8
In den erdbebengefährdeten Gebieten in Deutschland sind Ge- bäude und bauliche Anlagen auf diese selten auftretende aber dennoch vorhandene Einwirkung hin auszulegen und zu bemes- sen (s. [1], [2]). Die dafür notwendigen Berechnungen und Nach- weise erfordern spezielles Wissen über Erdbebeneinwirkungen und -widerstände der Gebäude einerseits und über entsprechen- de Berechnungsalgorithmen andererseits (s. z. B. [3], [4]). Da Mauerwerk von der Nachweisführung her bisher immer sehr ein- fach gehalten wurde, bringt eine ausführlichere Untersuchung unter Erdbebeneinwirkung eine Aufwandserhöhung mit sich. Um eine Verkomplizierung der Planung zu vermeiden, hat man in der Vergangenheit mit konstruktiven Kriterien gearbeitet, bei denen ein Nachweis unter Erdbebenbelastung verzichtbar ist und aus- reichender Tragwiderstand bescheinigt werden kann (s. [5], [6]). Mit der Verschärfung der Einwirkungen durch den Über- gang auf das semiprobabilistische Sicherheitskonzept entstan- den besonders im Mauerwerkbau erhebliche Probleme, da mit den traditionellen Vorgehensweisen anfangs keine ausreichen- den Tragwiderstände zu bestimmen waren und bisherige Krite- rien für den Entfall eines rechnerischen Nachweises überprüft werden mußten. Mit Anwendung der heutigen Möglichkeiten der Rechentechnik und der Baumechanik ist es gelungen, derartige Kriterien nachvollziehbar neu zu definieren und ihre Herkunft so- wie ihre Hintergründe zu dokumentieren. Der Beitrag zeigt auf, wie anhand von abgesicherten und kalibrierten numerischen Simulationen konstruktive Kriterien ge- funden werden konnten, bei denen ein detaillierter Nachweis entbehrlich ist. 1 Einleitung 1.1 Ausgangspunkt Über die Einhaltung von definierten Konstruktionsregeln, die zum großen Teil empirisch festgelegt worden sind, konnte in der Vergangenheit auf den ausführlichen Nach- weis eines Mauerwerkgebäudes unter Erdbebenbeanspru- chung verzichtet werden (vgl. [5], [6], [7]). Um eine derarti- ge, einfache Nachweismöglichkeit im Mauerwerksbau auch unter den verschärften, neuen Einwirkungen zu erhalten, sind auf vielfältigsten Wegen Anstrengungen unternommen worden. Unter anderem lag nahe, mit den heute vorhande- nen Möglichkeiten der Mechanik und der Computertech- nik über Forschungsmodelle Untersuchungen an Referenz- gebäuden durchzuführen, aus denen sich dann konstruk- tive Regeln ableiten lassen. Eine Überprüfung der verwen- deten Modelle war erforderlich. Die Ergebnisse sind nachvollziehbar und durch Berechnungen belegt (vgl. [8]). 270 © 2005 Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Mauerwerk 9 (2005), Heft 6 1.2 Konstruktionsregeln Für den Nachweis ausreichender Erdbebenwiderstands- fähigkeit durch Einhaltung von Konstruktionsregeln müs- sen Mauerwerksbauten – zusätzlich zu den Anforderun- gen nach DIN 1053 (s. [7], [9]) oder ENV 1996 (s. [10], [11]) – die so genannten Anforderungen an die „einfachen Mauerwerksbauten“ einhalten. Detaillierte Konstruktionsregeln, bei deren Erfüllung ein genauerer Erdbebennachweis entfallen kann, sind den einschlägigen Normen (DIN 4149-1: 1981, DIN 4149-1: 2002, DIN 4149-1: 2004, ENV 1998-1-3 oder prEN 1998-1 [12]) zu entnehmen. Sie waren für den Stand von DIN 4149:1981 in [5] anschaulich für eine praktische Anwen- dung aufbereitet worden. Die Konstruktionsregeln sind in allgemeine konstruktive Anforderungen und in zusätzli- che Anforderungen klassifiziert. Die zusätzlichen Konstruktionsregeln wurden in der neuesten Fassung von DIN 4149-1: 2004 für Material, Ge- bäudegestaltung, Geschoßanzahl und Schubwände detail- liert angegeben. Siehe hierzu auch [2]. 1.3 Zielstellung und Lösungsweg Im Rahmen eines vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung geförderten Forschungsprojektes sind am Lehrstuhl Tragwerksplanung der TU Dresden eingehende Untersuchungen und Simulationen an Referenzhäusern aus Mauerwerk durchgeführt worden, die eine Überprü- fung und ggf. Neufestlegung der Konstruktionsregeln für die Erdbebenzone 1 zum Ziel hatten [8]. Wegen der brei- ten Anwendung von Mauerwerk im Wohnungsbau wurde sich auf diesen Bereich beschränkt. Der Lösungsansatz bestand darin, für typische Refe- renzgebäude aus Mauerwerk auf Basis von realitätsnahen FE-Modellen und schrittweiser Verfeinerung den wissen- schaftlichen Nachweis für die ausreichende Erdbebensi- cherheit zu führen, um zukünftig in der Praxis auf genaue- re Nachweise verzichten und dafür genaue Grenzen ange- ben zu können. Im Rahmen des Projektes wurden die un- terschiedlichen Materialkombinationen auf ihr Verhalten unter Erdbebenlast untersucht und mechanisch klassifi- ziert. Weiter sind konstruktive Maßnahmen, wie Größe der aussteifenden Wände, Wirkung von Ringankern sowie steifen Stahlbetondecken, die Wirkung des Baugrundes und der Einfluß der Gebäudegeometrie durch Erfassung in den numerischen Modellen analysiert worden. Zur Ka- Mauerwerkbauten des Wohnungsbaus unter Erdbebeneinwirkung Numerische Simulation zur Festlegung konstruktiver Maßnahmen für den Entfall eines genaueren Nachweises Wolfram Jäger Song Ha Nguyen Peter Schöps Fachthemen

Mauerwerkbauten des Wohnungsbaus unter Erdbebeneinwirkung. Numerische Simulation zur Festlegung konstruktiver Maßnahmen für den Entfall eines genaueren Nachweises

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In den erdbebengefährdeten Gebieten in Deutschland sind Ge-bäude und bauliche Anlagen auf diese selten auftretende aberdennoch vorhandene Einwirkung hin auszulegen und zu bemes-sen (s. [1], [2]). Die dafür notwendigen Berechnungen und Nach-weise erfordern spezielles Wissen über Erdbebeneinwirkungenund -widerstände der Gebäude einerseits und über entsprechen-de Berechnungsalgorithmen andererseits (s. z. B. [3], [4]). DaMauerwerk von der Nachweisführung her bisher immer sehr ein-fach gehalten wurde, bringt eine ausführlichere Untersuchungunter Erdbebeneinwirkung eine Aufwandserhöhung mit sich. Umeine Verkomplizierung der Planung zu vermeiden, hat man in derVergangenheit mit konstruktiven Kriterien gearbeitet, bei denenein Nachweis unter Erdbebenbelastung verzichtbar ist und aus-reichender Tragwiderstand bescheinigt werden kann (s. [5], [6]).

