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MEDEA VERTONUNG EINES GRIECHISCHEN MYTHOS IM 20.JH. Medea, die Wissende Medea, die Zauberin Medea, die Verratene Medea, die Rächende Medea, die Fliehende Madeleine Imbeck Mai 2004

Medea - Vertonung eines griechischen Mythos Im 20. Jh

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Kurze Analyse dreier zeitgenössischer Vertonungen des altgriechischen Medeamythos. Komponisten: Iannis Xenakis, Mikis Theodorakis, Pascal Dusapin.

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MEDEA

VERTONUNG EINES GRIECHISCHEN MYTHOS IM 20.JH.

Medea, die Wissende

Medea, die Zauberin

Medea, die Verratene

Medea, die Rächende

Medea, die Fliehende

Madeleine Imbeck

Mai 2004

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INHALTSVERZEICHNIS

MUSIK UND MYTHOS.......................................................................................................................5 DER MEDEA-MYTHOS .....................................................................................................................5 VERTONUNGEN DES MEDEAMYTHOS..........................................................................................6 IANNIS XENAKIS (1921/22 – 2001) ..................................................................................................7

Medea (1967) .................................................................................................................................8 Iannis Xenakis: Medea (Höranalyse)..............................................................................................9

PASCAL DUSAPIN (*1955) .............................................................................................................10 Medeamaterial (1990 – 1991) ......................................................................................................13 Pascal Dusapin: Medeamarerial (Höranalyse) .............................................................................14

MIKIS THEODORAKIS (*1925) .......................................................................................................14 Medea (1991) ...............................................................................................................................17 Mikis Theodorakis: Medea (Höranalyse) ......................................................................................18

MEDEA – DREIMAL VERTONT ......................................................................................................20 BIBLIOGRAPHIE .............................................................................................................................22 DISCOGRAPHIE..............................................................................................................................23

Abb.2: Mit Hilfe von Medea versucht Jason den Stier zu zähmen. (Quelle: Souli, S.: Griechische Mythologie)

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Abb.3: Darstellung des Zuges der Argonauten auf einem römischen Tonrelief. Die Göttin Athena überwacht den Bau des Schiffes Argo und hilft beim Aufrichten des Mastes. (1.Hälfte des 1.Jh.v.Chr., Britisches Museum/Quelle: Souli, S.: Griechische Mythologie)

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M E D E A

VERTONUNGEN EINES GRIECHISCHEN MYTHOS IM 20. JH. Medea gilt als grösste Zauberin und Hexe in der griechischen Mythologie – eine Gestalt, in der Gegensätze zusammentreffen. Künstler aller Epochen waren von ihr fasziniert. Maler, Bildhauer, Autoren und Komponisten haben Medea auf ihre eigene Art verkörpert.

MUSIK UND MYTHOS Mythen haben ihren Ursprung in verschwommenen und irrationalen Vorstellungen. Ihr Kern lässt sich nicht rational erfassen. Das macht ihre Unvergänglichkeit aus. Auch der Ursprung von Musik ist unerfassbar. Sie lässt dem Zuhörer Freiheiten. Ihr Ausdruck ist nie eindeutig, jeder hört und empfindet sie anders und verbindet seine eigenen Vorstellungen mit ihr. Daher eignet sich Musik besonders gut zur Darstellung eines Mythos.

