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Gesellschafts- epochen und ihre Kunstwelten Lutz Hieber Hrsg. Kunst und Gesellschaft

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Gesellschafts-epochen und ihre Kunstwelten

Lutz Hieber Hrsg.

Kunst und Gesellschaft

Herausgegeben vonCh. Steuerwald, Mainz, Deutschland

Kunst und Gesellschaft

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/10470

Die Reihe Kunst und Gesellschaft führt verschiedene Ansätze der Soziologie der Kunst zusammen und macht sie einem interessierten Publikum zugänglich. In theoretischen als auch empirischen Arbeiten werden dabei verschiedene Kunst­formen wie etwa die Bildenden und Darstellenden Künste, die Musik und die Literatur hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen und künstlerischen Bedeutung und Struktur untersucht. Dies beinhaltet nicht nur Analysen zu Kunstwerken und ­formen, sondern auch Studien zur Produktion, Vermittlung und Rezeption von Kunst. Neben aktuellen Arbeiten stellt die Reihe auch klassische Texte der Kunst­soziologie vor.

Damit sollen zum einen die Zusammenhänge zwischen Kunst und Gesellschaft herausgearbeitet werden. Zum anderen zielt die Reihe darauf, die Relevanz einer Soziologie der Kunst auch in Abgrenzung zu anderen Arbeitsgebieten und Dis­ziplinen hervorzuheben.

Herausgegeben vonChristian SteuerwaldUniversität MainzDeutschland

Lutz Hieber (Hrsg.)

Gesellschaftsepochen und ihre Kunstwelten

HerausgeberLutz HieberHannover, Deutschland

Kunst und Gesellschaft ISBN 978­3­658­18467­4 ISBN 978­3­658­18468­1 (eBook)DOI 10.1007/978­3­658­18468­1

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d­nb.de abrufbar.

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Coverabbildung: Jan van Goyen: Stadt an einem Fluss (Detail). 1645. Amsterdam, Rijksmuseum

Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier

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V

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IXLutz Hieber

Über Gesellschaftsepochen und ihre Kunstwelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1EinführungLutz Hieber

Säkularisierung der Armut im Spiegel der spanischen Barockmalerei . 19Macht, Disziplin und soziale DistinktionMagdalena Depta

Holländische Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . 45Lutz Hieber

Rokoko-Männlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77Zur Deutung eines Typus moderner GenderperformativitätYork Kautt

Buchdruck und Urheberrecht um 1700 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101Kopien des Pariser Recueil des fi gures in Amsterdam, Den Haag und AugsburgBettina Waßenhoven, geb. Starzetz

VI Inhaltsverzeichnis

Gesellschaft der Freunde und Förderer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119Anspruch und Wirklichkeit in den Kupferstich-Rezensionen in Friedrich Nicolais Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste.Sabine Peinelt-Schmidt

Musikalische Öffentlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135Räume und Akteure im Feld der Musikproduktion in der Zeit von 1770 bis 1830Thomas Steiert

Marionettentheater im 19. und frühen 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . 147Feld- und habitussoziologische Annäherungen aus lebensgeschichtlichen Erzählungen und romantischer KunstillusionBeatrix Müller-Kampel und Lars Rebehn

Showrooms & Think tanks – Atelierinszenierungen als Vermarktungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179Ein Blick in Akademien, Künstler-Villen und Technische Hochschulen Martina Dlugaiczyk

Morgen- und Abendstern der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197Fürst Pückler, Joseph Beuys und die Metachronie in der KunstUlf Jacob

Totentanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221Ulrike Wohler

Leerstelle „Femme fatale“ – eine Besonderheit des polnischen Symbolismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249Das Beispiel Jacek Malczewski Karolina Kempa

Die reine Form und die Essenz der Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271Constantin Brancusis archaische ModerneAida Bosch

VIIInhaltsverzeichnis

Surrealistische Gruppierungen der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . 291Stephan Moebius

Zwischen völkischen Vorstellungen über Naturgärten und Avantgarde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337Zu Tendenzen der Gartengestaltung in Deutschland im frühen 20. JahrhundertJoachim Wolschke-Bulmahn

Prozessualität, Kunst und Lebenspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365Zur Problematik des Narratives einer kritischen Kunst am Beispiel ephemerer Tendenzen der 1950er und 1960er JahreAnna Spohn

Kulturelle Diversität in den Künsten zwischen Tradition und Zeitgenossenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377Lisa Gaupp und Volker Kirchberg

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389

IX

Vorwort

Lutz Hieber

Gemälde und Skulpturen sind bewegliche Dinge, die der Kunsthandel in priva-te Sammlungen oder Museen vermitteln kann. Tagespresse und Nachrichtensen-dungen des Fernsehens berichten immer wieder über spektakulär hohe Preise, die Werke der bildenden Kunst, Manuskripte bedeutender Autoren oder alte Hand-schriften auf Auktionen erzielen. Sie versehen Güter des Kunstmarktes mit einem Heiligenschein, der vom Warenwert herrührt, und sie in die Kategorie der Luxus-güter einreiht.

In europäischen Ländern garantiert staatliche Finanzierung die Existenz von Schauspiel- und Opernhäusern sowie von Museen und Kunstvereinen. Bespre-chungen in den unterschiedlichen Medien, die sich Aufführungen und Ausstel-lungen widmen, setzen die Existenz von Kunstinstitutionen als selbstverständlich Garantiertes voraus. Nur in besonderen Situationen, wenn nämlich eine Kürzung der gewohnten Mittelzuwendungen droht, wird diese Dimension der Kultur dis-kutiert. Dann geht es sehr oft darum, die Fortführung staatlicher Förderung – als sei sie eine Art Naturrecht – einzufordern.

Bei solchen Merkmalen der Kunstwelt, so stabil sie in unserer Gegenwart er-scheinen mögen, handelt es sich allerdings nicht um schlichtweg Gegebenes. Die uns gewohnte Kunstwelt ist das Produkt historischer Prozesse. Ihr heute gegebener Zustand stellt einen Sonderfall der Kunstgeschichte dar. Die Beiträge des vorlie-genden Bandes geben einen Einblick in die Bandbreite des Gebrauchs von Kunst in Geschichte und Gegenwart. Es geht um die Kunstwelten früherer Epochen, um die Refl exion sozialer Gegebenheiten im Bildermedium, um die gesellschaftlichen Bedingungen künstlerischer Produktion, sowie um die Proliferation künstlerischer Entwicklungen in unterschiedliche berufl iche Felder.

X Vorwort

Der vorliegenden Publikation ging eine Tagung am Institut für Soziologie der Leibniz Universität Hannover voraus. Das Buch ist aber kein ‚Tagungsband‘ im üblichen Sinne, sondern geht erheblich darüber hinaus, da interessierte Autorinnen und Autoren eingeladen wurden, das Themenspektrum zu ergänzen.

Kunstsoziologie kann nicht als Spezielle Soziologie („Bindestrich-Soziologie“) betrieben werden, da sie auf mehreren Säulen ruht. Zu diesen zählen Kunstge-schichte, Sozialgeschichte, Ästhetische Theorie und überhaupt Erfahrung mit Kunst. Zäune um Kunstsoziologie als Forschungsgebiet zu errichten, um es von benachbarten Fachdisziplinen abzugrenzen und einen dezidiert soziologischen Zu-griff auf Kunst zu bevorzugen, würde es seiner Lebensenergie berauben. Deshalb haben nicht nur Soziologinnen und Soziologen an diesem Band mitgewirkt, son-dern auch soziologisch orientierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Kunstgeschichte, der Kunsttheorie, der Germanistik, der Kulturwissenschaft, der Musikwissenschaft und der Geschichte der Landschaftsarchitektur.

In den Nachkriegsjahrzehnten prägten Einzelpersonen wie Theodor W. Ador-no, Arnold Hauser oder Alphons Silbermann die Kunstsoziologie. Seit 2010 jedoch besteht der Arbeitskreis „Soziologie der Künste“ (in der Sektion Kultursoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie), der nun eine angemessene Basis für die Tätigkeit in diesem Themenfeld bietet. Der vorliegende Band und die vorauf-gehende Tagung gehören in dessen Forschungszusammenhang.