Mit der Verschärfung der Einwirkungen durch den Über-gang auf das semiprobabilistische Sicherheitskonzept entstan-den besonders im Mauerwerkbau erhebliche Probleme, da mitden traditionellen Vorgehensweisen anfangs keine ausreichen-den Tragwiderstände zu bestimmen waren und bisherige Krite-rien für den Entfall eines rechnerischen Nachweises überprüftwerden mußten. Mit Anwendung der heutigen Möglichkeiten derRechentechnik und der Baumechanik ist es gelungen, derartigeKriterien nachvollziehbar neu zu definieren und ihre Herkunft so-wie ihre Hintergründe zu dokumentieren.

Der Beitrag zeigt auf, wie anhand von abgesicherten undkalibrierten numerischen Simulationen konstruktive Kriterien ge-funden werden konnten, bei denen ein detaillierter Nachweisentbehrlich ist.

1 Einleitung1.1 Ausgangspunkt

Über die Einhaltung von definierten Konstruktionsregeln,die zum großen Teil empirisch festgelegt worden sind,konnte in der Vergangenheit auf den ausführlichen Nach-weis eines Mauerwerkgebäudes unter Erdbebenbeanspru-chung verzichtet werden (vgl. [5], [6], [7]). Um eine derarti-ge, einfache Nachweismöglichkeit im Mauerwerksbau auchunter den verschärften, neuen Einwirkungen zu erhalten,sind auf vielfältigsten Wegen Anstrengungen unternommenworden. Unter anderem lag nahe, mit den heute vorhande-nen Möglichkeiten der Mechanik und der Computertech-nik über Forschungsmodelle Untersuchungen an Referenz-gebäuden durchzuführen, aus denen sich dann konstruk-tive Regeln ableiten lassen. Eine Überprüfung der verwen-deten Modelle war erforderlich. Die Ergebnisse sindnachvollziehbar und durch Berechnungen belegt (vgl. [8]).

270 © 2005 Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Mauerwerk 9 (2005), Heft 6

1.2 Konstruktionsregeln

Für den Nachweis ausreichender Erdbebenwiderstands-fähigkeit durch Einhaltung von Konstruktionsregeln müs-sen Mauerwerksbauten – zusätzlich zu den Anforderun-gen nach DIN 1053 (s. [7], [9]) oder ENV 1996 (s. [10],[11]) – die so genannten Anforderungen an die „einfachenMauerwerksbauten“ einhalten.

Detaillierte Konstruktionsregeln, bei deren Erfüllungein genauerer Erdbebennachweis entfallen kann, sind deneinschlägigen Normen (DIN 4149-1: 1981, DIN 4149-1:2002, DIN 4149-1: 2004, ENV 1998-1-3 oder prEN 1998-1[12]) zu entnehmen. Sie waren für den Stand von DIN4149:1981 in [5] anschaulich für eine praktische Anwen-dung aufbereitet worden. Die Konstruktionsregeln sind inallgemeine konstruktive Anforderungen und in zusätzli-che Anforderungen klassifiziert.

Die zusätzlichen Konstruktionsregeln wurden in derneuesten Fassung von DIN 4149-1: 2004 für Material, Ge-bäudegestaltung, Geschoßanzahl und Schubwände detail-liert angegeben. Siehe hierzu auch [2].

1.3 Zielstellung und Lösungsweg

Im Rahmen eines vom Bundesamt für Bauwesen undRaumordnung geförderten Forschungsprojektes sind amLehrstuhl Tragwerksplanung der TU Dresden eingehendeUntersuchungen und Simulationen an Referenzhäusernaus Mauerwerk durchgeführt worden, die eine Überprü-fung und ggf. Neufestlegung der Konstruktionsregeln fürdie Erdbebenzone 1 zum Ziel hatten [8]. Wegen der brei-ten Anwendung von Mauerwerk im Wohnungsbau wurdesich auf diesen Bereich beschränkt.

Der Lösungsansatz bestand darin, für typische Refe-renzgebäude aus Mauerwerk auf Basis von realitätsnahenFE-Modellen und schrittweiser Verfeinerung den wissen-schaftlichen Nachweis für die ausreichende Erdbebensi-cherheit zu führen, um zukünftig in der Praxis auf genaue-re Nachweise verzichten und dafür genaue Grenzen ange-ben zu können. Im Rahmen des Projektes wurden die un-terschiedlichen Materialkombinationen auf ihr Verhaltenunter Erdbebenlast untersucht und mechanisch klassifi-ziert. Weiter sind konstruktive Maßnahmen, wie Größeder aussteifenden Wände, Wirkung von Ringankern sowiesteifen Stahlbetondecken, die Wirkung des Baugrundesund der Einfluß der Gebäudegeometrie durch Erfassungin den numerischen Modellen analysiert worden. Zur Ka-

Mauerwerkbauten des Wohnungsbausunter ErdbebeneinwirkungNumerische Simulation zur Festlegung konstruktiverMaßnahmen für den Entfall eines genaueren Nachweises

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270-277_Jaeger 13.12.2005 7:19 Uhr Seite 270

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271Mauerwerk 9 (2005), Heft 6

librierung der FE-Modelle sollten auch Ergebnisse bereitslaufender Erdbebenforschungen, wie z. B. Versuche anEinzelscheiben von Ötes [13] genutzt werden.

