzend genug, um ein Schild-wächter zu sein, deren Rüstung sogar den leuchtendstenDiamanten zu überstrahlen drohte.

Er starrte mich finster an. «Ich sehe keine Notwen-digkeit, mich zu wiederholen.»

Am Rand meines Blickfelds krochen onyxfarbeneSchattenranken über den Waldboden auf mich zu. EinHerzschlag pulsierte in ihren wabernden Tiefen. Was fürein Monster uns aus dem Wald heraus auch beobachte-te, uns lief eindeutig die Zeit davon.

«Du bist zu dürr, um ein Schildwächter zu sein, ob-wohl du offensichtlich arrogant genug wärst.» Langsambewegte ich mich weg von dem verfluchten Wald. «Duträgst kein Tiermagier-Symbol, also gehörst du nicht zumeiner Art.» Den Göttern sei Dank.

«Bist du fertig damit, im Trüben zu fischen?»«Nein.» Ich machte eine Bewegung aus dem Handge-

lenk, worauf Iky einen weiteren Finger brach.Der Schrei des Mannes ließ Pinesco-Schoten rascheln

und missgestaltete, abgestorbene Blätter zu Boden fal-len. Schatten verschluckten sie.

«Du hast versucht, mich zu töten, was bedeutet, dassdu wahrscheinlich ein Auftragsmörder bist.»

Ein langsames Lächeln wagte es auf seine Lippen.«Du kommst hier nicht lebend raus.»

Oh, und wie ich das würde. Es braute sich bereits eineneue Idee in meinem Hinterkopf zusammen. Eine, diemit Versprechen und Blut und der Gelegenheit direkt vormeiner Nase zu tun hatte.

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Ich begann, ihn zu umkreisen und sein Potenzial ab-zuschätzen. Ihm die Freiheit im Austausch für sein Blutanzubieten, bedeutete nicht gerade, dass das Blut ‹frei-willig gegeben› wurde. Wortklauberei, aber im Spiel desZähmens von Tierwesen war die Bedeutung von Wortenalles.

«Und warum ist das so?»«Weil ich ein Mitglied von Cruor bin.»Die Welt wurde mir unter den Füßen weggezogen. In

meinen Ohren begann es, heftig zu rauschen, und dieWipfel der Bäume drehten sich um mich. Ich hatte vonAnfang an auf einen Auftragsmörder getippt, aber Cru-or? Wer würde so weit gehen, die Untoten anzuheuern?

Die Erkenntnis traf mich hart und schnell, und meinBlick zuckte zu der sich sammelnden Masse aus Dunkel-heit zu seinen Füßen. Er saugte Schatten aus den ver-steckten Winkeln des Waldes. Sogar die einst feste Klin-ge hatte sich aufgelöst und war mit den sich ringelndenRanken um meinen Gefangenen herum verschmolzen.Sie leckten an seiner Haut und sammelten sich in seinerAura, warteten nur darauf, seine Befehle zu befolgen. Eswar nicht irgendein Kitska-Monster, das die Dunkelheitzusammenzog – das war er.

Er hatte die ganze Zeit über mit mir gespielt, und mirblieben nur noch Sekunden, um zu reagieren.

«Iky, Zacken. Sofort.» Iky veränderte die Gestalt undversah seine Arme mit Tausenden winzigen Dornen, diedie Kleidung und Haut des Mannes durchbohrten undfesthielten. Blut sickerte aus einer Vielzahl nadelstich-großer Löcher. Glänzend rote Tropfen, die hervorquol-len und an seiner tintenschwarzen Tunika hinunterlie-fen wie Adern durch Marmor. Blut, das ich nicht gebrau-chen konnte. Die ersten verschwendeten Rinnsale tropf-ten von seinen Fingern auf den Schotterweg. Mit grim-migem Blick betrachtete er sie, und die dunklen Schat-

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tenfäden zogen sich zurück. Gut. Wenigstens war ervernünftig genug zu erkennen, wann er verloren hatte.«Wenn du versuchst, dich aufzulösen, wirst du als Hack-fleisch enden. Warum stehe ich auf Cruors Abschusslis-te?»

Gereiztheit verhärtete seine Züge, weil mein Tierwe-sen und ich das Blatt so geschickt gewendet hatten. «Daswerde ich nicht mit einer Antwort würdigen. Als würdeich einem Auftrag die Einzelheiten meiner Arbeit erklä-ren.»

Selbstgefälligkeit sogar im Angesicht des Todes. Da-hinter musste der Rat der Tiermagier stecken. Falls sieirgendwie Wind von meinen heimlichen Geschäften be-kommen hatten, würden sie lieber jemanden anheuern,mich zu töten, als die Heiligkeit von Hireath zu verlas-sen. Aber Cruor?

Ich kaute an der Innenseite meiner Wange. Tiermagi-er schätzten den Wert allen Lebens. Exekution war sel-ten. Jemanden anzuheuern, der mit den Schatten wan-delte, garantierte praktisch meinen Tod. Da ich bereitszu lebenslangem Exil verurteilt worden war, für einVerbrechen, das ich ganz sicher nicht begangen hatte,mussten sie das Gefühl haben, dass nun eine noch extre-mere Reaktion angebracht war. Ohne Gelegenheit, michzu verteidigen. Ohne Gelegenheit, zu meinem Volk zu-rückzukehren.

Ich ballte die Fäuste und starrte den Assassinen an.«Verdammt seien die Götter. Töten stand heute nicht

auf meiner Liste.»Ein sprödes Lachen ohne jeglichen Humor zerriss die

Luft.«Wenn du mich tötest, schicken sie einen anderen.»Er hatte natürlich recht, und ich betete, dass meine

nächsten Worte nicht mein Todesurteil waren. Ich muss-te diesen Preis auf meinen Kopf loswerden. Ich hatte Ge-

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schäfte im Süden zu erledigen, die ich nicht aufschiebenkonnte. Der Myad war meine einzige Hoffnung, je nachHause zu kommen. «Dann bring mich nach Cruor.»

Seine grünen Augen weiteten sich um einen Bruch-teil. «Deine Logik entzieht sich mir.»

«Gut, dass es nicht deine Aufgabe ist zu verstehen,wie ich denke. Bring mich nach Cruor, oder Iky machtdir ein Ende. So einfach ist das.»

«Als könntest du mich töten.»Iky brach einen weiteren Finger, ohne dass ich ihn

dazu auffordern musste, und der Mann sog zischend denAtem ein.

«Was sagtest du gerade?», fragte ich.«Na schön.» Er drehte den Kopf, um zwischen den

Bäumen hindurchzuspähen, bevor er mit dem Kinn nachlinks zeigte. «Das wird dir nicht gefallen.»