Mein Dank gilt Dagmar Danko, der Vorsitzenden bzw. Sprecherin des Arbeits-kreises Soziologie der Künste, und ebenso Eva Barlösius, die gemeinsam mit mir die Tagung in Hannover organisierte und ganz entscheidend zu deren Gelingen beitrug.

1

Über Gesellschaftsepochen und ihre Kunstwelten

Einführung

Lutz Hieber

1 Kunst und Gesellschaft

Die Künste sind schon immer in vielfältiger Weise mit den gesellschaftlichen Strukturen verfl ochten. Das betrifft nicht nur die Themen der Werke als solche, sondern auch die Konventionen, die ihre Verwendung, ihren gesellschaftlichen Stellenwert und ihre Wertschätzung bedingen. Selbstverständlich gelten solche Bedingungen nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die gegenwärtig bestehende mitteleuropäische Kunstwelt.

Das Museum, wie wir es heute kennen, beansprucht zwar, einen Kanon über-zeitlicher Gültigkeit zu repräsentieren. Die ihm zugrundeliegenden Prinzipien ent-standen aber erst vor zwei Jahrhunderten und durchliefen seither eine wechselvolle Geschichte. Das Fundament der Kunstwelt beruht auf Bildung. Menschen erwer-ben Bildung durch Kunstvermittlung sowie durch unmittelbare Kunsterfahrung. Staatliche Bildungsinstitutionen wie Schulen und Universitäten auf der einen, und Orte der Rezeption wie Museum oder Schauspielhaus auf der anderen Seite, bilden ihre Säulen. Diese wiederum sind durch die hegemoniale Kultur und den dieser inhärenten Machtstrukturen bedingt. Die Überzeugungen, die das Paradigma der Kunstwelt begründen, kommen wesentlich durch Institutionen der Bildung zu-stande, und nur in seltenen Fällen durch kritische Refl exion der gesellschaftlich gegebenen Bedingungen.

Pierre Bourdieu konstatiert, „dass die Kunst heute der Ort eines Obskurantis-mus ist“, und er folgert: „Wenn Durkheim oder Weber wiederkommen würden, würden sie nicht weiter Religionssoziologie, sie würden Kunstsoziologie betrei-ben, weil viele der im Prophetentum, im Glauben usw. nachgewiesenen Logiken,

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018L. Hieber (Hrsg.), Gesellschaftsepochen und ihre Kunstwelten, Kunstund Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-658-18468-1_1

2 Lutz Hieber

die im religiösen Feld zu beobachten sind, heute im künstlerischen Feld herrschen“ (Bourdieu 2015: 183).

Sozialgeschichtliche Forschung kann Aufschluss über die Logiken der Kunst-welt geben. Wenn einzelne Bereiche der gegenwärtigen Kunstwelt mit Methoden der empirischen Soziologie untersucht werden, erfassen sie die gegenwärtig be-stehenden Sichtweisen auf Kunst. Dagegen eröffnet nur die historische Perspektive den Zugang zu unterschiedlichen Gebrauchsweisen der Künste, ebenso wie zu ver-schiedenen künstlerischen Praktiken.

In früheren Epochen dienten die Arbeiten von Künstlern den spezifi schen äs-thetischen Bedürfnissen der höheren Stände: Im Feudalismus erhielten Künstler Aufträge vom Adel, in katholischen Ländern arbeiteten sie für Klöster und Kir-chen, und daneben zählten wohlhabende Bürger und Gelehrte zu ihren Kunden. Erst die bürgerliche Kultur zielt auf eine Vereinheitlichung ab, wo es zuvor keine gegeben hatte. Wie das geschah, lässt sich am Kunstmuseum beispielhaft zeigen.

2 Hegemoniale Kultur

Das Kunstmuseum ist mit Defi nitionsmacht ausgestattet. Diese Institution, und die in deren Zusammenhang begründete Kunstgeschichte, setzen den Maßstab dafür, was als Kunst gilt und was nicht. Das dem Museum zugrundeliegende Paradigma hatte im späteren 18. Jahrhundert Gestalt angenommen.

In vorbürgerlichen Zeiten war Kunst mit Lebenspraktiken vermittelt. Altar-gemälde und Bildwerke waren mit dem religiösen Leben verbunden, illuminier-te Stundenbücher dienten der Andacht. Das pompöse Herrscherportrait im Saal eines Schlosses erfüllte Aufgaben der Repräsentation, während andere Sujets, die unterschiedliche Gemächer schmückten, die fürstliche Lebenspraxis begleiteten. Wohlhabende Bürger lebten tagaus tagein mit Gemälden unterschiedlicher Bild-gattungen, deren Verwendung als häuslicher Schmuck an ihren handlichen Forma-ten ablesbar ist. Am Kupferstich eines Sujets der antiken Mythologie konnte sich ein Gelehrter in seiner Studierstube erfreuen, den das Blatt etwa so viel kostete wie ein Buch.

2.1 Beaux-Arts

Mit Anbruch der bürgerlichen Ära brachte die Gründung von Kunstmuseen, als kunstvermittelnden Institutionen, eine grundlegende Zäsur für den Gebrauchs-wert von Kunst. Denn das Museum umfasst Werke, die ehedem in unterschied-liche Gebrauchsweisen eingebunden waren. Es beruht bezüglich der Dinge, die

3Über Gesellschaftsepochen und ihre Kunstwelten

es aufnimmt, auf drei Axiomen. Diese besagen, dass es erstens Kunst gibt, diese zweitens von der Alltagswelt abgesondert werden sollte, und drittens historische Kunstwerke einen eigenen Wert besitzen.

Der erste Grundsatz, den das Museum als keines Beweises bedürfende Wahr-heit voraussetzt, geht von einer Gemeinsamkeit der Gegenstände aus, nämlich dass es sich bei allen um Kunst handelt. „Weil sie Kunst sind, lassen sie sich alle ‚ästhe-tisch‘ erfahren: das heißt, als Dinge, die um ihrer selbst willen, ohne praktischen Zweck, von Wert sind“ (Sheehan 2002: 15). Daher können Altartafeln aus Kirchen, Herrscherporträts aus Schlössern und Landschaftsbilder aus bürgerlichen Wohn-häusern, trotz all ihrer Verschiedenheiten, in den Bestand derselben Institution aufgenommen werden. Damit geht die zweite Grundannahme einher, nämlich die des Zwecks des Museums. Die durch staatliche Mittel und private Unterstützung errichtete Institution versammelt Dinge, um eine soziale Aufgabe zu erfüllen, die vom Nutzen ästhetischer Erfahrung für Individuen und Gesellschaft ausgeht. „Die Absonderung der Kunst von der Alltagswelt“ dient als Rahmen, „in dem die Besu-cher die Zusammenhänge zwischen Kunst, Wahrheit und Moral begreifen können“ (a.a.O.). Der Bürger, der in seiner Lebenspraxis auf berufl ich bedingte Teilfunktio-nen reduziert ist, soll in dieser Sphäre die Fülle seiner Anlagen entfalten und zur Idee der Humanität fi nden können. Das dritte Axiom hebt die Bedeutung überlie-ferter Werke hervor. Das Museum beruht auf einem Geschichtsbewusstsein, „das den Wert vergangener Kunst verherrlicht und die Notwendigkeit anerkennt, sie für die Zukunft zu schützen und zu bewahren“ (a.a.O.). Entsprechend fungiert es als Garant des überzeitlichen Wertes der behüteten Schätze.

Die Französische Revolution begründete im Jahre 1792 durch Konventsbe-schluss die Einrichtung des ersten europäischen Museums im Louvre in Paris. Goethe beschreibt im Jahre 1798, als Zeitgenosse, die durch die neu geschaffene Institution bedingte Mutation der Kunstwelt. Kunstgeschichtlich wertvolle Werke wurden aus ihren Gebrauchszusammenhängen entfernt, um sie der neuen Aufbe-wahrungs- und Präsentationsweise zuzuführen. Er stellte fest, dass sich mit der Gründung des Louvre eine große Veränderung zugetragen habe, „welche für die Kunst, im Ganzen sowohl, wie im Besonderen, wichtige Folgen haben wird. Man hat vielleicht jetzo mehr Ursache als jemals, Italien als einen großen Kunstkörper zu betrachten, wie er vor kurzem noch bestand. Ist es möglich, davon eine Über-sicht zu geben, so wird sich alsdann erst zeigen, was die Welt in diesem Augen-blicke verliert, da so viele Teile von diesem großen und alten Ganzen abgerissen wurden. Was in dem Akt des Abreißens selbst zu Grunde gegangen, wird wohl ewig ein Geheimnis bleiben; allein eine Darstellung jenes neuen Kunstkörpers, der sich in Paris bildet, wird in einigen Jahren möglich werden“ (Goethe 1988: 26).