DER MEDEA-MYTHOS Jason segelt mit vielen griechischen Helden, den Argonauten, nach Kolchis. Dieses Königreich liegt am Schwarzen Meer. Dort will er das Goldene Vlies holen. In Kolchis herrscht König Aietes. Jason werden unerfüllbare Bedingungen für die Übernahme dieses glückbringenden Vlieses ge-stellt. Doch Medea, die Königstochter, hat sich in Jason verliebt. Sie hilft ihm mit komplizierten Ri-tualen und Zauberkünsten alle Forderungen zu erfüllen. Jason jedoch muss ihr versprechen, sie zu heiraten. Noch in derselben Nacht flieht Medea mit den Argonauten und dem Goldenen Vlies. Aie-tes und seine Flotten verfolgen die Flüchtigen. Medea tötet ihren Bruder und schafft es, endgültig zu entkommen. Dank ihrer Zauberkünste kommen die Argonauten nach zahlreichen Abenteuern und einer weiten Reise heil in der Heimatstadt Iolkos an. In Iolkos verjüngt Medea Jasons Vater und veranlasst den Mord an Jasons Onkel. Wegen dieses Verbrechens müssen Medea und Jason nach Korinth fliehen. Dort verstösst Jason Medea. Eine Ehe mit Kreons Tochter Glauke soll seinen Kindern bessere Zukunftsperspektiven geben. In ihrem Zorn lässt Medea Glauke in einem vergifteten Hochzeitsgewand bei lebendigem Leibe verbrennen, wobei auch Kreon zu Tode kommt. Um Jason vollkommen zu rächen, ermordet Medea ihre eige-nen Kinder. Sie flieht in einem Wagen, gezogen von geflügelten Drachen, zu König Aigeus nach Athen. Als sie dort später Theseus, den Königssohn, zu vergiften versucht, wird sie aus der Stadt verjagt. Der Name „Medea“ geht etymologisch auf „medomai“ (ersinnen) zurück und bedeutet Ratwissen. Als Tochter des Köngis Aietes wächst Medea in Aia auf, dem Land der Mythen im fernen Osten. Die Griechen glaubten dieses Land in Kolchis, einer Kolonie am Schwarzen Meer, entdeckt zu ha-ben. In einer frühen Fassung des Mythos soll Medea eine Göttheit gewesen sein. „Ihre gewaltigen Zauberkräfte, […] , ihre Abstammung von dem Sonnengott und andere Züge weisen darauf hin.“1 In der Zauberkunst ist Medea von ihrer Tante Kirke unterrichtet worden und sie wird auch oft mit Hekate, der Göttin des Mondes, des Spuks und des Zaubers, in Verbindung gebracht. In Korinth wurde Medea schon lange Zeit vor Euripides mit Hera und Aphrodite zusammen als Göt-tin verehrt. Später verschmolzen die korinthische und kolchische Medea zu einer Gestalt.

1 Hunger, H.: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, S.306

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Die berühmteste Fassung des Medea-Mythos ist Euripides’ Tragödie aus dem Jahre 431 v.Chr. Es besteht eine enge Beziehung zum Gedankengut der rhetorisch-sophistischen Aufklärung. Dabei spielen die Fragen nach Wert und Wirksamkeit der menschlichen Vernunft eine wichtige Rolle. Zu den bevorzugten Szenen- und Motivtypen zählen Bittszenen, Intrige, „Lob Athens“, Botenbe-richte und Streitgespräche. Euripides' Tragödie war für viele spätere Interpretationen des Mythos wegweisend. So ist Medeas Mord an ihren eigenen Kindern, den Euripides eingeführt hat, zum fe-sten Bestandteil der Erzählung geworden. Die von rasendem Schmerz gequälte Medea ist eine typische Euripideische Studie eines Men-schen, den ungeheure Affekte völlig ausser sich geraten lassen. Medea - Opfer von Iasons Un-treue - triumphiert am Ende.

Abb.4: Die Route der Argo nach dem Epos die Argonauten des Apollonios Rhodios (Quelle: Souli, S.: Griechische Mythologie)

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VERTONUNGEN DES MEDEAMYTHOS Ich möchte drei Kompositionen aus dem 20.Jahrhundert, die den Medea-Mythos vertonen, und ihre Komponisten vorstellen. Ein Mythos erhält durch das Erzählen eine rationale Seite, die Sprache – parallel dazu wird Musik in Notenschrift gefasst. Die Sprache bestimmt also, wie und wie sehr das durch den Mythos vorgegebene Raster ausgefüllt wird. Somit nimmt die Wahl der Textgrundlage entscheidenden Einfluss auf die Komposition. Es ist faszinierend, wie Komponisten verschiedener Generationen und unterschiedlicher Nationalitäten die Gestalt der Medea in Klänge fassen.