Schattenranken explodierten in einem wirbelndenStrudel, der den Kitskaforst verschwinden ließ. Schwär-ze wallte in Strömen unter unseren Füßen empor, undmir drehte es den Magen um. Wir wurden vorwärtsge-schleudert, obwohl wir keinen Muskel geregt hatten.Verschlungene Schatten wirbelten durch uns hindurch,um uns herum und trugen uns mit rasender Geschwin-digkeit zu einem Ziel, das ich nicht einmal ansatzweiseerkennen konnte. Tränen bildeten sich in meinen Augen-winkeln, und ich sog den Atem ein.

Und dann kamen wir jäh zum Stillstand, die Dunkel-heit zog sich abrupt zurück, und die Außenwelt pralltewieder auf uns. Ich presste mir eine Faust auf den Bauch,sodass die Knöchel weiß hervortraten, und funkelte denAssassinen in Ikys Armen finster an. Sein süffisantes Lä-cheln machte mich rasend.

Die Behaglichkeit des Nächtlichen Narren kam mirvor wie eine andere Welt.

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Langsam löste ich meine Faust. Dabei fiel mir meinTiermagier-Symbol ins Auge, und ich wog Ikys Ast andem Baum auf meiner Haut und die ihm verbleibendeZeit gegen meinen offenbaren Wahnsinn ab. Jedes Tier-wesen hatte eine Schwäche, und seine war ein Verfalls-datum. Zwei Stunden Kraft für zweiundzwanzig StundenSchlaf. Mit jeder Minute, die verging, zog sich Ikys Astzum Stamm zurück, bis er verschwand. War seine Zeitabgelaufen, würde er automatisch zurück ins Refugiumbefördert werden, um seine Kraft wiederzuerlangen.

Ich hatte ungefähr fünfzehn Minuten.Mit einem Schritt zur Seite zeigte ich auf den Wald.

«Bringen wir es hinter uns. Iky, heb ihn hoch.» SeineHaken zogen sich minimal zurück, und Iky drückte denMann an seine Brust wie ein übergroßes Kind.

Der Assassine schnaubte, und unverständliche Flüchekamen über seine Lippen.

Das Nichts hatte uns zwar in die Nähe transportiert,doch ich konnte die verborgene Todesgrotte, die als Cru-or bekannt war, immer noch nicht sehen. Aber ich konn-te sie spüren. Das Gewicht von Augen und Schatten.Mir standen die Haare zu Berge, als wir uns den Wegdurch das erstickend dichte Blattwerk bahnten. Dunkel-heit troff von den Ästen wie klebriges Harz. Über unsschrien Vögel, und Federn raschelten, als sie aufflatter-ten, sich wirbelnd emporschwangen und der unterge-henden Sonne zum Horizont folgten. Holz knarrte. EinSchatten, mehr Mensch als Nacht, schoss von einemBaum zum nächsten. Der Assassine starrte der Gestalthinterher, ohne ein Wort zu sagen, doch Selbstgefällig-keit durchzog seine Miene. Einer seiner Brüder also, derdie anderen alarmierte.

Eisige Hände krallten sich um mein Herz, und ich um-klammerte das buchförmige Amulett an meinem Hals– das Miniatur-Bestiarium, das alle Tiermagier trugen –

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und flehte die Götter an, mir gewogen zu sein. Ich hättewarten können. Hätte ein weiteres Tierwesen rufen kön-nen, aber Ikys Stärke forderte Tribut von meiner eige-nen Kraft, und mein Arsenal an Wesen, die die legendäreMacht von Cruor hätte abwehren können, war klein. Au-ßerdem könnte ein weiteres Tierwesen die Chance aufeine friedliche Verhandlung zunichtemachen und einerKriegserklärung gleichkommen. Bei Letzterer würde ichsicher den Kürzeren ziehen. Ich musste mir jede Mög-lichkeit zur Flucht offenhalten, für den Fall, dass die Ver-handlungen scheiterten.

Ein mitgenommener Eisenzaun, der gegen die Über-wucherung durch den verwunschenen Wald ankämpfte,markierte die Grundstücksgrenze Cruors. Zögernd bliebich am Tor stehen. In der Ferne beleuchtete der Abend-himmel ein in Dunkelheit gehülltes Herrenhaus. Einsamauf einem Hügel gelegen und zwei Stockwerke hoch, mitmehr Fenstern, als meine Augen zählen konnten. DerSitz der Gilde war fast schon ein Schloss.

Schiefergrau und von leuchtend roten Edelsteinenüberzogen, funkelte ein Rycrim-Kern zwischen ordent-lich gestutzten Hecken und einer Seite des Hauses. Ma-gische Energie ging pulsierend von ihm aus und bildeteeine unsichtbare Kuppel über dem Gebäude.

Ich flehte Dez schon seit Monaten an, in einen Rycrim-Kern zu investieren. Jede Kerze von Hand zu wechseln,das Badewasser über dem Feuer zu erwärmen – ich woll-te die Einfachheit sich selbst entzündender Lampen, ei-nen Wasserhahn, aus dem sofort heißes Wasser floss.Aber Bequemlichkeit kostete mehr Münzen, als wir er-übrigen konnten. Mord machte sich allerdings offenbarbezahlt.

Iky heulte laut, ein tiefes Vibrieren, das die Luft zumSchwingen brachte. Weniger als zehn Minuten bliebenihm noch.

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Mit einem schweren Seufzer stieß ich das Tor auf.Während ich den gewundenen Weg entlangsah, der michdirekt an die Schwelle des Todes führen würde, ver-suchte ich, das unheimliche Quietschen der Angeln ab-zuschütteln.

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Kapitel 2NOC

die schweren Holztüren flogen auf, und ein kühler Wind-stoß wirbelte in die Eingangshalle. Wilde, dunkle, vorWut leuchtende Augen fanden meine. Die Assassineschlug die Türen hinter sich zu und rannte zu mir.

«Es ist Kost.»Alle Geräusche bis auf das Prasseln des Feuers erstar-

ben. Sogar die Stimmen, die durch die Wände sickerten,verstummten. Mit ihren durch den Tod verstärkten Sin-nen hatten die übrigen in Cruor lebenden Assassinen diepanische Ankunft des Wachpostens wahrscheinlich ge-hört.

Ich starrte sie an. Ein seltener Funken Furcht durch-zog ihren Blick, was meinen Puls in die Höhe trieb.

Ich hatte den Auftrag erst gestern an Kost, meinenStellvertreter, übergeben. «Was ist mit ihm?»