4 Lutz Hieber

Das Paradigma der Beaux-Arts, das für das Kunstmuseum konstitutiv ist, mar-kiert einen grundlegenden Bruch mit dem vorausgegangenen Kunstbegriff. Dabei handelt es sich um einen epistemologischen Bruch, dessen Bedeutung sich auf der Grundlage einer Foucault‘schen Archäologie der Denksysteme erschließt (Fou-cault 1974). Das Museum begründet das Kunstdasein, das die US-amerikanische ästhetische Theorie mit dem Begriff modernism fasst. Unter Modernismus ist in diesem Sinne keine Stilperiode, sondern die gesamte Kunstepistemologie zu ver-stehen, die erkenntnisleitende Theorie sowohl der kunstvermittelnden Institutio-nen als auch der Kunstgeschichte. „Die Kunst, so wie wir heute über sie nach-denken“, entstand „erst im 19. Jahrhundert mit der Geburt des Museums und der kunsthistorischen Disziplin […] Die Vorstellung von Kunst als autonom, als los-gelöst von allem Anderen, als dazu bestimmt, ihren Platz in der Kunstgeschichte einzunehmen, ist eine Entwicklung des Modernismus“ (Crimp 1996: 114 f.).

Als Hüter von Kunstschätzen verfügen Museen über reichhaltige Sammlun-gen. Doch sie bewahren nicht nur, sondern sie produzieren auch. Denn Museen geben durch die Präsentationsweise der Werke die Bedingungen des Zugangs zu den Objekten vor, sie sind Schulen der Kunstbetrachtung. Als Institutionen des Be-hütens und des Defi nierens ästhetischer Bedeutung verkörpern sie zugleich Macht in mehreren Dimensionen: Die politische und wirtschaftliche Macht einer kunst-sinnigen Bourgeoisie, die zur Existenz des Museums durch Stiftungen beiträgt; die fachliche Macht von Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern, die bestimmen, was im Depot bleibt und was in die Schausammlungen kommt; und die soziale Macht derer, die als parlamentarische Repräsentanten den laufenden Unterhalt der Institutionen durch staatliche Mittel gewährleisten. Der mehrstimmige Chor der beteiligten Machtdimensionen kann durchaus aus differierenden Interessen be-stehen, aber aufs Ganze gesehen wirkt er am Bau des Kunstsystems und gestaltet dessen Stockwerke und seine Gemächer. In diesem Sinne hat der Epochenbruch des Modernismus für die Kultur eines Landes erhebliches Gewicht, und das wirkt sich auf die sozialen Strukturen und sogar auf die Entwicklungsbedingungen der Individuen aus. Einige Dimensionen davon möchte ich nun im Hinblick auf die Situation des deutschsprachigen Raumes ansprechen.

2.2 Strukturelle Momente

Um die Merkmale der Kunstwelt in mitteleuropäischen Ländern zu erfassen, sind vor allem drei Aspekte wesentlich. Erstens entwickelten die Kunstinstitutionen ein charakteristisches Eigenleben als staatlich-bürokratische Organisationen, de-ren Leitung Beamten mit kunstgeschichtlicher Ausbildung oblag. Zweitens ist das

5Über Gesellschaftsepochen und ihre Kunstwelten

Museum in Prozesse der sozialen Distinktion eingefl ochten, da es für die Gebilde-ten die Funktion einer Schule der Kunstbetrachtung besitzt, von der die niederen Bildungsschichten ausgeschlossen sind. Drittens erscheint bemerkenswert, dass der Modernismus eine grundlegende Änderung für die Prinzipien des Sammelns brachte. So mussten beispielsweise die fürstlichen Kunstkammern, soweit sie noch im 18. Jahrhundert bestanden, ihre Gegenstände an die verschiedenen, neu einge-richteten Fachsammlungen abgeben.

Zunächst ein paar Worte zum ersten Aspekt, der Bedeutung bürokratischer Strukturen staatlicher Kunstinstitutionen. Ich möchte sie an exemplarischen Fällen illustrieren. Jahresgaben des Kunstvereins Hannover bestanden im späten 19. Jahr-hundert nicht – wie heute – vorwiegend in Druckgrafi k, sondern ausschließlich in Büchern. Die aufwändig aufgemachte Publikation des Jahres 1892 hebt hervor, der Kunstverein habe „die hohe kulturelle Aufgabe zu übernehmen, den Geschmack und das Kunsturteil des großen Publikums zu bilden“ (Reimers 1892: 3). Der Band präsentiert die Gemäldegalerie des Museums Hannover, damit „das Publikum Gu-tes vom Schlechten unterscheiden lerne“ (a.a.O.). Er stellt in Heliogravüre Bilder einiger Münchener Maler neben Gemälde von Emil Hünten, Adolf Northen, Louis Kolitz, Edmund Koken, Hans Gude, Hermann Baisch, Ludwig Bokelmann, Adolf Sell, Hugo Ömichen. Man reibt sich die Augen. Für das Jahr des Erscheinens die-ses Bandes fällt heute wohl kaum einem Kunstinteressierten einer dieser Namen ein. Sicher kennt die Kunstgeschichte Um- und Neubewertungen. Doch wie kann es sein, dass der französische Realismus mit Gustave Courbet und Edouard Ma-net, der damals bereits seit mehreren Jahrzehnten die Kunstkritik beschäftigte, keines Blickes gewürdigt wird? Und desgleichen auch die Impressionisten nicht, deren Anerkennung bereits seit Jahren wuchs? Dass diese Publikation die Auf-merksamkeit allein deutschen Malern widmete und Paris keines Blickes würdig-te, obwohl sie das Kunsturteil des Publikums zu bilden versprach, kann nur aus der Machtkonstellation der Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg resultieren. Sie verlangte von Funktionsträgern eine deutsch-nationalistische Sichtweise, die mit Frankreich-Feindlichkeit einherging.

Hannover stand in dieser Hinsicht nicht allein. Hugo von Tschudi, Direktor der Nationalgalerie in Berlin, hatte in den 1990er Jahren französische Werke erwor-ben, darunter das Gemälde „Im Wintergarten“ von Edouard Manet. Der Ankauf empörte den Akademiedirektor Anton von Werner und die von ihm beratenen höchsten politischen Kreise. Der wachsende Druck sorgte dafür, dass Tschudi sein Amt als Direktor der Nationalgalerie aufgeben musste (Schuster 1996).

Bei solchen Vorgängen handelt es sich übrigens nicht um Kapriolen einer vergangenen Epoche. Sie reichen – unter verschiedenen Vorzeichen – bis in die Gegenwart. So unterband der Duisburger Oberbürgermeister Sören Link im Jahre

6 Lutz Hieber

2014 das Projekt „Totlast“ Gregor Schneiders, das der Künstler für das Lehmbruck Museum konzipiert hatte (Süddeutsche Zeitung vom 08.08.2014).