2 Wirklichkeitsnahe Analyse 2.1 Prinzipielle Vorgehensweisen

Zur Beschreibung der Erdbebenbeanspruchung von Mauer-werk wurden unterschiedliche numerische Modelle ent-wickelt [3]. Viele nationale Vorschriften über die Erdbe-bensicherheit schreiben frequenz- und tragwerksabhängigestatische Ersatzlasten für die entsprechende Erdbebenregi-on vor, die bei dem Nachweis der Tragsicherheit der Kon-struktion zu berücksichtigen sind. Beim Ersatzkraftverfah-ren wird nur eine statische Berechnung durchgeführt. DieErdbebeneinwirkung wird – wie der Name andeutet –durch eine horizontale statische Ersatzkraft dargestellt.

Das Antwortspektrenverfahren ist für die Anwendungim Hochbau (Türme, Hochhäuser etc.) entwickelt worden.Mit diesem Verfahren werden die maximalen Antwortendes Systems auf die Erdbebenanregung bestimmt, wodurchdie zeitliche Entwicklung der Antwort des MDOF-Systems(multi-degree-of-freedom-system) verloren geht. Diese Me-thode ist mehr oder weniger auf lineare Systeme be-schränkt. Nichtlineares Verhalten kann nur näherungswei-se über einen Duktilitätsfaktor (bzw. Verhaltensfaktor oderAbminderungsfaktor) berücksichtigt werden.

Zur realitätsnahen Mauerwerksanalyse unter Erdbe-beneinwirkung ist lediglich die Zeitverlaufsmethode ge-eignet (vgl. [14]), bei der über eine numerische Integrationdas System der nichtlinearen Bewegungsdifferentialglei-chungen unter Berücksichtigung der Dämpfung die realeBeanspruchung des Tragwerkes zeitabhängig ermitteltwird. Für diese Methode sind die Beschleunigungs-Zeit-Funktion der Bodenbewegung und die realitätsnaheBeschreibung des nichtlinearen Materialverhaltens unterzyklischer Beanspruchung erforderlich.

2.2 Erdbebeneinwirkung

Bei der Anwendung der Zeitverlaufsmethode werden fürdie mechanisch-mathematische Beschreibung der Erdbe-beneinwirkung die Beschleunigungs-Zeit-Funktionen derBodenbewegung benötigt. Sie haben i. d. R. einen beliebi-gen Zeitverlauf, der keine Periodizität aufweist. Neben

den in diversen Erdbebenbibliotheken vorhandenen Be-schleunigungs-Zeit-Funktionen werden künstlich gene-rierte Funktionsverläufe verwendet. Das Modell zur Er-zeugung einer Beschleunigungs-Zeit-Funktion wurde in[15] skizziert.

In Bild 1 ist beispielhaft eine horizontale Beschleuni-gungs-Zeit-Funktion für die Erdbebenzone 1 (ag = 0,4 m/s2)und die Kombination von geologischem Untergrund undBaugrund CT dargestellt, die auf Grundlage des in Bild 2abgebildeten Antwortspektrums (nach DIN 4149-1: 2004)generiert worden ist (s. [3], [15], [16]).

2.3 Modellierung des Mauerwerks 2.3.1 Verschmiertes Materialmodell

Um den Aufwand für die Durchführung der Berechnun-gen begrenzen zu können, mußte eine verschmierte Mo-dellierung (Makromodell) des Mauerwerks verwendetwerden. Auch ein bereichsweiser Einsatz einer Mikromo-dellierung hätte den Aufwand für die numerischen Simu-lationen ins Unermeßliche gesteigert, da schon auf Grundder Nichtlinearität des Systems der Bewegungsdifferen-tialgleichungen bezüglich der Zeit eine numerische Inte-gration angewendet werden muß.

In Makromodellen wird ein Tragwerkskörper durchsein spezielles Stoffverhalten approximiert. Ist er – wie beiMauerwerk anisotrop und inhomogen – muß durch einegeeignete Beschreibung des Materials sein Trag- und Ver-formungsverhalten wie bei einer homogenen Struktur abge-bildet werden. Die Geometriedaten der Steine und Fugensowie der Verband werden hierbei nicht mehr berücksich-tigt. Eine Voraussetzung für die Zulässigkeit dieser Idealisie-rung ist, daß die Maße der einzelnen Steine bzw. des Fu-genrasters im Verhältnis zur Geometrie der zu untersuchen-den Struktur bzw. zur Größe des Berechnungsausschnittsklein genug sind und somit die auftretenden Diskontinuitä-ten verschmiert werden können. Die Anwendung dieserModelle führt zu einer wesentlichen Reduzierung des nu-merischen Aufwands gegenüber den Mikro-Modellen, sodaß auch größere Systeme unter dynamischer Belastung be-rechnet werden können. Ihre Wirklichkeitsnähe hängt vonder zutreffenden Homogenisierung ab (vgl. auch [17], [18]).

Bei Makro-Modellen sind komplexe Materialgesetzeerforderlich. Diese müssen die Spannungs-Dehnungs-Be-ziehungen im monotonen Belastungspfad und im zykli-

W. Jäger, S. H. Nguyen, P. Schöps · Mauerwerkbauten des Wohnungsbaus unter Erdbebeneinwirkung

-0,60-0,50-0,40-0,30-0,20-0,100,000,100,200,300,400,50

0,00 2,00 4,00 6,00 8,00 10,00

t [s]

a [m/s2]

Bild 1. Horizontale Bodenbeschleunigungs-Zeit-FunktionZV1 für die Erdbebenzone 1 (ag = 0,4 m/s2) und die Boden-Baugrund-Kombination CT (DIN 4149 2004-05 [1])

0,00

0,20

0,40

0,60

0,80

1,00

1,20

1,40

0,00 0,50 1,00 1,50 2,00 2,50

Se [m/s2]

T [s]

Bild 2. Elastisches horizontales Antwortspektrum für dieErdbebenzone 1 (ag = 0,4 m/s2) und die Boden-Baugrund-Kombination CT sowie das Antwortspektrum der Boden-beschleunigungs-Zeit-Funktion ZV1

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schen Be- und Entlastungspfad sowie die unterschiedli-chen Versagenskriterien beschreiben. Mit den Material-modellen soll auch die Rißbildung des Mauerwerks beiÜberschreitung der Zugfestigkeit erfaßt werden. Dazuwird in der Regel ein verschmiertes Rißbildungsmodellverwendet, bei dem das gerissene Mauerwerk als Konti-nuum mit vielen sehr kleinen Rissen betrachtet wird. BeiLastumkehr müssen die Modelle die Rißschließungsvor-gänge abbilden, so daß senkrecht zur Rißrichtung wiederDruckspannungen übertragen werden können.