Emelia versteckte sich hinter einem Vorhang glän-zend schwarzer Haare. «Die Tiermagierin. Irgendwiehat sie ihn überwältigt. Sie ist am Tor.»

Mein Blut wurde kalt. «Bist du sicher?» Aufträge wa-ren nicht ohne Risiko, aber in Anbetracht unserer Ta-lente stießen wir selten auf Probleme. Verstärkt durchFurcht und dunkle Gerüchte begegnete uns meist atem-loses Entsetzen statt des falschen Endes der Klinge.

Calem, ein hochrangiger Assassine und einer meinerengsten Freunde, erstarrte neben mir zu Stein und sahfinster zur Eingangstür.

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«Möchtest du, dass ich sie begrüße?»«Nein.» Ich rang um Beherrschung. Cruor war die

einzige Familie, die ich je haben würde, und Kost warder erste meiner neugefundenen Brüder gewesen, denich im wahrsten Sinne des Wortes Bruder genannt hatte.Falls ihm irgendetwas passiert war … «Ist er noch amLeben?»

Emelia räusperte sich. «Ja. Sie hält ihn irgendwie alsGeisel. Ich kann es nicht sehen … Da ist so viel Blut.»

Meine Gedanken rasten. Da die Nacht durch die Fens-ter drang, erwachten die Bronzekerzenhalter im gan-zen Haus zum Leben. Schatten sammelten sich in dendunklen Ecken des Raums, krochen über den Boden undschlängelten sich zu meinen bebenden Fingern. Ich warihr Anführer. Ich musste die meinen beschützen.

«Wo ist Ozias?»Calems übliches Dauerlächeln war restlos von seinem

Gesicht gewischt. Er wandte den Kopf nur lange genugvon der Tür ab, um mir einen raschen Blick zuzuwerfen.«Hinterm Haus. Trainiert ein paar der neuen Rekruten.»

Calems steifer Rücken verriet mir, dass er nirgendwohingehen würde, und ich konnte es ihm nicht verübeln.Kost war für uns beide ein Bruder. Ich schob die Hän-de in die Hosentaschen, um meine geballten Fäuste zuverstecken und die ruhige Fassade aufrechtzuerhalten.«Emelia, hol sofort Ozias.»

Da ich Kost allein losgeschickt hatte, um den Auf-trag zu erledigen, wusste ich über die Details nur wenig.Wir sammelten lediglich die Informationen, die wir un-bedingt brauchten. Alles andere führte zu moralischenKonflikten, und derartige Dilemmas verursachten nurProbleme.

Emelia rief die Dunkelheit, um ungesehen durch dieNacht zu eilen, und verschwand in einer Wolke ausSchatten und Rauch.

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Calem trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.«Darf ich die Tiermagierin umbringen?»

Ich konnte seine Gefühle gut verstehen. Ich hatteschon zu viele mir Nahestehende verloren, um das Un-behagen in meinen Eingeweiden zu ignorieren. Wir durf-ten Kost nicht verlieren. Auch wenn wir Werkzeuge desTodes waren, bedeutete das nicht, dass wir ihn in unse-rem eigenen Heim willkommen hießen.

Das Töten war ein Nebenprodukt eines jahrhunder-tealten Dekrets, das noch aus der Zeit des Ersten Kö-nigs stammte. Ausgestoßen aus den vom König regier-ten Städten, dennoch dazu gezwungen, seine Vereinba-rungen zu erfüllen, um zu überleben.

Der Tod war notwendig.Aber nicht auf diese Weise.«Lasst die Tiermagierin kommen.» Das lodernde Feu-

er knackte in der gedämpften Stille, die unmittelbar aufmeinen Befehl folgte. Das Haus kam in Bewegung. Ausjedem Winkel und jeder Nische eilten Mitglieder herbei,um einen Blick auf Kosts Geiselnehmerin zu werfen. Siedrängten sich auf der umlaufenden Galerie des erstenStocks an das schmiedeeiserne, mit Metallblumen ver-zierte Geländer. Dornen zwischen Rosen – wie das Lebeneines Assassinen.

Ich musste sie beschützen, wie es unser früherer Gil-denmeister Talmage getan hatte. Mein rascher Blickzum Kaminsims fiel auf das gerahmte Ölgemälde. Tal-mage starrte zur mir zurück. Sein von Falten beschwer-ter Blick ging durch mich hindurch. Zum ersten Mal hat-te ich diese Augen gesehen, als ich vor ihm auf dem Bo-den gelegen und er mich von den Toten aufgeweckt hat-te.

«Du hast deinen Tod gewählt. Kost fand dich ohneRüstung, ohne Waffen und mit einem Lächeln auf demGesicht. Ich kann nicht versprechen, dass dieses Leben

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leichter wird, aber es wird neu sein. Du kannst alles hin-ter dir lassen. Du kannst vergessen. Wir lassen unsereVergangenheit in der Erde zurück.»

Ich glaubte, indem ich Talmage folgte und ein Mit-glied der Cruor wurde, hätte der Tod einen Schlussstrichgezogen. Mir war nicht bewusst, wie sehr ich mich irrte,bis es zu spät war. Wenn nicht einmal der Tod mich hei-len konnte, war ich für alle Zeit verloren. Alles, was ichhaben konnte, war Cruor, und selbst das erforderte einezerbrechliche Balance zwischen Liebe und Verlust.

Nie wieder würde ich meinen Fluch auslösen, hatteich mir geschworen. Nie wieder würde ich jemand Wich-tigen verlieren. Und nun hatte irgendeine Tiermagierinmit einer Armee von Tierwesen Kost in ihrer Gewalt.

Vorsichtige Schritte klangen über Holzdielen. Wäh-rend ich in den schwarzen Polstersessel neben mirsank, dämpfte ich die Angst und Wut in meinen Adernund verbarg meinen Zorn hinter absoluter Reglosigkeit.Die bronzenen Türgriffe bewegten sich, und die Türenschwangen auf.

Eine Frau trat herein.Große haselnussbraune Augen zuckten von links nach

rechts. Sie sah genau aus wie die Schurkin, für die ichsie hielt. Eine ausgebleichte, durch ständigen Gebrauchabgewetzte Lederhose. Eine enganliegende violette Tu-nika, von deren Saum ein verirrter Faden baumelte. Siedachte wahrscheinlich, Kost hierherzubringen, könnteihr ein paar Münzen einbringen.

Doch sie würde nicht lange genug leben, um den ma-geren Betrag auszugeben, den sie in ihrer Geldbörse hat-te.