Doch nun zum zweiten Aspekt, dem Museum als Schule der Kunstbetrach-tung. Für die Kunstsoziologie ist nicht nur der Gehalt der präsentierten Werke ein Thema, sondern auch die soziale Funktion der Kunstinstitutionen. Diese stellen sich als Stätten der Bildung dar, und als solche konstituieren sie den kulturellen Habitus. In der Funktion der Loslösung von Werken aus der Lebenspraxis und als staatliche Behörde vermittelt das Kunstmuseum Bildung eines spezifi schen Zu-schnitts. Bildung bewirkt eine „Form der Verhaltensnormierung“ (Bourdieu 1974: 123). Das in den Bildungsinstitutionen erworbene System von Denk- und Wahr-nehmungskategorien schleift sich zu Automatismen ein. Das Erlernte und Einge-übte wird bald so selbstverständlich, dass sich schließlich der Gebildete darin be-wegt, als ob es ‚naturgegeben‘ sei. Es wird Bestandteil seines ‚kulturellen Habitus‘, es geht ‚in Fleisch und Blut‘ über. Pierre Bourdieu bezeichnet das Erworbene und in der alltäglichen Routine Verfestigte als das „kulturell Unbewusste“. Gebilde-te stehen dazu in einem Verhältnis, das sich „als das von ‚tragen‘ und ‚getragen werden‘ bezeichnen lässt“: Sie sind sich nämlich nicht mehr bewusst, dass sie die Bildung, die sie zu dem gemacht haben, was sie sind, nicht besitzen, sondern dass umgekehrt ihre Bildung sie besitzt (a.a.O.: 120).

Den kulturellen Habitus prägen sowohl die vermittelten Inhalte, als auch glei-chermaßen die Art und Weise der Aneignung der Werke. Das trifft für den Besuch eines Museums ebenso zu wie für den eines Konzerts oder einer Oper. Diese be-sonderen Räumlichkeiten erfordern angemessene Verhaltensweisen. Rezipientin-nen und Rezipienten sind gehalten, sich auf das Dargebotene zu konzentrieren. Im Saal des Museums oder der Galerie befi nden sich die Gemälde in angemessenem Abstand vor neutral gehaltener Wand. Dieses Ausstellungsdesign dient dazu, Ab-lenkungen vom Betrachten des einzelnen Werkes zu vermeiden. Besucherinnen und Besucher sollen sich vertiefen können, um ungestört ihren Gedankengängen zu folgen. Diese „bürgerlichen Tempel“ zeigen, dass „die Welt der Kunst im selben Gegensatz zur Welt des alltäglichen Lebens steht wie das Heilige zum Profanen. Die Unberührbarkeit der Gegenstände, die feierliche Stille, die sich des Besuchers bemächtigt, der asketische Puritanismus der spärlichen und unkomfortablen Aus-stattung, die quasi prinzipielle Ablehnung jeder Art von Didaktik, […] all das hat den Anschein, als solle es daran gemahnen, dass ein Übertritt aus der Welt des Profanen in die des Heiligen eine, wie Durkheim sagt, ‚wahre Metamorphose‘ vo-raussetzt, eine radikale Bekehrung der Gemüter“ (a.a.O.: 198 f.). Das Einüben der den Beaux-Arts angemessenen Rezeptionsweise wird zum Bestandteil des kulti-vierten Habitus. Er eröffnet den Personen, die ihn inkorporiert haben, einen pro-blemlosen Zugang zur Kunstgalerie als dem Ort, der Kontemplation ermöglicht

7Über Gesellschaftsepochen und ihre Kunstwelten

und an dem sie geboten ist. Andere, die nicht über den entsprechenden kultivierten Habitus verfügen, also alle, die nicht entsprechende Bildungsgänge durchlaufen haben, werden sich in solchen Situationen eher fremd und unangenehm fühlen. Deshalb weist Bourdieu darauf hin, dass „Museen schon in den geringsten Details ihrer Morphologie und Organisation ihre wahre Funktion verraten, die darin be-steht, bei den einen das Gefühl der Zugehörigkeit, bei den anderen das Gefühl der Ausgeschlossenheit zu verstärken“ (a.a.O.). Insofern besteht eine Schwelle des Zugangs zur Kunstwelt, die nichts mit Eintrittspreisen zu tun hat. Der Habitus der Gebildeten, der sie von niedrigeren Bildungsschichten unterscheidet, beinhaltet Momente der sozialen Distinktion.

Mit dem Paradigma des Modernismus ging, neben bürokratischer Kunstver-waltung und der Galerie als Schule der Kunstrezeption, noch ein drittes Moment einher, nämlich die besondere Heraushebung von Dingen als ‚Kunst‘. Diesen As-pekt möchte ich an den Prinzipien illustrieren, die zur Aufteilung des Bestandes vormoderner Sammlungen auf Fachmuseen unterschiedlicher Art führten. Als Beispiel für vormoderne Auffassungen kann die Kunstkammer Kaiser Rudolfs II.1 in Prag dienen. Ihre Struktur beruht auf dem Bestreben, „eine enzyklopädische Sammlung anzulegen, in deren Mikrokosmos sich das ganze Universum spiegeln sollte“ (Habsburg 1997: 119). Diesem Sinn und Zweck entsprechend umfasste sie Naturalien (Stücke aus Zoologie, Botanik, Mineralogie, Paläontologie), Artefak-te (von Menschen hergestellte Kunstobjekte wie Elfenbeinskulpturen, Münzen, Bronzen), wissenschaftliche Instrumente (Automaten, Uhren, Himmels- und Erd-globen) und eine Galerie mit etwa achthundert Gemälden. Bibliotheken ergänzten die Sammlung.

Den Bestand solcher Kunstkammern zogen zwar über die Jahrhunderte die geschichtlichen Ereignisse, zu denen auch Brandschatzungen und Plünderungen zählten, immer wieder in Mitleidenschaft. Aber erst das Paradigma der Beaux-Arts machte ihnen in den Jahrzehnten um 1800 den endgültigen Garaus. Da sie nicht in das neu etablierte Ordnungssystem passten, erfolgte ihre Aufl ösung. Nun ging es um Reorganisation, um „Sonderung und Teilung des alten buntscheckigen Ensemble der Kunstkammern“ (Schlosser 1908: 133). Sie gingen „nicht nur ihres Namens, sondern auch ihres Charakters fast ganz verlustig“; das „war der Tribut, den sie, ein Überbleibsel längst vergangener Perioden, modernen, wissenschaft-

1 Rudolf war Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (1576–1612). Er wurde 1572 zum König von Ungarn und 1575 zum König von Böhmen gekrönt, außerdem war er Erz-herzog von Österreich. 1608 ging die Herrschaft über Ungarn und Österreich an Mat-thias über, der 1611 auch König von Böhmen wurde. Im Jahre 1583 hatte Rudolf II. seinen Regierungssitz endgültig nach Prag verlegt.

8 Lutz Hieber

lichen Anschauungen zu entrichten hatten“ (a.a.O.: 42). Die ‚Raritäten‘ der alten Sammlungen fanden ihre Wege in historische Museen, in Naturkundemuseen, in Völkerkundemuseen, in Kunstgewerbemuseen, in militärhistorische Museen, in wissenschaftlich-technische Museen – und ein Teil davon auch in Kunstmuseen.

Die wissenschaftlichen Prinzipien, die von nun an den Kunst-Begriff defi nier-ten, beruhten – wie gesagt – auf einem epistemologischen Bruch. Ihre Basis bildete die nun durchgesetzte hegemoniale Kultur, und diese beruhte auf Macht. Die neu-en Leitideen wurden durch staatliche Mittel realisiert.

Die Aufl ösung der Kunstkammern des Ancien Régimes und die Konstituierung der Kunstinstitutionen des Modernismus hatte mehrfache Auswirkungen. „Nichts hatte“, hebt Arnold Hauser hervor, „so viel zur Demokratisierung der künstleri-schen Erziehung beigetragen wie die Bildung und der Ausbau der Museen“ (Hau-ser 1953: 681). Früher mussten Künstler eine Reise nach Italien unternehmen, um Werke der berühmten Meister studieren zu können. Das ersparte ihnen nun das Museum, wo sie, um die Lehre an der Akademie zu ergänzen, Bilder studieren und kopieren konnten. Dabei handelte es sich aber nur um eine Seite der Medail-le. Die andere Seite, die demselben Denken, nämlich dem Zugänglichmachen der Kunst für die Allgemeinheit verpfl ichtet schien, erwies sich bald als idealistisches Konstrukt. Dessen Realitätstauglichkeit stand bereits ein Jahrhundert nach Grün-dung des ersten Kunstmuseums, des Louvre, in Frage. Die historische Avantgarde machte sich daran, an den Grundfesten zu rütteln. Bevor ich auf ihre Intentionen zu sprechen komme, fasse ich die relevanten Gesichtspunkte des bisher Gesagten zusammen.