Unter Erdbebeneinwirkung werden die aussteifendenScheiben von Mauerwerksbauten zusätzlich zu den plan-mäßig vorhandenen Vertikallasten durch horizontal wir-kende Erdbebenkräfte belastet. In Abhängigkeit von denVerhältnissen zwischen Horizontal- und Vertikallastensowie Höhe und Länge der Mauerwerkscheiben könnenunterschiedliche Versagensarten eintreten.

Die wirklichkeitsnahe Abbildung des Materials Mau-erwerk macht dabei insbesondere die Einbeziehung derVer- bzw. Entfestigung, die Betrachtung assoziierter undnichtassoziierter Plastizität sowie die Berücksichtung derBesonderheiten mehrflächiger Fließ- oder Versagensbe-dingungen erforderlich.

Zur Beschreibung der Versagensarten können unter-schiedliche Bruchtheorien für Mauerwerk verwendet wer-den. Im Rahmen dieses Forschungsvorhabens ist dieSchubbruchtheorie nach Mann/Müller [19] als einfachesund robustes Stoffgesetz auf der Grundlage der Plasti-zitätstheorie in das FE-Programmsystem ANSYS imple-mentiert worden.

Aufgrund der nach dieser Theorie möglichen Versa-gensmechanismen von Mauerwerk (s. Bild 3) werden dieFließflächen aus den in Form von Ungleichungen bekann-ten Bruchbedingungen (s. [7], [9] bzw. [19]) abgeleitet.Die Fließfunktionen F1 bis F4 werden mit folgenden Glei-chungen beschrieben.

FlhR xs

s4 2

= − +( ) ⋅τ β σ

F RZx

RZ3 0 45 1= − ⋅ −τ β σ

β,

Fhl

HS x

s

s

2

1 2= − − ⋅

+ ⋅τ β µ σ

µ F

lhHZ xs

s1 2

= − −( ) ⋅τ β σ

272 Mauerwerk 9 (2005), Heft 6

wobei die in der DIN 1053-1 [7] üblichen Bezeichnungenverwendet werden.

Mit diesem Stoffgesetz kann das zyklische, elastopla-stische Verhalten dem bisherigen Erkenntnisstand ent-sprechend simuliert werden. An jedem Querschnittspunktlassen sich somit das Materialverhalten im inelastischenBereich sowie die fortschreitende Materialschädigung(Entfestigungseffekte) erfassen. Vorteil dieses Materialge-setzes ist die geringe Zahl der Eingangsparameter, die imwesentlichen denen der Schubbemessung nach DIN 1053-1bzw. DIN 1053-100 entsprechen.

Die plastischen Dehnungen im Fall des Reibungsver-sagens in der Lagerfuge werden nicht beschränkt, da sichin Versuchen bei diesem Kriterium ein nahezu ideal-pla-stisches Verhalten ohne erkennbaren Tragfähigkeitsver-lust zeigte. Für das Kriterium „Druckversagen“ wird eineaus einaxialen Versuchen hergeleite Arbeitsverfestigungs-beziehung angesetzt. Die Erfassung des Bruchverhaltenserfolgt dabei durch die Entfestigung nach dem Erreichender Maximalbeanspruchung sowie durch die Beschrän-kung der maximalen Dehnung. Die im Fall des Steinzug-versagens auftretenden Risse werden durch eine lineareEntfestigungsbeziehung verschmiert abgebildet.

Für die Beanspruchungsrichtung parallel zu den La-gerfugen wird linear-elastisches Verhalten angenommen.Da die Spannungen und Dehnungen in dieser Richtungbei den hier betrachteten Beanspruchungssituationen ge-ring sind und deutlich unter experimentell ermitteltenFestigkeitswerten liegen, werden dahingehend keine Ver-sagenskriterien oder Fließregeln angesetzt.

2.3.2 Implementierung in ANSYS

Das dargestellte Stoffgesetz ist in ANSYS mit Hilfe einerBenutzerroutine implementiert worden (s. [8], [16]). DieKnotenverschiebungen sowie die Dehnungen in den Inte-grationspunkten in jedem bestimmten Zeitschritt bzw.Zeitpunkt werden vom Differentialgleichungssystem fürdas dynamische Kontengleichgewicht mit Hilfe des New-mark-Operators und des modifizierten Newton-Raphson-Verfahrens errechnet. Zusammen mit den Spannungenund Dehnungen des vorhergehenden Zeitschrittes werdendie Zustandsgrößen der Benutzerroutine für jeden Inte-grationspunkt übergeben. Die resultierenden Spannungensowie die Tangentensteifigkeit KT werden an das Haupt-

W. Jäger, S. H. Nguyen, P. Schöps · Mauerwerkbauten des Wohnungsbaus unter Erdbebeneinwirkung

Reibungsversagen Druckversagen

Steinzugversagenfvk, τ

_σ Dd

Klaffen Bild 3. Versagensarten und Grenzkurven fürdie Schubfestigkeit in Abhängigkeit von derherrschenden Druckspannung

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273Mauerwerk 9 (2005), Heft 6

programm zurückgeführt. Auf Systemebene erfolgt dannam Ende des Iterationsschrittes die Ermittlung der Resi-dualkräfte und für den Fall, daß diese die festgelegten To-leranzkriterien nicht erfüllen, wird ein neuer Iterations-schritt mit aktualisierten Zustandgrößen aus der Benut-zerroutine durchlaufen.

2.3.3 Verifizierung des Materialmodells

Das nichtlineare Materialgesetz nach Mann/Müller istauch von Zilch/Schermer auf der Basis der Plastizitäts-theorie in das FE-Programm MARC implementiert undumfassend überprüft worden [20]. Über die Nachrech-nung durchgeführter Versuche und den Vergleich der Er-gebnisse konnte gezeigt werden, daß dieses Stoffgesetz dasVerhalten von Mauerwerk unter zyklischer Belastung zu-treffend beschreibt.