Meine Brüder und Schwestern warteten völlig reglos,abgesehen von ihren eindringlichen Blicken und demsubtilen Heben und Senken ihrer Brustkörbe. Sie mus-terte jeden Einzelnen, dabei verlor ihr Gesicht mit jeder

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Sekunde, die verstrich, mehr an Farbe. Hinter ihr hieltein durchscheinendes Tierwesen mit der Statur einesschlanken Mannes Kost an seine Brust gedrückt. Tau-sende unendlich kleiner Zacken hielten ihn fest, und Bluttropfte von seinen Fingerspitzen ö von denen drei in ei-nem ungewöhnlichen Winkel abstanden.

Kost.Seine grünen Augen fanden meine, und seine ver-

traute stoische Haltung zerbrach und wurde zu einerreuevollen. Er senkte den Blick. Er würde seine Gefan-gennahme als Versagen betrachten. Beim Anblick sei-ner niedergeschlagenen Augen wogte heftige Wut durchmich hindurch, und ich widerstand dem Drang, vom Ses-sel aufzuspringen.

Ich durfte nicht die Beherrschung verlieren vor dieserTiermagierin. Vor meinen Leuten.

«Was haben wir denn da?», sagte ich so kalt wie einSchatten.

Ihr Kopf fuhr zu mir herum, und ein paar Haarsträh-nen blieben an ihren hohen Wangenknochen kleben. Siezog ihre Lederjacke enger um sich und machte einenzaghaften Schritt vorwärts. «Ich will niemandem Leidzufügen.»

Mein Blick glitt zu Kost. Zu dem Blut. «Das fällt mirschwer zu glauben.»

«Bist du der Anführer von Cruor?» Das schlanke Tier-wesen rückte näher zu ihr. Sie blickte hinunter auf ihreHand, und das Stirnrunzeln, das ihre Brauen zusammen-zog, vertiefte sich. Interessant.

«Vielleicht.»«Ich will, dass die Prämie auf meinen Kopf aufgeho-

ben wird», sagte sie. Ein paar Lacher wogten durch dieMenge, bevor sich wieder Schweigen über uns legte. Sieverlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderenund warf einen weiteren raschen Blick auf ihre Hand.

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Ich behielt meinen ruhigen Tonfall bei. «Du bist weitweg von zu Hause, Tiermagierin. Ich werde das Kopfgeldweder aufheben noch erlauben, dass du wieder von hierfortgehst.»

Ein eigenartiger Schweißfilm benetzte ihren Haaran-satz, und das Tierwesen an ihrer Seite zitterte. Sie be-rührte mit dem Kinn ihre Schulter, dabei trat Besorgnisin ihre Augen. Dann holte sie tief Luft und erwiderte festmeinen Blick.

«Wenn ihr Anstalten macht, mich zu töten, wird dieserMann hier sterben.»

Das Tierwesen verstärkte seinen Griff, und Kostsscharfes Aufkeuchen war wie eine Faust um mein Herz.

Götter, Kost.Ich riss meinen Blick von Kost los und sah sie an. Be-

herrschung. Meine Sorge könnte Kosts Leben auf eineWeise bedrohen, wie es die Tiermagierin nie verstehenwürde. Dieses wohlbedachte Kalkül war mir durch dievielen Jahre eingetrichtert worden, die mich mein Fluchschon überschattete. «Kost fürchtet den Tod nicht. Erhat ihn schon erlebt.»

Als Talmage noch der Anführer gewesen war, hatte erdarauf bestanden, dass wir die Furcht um unserer Arbeitwillen hinter uns ließen. Ich war derselben Meinung,aber bezüglich Loyalität gab es keine Regeln. Langsamstand ich auf, während ich die Entfernung zwischen Kostund mir abschätzte. Welche Art von Kräften hatte dieseKreatur? Würde ich es rechtzeitig schaffen?

Schatten sammelten sich am Rand meines Blickfeldsund strömten zu mir. Hüllten mich in eine kühle Dunkel-heit, die Bewegungen tödlich und beinahe unmöglich zuverfolgen machte. Ich sprang, bevor Zweifel eine Chan-ce hatte, meine Muskeln erstarren zu lassen.

Dicke Schattenranken schnellten in einer schwarzenRauchwolke vorwärts, und plötzlich stand ich vor ihr. Ich

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legte meine Hand um den weichen Hals der Frau, riss siehoch und hielt sie über dem Ebenholzboden in der Luftfest. Sie war so fragil. Zerbrechlich. Schwer zu glauben,dass sie es irgendwie geschafft hatte, meinen Stellver-treter gefangen zu nehmen. Was machte sie so gefähr-lich, dass es ein Kopfgeld auf sie rechtfertigte? Egal: Einschneller Ruck, und ich konnte ihr Leben beenden. Fin-ger kratzten über meine, und ihre Augen weiteten sich.

Hinter ihr reagierte das Monster. Es zog die Armeenger um Kosts Rippen, sodass sich die gezackten Spit-zen tiefer in seine Haut bohrten. Blut spritzte. Mein Griffverstärkte sich, und die Muskeln der Frau zuckten un-ter meinen Fingern. Eine schnelle Bewegung aus demHandgelenk würde ihr die Luft abschneiden, aber dawar noch die Sache mit ihrem Tierwesen. Ich war mirnicht sicher, ob ich ihr schnell genug das Genick brechenkonnte, bevor es Kost das Leben nahm.

Ein raues Flüstern kam über die Lippen der Frau. «Ichgebe dir ein Tierwesen.»

Ich lockerte meinen Griff minimal, und mein Blickschnellte zu ihr. Tiermagier boten nicht leichtfertig Tier-wesen an. «Du würdest deine Monster eintauschen?Welcher Tiermagier wäre bereit, so etwas zu tun?»

«Verhandeln. Bitte.» Ihre Stimmbänder vibrierten anmeiner Handfläche. Ich könnte ihr gleich an Ort undStelle ein Ende machen … aber Tierwesen waren eineSeltenheit.

Wie das Monster, das Kost gefangen hielt. Ein solchesTierwesen wäre in der Lage, die gefährlicheren Aufträ-ge auszuführen, die, bei denen wir gefasst – oder schlim-mer, getötet – wurden. Außerdem gab es von betrunke-nen Lippen geflüsterte Geschichten, Gerüchte über Tier-wesen, die jedermanns tiefste Sehnsüchte erfüllten. Ichhatte jede Art von Heilmittel versucht, bis auf dieses.Tiermagier waren zu schwer zu finden, zu schwer zu

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überwältigen. Und sie trennten sich nie von ihren Tier-wesen, völlig unabhängig des Preises  – oder der Dro-hung.