IANNIS XENAKIS (1921/22 – 2001) „Xenakis n’a jamais été grec avec les Grecs, ni français avec les Français. Fracassé à vie, à six ans, par la mort de sa mère laissant trois fils grecs dans une ville roumaine où il vivaient.“2 (Françoise Xenakis)

Abb.5: Iannis Xenakis au Festival de Royan, 1974 (Quelle: Mâche, F.-B.: Portrait(s) de Iannis Xenakis)

Iannis Xenakis‘ Geburtsdatum ist ebenso unsicher wie seine Nationalität: 29. Mai oder 1. Juni im Jahre 1921 oder 1922. Die ersten zehn Lebensjahre verbrachte er in Rumänien. Dann kehrte seine Familie nach Griechanland zurück. Nach der Schule studierte Iannis Xenakis neben Musik auch am Polytechnikum, das während des zweiten Weltkriegs und des griechischen Bürgerkriegs öfters geschlossen werden musste. Als Widerstandskämpfer war Iannis Xenakis in den Krieg einbezogen und wurde in Abwesenheit zum Tod verurteilt. Er floh mit gefälschtem Pass über Italien nach Frankreich, wo er bei Le Corbusier als Ingenieur Arbeit fand. Dort nahm er sein Musikstudium wie-der auf, unter anderem bei Olivier Messiaen. Dieser erinnerte sich später an die erste Begegnung mit Iannis Xenakis: „Il me dit qu’il voulait être compositeur de musique. Ayant appris qu’il était grec, qu’il avait fait des mathématiques, et qu’il travaillait avec Le Corbusier comme architecte, je lui dis: „Continuez tout cela! Soyez grec, soyez mathématicien, soyez architecte, et du tout faites de la musique! “ Sans le savoir, je venais de donner une définition presque exacte de son oeuvre futu-re... “3

2 Mâche, F.-B.: Portrait(s) de Iannis Xenakis, S.11 3 Mâche, F.-B.: Portrait(s) de Iannis Xenakis, S.83

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Medea (1967) Musique de scène pour choeur d'hommes (jouant également des rhythmes avec des galets) et cinq musiciens texte de Sénèque „Es ist undenkbar, sich im zwanzigsten Jahrhundert Gemälde ohne Picasso, Architektur ohne Le Corbusier, Musik ohne Xenakis vorzustellen.“4 Xenakis war aber nicht nur Komponist, sondern auch Mathematiker, Ingenieur, Altphilologe, Architekt. All dieses Wissen ist in seine Kompositionen eingeflossen. Grundlagen seiner Kompositionen sind oft visueller Art. „Er entwickelte eine Methode mit Bestandteilen aus Klang, Tonhöhe, Rhythmus und Tonqualität als Teile mathematischer Glei-chungen zu arbeiten, die wie Baumaterialien in der Architektur bearbeitet werden konnten.“5 Iannis Xenakis liebte das antike griechische Drama, die griechische Philosophie und auch seine Muttersprache. Medea ist von seinen kulturellen Wurzeln stark geprägt und auch ein Stück Auto-biographie. Schon in seiner Jugend hatte sich Iannis Xenakis oft gefragt, wie die Theater in der An-tike aufgeführt worden seien, wie ihre Musik geklungen habe, wie Schauspieler, Chor und Musiker den Text rhythmisiert hätten und wie Auloi (Flöten) gespielt worden seien. Medea, eine Auftrags-komposition des Théâtre de France, gibt Antwort auf all diese Fragen. Die Instrumente werden in ihren höchsten und tiefsten Registern gespielt und wie Stimmen behan-delt. Die dadurch entstehenden Klänge sind oft im Bereich zwischen Ton und Geräusch. Einzel-stimmen verschmelzen zu einem Klangfeld. Durch die Registerunterschiede entstehen verschiede-ne Ebenen. Der lateinische Text aus Senecas Tragödie Medea wird vom Männerchor gesungen, gesprochen, geflüstert und gezischt. Puls und Rhythmus sind durch den Sprechgesang gegeben. Dieser zieht das Stück vorwärts. Die Sänger schlagen zusätzlich Steine aufeinander. Auch die Pauke hat eine wichtige Rolle. Ihr Tempo und die Regelmässigkeit ihrer Schläge bilden ein weiteres unüberhörba-res Rhythmuselement. Eine archaische, rauhe und urtümliche Atmosphäre . Senecas Medea ist eine Anspielung auf seine eigene Zeit, als Nero König war. Vielleicht stand so-gar Neros Giftmischerin Locusta Modell für Medea. Seneca stellt die rasende Medea dar und rückt den Hexencharakter in den Vordergrund. 180 Verse widmet der Autor dem okkultischen Exerzitium des Giftbrauens. Dazu finden wir bei Euripides keine Parallele. Medeas schwarze Künste, ihre bar-barische Herkunft, ihr Schlangenwagen und ihr höllisches Rachewerk sind alles Symbole für ihre Unmenschlichkeit – Medea, die Verkörperung des Greuels, ein Schreckensbild der Irrationalität und Inhumanität. In Senecas dramaturgischem Gesamtwerk nimmt Medea eine Schlüsselstellung ein. Senecas Tragödien sind wahrscheinlich nie inszeniert worden. Es ist möglich, dass Iannis Xenakis deswegen diesen Text gewählt hat. Seine Komposition bezeichnete er als Suite, es wird also nicht szenisch gespielt. Der Komponisten drängt uns als Zuhörern mit diesem Werk keine Interpretation auf, sondern die Musik verlangt eine Auseinandersetzung mit ihr. Die Musik ist nicht eine Interpre-tation des Textes, sondern vielmehr eine weitere Ebene der Musik – steht also unabhängig zum Verlauf einer Melodie oder der Veränderung eines Klangfelds. Darum erhalten die einzelnen Silben Gewicht und nicht der grosse Zusammenhang eines ganzen Satzes oder gar eines Abschnitts.