Das Beaux-Arts-Paradigma, für das ich mich exemplarisch auf die Geschichte des Kunstmuseums bezog, leitete sich aus hohen Ansprüchen ab. Die öffentliche Sammlung wurde unter staatliche Verwaltung gestellt, um Unabhängigkeit von in-dividuellen Neigungen und Vorlieben zu gewährleisten. Tatsächlich jedoch konnte der jeweils bestehende Machtapparat, dank der Einbindung der Institutionen in die Strukturen der staatlichen Bürokratie, immer wieder partikuläre Interessen durch-setzen. Desgleichen erwies sich auch das Ideal der vielseitigen Entfaltung mensch-licher Anlagen und der Bildung humanistischer Grundhaltung, das der Idee der Beaux-Arts zugrunde lag, als brüchig. Dem Anspruch des Bildungsideals hatte die besondere Wertschätzung der autonomen Kunst entsprochen, die eigene – meist komfortable – Präsentationsräume erhielt. Doch tatsächlich erfüllten die öffentli-chen Institutionen der Kunstwelt die Aufgaben, denen sie zu dienen vorgaben, nur unzureichend.

9Über Gesellschaftsepochen und ihre Kunstwelten

2.3 Avantgarde

Die ersten Risse in dem, was im ideellen Konstrukt überzeugend schien, ließen sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr verbergen. Schließlich führten die gewaltigen gesellschaftlichen Umbrüche des frühen 20. Jahrhunderts zu jenen erdbebenhaften Erschütterungen des Beaux-Arts-Systems, die zur Geburt der his-torischen Avantgarde führten.

Die historische Avantgarde entstand nicht aus kunstimmanenten Erwägungen, sondern aus gesellschaftlichen: dem Kollaps der alten Ordnung in den Feuerstür-men des Ersten Weltkrieges. Sie richtete sich in zwei Stoßrichtungen gegen den in das Beaux-Arts-Paradigma eingewobenen Idealismus. Die eine Kraft bildete der Dadaismus als internationale Bewegung, der seine Fortsetzung auf neuer Stufe im Surrealismus fand. Die andere Kraft hatte bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Jugendstil eingesetzt, der die Erweiterung des Kunstbegriffs in Richtung auf Gestaltung von Gebrauchsgütern brachte; dessen Ziele vermittelte nach dem Ersten Weltkrieg das Bauhaus in Deutschland (ebenfalls in internationalem Aus-tausch mit De Stijl in Holland, WCHUTEMAS in Moskau und weiteren Akteuren) mit den Lebensbedingungen der technisch-industrialisierten Welt.

Der avantgardistische Angriff zielte auf die Grundlagen der hegemonialen Kul-tur. Er strebte an, Kunst aus ihrer institutionell verankerten Abgehobenheit zu lö-sen, um sie auf neue Weise wieder mit der Lebenspraxis zu vermitteln.

Die Avantgardisten attackierten die Museumskultur, denn hier führt Kunst ein Eigenleben. Das Museum konsolidiert, um es nochmal zu betonen, eine Auffas-sung von Kunst, die allein das autonome Werk akzeptiert. Kunst soll keinesfalls durch zweckrational-praktische Interessen kontaminiert sein. „Die Autonomie, die Kunst erlangte“, das ist entscheidend, „zehrte von der Idee der Humanität“ (Adorno 1970: 9). Demgemäß besteht die Bestimmung der Kunstwerke darin, einen Platz in der Kunstgeschichte einzunehmen, die ästhetische Produkte aus-grenzt, die sich ökonomischen oder politischen Interessen verdanken. Von An-fang an schloss sie deshalb die Unterhaltungsindustrie als wirtschaftlichen Zielen dienend aus, wie sie in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts entstand (und bald volle Fahrt aufnahm). Durch die Profi torientierung des Kapitals, in dessen Auf-trag sie entsteht, erscheint sie als ‚Kulturindustrie‘ heteronom, durch kunstfremde Zwecke, bestimmt. „Die Abhängigkeit der mächtigsten Sendegesellschaft von der Elektroindustrie, oder die des Films von den Banken, charakterisiert die ganze Sphäre“ (Horkheimer/Adorno 1947: 147). Solcherart Verdikt diente dazu, sie aus dem Kunstmuseum und der Galerie auszuschließen, und damit aus dem Feld, mit dem sich Kunstgeschichte befasste.

10 Lutz Hieber

Doch die Avantgardisten des frühen 20. Jahrhunderts hatten schmerzhaft er-fahren müssen, dass die besondere Wertschätzung, die ‚autonome‘ Kunst gegen-über ‚kulturindustriellen‘ Produkten erfährt, wenig taugte. Denn sie erlebten, dass die autonome Kunst in Sachen humanitärer Bildung versagte. Eine Gruppe von Kriegsdienstgegnern hatte Dada im Frühjahr 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, im neutralen Zürich begründet. Die grausame und verlustreiche Materialschlacht vor Verdun, die bis zum Ende des Jahres hunderttausende Tote fordern sollte, hatte soeben begonnen. Richard Huelsenbeck beschreibt das Zusammentreffen der Da-daisten: „Wir alle waren durch den Krieg über die Grenze unserer Vaterländer ge-worfen worden. Ball und ich kamen aus Deutschland, Tzara und Janco aus Rumä-nien, Hans Arp aus Frankreich. Wir waren uns darüber einig, dass der Krieg von den einzelnen Regierungen aus den plattesten materialistischen Kabinettsgründen angezettelt worden war […] Ball war Refraktär und ich selbst hatte mich nur mit genauester Not vor den Nachstellungen der Henkersknechte retten können, die für ihre sogenannten patriotischen Zwecke die Menschen in den Schützengräben Nordfrankreichs massierten und ihnen Granaten zu fressen gaben“ (Huelsenbeck 1920a: 3).

Der Angriff der Dadaisten galt dem Status der Kunst in der bürgerlichen Ge-sellschaft. Die Massenschlachten des Krieges hatten bewiesen, dass das System der Bildung durch Kunst versagte. Nämlich wenigstens die gebildeten Schichten hätten vehement Front gegen die technisierte Bestialität (Gaskrieg, Maschinen-gewehr etc.) machen müssen, die aus rein ideologischen Gründen in Gang gesetzt worden war. Doch offensichtlich geschah das nicht in nennenswertem Maße. Von einer Prägung kultivierter Länder durch Ideen der Humanität konnte keine Rede sein. Krieg und Propaganda zeigten, dass sich Bildungsidealismus ohne weiteres mit Hurra-Patriotismus und menschenverachtender Kriegstreiberei verbinden ließ.

Vor allem in Berlin gewann Dada kritischen Biss, und wandte sich folgerichtig gegen die ausschließliche Wertschätzung der autonomen Kunst. „Der Hass gegen die Presse, der Hass gegen die Reklame, der Hass gegen die Sensation spricht für Menschen, denen ihr Sessel wichtiger ist als der Lärm der Straße und die sich einen Vorzug daraus machen, von jedem Winkelschieber übertölpelt zu werden“ (Huelsenbeck 1920b: 37). Entsprechend entwickelten die Dadaisten eigene Ver-marktungsstrategien. Sie führten Werbekampagnen durch, verfassten Manifeste und erregten Aufmerksamkeit durch spektakuläre Aktionen. Damit wollten sie zu einer neuen Lebenspraxis beitragen. George Grosz zog die Schlussfolgerung, der Künstler solle „den Wert seiner Arbeit an ihrer sozialen Brauchbarkeit und Wirk-samkeit messen, nicht an unkontrollierbaren individuellen Kunstprinzipien oder am öffentlichen Erfolg“ (Grosz et al. 1925: 31).