Die Zehen der Tiermagierin schleiften über den Bo-den, und ihre Kreatur erschauderte. Kost stöhnte erneut,und Calem rückte ein Stück näher. In weniger als einerMinute würde ich nicht mehr die Gelegenheit haben zuverhandeln. Er würde zuschlagen, um Kost zu retten.

«Lass ihn frei. Als Zeichen des guten Willens.»Sie hob die rechte Hand an ihrer Seite, und ein sanftes

Licht ging von ihrem Tiermagiersymbol aus. Das Schar-ren einer schweren Tür über Bodendielen zerriss dieLuft. Einen Moment lang löste ich den Blick von derFrau, um nach dem Ursprung des Geräuschs zu suchen,aber das verborgene Reich blieb unsichtbar.

«Iky, kehr zurück», flüsterte sie. Ein leises Summenertönte, als das Wesen ausatmete. Iky ließ Kost zu Bodenfallen und verschwand in einer Flut von Licht, und ihrZeichen wurde wieder normal.

Ich löste meine Finger und gab ihren Hals frei. «Kost.Krankenflügel. Sofort.»

«Noc – »«Sofort», wiederholte ich. Er nickte knapp, bevor

er sich die Treppe hinauf verabschiedete. «Calem, dubleibst bei mir und der Tiermagierin. Alle anderen, lasstuns allein. Augenblicklich.»

Unzufriedenes Gemurmel schwebte die Treppe her-unter, dennoch wand sich neblige Dunkelheit um ihreKnöchel wie die dicken Ranken des Waldes, mit denener seine Opfer fing, und sie verschwanden.

Calems rötliche Augen nahmen die Frau ins Visier.«Starke Darbietung. Du hast Eier aus Stahl, so viel istsicher.»

Ich verstand nicht, wie er es übers Herz bringen konn-te, ihr ein Kompliment zu machen. Nicht, wenn sie Kost

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wie eine Vogelscheuche aufgehängt und zur Schau ge-stellt hatte.

«Calem.»«Ja, ja.» Schnell gereizt, noch schneller abgekühlt.

Sein harter Kiefer entspannte sich, und sein Blick wech-selte von mörderisch zu einem faszinierten, langsamenTaxieren. Ich unterdrückte den Impuls, ihn wegzuschi-cken. Nur die Götter wussten, was sie imstande war her-beizurufen, und ich würde mich nicht überrumpeln las-sen.

«Wie heißt du?» Meine Stiefel klangen hart auf denFliesen, während ich sie langsam umkreiste.

«Leena.» Ihre Stimme brach. Bläuliche Flecken in derForm von Fingerabdrücken schwollen auf der papier-dünnen Haut ihres Halses an. Doch Schuldgefühle blie-ben aus.

«Noc. Willkommen in meinem Heim.» Mit einem Ni-cken zeigte ich zu dem anderen Armsessel und trat zu-rück, um sie vorbeizulassen. Das selbstsichere Reckenihres Kinns brachte mich aus dem Konzept, und etwasvon der Wut in meinem Inneren verpuffte. Ich konntenicht anders, als ihre Haltung zu bewundern. Wie eineAssassine, die den Tod nicht fürchtete. Sie machte essich in dem Sessel bequem, dann wanderte ihr Blick vonmir zu Calem.

«Die meisten Tiermagier würden lieber sterben, alssich von ihren kostbaren Tierwesen zu trennen», sagteich, um ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich zurückzu-lenken.

Etwas Dunkles flackerte hinter ihren Augen auf. «Wasfür ein Tierwesen willst du?»

«Bevor wir darüber diskutieren, was du aushändigenwirst, sollten wir kurz über die Anzahl sprechen. Ich be-nötige vier.»

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Unbehaglich rutschte sie auf ihrem Platz herum.«Zwei. Offensichtlich hast du keine Ahnung, wie schweres ist, mit mehreren Wesen zurechtzukommen.»

«Du kommst mit mehr als einem zurecht.»Sie drehte den roségoldenen Ring an ihrem Zeigefin-

ger. «Du musst mir garantieren, dass meine Tierwesenglücklich und gesund bleiben», stieß sie zwischen zu-sammengebissenen Zähnen hervor.

«Da ist ja das Tiermagierblut in dir.» Also nicht ein-fach nur eine Schwarzmarktgaunerin, die auf Geld auswar. Irgendwo unter dieser harten Miene versteckte sichMoral. «Ich kann dir versichern, deine Tierwesen wer-den gut versorgt sein, dennoch benötige ich vier. Einesfür mich selbst, und eines für jeden meiner engsten Ver-trauten.» Vor meinem inneren Auge sah ich unablässigKosts leidenden Blick vor mir. Nie wieder.

Ihre Augen wanderten kurz zu Calem, woraufhin erihr zuzwinkerte. «Kost wird begeistert sein, eine Erinne-rung an seine Begegnung mit dir zu haben.»

«Es reicht, Calem.» Ich winkte ihn zurück und wandtemich wieder Leena zu. «B-Klasse oder höher.»

Sie schnaubte. «Du kannst mich mal.»«Bist du unfähig, B-Klasse-Wesen zu besorgen?» Ich

nahm endlich ihr gegenüber Platz und erwiderte fest ih-ren hitzigen Blick.

«Nein.» Sie spielte mit einer Strähne ihres Haars, dasdie Farbe alter Eichen hatte – durchzogen von intensivenBrauntönen, die zum Scheitel hin dunkler wurden.

«Dann also B-Klasse. Wollen wir nachsehen, was duin deinem hübschen kleinen Bestiarium zur Verfügunghast?» Das Buch, das in ihrem Ausschnitt baumelte, riefnach mir und ließ Faszination in mir aufflackern. AberFaszination war eine komplizierte Sache. Sie führte oftzu Interesse, und Interesse zu etwas viel Gefährliche-rem.

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Sich von ihren Tierwesen zu trennen, weit vom hei-ligen Heimatland der Tiermagier fortzuwandern  – siewar alles andere als eine gewöhnliche Zielperson. Mei-ne Neugier brannte heller. Es war mein Job, Geheimnis-se zutage zu fördern, sie, falls nötig, dazu zu benutzen,meine Ziele voranzutreiben, aber an dieser Tiermagierinwar mehr als ihr Kopfgeld.

Nach einem Augenblick, der sich zu einer gefühltenStunde ausdehnte, platzte ein Scheit auf dem Kamin-rost, und sie sah durch ihre Wimpern hindurch zu mirauf. «Ich war geschäftlich unterwegs nach Süden. Ichwerde auf meiner Reise vier B-Klasse-Wesen zähmenund sie euch bringen, sobald ich fertig bin.» Ihr Tonfallschwankte am Ende, nur eine kleine Veränderung derKlangfarbe. Sie verheimlichte etwas. Andererseits ver-handelte sie gerade mit einem Assassinen, also wäre sieeine Närrin, das nicht zu tun.