4 Xenakis, I.: A Colone. Nuits. Serment. Knephas. Medea./ Begleitheft zur CD, S.18 5Xenakis, I.: A Colone. Nuits. Serment. Knephas. Medea./ Begleitheft zur CD, S.18

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Abb.6: Iannis Xenakis dans son altelier, Paris, vers 1987 (Quelle: Mâche, F.-B.: Portrait(s) de Iannis Xenakis)

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Iannis Xenakis: Medea (Höranalyse)

Eine instrumentale Einleitung führt die Zuhörer in die archaischen Klangwelten von Iannis Xenakis’ Medea. Glissandi und

die durch Mikrointervalle entstehenden Schwebungen lassen eine Kulisse aufkommen, die immer in organisch fliessender

Bewegung ist. Oft ist ein „Flimmern“ im Klang, das an die Mittangshitze im Süden erinnert und gleichzeitig bewusst macht,

dass wir nur ein unscharfes Bild von Jahrhunderte zurückliegenden Zeiten haben können und daher unsere Einbildungs-

kraft das Stehen stark beeinflusst.

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Sehr prägend für die Klangfarbe des Männerchors ist das „Tempo des Textes“. Manchmal erinnert der Gesang an Melis-

men der Gregorianik und an anderen Stellen ist es energischer Sprechgesang. Durch die Kombination und Variation ver-

schiedener Klangebenen schafft Iannis Xenakis einen Spannnungbogen über die ganze Komposition hinweg. Die Klangwelt

verschwindet am Ende im Nichts, so wie sie zu Beginn aus dem Nichts aufgetaucht ist.

(< = crescendo; > = decrescendo; alle übrigen Zeichen sind graphische Darstellungen der Melodieverläufe)

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PASCAL DUSAPIN (*1955) „Un jour, j’ai compris que j’étais mieux lorsque j’étais environné des sons. Je suis devenu compositeur... j’avais dix-huit ans.“6 Abb.7: Pascal Dusapin (Quelle: C.I.R.E.M: Pascal Dusapin)