An der TU Dresden wurde dieses Materialgesetz indas FE-Programm ANSYS implementiert und anschlie-ßend überprüft. Die Versuche von Ötes [13]sind damitnachgerechnet und die Ergebnisse miteinander verglichenworden. Der Vergleich der beiden Kraft-Verformungs-Bil-der (s. Bild 4) zeigt, daß die Bruchverformung des Versuchsjedoch deutlich größer als die Bruchverformung der Nach-rechnung ist. Ein Grund dafür ist die Diskontinuität infol-ge Rißbildung im Mauerwerk beim Versuch, die von derKontinuumsmechanik nicht erfaßt wird. Zusätzlich wur-den die Eingangsparameter der numerischen Berechnungaus Versuchen des ibac, Aachen, entnommen, die nicht

ganz identisch mit den Materialkennwerten in den Versu-chen von Ötes sind. Es kann jedoch eingeschätzt werden,daß die Bruchlast in der Nachrechnung in Anbetracht derStreuung der Eingangsparameter gut erfaßt werden konnte.Die Genauigkeit des Materialgesetzes erscheint für nume-rische Untersuchungen ausreichend und zutreffend.

3 Untersuchung ausgewählter Referenzhäuser undabzuleitende konstruktive Anforderungen

3.1 Allgemeines

Um den Aufwand für die numerischen Simulationen zubegrenzen, konnten nur bestimmte, repräsentative Grund-rißtypen von Mauerwerkshäusern des Wohnungsbaus un-tersucht werden.

Auf der Grundlage vorgeschalteter, eigener Unter-suchungen zur Nachweisführung nach verschiedenenNormen und zum Verhalten unter Erdbebeneinwirkungensind bestimmte, als kritisch einzuschätzende Haustypenausgewählt worden:– ein Einfamilienreihenhaus– zwei Einfamilienhausvarianten und– ein Mehrfamilienhaus.

3.2 Materialeigenschaften

Es wurden die in Deutschland üblichen Stein-Mörtel-Kombinationen zu Grunde gelegt. Sie sind in Tabelle 1 mitden verwendeten Eingangsparametern aufgeführt.

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Bild 4. Hysterese des Versuchs V6 von Ötes [13] (links) und Ergebnis der Nachrechung (rechts)

Tabelle 1. Untersuchte Materialkombinationen und zugehörige Eingangswerte ([9], [22])

Mauerskin/ Eigenschaftswerte

Mauermörtel βR βHZ βRZ βHS µ E Dichte ρ v

[N/mm2] [N/mm2] [kg/dm3]

KS20/DM 10 0,61 1,020 0,22 0,6 9500 1,8 0,10

HLz6/LM21 2,2 0,17 0,256 0,18 0,6 2420 0,9 0,10

HLz12/IIa 5 0,44 0,512 0,18 0,6 5500 0,9 0,10

V6/LM21 2,2 0,17 0,516 0,18 0,6 3520 0,9 0,20

V12/IIa 5 0,33 1,023 0,18 0,6 8000 1,6 0,20

PP2/DM 1,8 0,33 0,364 0,22 0,6 1440 0,4 0,25

PP4/DM 3,4 0,33 0,368 0,22 0,6 2720 0,6 0,25

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Bei der Erdbebenbemessung wurde entsprechend [1]der Teilsicherheitsbeiwert für unbewehrtes Mauerwerk zu1,2 angesetzt. Zur Beschreibung des realitätsnahen Mate-rialverhaltens mit Hilfe der nichtlinearen Analyse kanndieser Teilsicherheitsbeiwert nicht direkt für Material-kennwerte verwendet werden, sondern ist auf der Einwir-kungsseite (Belastung) zu berücksichtigen.

3.3 Belastung

Erdbebenwirkungen auf Tragwerke werden über generier-te Bodenbeschleunigungs-Zeit-Funktionen dargestellt. Beider numerischen Untersuchung wurden diejenigen fürErdbebenzone 1 zusammen mit den ungünstigsten Unter-grundverhältnissen C-T und C-R kombiniert [1]. Wenn einGebäude bei diesen Untergrundverhältnissen als standsi-cher nachgewiesen werden kann, ist der Nachweis auchfür die anderen Untergrundverhältnisse als erfüllt zu be-trachten.

Die Erdbebenbelastung besteht aus drei voneinanderunabhängigen Beschleunigungs-Zeit-Funktionen, diegleichzeitig in Richtung der zwei horizontalen orthogona-len Achsen x und y und der vertikalen Achse z wirken. AufGrund der Unsicherheit der Bodenbeschleunigungs-Zeit-Funktion (stochastischer Prozeß) muß jedes Bauwerk,nach Festlegung des EC 8 bzw. ENV 1998, unter fünfunterschiedlichen Erdbebenbelastungen als standsichernachgewiesen werden.

Die Kombination der Erdbebenbelastung und derübrigen Einwirkungen (Lastkombinationen) erfolgt nachDIN 1055-100 [21]. Danach sind die bei Erdbebenanaly-sen zu berücksichtigenden Lastarten:– unabhängige ständige Einwirkungen mit charakteristi-

schen Werten – Einwirkung infolge von Erdbeben mit Bemessungswert

und– unabhängige veränderliche Einwirkungen mit quasi-

ständigen Werten. Unter unabhängigen ständigen Einwirkungen ver-

steht man hier die Konstruktionseigenlast und die Eigen-lasten nichttragender Teile. Unabhängige veränderlicheEinwirkungen sind die Nutzlasten bzw. Verkehrslasten,die Schneelasten, Einwirkungen aus Wind und Einwir-kungen aus Temperatur (s. ausführlich [21]).

3.4 Numerische Simulation

Ziel der Untersuchungen war es, für typische Mauerwerks-bauten Mindestwerte für die horizontalen Schubwand-querschnittsflächen (in Prozent der Geschoßgrund-

274 Mauerwerk 9 (2005), Heft 6

rißfläche) in Abhängigkeit von der Stein-Mörtel-Kombi-nationen und Geschoßhöhe anzugeben. Für die Beurtei-lung des Tragverhaltens sind zwei unterschiedliche Schä-digungszustände mit Hilfe einer numerischen Parameter-studie bestimmt worden. Im Schädigungszustand I trittfast keine Schädigung ein. Die Rißbreiten in den Mauer-werkswänden unter Erdbebeneinwirkung sind kleiner als0,1 mm. Beim Schädigungszustand II werden größereSchädigungen zugelassen. Es kommt aber noch nicht zumVersagen des Mauerwerks. Die Rißbreiten können größerals 0,1 mm werden.

Die numerischen Simulationen wurden mit ANSYSdurchgeführt. Um eine möglichst genaue Abbildung derMauerwerksbauten zu erreichen, wurden die Modellie-rungen der Häuser dreidimensional mit Volumenelemen-ten vorgenommen. Das nichtlineare Verhalten der Stein-Mörtel-Kombinationen wurde mit Hilfe des eigens dafürimplementierten Materialgesetzes nach Mann/Müllerberücksichtigt. Das nichtlineare Verhalten von Ringankerund Stahlbetondecken wird vernachlässigt und mit elasti-schen Volumenelementen (SOLID 45) modelliert (Bilder5 bis 7, Tabellen 2 und 3).