Seufzend lehnte ich mich im Sessel zurück. «Nein.»«Entweder das oder gar nichts.»«Ich glaube, du vergisst, wer hier die Trümpfe in der

Hand hält. Meine Gilde hat den Auftrag für deinen Kopfbekommen. Ich verhandle über dein Leben. Du befolgstmeine Regeln.»

Sie umklammerte die Armlehnen ihres Sessels, undihr trotziger Blick drohte, mir zwei Löcher in den Schä-del zu bohren. «Wie, glaubst du, bin ich dazu gekommen,mir dieses Kopfgeld einzuhandeln? Ich verdiene meinenLebensunterhalt damit, mit Leuten wie dir zu verhan-deln, und ich lege immer die Regeln fest.» Ein leisesPfeifen kam Calem über die gespitzten Lippen, und ichschleuderte ihm einen mörderischen Blick zu. «Du willstTierwesen – so viel ist offensichtlich – , also, denke ich,habe ich mehr Verhandlungsmacht, als dir bewusst ist.»

Ich achtete aufmerksam auf die kleinste Veränderungihres Gesichtsausdrucks, stützte die Ellbogen auf die

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Knie und beugte mich vor. «Was geschieht mit deinenTierwesen, wenn du stirbst?»

Ihre Kühnheit verflog augenblicklich, und zurückblieb nichts als kalte Angst. «Was?»

Ihre Reaktion sagte alles. «Wenn du meinen Forde-rungen nicht nachkommst, wirst du sterben. So einfachist das. Ich kann ohne deine Kreaturen leben. Meine Brü-der und Schwestern ebenso.» Ich deutete auf Calem, dersie mit gefährlich trägem Lächeln musterte. «Aber dieFrage ist, können deine Tierwesen ohne dich leben? Wel-ches Schicksal würden sie erleiden, wenn du stirbst? EinSchicksal, das du gewählt hast, weil du zu stur warst,um zu verhandeln?» Ihre Lippen zitterten, aber Schuld-gefühl war nichts, das ich zulassen würde. Ich stand aufund blickte auf sie herab. «Also nur zu. Sag mir nochmal, dass ich nicht alle Karten in der Hand halte.»

Die Luft zwischen uns sprühte Funken, und sie ball-te die Fäuste, bevor sie schließlich den Blick zu Bodensenkte. «Ich kann dir nicht einfach welche von meinengeben. Die, die ich habe, haben bereits eine Beziehungzu mir aufgebaut, und diese Verbindung zu zerreißen,würde sie umbringen. Was schlägst du vor?»

Es brachte eine gewisse Befriedigung mit sich, einenGegner auszumanövrieren, geistig oder körperlich, undich konnte mir das Schmunzeln nicht verkneifen. «Ichbin so froh, dass du fragst.» Ich wandte mich an Calem.«Wie es scheint, machen wir uns auf eine Reise.»

«Oh ja.» Der kleine Rest Wut, der noch in seinenAdern geschwelt hatte, verschwand vollständig, und erklatschte in die Hände. «Um diese Zeit wimmelt es imSüden von schönen Frauen. Welche Gegend genau?» Erspähte um mich herum zu Leena.

«Moment mal, was? Nein. Ich brauche keine Eskor-te. Ich verspreche bei meinem Leben, dass ich mit eu-

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ren Tierwesen zurückkommen werde.» Sie umklammer-te den Saum ihrer Tunika und stand langsam auf.

Calems Blick fiel auf ihr Dekolleté. «Tut mir leid,Schwester. Noc ändert seine Meinung nicht.»

Ich hob den Kopf zur Decke, dem unsichtbaren Wegzum Krankenflügel im ersten Stock zu folgend. «Ich wer-de Kost die Reisevorbereitungen für uns treffen lassen.»

«Wartet – » Leenas Stimme ging in Calems begeister-tem Jubel unter. Sie schlug mit der Faust gegen denKaminsims aus Eichenholz, sodass das Brett unter derWucht des Schlags vibrierte. Wir drehten uns zu ihr umund starrten sie an. «Ich. Nehme. Euch. Nicht. Mit.» Einrosenholzfarbenes Glühen brach aus dem Baum an ih-rer Hand hervor, und Wurzeln streckten sich nach ihrenFingerspitzen aus.

Mühelos glitt ich in die Schatten und tauchte hinterihr wieder auf. Ich legte die Finger um ihr Handgelenkund übte leichten Druck aus, während ich die Lippendicht an ihr Ohr brachte. Eine aufreizende Mischung ausVanille und Flieder stieg mir in die Nase. «Du solltest gutdarüber nachdenken, bevor du etwas tust, das du nochbereuen wirst.»

Gänsehaut lief ihr über den Nacken, und sie erstarrteneben mir. Ihr Puls pochte unter meinen Fingern. So einzartes Ding, und doch lag so viel Stärke in ihrer Haltung.Die Art von Entschlossenheit und Biss, die von einemKampf gegen schreckliche Widrigkeiten zeugte. Und vonden Siegen, die sie davongetragen hatte. «Ich habe eineweitere … Bitte.»

«Ach?» Ich gab sie frei, bewegte mich jedoch nicht.Ihr Blick schnellte zu meinem Hals und blieb am Kragenmeines Hemds hängen. Wollte sie mich erwürgen? Mirheimzahlen, was ich mit ihr gemacht hatte? In ihren Au-gen war eine Intensität, die ich nicht einordnen konnte.

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Als wäge sie ab, ohne zu einer Entscheidung kommen zukönnen.

Schließlich schüttelte sie knapp den Kopf. «Nicht sowichtig.»

Bevor ich noch weiter nachbohren konnte, hallte dasKrachen gegen Mauerwerk schlagender Türen durch dieleeren Flure.

Wirbel aus Dunkelheit fegten in den Raum, und Eme-lia und Ozias erschienen. Leena sprang rückwärts undprallte gegen mich, dann beeilte sie sich hastig, wiederaus meiner Reichweite zu kommen.

Schwer atmend sprach Emelia als Erste. «Die Verzö-gerung tut mir leid – er war weiter draußen als erwar-tet.»

«Schon gut, Emelia. Bitte kehr auf deinen Posten zu-rück.»

Sie versank in einer Welle von Schatten, um an ih-ren Aussichtspunkt in den hohen Bäumen des Kitska-forsts zurückzukehren. Dort würde sie bleiben, bis ihreSchicht vorüber war, nur um von jemand anderem abge-löst zu werden. Mitglieder von Cruor konnten müheloseinen Pfad in unser verborgenes Heim heraufbeschwö-ren, aber es war dennoch möglich, dass Eindringlingedurch den verwunschenen Wald wanderten und uns fan-den. Wir hatten reichlich Feinde.