Pascal Dusapin wurde am 29. Mai 1955 in Nancy geboren. In seiner Jugend spielte er Orgel und begann schon früh zu komponieren. 1976 verschafft ihm Radio France in der Klasse von Messiaen Zutritt zum Conservatoire National Supérieur de Paris. „Dort blieb er nur einige Monate, wie übri-gens an anderen Lehranstalten auch, da er immer nur das Wesentliche, und dieses so schnell wie möglich, sucht. An der Sorbonne besuchte Pascal Dusapin von 1974 bis 1978 die Kurse von Iannis Xenakis.“7 Eine Zeit lang betrachtete ihn Iannis Xenakis als seinen einzigen „Schüler“. Er schreibt: „J’aime Pascal Dusapin parce qu’il est fier, curieux, independant et organisé dans sa pensée. […] Je perçu d’emblée Pascal […] à cause de ses questions sans doute. Puis est arrivée sa musique. Je l’ai trouvée souvent originale et sensuelle, deux faces de l’art qui ne se transmettent pas par le savoir et qui sont vitales.“8 Pascal Dusapin schreibt über Iannis Xenakis: „Xenakis n’était pas un professeur. Et c’est cela que je cherchais. Un homme qui ne pense pas à ma place du haut d’un savoir laborieux et contrai-gnant, mais au contraire qui sache être plutôt que paraître. […] Il ne m’était pas proposé de suivre une route mais de rencontrer la mienne.“ 9 Pascal Dusapins Kompositionen erlangten schnell einen eigenständigen Charakter. Er erhielt ver-schiedene Auszeichnungen und hat heute eine wichtige Stellung in der französischen Musikszene. Seine Werke werden an zahlreichen Konzerten und berühmten Festspielen aufgeführt. „Parler de Pascal Dusapin, c’est évoquer un personnage de „grande dimension“, […] , non seule-ment à cause de ses qualités de compositeur qui sont reconnues, et surtout cette géné- rosité, cet élan qu’il apporte à tout ce qu’il entreprend.“10

6 C.I.R.E.M.: Pascal Dusapin, S.117 7 Heister/ Sparrer: KdG, Pascal Dusapin, S.1 8 C.I.R.E.M.: Pascal Dusapin, S.7 9 Mâche, F.-B.: Portrait(s) de Iannis Xenakis, S.91f 10 C.I.R.E.M.: Pascal Dusapin, S.117

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Medeamaterial (1990 – 1991) Opéra für Barockensemble Text von Heiner Müller „Die Oper als kompositorisches Problem steht im Mittelpunkt des Schaffens von Pascal Dusapin.“11 Das Zusammentreffen von Klang, Text und Dramaturgie fasziniert ihn. Der Text der Oper ist vom deutschen Dramaturgen Heiner Müller verfasst. Medeamaterial ist ein Ausschnitt aus dem Libretto zum Theaterstück Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten, Heiner Müllers „urzeitlich-endzeitlicher Variation“12 des Medea-Mythos. Der früheste Mythos einer Kolonialisierung bei den Griechen habe, so sagt der DDR-Dramatiker, nicht an Aktua-lität verloren. „Sein Ende bezeichnet den Übergang vom Mythos zur Geschichte: Jason wird von seinem eigenen Schiff erschlagen. Mit der Kolonialisierung beginnt die europäische Geschichte, so wie sie bisher gelaufen ist. Dass das Vehikel der Kolonisierung den Kolonisator erschlägt, deutet auf ihr Ende voraus. Das ist die Drohung des Endes, vor dem wir stehen. Das „Ende des Wach-stums“.“13 Heiner Müllers Medeamaterial ist in Versform geschrieben und besteht zum grössten Teil aus ei-nem Monolog der Medea. Gegen das Ende hin kommt die Schizophrenie immer stärker zum Aus-druck. Unzusammenhängende Wortfetzen reihen sich aneinander. Daneben erscheinen als „blas-se“ Figuren zu Beginn und ganz am Schluss die Amme und Jason. Pascal Dusapin hatte den Auftrag, Heiner Müllers Medeamaterial zu vertonen. Er hatte nicht den Anspruch, eine Oper im antiken Stil zu komponieren, sondern ging beim Komponieren vom Text aus. Pascal Dusapin musste sich also zuerst den poetischen Text eines Autors zueigen machen. Er analysierte die Textvorlage von Heiner Müller im Hinblick auf eine musikalische Dramaturgie. Da-bei spielte die Redeweise der Medea – die Rhetorik, die Wortwahl und Wortstellung – eine wichtige Rolle. „Es musste ausserdem ein harmonischer Entwurf angefertigt werden, […] ohne dass da-durch Tonbeziehungen und Melodiebildung beeinträchtigt wurden.“14 Bei der Harmonisierung hat-ten Mikrointervalle eine wichtige Funktion. Der Komponist unterscheidet zwischen Kreuz- und B-Tonarten, wie das in der Barockzeit üblich war. Medea wird in der Oper durch fünf Stimmen verkörpert. Dadurch soll ihre Schizophrenie zum Aus-druck gebracht werden. Die Artikulation wird sowohl bei der menschlichen Stimme, als auch bei den Instrumenten äusserst differenziert angegeben. Medeas Äusserungen bewegen sich im Be-reich von singen, sprechen, stottern, kreischen, flüstern, raunen. Die Instrumentalstimmen lassen eine Fläche, einen Hintergrund entstehen. Klangfelder tauchen auf, verblassen, gehen in neue über. Ein Grundcharakter bleibt allen Szenen gemeinsam: Medea schwebt im Nichts, kein Boden, der sie auffängt.