11Über Gesellschaftsepochen und ihre Kunstwelten

Walter Benjamin stimmte dem dadaistischen Sturm gegen das Kunstsystem zu. Als Kriegsgegner war er 1917 nach Bern gezogen. In der Schweiz lernte er mit Ernst Bloch und Hugo Ball zwei weitere Protagonisten des Pazifi smus ken-nen (Brodersen 2005: 22). Da Benjamin dieselben Erfahrungen wie die Dadais-ten gemacht und entsprechende Schlussfolgerungen gezogen hatte, setzte auch er kein Vertrauen mehr in eine humanitäre Bildung durch die Beaux-Arts. „Die Ver-senkung“, stellte er im Hinblick auf die Kriegszeit fest, wurde „in der Entartung des Bürgertums eine Schule asozialen Verhaltens“ (Benjamin 2012: 243). Das auf Kontemplation angelegte Ausstellungdesign des Museums und der Galerie hatte in dieser Hinsicht ausgedient. Für ihn kam demzufolge der Unterscheidung von ‚Kunst‘, deren Schaffung autonom nur kunstimmanenten Zielen folgt, und ‚kultur-industriell‘ produzierten Bildern, die auch ökonomischen Zwecken dienen, keine Bedeutung zu. Gebrauchsgrafi k sah er als angemessenes Feld künstlerischer Tä-tigkeit. Von den „revolutionären Gehalten“ des Dadaismus „hat sich vieles in die Fotomontage hineingerettet. Sie brauchen nur“, sagte er 1934 in einem Vortrag in Paris, „an die Arbeiten von John Heartfi eld zu denken, dessen Technik den Buch-deckel zum politischen Instrument gemacht hat“ (Benjamin 1980: 693 f.).

Dada stand in seiner kritischen Haltung nicht allein. Auch das Bauhaus verfolg-te auf seine Weise die Idee, den konventionellen Kunstbegriff über Bord zu werfen. Die Berufung von Walter Gropius, des ersten Bauhaus-Direktors, hatte der Krieg verhindert. So konnte die Gründung dieser staatlichen Kunstschule erst 1919 erfol-gen. Das Bauhaus dehnte die künstlerischen Tätigkeitsfelder über den Bereich von Architektur, Gemälde und Skulptur hinaus aus, und seine Abteilungen befassten sich auch mit Fotografi e, Reklame, Schmuck, Möbeln, Buchillustration, Textilien, Tapeten, Kaffee- und Teeservices, Lampen sowie weiteren Gebrauchsgütern.

Dada und Bauhaus versuchten – jeweils auf ihre Art – Schlussfolgerungen aus dem Untergang der traditionellen Ordnung des alten Europa zu ziehen. Sie ziel-ten auf eine Erneuerung des Kunst-Begriffs, indem sie das Autonomie-Paradigma über Bord warfen. Doch der Wahlsieg des Nationalsozialismus im Januar 1933 brachte eine folgenschwere Weichenstellung. Die Diktatur vernichtete die Avant-garde im Inland.

2.4 Restauration und Folgen

Nationalsozialisten hatten bereits in den letzten Jahren der Weimarer Republik durch massive Störungen der Aufführungen von Stücken Bertolt Brechts militant in den Kunstbetrieb eingegriffen (Knopf 2006: 38 f.). Ab Januar 1933 konnten sie, da sie nun die Hebel der Macht in der Hand hielten, einen Vernichtungsfeldzug gegen jede Art progressiver Kunstpraxis führen (Brechtken 2004: 85). Bereits am

12 Lutz Hieber

10. Mai 1933 hatte auf dem Berliner Opernplatz eine ‚Verbrennung undeutschen Schrifttums‘ unter der Führung des nationalsozialistischen Deutschen Studenten-bundes stattgefunden, die in weiteren Universitätsstädten Nachahmung fand. Das Bauhaus hatte im Juli 1933 schließen müssen. Das Regime hatte missliebige In-haber künstlerischer Lehrämter an Akademien entlassen, so Otto Dix, Paul Klee und Max Pechstein. Unmittelbar nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler wurde das Atelier von George Grosz gestürmt, der aber glücklicherweise bereits am 12. Januar 1933 Deutschland in Richtung New York verlassen hatte. John He-artfi eld konnte sich in der Karfreitagsnacht desselben Jahres durch einen Sprung vom Balkon seiner Wohnung der Verhaftung durch die SS entziehen.

Durch die Diktatur in Machtpositionen befördert, konnten konservative Kunst-bürokraten die ihnen verhassten Werke der Avantgarde und der Klassischen Mo-derne aus den Museen entfernen. Die leegeräumten Stellen blieben jedoch nicht frei. Sie boten Chancen für jene Künstler, die in den vorangehenden Jahrzehnten ins Hintertreffen geraten waren, weil sie unbeirrbar an einem verstaubten Akade-mismus festgehalten hatten. Nun griffen die den althergebrachten Konventionen verpfl ichtet gebliebenen Künstler und Funktionäre zu, um sich in den Vordergrund zu spielen. Als Beispiele können Eugen Hönig, Adolf Ziegler oder Josef Thorak gelten, die zu Wortführern aufstiegen (Hinz 1977). Hönig, seit 1928 Präsident der Münchener Künstlergenossenschaft, wurde 1933 der erste Präsident der Reichs-kammer der Bildenden Künste. Ziegler arbeitete als Maler im Stil der ‚Salon-Kunst‘ des 19. Jahrhunderts. Thorak stellte Skulpturen im klassizistischen Stil her.

Die Werke der Künstler, die in den Jahren der NS-Diktatur den Ausstellungs-betrieb belieferten, entsprachen dem Empfi nden jener konservativen Milieus, die zur sozialen Basis des Regimes zählten. Ihre Bilder und Skulpturen folgten der akademischen Tradition des vorangegangenen Jahrhunderts, und das schloss ein, dass sie ungebrochen die moralisierenden Konventionen des Deutschen Kaiser-reichs (Lazarus 1909) fortführten. So prangerte eine Abteilung der im Jahre 1937 zusammengestellten Wanderausstellung „Entartete Kunst“ die „moralische Seite der Kunstentartung“ in der Weimarer Epoche an, wobei der Ausstellungsführer betonte, es gäbe „unter dieser gemalten und gezeichneten Pornographie Blätter und Bilder, die man auch im Rahmen der Ausstellung ‚Entartete Kunst‘ nicht mehr zeigen kann, wenn man daran denkt, dass auch Frauen diese Schau besuchen wer-den“ (Kaiser 1937: 14). Die diese Ausführungen begleitenden Abbildungen zeigen Bilder des Expressionismus und Verismus, darunter die „Frau mit angehobenem Rock“ vom Ernst-Ludwig Kirchner (Gordon 1968: Nr. 304).

Die Kunstpolitik des nationalsozialistischen Regimes hatte alle progressiven Tendenzen unterdrückt. Die Diktatur trieb den Großteil der Avantgardisten in die Emigration. Viele verließen Deutschland in Richtung USA, und dort sollten ihre

13Über Gesellschaftsepochen und ihre Kunstwelten

Ideen auf fruchtbaren Boden fallen. Das Museum of Modern Art, New York, über-nahm in den 1930er Jahren den Kunstbegriff des Bauhauses. Avantgardisten lehr-ten an US-Universitäten. Eine Schülergeneration führte die Ideen des Dadaismus weiter zu den aktivistischen Kunstpraktiken der Sixties (Hieber 2015: 48–66).

Dagegen wuchs die Kultur der Bundesrepublik aus dem Nachlass der Dik-tatur. Die Bilderwelt verblieb weiterhin in der Atmosphäre einer Teestunde für das konservative Bildungsbürgertum. Die Kulturinstitutionen der Bundesrepub-lik vernachlässigten nach der militärischen Niederlage des Faschismus jede Be-mühung, die Emigranten wieder zur Rückkehr nach Deutschland einzuladen. Die Tonangebenden der Ära Adenauer waren vielmehr froh, dass die ‚Störenfriede‘ draußen blieben. Die Kulturpolitiker steckten aber viel Energie und Geld in die Rekonstruktion der durch Bombenangriffe zerstörten Kunstmuseen, Opern- und Schauspielhäuser. Ein paar Beispiele: Das wegen eines Luftangriffs bis auf die Grundmauern ausgebrannte Opernhaus Hannover war 1950 im historischen Stil wiederaufgebaut, nach starker Beschädigung vor allem des Mittelteils in den Jah-ren 1943 und 1944 war die alte Pinakothek 1957 wieder hergestellt, für das 1943 durch einen Luftangriff zerstörte Wallraf-Richartz-Museum in Köln war 1957 ein neues Gebäude auf dem alten Gelände errichtet, das 1943 zerbombte Nationalthea-ter Mannheim erstand 1957 als Kombination von Großem Haus (Oper) und Klei-nem Haus (Schauspiel) an neuer Stelle, die durch Bombenangriffe 1944 nahezu völlig zerstörte Staatsgalerie Stuttgart konnte im Jahre 1958 neu eröffnet werden. So ging der wirtschaftliche Wiederaufbau einher mit der engagierten Restauration jener hochkulturellen Institutionen, die der Avantgardismus einst vehement be-kämpft hatte.