Mit steifem Rücken ballte Ozias die hammergroßenFäuste an den Seiten. «Ist sie das?»

«Immer mit der Ruhe, Großer.» Calem schlenderte zuihm und legte eine Hand auf seine Schulter. «Noc hatdie Sache geklärt.»

Der Blick seiner dunkelbraunen Augen sprang vonLeena zu mir, und die tiefen Falten auf seiner Stirn glät-teten sich. Er entspannte seine Hände und wischte sie anseiner schweißfleckigen Arbeitstunika ab. «Emelia hat

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mir alles erzählt. Ich hätte hier sein sollen, aber die Re-kruten – »

«Ich weiß.» Wir erweckten nur jene wieder, ohne diewir nicht leben konnten. Uns Nahestehende. Lebenslan-ge Freunde. Nicht jeder war vor der Veränderung einKrimineller gewesen, was bedeutete, dass unsere Akti-vitäten – und die Kräfte, die wir dazu benutzten, sie aus-zuüben – für manche schwer zu erlernen waren. «Gibihnen Zeit. Einstweilen möchte ich dir Leena vorstellen.Sie wird uns mit Tierwesen versorgen.»

Ozias’ dichte Augenbrauen schnellten bis zum Ansatzseiner kurzgeschorenen Haare hoch. Leena nickte ihmknapp zu und machte einen Schritt rückwärts. Mit seinermassigen Statur stellte er jeden anderen Assassinen inCruor in den Schatten, und dennoch war er die geringstevon Leenas Sorgen innerhalb meiner Mauern.

Kosts Gesicht schob sich in den Vordergrund meinerGedanken. Er würde sie aus Prinzip ermorden wollen.Es war an der Zeit, diesen Handel offiziell zu machen.«Sobald wir alle vier Tierwesen haben, werde ich michum das Kopfgeld kümmern. Bis dahin hast du uns amHals.»

«Und mit ‹um das Kopfgeld kümmern› meinst du, denAuftrag nicht auszuführen, richtig?»

Kluge Frau. Wenn sie uns noch nie einen Auftrag er-teilt hatte, dann wusste sie wahrscheinlich nichts vonder Magie, die ihrem Kopfgeld anhaftete. Und dennochhatte sie meine Worte in Windeseile analysiert. Ihr Über-lebensinstinkt war bewundernswert. Schade, dass siekeine von uns war.

Ich wandte mich zum Verlassen des Raums und sagtemit vorgetäuschter Geringschätzung: «Erfüll du deinenTeil der Abmachung, und ich kann dir versichern, dasskeiner von meinen Männern hinter dir her sein wird.»

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Von meinen Männern keiner. Ich dagegen? Das wareine andere Sache. Diesmal durchschaute sie es nicht,aber sie drohte mir trotzdem.

«Du solltest wissen», warnte Leena, «dass jeder Han-del mit Tierwesen dem Gesetz der Tiermagier unterliegt.Was bedeutet, solltest du oder einer deiner Assassinenden Tierwesen, die ich euch gebe, auf irgendeine Weiseschaden, habe ich die Erlaubnis, euch zu töten.»

Ich hielt inne und warf einen Blick zu ihr zurück. DieHitze in Leenas Blick war heißer als Feuer, aber ein ge-lassenes Grinsen legte sich auf mein Gesicht. «Ich be-grüße den Tag, an dem das passiert.»

Rosige Wut färbte ihre Wangen. «Ich will unserenHandel schriftlich. Nicht irgendeine mündliche Abma-chung, die nicht als Beweis benutzt werden kann.»

Ich zog eine Augenbraue hoch. Mündlich, hand-schriftlich, vom König persönlich unterzeichnet  – dasmachte keinen Unterschied. Die Magie von Cruors Eidkonnte nicht aufgehalten werden. «In Ordnung. Obwohldas niemanden außerhalb meiner Gilde daran hindert,Jagd auf dich zu machen.»

«Das ist meine eigene Angelegenheit.» Sie spielte mitden Aufschlägen ihrer schwarzen Jacke. «Wir müssen so-fort aufbrechen.»

«Übermorgen.» Ich ignorierte ihre offensichtlicheFrustration. «Wir brauchen Zeit, um uns vorzubereiten.»

«Reservier ein wenig Zeit am Strand für mich!» Ca-lem tanzte auf der Stelle und schickte ein Grinsen in Le-enas Richtung. «Hast du Badekleidung dabei?»

Sie verzog finster das Gesicht. «Behalt deine Phanta-sien für dich.»

Ich wandte mich an meinen zweiten Stellvertreter.«Ozias.»

«Ja?»«Zeig Leena ihr Zimmer. Im Ostflügel.»

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Sie erstarrte. «Moment mal. Woher weiß ich, dass ihrnicht in der Nacht zu mir kommt?»

Calem konnte nicht widerstehen. «Wenn ich mitten inder Nacht zu dir komme, kann ich dir versprechen, dassdu es nicht bereuen wirst.» Leena wich zurück, und ichunterdrückte ein Stöhnen. Calems unzählige Liebeleienwaren bislang noch nie ein Problem gewesen, aber ichhoffte, dass er diesmal klüger war. Er durfte nicht ausdem Blick verlieren, was Kost passiert war, egal, welcheVersuchung diese kämpferische Tiermagierin auch dar-stellen mochte.

Ich räusperte mich und sah Calem ernst an. «Geh pa-cken.»

«Ja, ja.» Er machte auf dem Absatz kehrt und lief, im-mer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hoch,dabei pfiff er die ganze Zeit über vor sich hin.

«Niemand wird dich töten, solange du dich in meinemHeim aufhältst. Das ist ein Befehl für alle meine Brüderund Schwestern, und du kannst versichert sein, dass sieauf mich hören werden. Und jetzt, Ozias, bring Leenabitte auf ihr Zimmer.»

Erneut lief ein ängstliches Beben durch Leenas Kör-per, aber sie hob trotzig das Kinn und folgte Ozias, ohnesich ein einziges Mal umzudrehen.

So viel zu ihrem Überlebenssinn. Sie hätte auf demganzen Weg zu ihrem Zimmer auf der Hut sein müssen.Schließlich konnte sie unmöglich wissen, dass ich meinVersprechen halten würde. Und doch lag etwas Selbst-sicheres in ihren Schritten. Und ihren Kopf hielt sie hocherhoben.