Bei dem untersuchten Mehrfamilienhausgrundrißsind zusätzlich die Wanddicken und die Anzahl der Ge-schosse variiert worden (Bild 8, Tabelle 4).

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Bild 5. Reihenhaus – Längsschnitt

Tabelle 2. Untersuchte Materialkombinationen für das Reihenmittelhaus

Materialkombination Innenwand Außenwand

1 KS20/DM, 17,5 cm dick KS20/DM, 17,5 cm dick

2 HLz12/IIa, 17,5 cm dick HLz6/LM21, 30 cm dick

3 V12/IIa, 175 cm dick V6/LM21, 30 cm dick

4 PP4/DM, 175 cm dick PP2/DM, 30 cm dick

5 PP4/DM, 24 cm dick PP2/DM, 30 cm dick

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275Mauerwerk 9 (2005), Heft 6

4 Bewertung der Ergebnisse und Ausblick

Im Rahmen des Forschungsprojektes konnten die Anfor-derungen für Schubwände in Abhängigkeit von Stein-Mörtel-Kombinationen, Geschoßhöhe und Anzahl derVollgeschosse für einige typische Referenz-Mauerwerks-bauten auf der Basis von realitätsnahen numerischen Mo-dellen festgelegt werden, bei deren Einhaltung ausreichen-de Tragfähigkeit in Erdbebenzone 1 nachgewiesen ist.

Die numerische Untersuchung des 21/2-geschossigenStandardreihenmittelhauses mit Holzdachkonstruktionund Stahlbetondecken hat gezeigt, daß die Anforderungenfür Schubwände bei den Stein-Mörtel-KombinationenKS20/DM, HLz6/LM21 – HLz12/IIa, V6/LM21 – V12IIafast identisch mit den Anforderungen nach DIN 4149-1:2004 und günstiger als die Anforderungen nach prEN1998-1 sind. Die Anforderungen für Schubwände bei derStein-Mörtel-Kombination PP2/DM – PP4/DM sind ge-ringer als die Anforderungen nach DIN 4149-1: 2004 (biszu 26,7 % weniger Schubwandfläche). Der Einbau einesRingankers führt zur Verringerung der erforderlichen

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Bild 6. Reihenhaus – Grundriß (Maße in cm)

Bild 7. FE-Modell für das Reihenhaus (ab Oberkante Kellergeschoß)

Tabelle 3. Anforderungen an die Schubwände im Reihenmittelhaus (Geschoßhöhe 2,75 m)

Material- Mindestlänge der Innenwände Mindestwert der Schubwandquerschnittsflächekombination [m] [%]

ohne Ringanker mit Ringanker ohne Ringanker mit Ringanker

I II I II I II I II

1 2,5 1,4 2,1 1,25 2,5 1,9 2,3 1,8

2 2,3 1,6 1,9 1,4 3,2 2,8 3,0 2,7

3 2,1 1,4 1,8 1,25 3,1 2,7 2,9 2,6

4 2,3 1,6 2,0 1,4 3,2 2,8 3,0 2,7

5 2,0 1,4 1,7 1,25 3,4 3,0 3,2 2,9

I: Schädigungszustand I; II: Schädigungszustand II

Bild 8. FE-Modell für das Referenz-Mehrfamilienhaus (ab Oberkante Kellergeschoß)

Page 7: Mauerwerkbauten des Wohnungsbaus unter Erdbebeneinwirkung. Numerische Simulation zur Festlegung konstruktiver Maßnahmen für den Entfall eines genaueren Nachweises

Schubwandquerschnittsfläche (ca. 10 %). Die erforderli-chen Schubwandquerschnittsflächen sind stark abhängigvon der Geschoßhöhe und der Stein-Mörtel-Kombination.Die benötigte Schubwandquerschnittsfläche für PP2/DM– PP4/DM ist im Schädigungszustand II ca. 50 % größerals die für KS20/DM.

Bei dem untersuchten Mehrfamilienhaus sind die er-forderlichen Schubwandquerschnittsflächen neben dengenannten Einflüssen stark von der Anzahl der Vollge-schosse abhängig. Für das ein- und zweigeschossige Mehr-familienhaus ist der Erdbebennachweis im Schädigungs-zustand II schon bei maximaler Fensteröffnung in Quer-richtung und Mindestlänge der Schubwände (0,75 m) er-füllt. Für drei- und viergeschossige Mehrfamilienhäusersind die Anforderungen für Schubwände deutlich niedri-ger als die nach DIN 4149-1: 2004 festgelegten Anforde-rungen. Für die Materialkombination PP2/DM – PP4/DMist der Mindestwert für die Schubwandquerschnittsflächefür das dreigeschossige Mehrfamilienhaus um bis zu 50 %geringer als der nach DIN 4149-1: 2004 festgelegten Wert.Insbesondere wurde durch die numerische Untersuchunggezeigt, daß die Materialkombination PP2/DM – PP4/DMauch für viergeschossige Mehrfamilienhäuser zur Anwen-dung kommen kann, obwohl diese Materialkombinationnach DIN 4149-1: 2004 nicht verwendet werden darf. Dieberechneten Mindestwerte für die MaterialkombinationenKS20/DM, HLz6/LM21-HLz12/IIa und V6/LM21-V12IIa für viergeschossige Gebäude sind wesentlich nied-riger als die nach prEN 1998-1 festgelegten Anforderun-gen und fast identisch mit den Anforderungen nach DIN4149-1: 2004.

Bei Einfamilienhäusern ist die benötigte Schubwand-querschnittsfläche nicht so stark von der Stein-Mörtel-Kombination und der Geschoßhöhe abhängig, sondernhauptsächlich von der Lage des Schubmittelpunktes. Dasheißt, die Position der Innenwände hat eine wesentlicheBedeutung.

Die durchgeführten Untersuchungen beziehen sichausschließlich auf Mauerwerkbauten in der Erdbebenzo-ne 1. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse können aberauch auf die anderen Zonen übertragen und nach ergän-zenden Untersuchungen erweitert werden.