Die Bemühungen um das Festhalten an den alten Prinzipien beschränkten sich nicht auf die institutionelle Seite. Sie ging tiefer. Das bundesrepublikanische Aus-stellungswesen zog der Avantgarde durch Musealisierung, d. h. durch Einpassen avantgardistischer Arbeiten in die Präsentationskonventionen der Beaux-Arts, den Stachel. ‚Freie‘ Kunst und ‚angewandte‘ Kunst blieben getrennt. Das führte auch dazu, das Bauhaus aufzuspalten, also Kandinsky, Klee und Schlemmer dem Kunstmuseum zuzuordnen, und die Werke seiner Abteilungen für Gebrauchsgü-tergestaltung in die Museen für Angewandte Kunst zu schieben. Den Anschluss an internationale Entwicklungen beschränkten Kunstmuseen und Ausstellungswesen (z. B. „documenta“ in Kassel) auf das Feld der autonomen Kunst, wobei sie poli-tisch engagierter Kunst der Weimarer Republik keinen Platz einräumten (Fitzke 2015: 167). Damit festigten die Traditionalisten der deutschen Kunstwelt wieder die Bastionen der althergebrachten, den konservativen Milieus konvenierenden Beaux-Arts.

14 Lutz Hieber

Angesichts der Tatsache, dass es Konzentrationslager und industriell organi-sierte Vernichtung gegeben hatte, dass die Wehrmacht in den besetzten Gebie-ten Gräuel verübt hatte, und dass der Apparat der Diktatur im Inland reichlich Unterstützerinnen und Unterstützer gefunden hatte, wäre eigentlich eine erneute Bestandsaufnahme des Versagens der bürgerlichen Kultur erforderlich gewesen. Doch ein Wiederauffl ammen eines avantgardistischen Furors blieb aus.

Der bürokratische Apparat, der das Jahr 1945 weitestgehend unbeschadet über-dauert hatte, bildete die Grundfeste der hegemonialen Kultur. Das Paradigma der Beaux-Arts, das allein autonome Kunst anerkennt, war wieder fest etabliert. So-wohl durch Institutionen gestützt als auch in Bildungsprozessen verankert, bildete es wieder die Basis jenes Habitus, der weiterhin den herrschenden Bildungskanon trug. Für die deutschsprachige Regionalkultur bilden, neben den institutionellen Säulen, die sprachlichen Grenzen – anders als beispielsweise für die kulturellen Zentren Großbritanniens – ein Moment des Abschottens gegen Einfl üsse aus den USA. Die deutsche Kunstwelt ließ sich lediglich in Ausschnitten, die in das be-stehende Schema passten, auf ästhetische Innovationen aus Übersee ein.

Das Beaux-Arts-Paradigma, das unsere mitteleuropäische Kultur bestimmt, erweist sich als Produkt des geschichtlichen Prozesses. Die Avantgarden hatten dagegen opponiert, aber sie unterlagen schließlich der politischen Diktatur. Dass nach 1945 die bestehenden Prinzipien der Kunstwelt fortleben, hat eine Ursache in der Kontinuität der kulturprägenden Machtblöcke. Eine andere Ursache besteht darin, dass Habitus sich nur unter großer Mühe selbst refl ektieren kann. Durch Bil-dungsprozesse geformt, trägt er im Allgemeinen – als ob es naturgegeben sei – das Erworbene weiter. Deshalb bedarf es äußerer Anstöße und neuer Bildungswege, um die Strukturen des Inkorporierten, des in Denk- und Wahrnehmungskatego-rien Eingeschriebenen zu durchschauen und refl ektieren zu können2.

2 Für mich bestand die Voraussetzung, die es mir ermöglichte die Konventionen der bundesrepublikanischen Kunstwelt zu analysieren, in einem langen Prozess der Er-kundung der New Yorker Kunstwelt. Dort fand ich das Weiterleben der künstlerischen Praktiken der historischen Avantgarde. Die US-amerikanische ästhetische Theorie, die diese Entwicklungen reflektierte, half mir beim Zugang. Damit eröffnete sich mir ein Weg zur kritischen Reflexion der in Mitteleuropa herrschenden Kunst-Konventio-nen, also jener Denk- und Wahrnehmungsweisen, die ich in den Jahrzehnten, die mei-ner Kenntnis der New Yorker Ideen voraufgegangen waren, als interessierter Besucher von Museen und Ausstellungen des mitteleuropäischen Raumes erworbenen hatte.

15Über Gesellschaftsepochen und ihre Kunstwelten

3 Kunstsoziologie

Der Zugang zu Werken der Kunstgeschichte ist sozial und historisch bedingt. Wie die deutsche Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts beispielhaft vor Augen führt, resultieren die theoretischen und praktischen Grundlagen einer Kunstwelt aus gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Sie sind also nicht in Stein gemeißelt und können sich ändern. Gleichwohl sind Künstlerinnen und Künstler ebenso wie Museumsleute und Kunstkritikerinnen und Kunstkritiker zwangsläufi g, ob sie es wollen oder nicht, durch die gesellschaftlich bedingten Denk- und Rezeptionswei-sen ihrer Epoche geprägt. Der kultivierte Habitus wirkt sich aus, bereits wenn es um die Unterscheidung ‚Kunst‘ (Kunstmuseum und -galerie) oder ‚Nicht-Kunst‘ (Populärkultur, Kunsthandwerk) geht. Er wirkt sich auch aus, wenn es um Wer-ke aus früheren Epochen geht, denn die mit der hegemonialen Kultur gegebenen Wahrnehmungskategorien haben die Eigenschaft, die Rezeption von Werken der Vergangenheit durch die Brille der bestehenden Konventionen zu sehen, und da-durch können sie diese ihres ursprünglichen Sinnes berauben. Konsolidierte Auf-fassungen können Werke der Kunstgeschichte sogar zum Gegenstand der Projek-tion machen.

Erwin Panofsky, der längst als Klassiker der Kunstsoziologie Anerkennung fand (Silbermann 1979. Steuerwald 2017), arbeitete als soziologisch orientierter Kunsthistoriker solchen Tendenzen entgegen. Er entwickelte die ikonografi sche Analyse, um das Sujet eines Bildes zu erschließen, und die Ikonologie, um seinen Gehalt zu erfassen (Panofsky 1978). Ikonografi e verknüpft künstlerische Motive mit Themen oder Konzepten, die aus Geschichten, Allegorien etc. ermittelt wer-den können. Ikonologie baut darauf auf, indem sie – in einer Wendung ins Inter-pretatorische – zur Darlegung von Lebensstilen und Grundeinstellungen der zur Diskussion stehenden geschichtlichen Situation führt. Gerade dieser zweite Schritt erscheint mit erheblichen Schwierigkeiten gepfl astert, setzt er doch die Fähigkeit voraus, das betreffende Denken und Lebensgefühl zu erschließen, was wiederum voraussetzt, das eigene kulturell Unbewusste nicht für die Aneignung der Werke bestimmend werden zu lassen.

In diesem Sinne fordert Bourdieu die Befolgung des „Imperativs der Refl exivi-tät“. Denn die refl exive Beziehung zu dem mit Kunstwerken verbundenen Diskurs ist „die unumgänglichste Voraussetzung für das Verständnis des Diskurses“, und das wiederum kann nur auf der Grundlage geschehen, dass Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker sich mit der Geschichte der Kunstgeschichte befassen. Die „Geschichte der Kunstgeschichte [zu] machen“, wäre „eine Vorbedingung für die Benutzung der Produkte dieser Geschichte“ (Bourdieu 2015: 37).