11 Dusapin, P.: Medeamaterial/ Begleitheft zur CD, S.11 12 Dusapin, P.: Medeamaterial/ Begleitheft zur CD, S.11f 13 Müller, H.: Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten, S.14 14 Müller, H.: Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten, S.14

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Pascal Dusapin: Medeamarerial (Höranalyse)

Pascal Dusapin vertont in Medeamaterial die Psyche eines Menschen von der absoluten Leere – einem einzigen Orgelton

zu Beginn der Komposition – bis zur Eigendynamik des Wahnsinns – unzähligen Sing- und Instrumentalstimmen. Medeas

Stimmungen werden beeinflusst von Gefühlen, von rationalen Gedanken, von Unbewusstem und von Erinnerungen. All die-

se Parameter wirken auf sie ein und halten sie gefangen. Der Wahnsinn befreit sie aus der Ausweglosigkeit, gleichzeitig

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wird der Kontakt zur Aussenwelt nun ganz unmöglich. Zu Beginn hörte sie noch schwach und verzerrt die Worte der Amme

(A) und von Jason (J). Pascal Dusapins Komposition hat die Stärke und Kraft der Figur Medea und der vertonte zwingende

Weg zum Wahnsinn baut eine unglaubliche Spannung auf über alle Besetzungs- und Charakterwechsel hinweg.

(< = crescendo; > = decrescendo; alle übrigen Zeichen sind graphische Darstellungen der Melodieverläufe)

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MIKIS THEODORAKIS (*1925) „Personally, I begin with a fundamental principle, which is that Art must at every moment communicate with the masses.“15 Abb.8: Mikis Theodorakis (Quelle: Theodorakis, M.: Bis er wieder tanzt)

Mikis Theodorakis wurde am 29 Juli 1925 in Chios geboren. Schon früh setzte er sich politisch für das griechische Volk ein. Während der Besatzung von 1941 bis 1944 schloss er sich den Wider-standstruppen an, wurde gefangen, gefoltert und war mehrmals dem Tode nahe. „Zu diesem Zeit-punkt kam er auch in Kontakt mit Marxisten und Kommunisten, die sein Weltbild entscheidend prägten.“16 Mikis Theodorakis begann sein Musikstudium in Athen und setzte es in Paris u.a. bei Olivier Messiaen fort. Dort schloss er sein Studium mit Auszeichnung ab. Sein Schaffen fand inter-national Anerkennung. Später wandte er sich der griechischen Volksmusik zu. 1964 liess er sich ins Parlament wählen. Im Jahre 1967 kam es zum Putsch. Es folgte eine Militär-diktatur. Die internationale Solidaritätsbewegung, organisiert von berühmten Künstlern – u.a. Dmitri Schostakovitsch und Leonard Bernstein – setzte sich für Mikis Theodorakis‘ Freilassung aus dem Konzentrationslager ein. Er wurde ins Exil geschickt und kämpfte von Paris aus für sein Volk. Auf Konzertreisen warb er weltweit für eine Demokratie in seinem Heimatstaat und schuf eine einheitli-che Widerstandsbewegung. Nach dem Sturz der Diktatur kehrte Mikis Theodorakis nach Griechenland zurück und wurde als Volksheld gefeiert. Als Staatsminister setzte er sich von 1990 bis 1992 für Erziehungswesen und Kultur ein, aber auch für den Frieden zwischen Türken und Griechen. Mikis Theodorakis ist weiterhin als Dirigent und Komponist tätig.