Die Auswirkungen weiterer zusätzlicher konstruktiverMaßnahmen auf die benötigten Schubwandquerschnitts-flächen sind in Zukunft noch näher zu untersuchen. Sosind z. B. mit Stahlbetonstützen eingefaßte Schubwändeund bewehrte Schubwände von besonderem Interesse.

276 Mauerwerk 9 (2005), Heft 6

Des weiteren sind eine andere Fugendicke für die ersteund die letzte Lagerfuge, textile Bewehrung und so ge-nannte „Corner-Gap“-Elemente auf ihre Auswirkungenhin zu überprüfen. Die Möglichkeit dazu ist nunmehr mitden durchgeführten Arbeiten gegeben.

Um den Einfluß einer Bewehrung oder Einfassungabschätzen zu können, sind in dieser Arbeit bereits punk-tuell einige Varianten des Mehrfamilienhauses unter stati-schen Belastungen mit und ohne Bewehrung gerechnetworden. Als erstes Ergebnis kann zusammengefaßt wer-den, daß bei den untersuchten Varianten mit Porenbeton-steinen eine Laststeigerung von mind. 14 % für den Rißzu-stand II und durch eine zusätzliche Bewehrung erreichtwerden konnte. Eine erste Berechnung für eingefaßtesMauerwerk hat ebenfalls eine Steigerung der horizontalenTragfähigkeit des Gebäudes ergeben. Allerdings ist hierzueine feinere Vernetzung notwendig, welche zu einemhöheren Rechenaufwand führt.

Anmerkung

Die Autoren bedanken sich in besonderem Maße beimBundesamt für Bau und Raumordnung für die finanzielleFörderung des Projektes.

Literatur

[1] DIN 4149: 2005-04: Bauten in deutschen Erdbebengebie-ten. Auslegung von Hochbauten gegen Erdbeben. DIN: Ber-lin 2005.

[2] Meyer, U.: Mauerwerk und DIN 4149. Mauerwerk 9 (2005)H. 6, S. 248–254.

[3] Bachmann, H.: Erdbebensicherung von Bauwerken. Basel,Boston, Berlin: Birkhäuser-Verlag 2002.

[4] Küttler, M.: Lieber auf Nummer Sicher. Erdbebensichersollte nicht nur in gefährdeten Zonen gebaut werden. Deut-sches Ingenieurblatt (2001) H. 10, S. 34 – 41.

[5] Döring, W.: Erdbebensicher Bauen. 5. Aufl.. Hrsg.: Wirt-schaftsministerium Baden-Württemberg, November 2001.

[6] DIN 4149-1: 1981-04. Bauten in deutschen Erdbebengebieten.Lastannahmen, Bemessung und Ausführung üblicher Hoch-bauten. DIN: Berlin April 1981 mit DIN 4149-1/A1:1992-12

[7] DIN 1053-1: 1996-11. Mauerwerk. Teil 1: Berechnung undAusführung. Berlin: DIN 1996.

[8] Jäger, W., Nguyen, S. H., Schöps, P.: Konstruktive Maßnah-men zur Gewährleistung der Erdbebensicherheit im Mauer-werksbau. Verifizierung von konstruktiven Maßnahmen zurGewährleistung ausreichender Erdbebensicherheit von übli-chen Mauerwerksbauten in erdbebengefährdeten Gebieten

W. Jäger, S. H. Nguyen, P. Schöps · Mauerwerkbauten des Wohnungsbaus unter Erdbebeneinwirkung

Tabelle 4. Mindestwerte der horizontalen Schubwandquerschnittsfläche in Prozent für eine Geschoßhöhe von 2,75 m imMehrfamilienhaus

Material- Anzahl der Vollgeschossekombination

1 2 3 4

I II I II I II I II

1 2,69 2,38 2,99 2,38 3,29 2,97 5,11 3,53

2 2,92 2,92 2,93 2,92 5,15 3,25 6,34 3,95

3 2,92 2,92 2,92 2,92 3,59 3,59 KvNz 3,74

4 2,92 2,92 3,27 2,92 5,67 3,25 6,94 4,98

I: Schädigungszustand I; II: Schädigungszustand II

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277Mauerwerk 9 (2005), Heft 6

Deutschlands mit wirklichkeitsnahen Berechnungsmodellen.Forschungsbericht, erarbeitet i. A. des Bundesamtes für Bau-wesen und Raumordnung. TU Dresden, Lehrstuhl Trag-werksplanung 2005.

[9] DIN 1053-100: 08-2004: Mauerwerk. Teil 100: Berechnungauf der Grundlage des semiprobabilistischen Sicherheitskon-zepts. Berlin: DIN. Beuth Verlag August 2004.

[10] ENV 1996-1-1: Eurocode 6: Bemessung und Konstruktionvon Mauerwerksbauten. Teil 1-1: Allgemeine Regeln – Regelnfür bewehrtes und unbewehrtes Mauerwerk, Deutsche Fas-sung DIN V ENV 1996-1-1: 1996.

[11] Nationales Anwendungsdokument (NAD). Richtlinie zurAnwendung von DIN V ENV 1996-1-1. Eurocode 6: Bemes-sung und Konstruktion von Mauerwerksbauten. Teil 1-1: All-gemeine Regeln – Regeln für bewehrtes und unbewehrtesMauerwerk. Hrsg. Deutsches Institut für Normung e.V. Ber-lin: Beuth Verlag 1997.

[12] EC 8: Auslegung von Bauwerken gegen Erdbeben. Teil 1-1.ENV 1998-1-1. Grundlagen – Erdbebeneinwirkung und allge-meine Anforderungen an Bauwerke. Deutsche Fassung ENV1998-1-1: 1994. Teil 1-2: Grundlagen – Allgemeine Regeln für Hochbauten. Deutsche Fassung ENV 1998-1-2: 1994. Teil 1-3: Grundlagen – Baustoffspezifische Regeln für Hoch-bauten. Deutsche Fassung ENV 1998-1-3: 1995. Teil 1-4:Grundlagen – Verstärkung und Reparatur von Hochbauten.Deutsche Fassung ENV 1998-1-4: 1996.

[13] Ötes, A., Löring, S.: Tastversuche zur Identifizierung desVerhaltensfaktors von Mauerwerksbauten für den Erdbeben-nachweis. Abschlußbericht des Lehrstuhls für Tragkonstruk-tionen, Universität Dortmund, 2003.

[14] Zoch, A.: Anlyse des Tragverhaltens von Mauerwerksbau-ten unter horizontaler Belastung mit FE-Modellierungen. Di-plomarbeit. TU Dresden, Lehrstuhl für Statik und Lehrstuhlfür Tragwerksplanung: Dresden 2001.