16 Lutz Hieber

Kunstgeschichte konstituiert sich nicht nur aus der Überlieferung von Werken und von Texten über Werke und Künstler. Da der Gebrauch von Kunst die Kunst-rezeption schult, fl ießt auch dieser in den kultivierten Habitus unterschiedlicher Lebensstilgruppen in Gegenwart und Geschichte ein. Für die Kunstsoziologie er-geben sich damit wichtige Aufgaben.

Kunstsoziologie ist gründlicher als modernistische Kunstgeschichte. Kunstso-ziologie erforscht einerseits die gesellschaftliche Funktion eines Werkes aus frü-heren Zeiten, seine Bedeutung als Kommunikationsmedium. Insofern beleuchtet sie den kulturellen Habitus der betreffenden Epoche. Da andererseits viele der zur Diskussion stehenden Werke in unserer heutigen Museumskultur die Funk-tion ästhetischer Zeugen haben, geht es zugleich um deren Bedeutung für unsere gegenwärtige Welt. Insofern geht es für die Kunstsoziologie nicht nur um ‚Kunst‘ im Sinne der Beaux-Arts, sondern zugleich um soziale Milieus als die tragenden Säulen von Kulturen.

„Es gibt“, wie Michel Foucault betont, „eine Schlacht um die Geschichte“, wobei er auf Intentionen der Zurichtung des ‚populären Gedächtnisses‘ anspielt. Auch bezüglich der Grundannahmen, der Glaubenssätze, die in unserer gegen-wärtigen Gesellschaft dem Begriff von Kunst zugrunde liegen, geht es in dieser Schlacht darum, „den Leuten […] ein Interpretationsraster anzubieten, aufzu-zwingen“ (Foucault 2013: 140). Kunstsoziologie kann dazu beitragen, bestehende Denkschemata zu lockern, um den vorhandenen Machtstrukturen Paroli zu bieten.

Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge handeln von Gebrauchswei-sen der Kunst und von künstlerischen Praktiken in unterschiedlichen Epochen. Sie können einer Sicht auf die Kunstgeschichte hilfreich sein, die sich ihrer eigenen geschichtlichen Bedingtheit bewusst ist. Dadurch können sie auch dazu beitragen, Kunst aus dem Korsett des modernistischen Paradigmas zu befreien, um ihre ge-sellschaftliche Funktion und ihre mögliche Kraft in demokratischen Prozessen der Gegenwart zu beleuchten.

17Über Gesellschaftsepochen und ihre Kunstwelten

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18 Lutz Hieber

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19

Säkularisierung der Armut im Spiegel der spanischen Barockmalerei

Macht, Disziplin und soziale Distinktion

Magdalena Depta

I

Der Diskurs über Arme und Armut bietet einen Einblick in das Selbstbild einer his-torischen Gesellschaft. Die Darstellung von Armen in Bildern und die unterschied-lichen Funktionen dieser Bilder bieten ein Zeugnis des Selbstbildnisses und der zeitgenössischen Kräfteverhältnisse im Armutsdiskurs. In der frühneuzeitlichen Kultur Spaniens war der Arme ein Objekt der Fürsorge, er fungierte als Abbild Christi und besaß eine heilsökonomische Wertigkeit. Im Zuge des Humanismus und Frühkapitalismus betritt die literarische Figur des Schelms die Bühne und steht dem sanctus pauper als Antipode gegenüber. In dem vorliegenden Aufsatz skizziere ich die Darstellungsweise von Armen und unterständischen Personen in der spani-schen Malerei des Siglo de Oro im Kontext eines sich zunehmend säkularisierenden Armutsdiskurses. Diesen Prozess veranschaulicht die verstärkte Einfl ussnahme der Kommune auf die Armenfürsorge und der hierzu kontrovers geführte Disput. Mei-ne These lautet dementsprechend, dass die Säkularisierung von Armut zu einer ambigen Bedeutung von Armen in profanen Sammlerbildern führte.1

Der schon zu Beginn eingeführte Diskursbegriff geht auf Michel Foucault zu-rück, jedoch fi ndet sich im Werk des französischen Philosophen kein einheitlich

1 Im Grunde basiert der Aufsatz auf den Leitgedanken meines derzeitigen Disserta-tionsprojektes, das großzügig von der Gerda Henkel-Stiftung mit einem Promotions-stipendium unterstützt wird. Mein herzlicher Dank gilt ferner meinem Betreuer Herrn Professor Dr. Aurenhammer für die Mühen und das stetige Interesse sowie Herrn Pro-fessor Dr. Scholz-Hänsel für die beratenden Gespräche und die Unterstützung.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018L. Hieber (Hrsg.), Gesellschaftsepochen und ihre Kunstwelten, Kunstund Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-658-18468-1_2

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verwendeter Terminus von Diskurs. Prinzipiell werden Diskurse in der Foucault-schen Diskursforschung als Wissensordnungen und Wissenspraxen bezeichnet, „die in einem sachlich, zeitlich und sozial identifi zierbaren Bereich methodisch abgrenzbar und wirkmächtig“ sind (Diaz-Bone 2006, S. 72). Die auch als „Denk-systeme“ bezeichneten Diskurse bergen und fungieren als Machtverhältnisse, in-sofern sie Defi nitionsmacht besitzen und gesellschaftliche Strukturen gestalten.

Foucaults Diskursbegriff hat längst Einzug in die bild- und kunstwissenschaft-lichen Disziplinen gefunden. Dabei werden sowohl die Funktionen von Bildern innerhalb von Diskursanalysen wie auch bilddiskursanalytische Ansätze disku-tiert (vgl. Maasen et al. 2015). Klaus Türk weist darauf hin, dass Bilder nicht per se »diskursiv« sind, vielmehr ist ihre Diskursivität durch hegemoniale Verhältnisse bedingt (2015, S. 151).2 In dem Gefl echt aus normativen Handlungen und sozialen Strukturen ist unmittelbar künstlerisches Schaffen verwoben; daher sind Bilder nicht nur diskursive Erzeugnisse, sondern auch Mitproduzenten von gesellschaft-licher Konstitution, sozialen Praxen, Normen und Werten.

Das Siglo de Oro bezeichnet das „Goldene Zeitalter Spaniens“ und erstreckt sich etwa von 1550 bis 1660. Es kennzeichnet eine schöpferische und kreative Periode der spanischen Kunst und Kultur. Die kulturelle Glanzzeit entfaltete sich auf dem Höhepunkt der einstigen hegemonialen Kolonialmacht Spaniens und begleitet an-schließend den rasanten Machtverfall des habsburgischen Königreiches. Ab 1600 verfestigte sich die politisch-ökonomische Stagnation in Form von militärischen Niederlagen, politischen Krisen und wiederkehrenden Staatsbankrotten. Diese Entwicklung weckte insbesondere in elitären Gesellschaftsgruppen – in denen Li-teraten und Künstler integriert waren – den Eindruck einer allumfassenden Deka-denz. Hinzu kam ein folgenschwerer Zyklus der humanitären Notstände, denn die sogenannte „Kleine Eiszeit“ (1560-1630) verschlechterte die Lebensbedingungen der Menschen in Europa. Das kühlere Klima führte zu Missernten, die steigende Lebensmittelpreise verursachten. So wurden Nahrungsmittel insbesondere für die ärmere Bevölkerung schwer erschwinglich. Schließlich boten Unterernährung und mangelnde Hygiene einen idealen Nährboden für Seuchen.3 Mit der aufkommen-den Pauperisierung sind von absoluter Armut betroffene Menschen zunehmend als Bedrohung wahrgenommen und dementsprechend dämonisiert worden.

2 Türks Überlegung zu einer Bild-Diskursanalyse „á la Foucault“ ist „die Identifizie-rung bilddiskursiver Felder und die Herausarbeitung ihrer Strukturprinzipien, um his-torische Brüche in bildthematischer und bildstrukturellen Darstellungen und anderes mehr“ zu sezieren (ebd., S. 145).

3 An dieser Stelle ist die Pestepidemie von 1649 hervorzuheben, an der nahezu die Hälf-te der Stadtbevölkerung Sevillas verstarb (vgl. Bernal 2010, S. 17).