Nachdem sie verschwunden waren, ging ich die Trep-pe hoch und wandte mich nach links zum Westflügel, umnach Kost zu sehen. Mit beiden Händen stieß ich die ab-gewetzten Holztüren auf, die zur Krankenstation führ-

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ten. Der scharfe Geruch nach Bleiche und Zitrone drangin meine Nase.

Kost saß ohne Hemd auf einer Pritsche, die Hand-schuhe und der zerrissene Rock waren achtlos auf dasLaken neben ihm geworfen. Eine frische Tunika lag un-berührt auf dem Kissen. Der ärztliche Betreuer war ver-schwunden, aber auf einem silbernen Tablett neben Kostwimmelte es von Nadeln und Fäden. Nicht dass er ge-näht werden musste. Seine Haut würde sich innerhalbeiner Stunde von selbst wieder zusammenflicken.

Er heftete einen angestrengten Blick auf mich, sobaldich eintrat. «Es tut mir leid. Ich habe sie unterschätzt.»

Ich stieß einen leisen Seufzer aus und lehnte mich mitder Hüfte an den Schreibtisch neben der Tür. Pergamentraschelte unter meinem Gewicht. «Ich hoffe, das ist keinVersäumnis, das wir wiederholen werden.»

Kost erstarrte. «Was meinst du damit?»«Ich habe eine Abmachung mit ihr getroffen.»Langsam stand er auf, und Wut arbeitete sich durch

die Muskeln seiner Unterarme. «Du weißt, dass ich dei-ne Entscheidungen nicht anzweifeln werde.»

«Gut. Denn sie hat Tierwesen im Austausch gegen dieAufhebung ihres Kopfgelds angeboten.»

Kosts Hände erschlafften, und seine Augenbrauensenkten sich zum Rand seiner Brille. «Weiß sie von demEid?»

Ich zuckte mit den Schultern. «Nein. Macht das einenUnterschied?»

«Ich schätze nicht.»«Gut.» Ich stieß mich vom Schreibtisch ab und griff

nach Kosts Arm.«Übertrag den Eid.»Betroffen erstarrte er. «Ich kann mich darum küm-

mern, sobald der Handel abgeschlossen ist. Es ist nichtnötig, dass du den Auftrag selbst übernimmst.»

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Wieder sah ich Kost vor meinem inneren Auge, wie ervon dem Tierwesen aufgeschlitzt wurde. Dieser Auftraghätte von Anfang an mir gehören sollen. Ganz zu schwei-gen davon, hatte ich versprochen, dass keiner meinerMänner ihr Leben nehmen würde.

Nicht zu lügen, aber auch nicht die ganze Wahrheitzu sagen, ermöglichte einem Assassinen saubere Arbeit.Mit ruhiger Stimme legte ich Kost sanft eine Hand aufdie Schulter. «Dies spiegelt nicht deine Fähigkeiten wi-der. Ich habe den Handel geschlossen; ich führe den Auf-trag aus. Nicht du. Nicht irgendein anderer.»

«Aber – »«Das steht nicht zur Diskussion.»Kost gab nach und drehte seinen Arm, um eine

schwarze Sense von der Größe einer Silbermünze aufder Innenseite seines Handgelenks zu enthüllen. Ich er-griff seinen Unterarm und drückte meine Haut auf sei-ne, worauf das Mal zum Leben erwachte. Meine Hautbrannte, und ich verzog das Gesicht. Als der sengendeSchmerz versiegte, ließ ich seine Hand fallen. Der magi-sche Eid, der mich nun an den Auftrag band, leuchtetezu mir hoch, scharfe, schwarze Linien, die sich über dieAdern zogen.

Nun stand mein Leben auf dem Spiel, wenn ich Leenanicht tötete.

So lautete die Vereinbarung bei allen Aufträgen, dieCruor erteilt wurden. Legenden besagten, dass es dasWerk des Totengottes war. Als Zane, der Erste unsererArt, seinen Fängen entkam und ins Land der Lebendenzurückkehrte, war der Totengott außer sich vor Wut. Allunsere Verträge waren in seine Magie getaucht, damiter uns bei unserem Versagen ein zweites Mal einfordernkonnte. Ob die Legende nun wahr war oder nicht – esspielte keine Rolle. Alles, was ich wusste, war, dass derEid nicht gebrochen werden konnte, und diese Gewiss-

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heit hieß die dunkelsten Geschäfte willkommen. «DieFrau, die den Mord beauftragt hat – hat sie dich mit wei-teren Einzelheiten kontaktiert, nachdem ich dir den Auf-trag zugeteilt hatte?»

Kost schüttelte den Kopf. Er würde das hier persön-lich nehmen. Als Makel seiner perfekten Erfolgsstatistik.«Nein. Sie hatte eine Maske auf und war von Kopf bisFuß verhüllt, sie trug sogar Handschuhe. Aber mir ist einjohannisbeerfarbenes Leuchten um ihre Hand aufgefal-len, als sie ein Tierwesen rief, nachdem der Handel ge-schlossen war.»

Es war klug von ihr, ihre Identität geheim zu halten.Mit der richtigen Menge Münzen konnte man jeden dazuüberreden, alle möglichen Geheimnisse preiszugeben.«Ein Tierwesen? Interessant.» Also waren Leenas eige-ne Leute hinter ihr her. «Was ist mit dem Auftrag selbst?Irgendwelche Besonderheiten?»

«Ja. Die Frau schrieb die Einzelheiten des Auftragsauf Pergament: Die Knochen müssen innerhalb vonsechs Stunden nach dem Tod übergeben werden.» Erwarf einen Blick auf die silberne Armbanduhr an seinemlinken Handgelenk. «Ich sollte mich mit ihr in einer St-unde an der Teufelshöhle treffen.»

Ich zuckte nicht mit der Wimper. Es war weder daserste noch das letzte Mal, dass wir gebeten wurden, et-was Ungewöhnliches mit den sterblichen Überresten zutun. Aber die Teufelshöhle war gefährlich. Verdorbendurch dunkle Zauber und noch dunklere Omen. «An derTeufelshöhle?»

Kost verzog das Gesicht. «Leider ja. Ich bat um einenanderen Treffpunkt, aber die Auftraggeberin bestanddarauf.»

«Also gut. Wir werden das Treffen kurz halten.»Schwarze Schattenranken schlängelten sich zu mir.

Kost nahm die frische Tunika, schlüpfte mühelos hinein,

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und seine eigene Macht schlug meiner entgegen, als erebenso wie ich die Schatten rief. Wir kehrten dem Kran-kenflügel den Rücken und eilten auf dem kalten Windzur Tür hinaus, um unsere Auftraggeberin zu treffen.

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