15 Giannaris, G.: Mikis Theodorakis: Music and Social Change, S.xi 16 Wagner, G.: Werkliste, www.mikis-theodorakis.net

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Medea (1991) Opera in two acts Libretto and translation by Mikis Theodorakis, based on the homonymous tragedy of Euripides Als „lyrische Tragödie“ bezeichnet Mikis Theodrakis seine Oper Medea. Theodorakis hat sich in-tensiv mit der Frage der Vertonung altgriechischer Tragödien beschäftigt und scheint eine Lösung gefunden zu haben: „Es wäre überflüssig, über die Rolle der Musik zu sprechen. Es ist festgestellt worden, dass die altgriechische Tragödie die Oper des Altertums war. […] Meiner Meinung nach wäre die ideale Interpretation […] jene, die eine gesungene Aufführung des gesamten Textes er-lauben würde.“17 Das Libretto wurde von Mikis Theodorakis verfasst. Er übersetzte das Stück des Euripides ins Neugriechische und änderte nur Unwesentliches. In die Oper fliessen Elemente seiner früheren Kompositionen ein, sowohl aus Liedzyklen, als auch aus symphonischen Werken. Die Melodien erinnern an griechische Volksmusik. Sie werden oft va-riiert und in der gleichen Szene wiederholt aufgegriffen. Das Werk ist für symphonische Orchesterbesetzung komponiert, öfters spielen verschiedene In-strumente dieselbe Melodie unisono, was je nach Kombination neue Klänge schafft. Die Melodie-stimme wird mit Akkorden begleitet. Tonrepetitionen und Rhythmus verleihen den Szenen ihren Charakter. „Die Melodie ist horizontal, aber sie braucht Stützen, Pfeiler, und die Pfeiler, das sind die Rhythmen und das ist die Harmonisierung.“18, erklärt der Komponist zur Melodik von Medea.

17 Theodorakis, M.: Medea/ Begleitheft zur CD, S.4 18 Wagner, G.: Mikis Theodorakis: Ein Leben für Griechenland, www.mikis-theodorakis.net

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Mikis Theodorakis: Medea (Höranalyse) Zweiter Akt, Szenen 13 bis 15

Mikis Theodorakis’ Oper Medea ist einer romantischen Oper in Aufbau und musikalischer Dramaturgie sehr ähnlich. Medea,

der Bote und der Chorführer treten als Solisten mit dem Chor (dem Volk) in einen Dialog. Der Chor, öfters aufgeteilt in

Frauenchor (F) und Männerchor (M), übernimmt auch Begleitfunktion. Das Orchester stützt und untermalt die musikalischen

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Stimmungen. Eine Komposition, die von den Stimmungswechseln und der daraus entstehenden Spannung und Energie

lebt. (< = crescendo; > = decrescendo; alle übrigen Zeichen sind graphische Darstellungen der Melodieverläufe)

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Aus meinen Händen sollt ihr das empfangen Ganz abgebrochen hinter mir hab ich Was Heimat hiess jetzt hinter uns mein Ausland Dass es nicht Heimat wird euch mir zum Hohn Mit diesen meinen Menschenhänden Ach Wär ich das Tier geblieben das Ich war Eh mich ein Mann zu seiner Frau gemacht hat Medea Die Barbarin Jetzt verschmäht Mit diesen meinen Händen der Barbarin Händen zerlaugt zerstickt zerschunden vielmal Will ich die Menschheit in zwei Stücke brechen Und wohnen in der leeren Mitte Ich Kein Weib kein Mann Was schreit ihr Schlimmer als Tod

(Ausschnitt aus Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten von Heiner Müller)