[15] Jäger, W., Nguyen, S. H.: Erdbebenbeanspruchung vonMauerwerk – Numerische Simulation zur Bewertung derTragwerksschädigung. In: 30. Aachener Baustofftag „Mauer-werk“, Festschrift zum Dank an Dr.-Ing. Peter Schubert.

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[16] Nguyen, S. H., Jäger, W.: Damage Analysis of MasonryStructures under Earthquake Action using ANSYS-Software.In: 22. CAD-FEM users’ Meeting 2004. Intern. Congress onFEM Technology and ANSYS CFX & ICEM CFD Conferen-ce. Dresden 2004, CD-ROM.

[17] Rautenstrauch, K., Schlegel, R.: Numerische Modellierungvon Mauerwerk. In: Mauerwerk-Kalender 30 (2005) S. 365 –398. Hrsg. H.-J. Irmschler, W. Jäger u. P. Schubert. Berlin:Ernst & Sohn; Lourenco, P. B.: An orthotropic continuummodel for the analysis of masonry structures. Delft: Universi-ty of Technology. Report No. 95-NM-R0712, 1995.

[18] Lourenco, P. B.: An orthotropic continuum model for theanalysis of masonry structures. Delft University of Technolo-gy. Report No. 95-NM-R0712, 1995.

[19] Mann, W., Müller, H.: Schubtragfähigkeit von Mauerwerk.In: Mauerwerk-Kalender 3 (1978) S. 35 – 65. Hrsg. P. Funk.Berlin: Ernst & Sohn.

[20] Zilch, K., Schermer, D.: Experimentelle und numerischeUntersuchungen zum Erdbebentragverhalten unbewehrterMauerwerksbauten. In: Mauerwerk Kalender 29 (2004)S. 649 – 664. Hrsgg. v. P. Schubert, H.-J. Irmschler u. W. Jäger.Berlin: Ernst & Sohn 2004.

[21] DIN 1055-100: 2004-03: Einwirkungen auf Tragwerke.Teil 100: Grundlagen der Tragwerksplanung, Sicherheitskon-zept und Bemessungsregeln. DIN. Berlin: Beuth Verlag 2001

[22] Schubert, P.: Eigenschaftswerte von Mauerwerk, Mauer-steinen und Mauermörtel. In: Mauerwerk Kalender 30 (2005)S. 127–148. Hrsg. v. P. Schubert, H.-J. Irmschler u. W. Jäger.Berlin: Ernst & Sohn 2005.

Autoren dieses Beitrages:Prof. Dr.-Ing. Wolfram Jäger, Dr. Song Ha Nguyen, Dipl.-Ing. Peter Schöps, Technische Universität Dresden, Fakultät Architektur, Lehrstuhl Tragwerksplanung, 01062 [email protected]

W. Jäger, S. H. Nguyen, P. Schöps · Mauerwerkbauten des Wohnungsbaus unter Erdbebeneinwirkung

Konferenz für Nachhaltiges Bauen

Nachhaltige Bauweisen aus aller Weltstanden im Mittelpunkt der diesjährigenKonferenz für Nachhaltiges Bauen inTokio. Rund 1700 Teilnehmer aus 80Ländern informierten sich durch Fach-referate, Podiums-Diskussionen, Fallbei-spiele und Erfahrungsaustausch u. a.über ressourcenschonendes, energie-effizientes und nachhaltiges Bauen. DasVortragsspektrum umfaßte die Themen-komplexe „Energieverbrauch“ und „Gebäudebewertungssysteme“ sowie„schnell wachsende Städte“ und „ge-sunde Gebäude“.

Die Europäische Ziegelindustrienutzte das internationale Fachforum inJapans Hauptstadt zur Präsentation desZiegels als modernen, gleichwohl nach-haltigen Baustoff. Das Informationsan-gebot aus Objektdokumentation,Demonstration neuartiger Wandkon-

struktionen und ausgewählter Ziegel-produkte sowie mehrsprachigen Bro-schüren umfaßte alle Aspekte des nach-haltigen Bauens mit Ziegeln. Zudemreferierte ein italienischer Ziegelei-Repräsentant vor der Konferenz dasThema „Anwendung industrieller Öko-logie in der Bauindustrie“ mit Blick aufdie Biogasnutzung. „Mit diesem Engage-ment des europäischen DachverbandesTBE“, so Martin Roth, Hauptgeschäfts-führer des Bundesverbandes der Deut-schen Ziegelindustrie, „sollte den Kon-ferenzteilnehmern bewußt gemacht wer-den, daß der Ziegel in seinem Lebens-zyklus nachhaltiges Bauen seit jeher un-ter Beweis stellt“. Katharina Liepach,Dipl.-Ing. für Technischen Umwelt-schutz und bei der Deutschen Ziegelin-dustrie zuständig für die Bereiche Um-welt und Energie, resümiert die Tagungaus Sicht der Ziegelindustrie: „Nachhal-tigkeit bei Gebäuden wird weltweit mitlanger Lebensdauer, Energieeffizienzund Flexibilität in der Nutzung definiert.Oder wie ein Referent es treffend formu-lierte: Nachhaltige Gebäude sind wie

Bluejeans: Sie werden mit der Zeit im-mer besser. Ein Anforderungsprofil, dasvor allem der Naturbaustoff Ziegel pro-blemlos erfüllen kann.“

Was in Tokio diskutiert und vermit-telt wurde – umwelt- sowie energie-bewußtes Bauen in ganzheitlicher Be-trachtungsweise – zählt, so Martin Roth,„in der deutschen Bauöffentlichkeitlängst zum Forderungskatalog bei derBaustoff-Entscheidung. Sparsamer Um-gang mit natürlichen Ressourcen und indie Zukunft gerichtete langlebige sowiedauerhafte, wartungsarme Bauweisengenießen höchste Priorität.“

Das liegt in der Natur begründet: Diein ausreichenden Mengen verfügbarenRohstoffe werden oberflächen- sowiewerksnah abgebaut. Ausgetonte Grubenwerden rekultiviert und als Biotop oderlandwirtschaftlich nutzbare Flächen derNatur zurückgegeben. Dank modernsterAnlagentechnik erfolgt die Produktionressourcenschonend sowie umwelt-freundlich. Der bei 1000 °C gebrannteZiegel ist frei von Giftstoffen und Aus-dünstungen.

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