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MEDEA – DREIMAL VERTONT Viele Ähnlichkeiten und dennoch ganz verschiedene Kompositionen Am auffälligsten ist die Tatsache, dass diese drei Komponisten dieselbe Szene des Medea-mythos vertont haben: Die Wandlung der verletzten zur rachsüchtigen Medea. Pascal Dusapin hebt dabei vor allem die Schizophrenie hervor. Den Text der Oper haben die Komponisten nicht selbst verfasst. Iannis Xenakis und Mikis Theo-dorakis orientieren sich am Urtext, während bei Pascal Dusapins Oper das Libretto eines Theaters als Grundlage dient. In Iannis Xenakis Medea spielt der Text eine grundlegend andere Rolle als in den beiden anderen Werken. Er wird nicht im herkömmlichen Sinne vertont, sondern als weitere Ebene der Musik betrachtet. Die beiden anderen Komponisten dagegen sind beim Komponieren vom Text ausgegangen. Sie haben den Text mit Musik untermalt. Alle drei Komponisten haben in ihrem eigenen, unverkennbaren Stil komponiert. Mikis Theodrakis‘ Medea ist stark von griechischer Volksmusik beeinflusst. Iannis Xenakis und Pascal Dusapin leb-ten in einem künstlerischen Umfeld, das experimentierte und von Grund auf Neues zu kreieren suchte. Dieser Gedanke hat die Komponistengeneration nach dem zweiten Weltkrieg geprägt. Bei Iannis Xenakis ist die Musik mathematisch durchdacht, Pascal Dusapin experimentiert mit Klän-gen, Geräuschen und Mikrointervallen. Erstaunt hat mich die Ähnlichkeit der Lebensläufe von Iannis Xeankis und Mikis Theodorakis, vor allem, was die ersten 25 Jahre betrifft: Zwei Widerstandskämpfer, die sich für ihr Volk eingesetzt haben, oft in Todesgefahr. Jahre später konnten sie das verwirklichen, was sie von Jugend an be-schäftigt und fasziniert hatte: die Vertonung antiker Tragödien.

Abb.9: Die Argonauten jagen die schrecklichen Harpyien Aello und Okypete, die Phineus gefangen hielten (Elfenbeinfigu-

ren einer korinthischen Werkstatt, Delphi, Archeologisches Museum/ Quelle: Souli, S.: Griechische Mythologie)

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BIBLIOGRAPHIE C.I.R.E.M. Pascal Dusapin, Institut de musicologie, Mont Saint-Aignan 1989 Dibelius, U. Moderne Musik I, 1945 – 1965 3. Auflage, München 1984 Moderne Musik II, 1965 – 1985 Originalausgabe, München 1988 Editions Salabert Iannis Xenakis: Medea Senecae Paris, 1970 Fink, G. Die schönsten Sagen der Antike Düsseldorf / Zürich 1999 Giannaris, G. Mikis Theodorakis: Music and Social Change London, 1973 Grant,M. / Hazel, J. Lexikon der antiken Mythen und Gestalten 12. Aufl., München 1996 Heister, H.-W. / Sparrer, W.-W. Komponisten der Gegenwart München, cop. 1992 -> Hunger, H. Lexikon der griechischen und römischen Mythologie 8., neubearb. Aufl, Wien 1988 Krefeld, H. (Hrsg.) Hellenika neue Ausgabe, Berlin 2002 Mâche, F.-B. (Hrsg.) Portrait(s) de Iannis Xenakis Bibliothèque nationale de France, Paris 2002 Müller, H. Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten Badische Landesbühne, Burchsal 1987 Schwab, G. Sagen des Klassischen Altertums 7. Aufl., München 1978 Souli, S. Griechische Mythologie Athen 1995 Theodorakis, M. Bis er wieder tanzt. 1.Aufl., Regensburg 2001

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Wagner, G. Mikis Theodorakis. Ein Leben für Griechenland Philadelphia, 1995 Werkverzeichnis auf der Grundlage der Forschungs- arbeit von Asteris Kutulas www.mikis-theodorakis.net

DISCOGRAPHIE Dusapin, P. Medeamaterial Hilde Leidland (Sopran) Orchestre de la Chapelle Royale, Collegium Vocale direction: Philippe Herreweghe 1 CD Harmonia Mundi HMC 905215 Theodorakis, M. Medea Emilia Titarenko, Daria Rybakova, Wladimir Feljaer, Peter Migounov, Eugeni Witshnewski, Nikolai Ostrofsky, Irina Liogkaja, Juri Worobiow (Singst.) St. Petersburg State Academic, Capella Orchestra and Choir Mikis Theodorakis (Dir.) 3 CDs, Begleitheft Intuition Records Int 33202 Xenakis, I. A colone. Nuits. Serment. Knephas. Medea New London Chamber Choir, Critical Band James Wood (Dir.) 1 CD Hyperion Records CDA 66980