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98 #Review keinen Sommer macht, macht auch viel Getue nicht automatisch ein rundes Album. Citizens! sind so stark auf Disco toupiert, dass man ihnen hier und da ein Glätteisen zuwerfen will. Spätestens bei »Are You Ready« hat man genug von Kopfstimme und sakralem Männergesangsverein. »Mamma mia, nein«, rebelliert der Gehörgang bei der gruseligen Musical-Nummer »All l Want Is You«. Um die Hälfte reduziert, wäre »European Soul« ein schniekes Sommeralbum. Der Rest ist ein schauderhafter Mix aus Schiff er klavier, Gospel und Schlaghose. Autsch. »Somebody have mercy on me!« Carlotta Eisele LeslieClio Eureka Vertigo Berlin/Universal Auf ihrem zweiten Album zeigt Leslie Clio wenig Substanz. Statt auf aneckenden Soul setzt sie zu oft auf belanglosen Pop. Als Leslie Clio vor zwei Jahren ihr De- büt »Gladys« veröffentlichte, galt die Hamburgerin als Soul-Pop-Hoffnung, die auch anecken kann. Ihr zweites Album »Eureka« klingt dagegen nun ziemlich glatt geschliffen. Optimismus und eine positive Grundeinstellung soll es ausstrahlen, den Pop spielerisch und leichtfüßig erkunden. Entspre- chend belanglos und willkürlich klingt zumin- dest die erste Hälfte auf »Eureka«. Leslie Clio hätte lieber ihren Weg in Richtung Soul fort- setzen sollen, statt radiotauglichen Pop mit lauwarmen Instantgefühlen zu übergießen. Immerhin gelingt es Produzent Dimitri Tikovoi und Mischer Lasse Märten, den Sound auf »Eureka« nicht zu überladen und Klavier, Glockenspiel und Handclaps am skandina- vischen Pop von Bands wie Those Dancing Days auszurichten. Dass Clio das Zeug für mehr Substanz hat, zeigen Songs wie das jazzige »Make Things Better« oder das von einer Akustikgitarre begleitete »Falling To Pieces«. Auch das trotzige, mit abgehackten 1980er-Beats versehene »Bad Eyes« verzich- tet auf aufgesetztes Gedudel. Schade, dass Clio davon diesmal nicht mehr gewagt hat. Verena Reygers MikalCroninMCIII Merge / Cargo Mikal Cronins Blut besteht aus flüssigem Vinyl. Sowohl sein psychedelischer Pop als auch die Albumstruktur verweisen auf die Vorreiterjahrzehnte des Mediums. Mikal Cronin hat die Sonne im Rücken. Mit »MCIII« erinnert der Songwriter aus Kalifornien daran, dass Popmusik von der Westküste seit jeher ein guter Partner bei der Bewältigung der Alltagskälte ist. Dabei zeigt sich der Multiinstrumentalist, der den Großteil seines dritten Albums allein einge- spielt hat, vom amerikanischen Psychedelic Pop der 1960er und den Visionen eines Brian Wilson beeinflusst. Die zumeist auf einer ein- gängigen Gitarrenmelodie fußenden Lieder staffiert Cronin mit Streichern und Bläsern zu opulenten Kleinoden aus. »Turn Around« oder »Say« verbinden introvertierte Gedan- ken mit euphorischer Musik und machen sich auf dem Mixtape perfekt zwischen den frühen Shins und Buffalo Tom. Zusammen mit drei weiteren Stücken bilden sie die erste Hälfte von »MCIII«. Auf der B-Seite des fürs Schallplattenformat arrangierten Albums findet sich mit »Circle« ein fünfteiliger Song- zyklus, in dem Cronin die Geschichte seines Erwachsenwerdens erzählt. Wer noch nach dem perfekten Soundtrack für die Sonntage im Sommer sucht, wird hier fündig. Bastian Küllenberg »At Least For Now« mit inbrünstigem Piano-Pop. Nenne es Album, Oper oder Hörspiel - Benjamin Clementines Debüt ist ein theatra- lisches Meisterwerk. Voller Hingebung legt der aus London stammende Wahl-Pariser darin sein Inneres offen. Mal rezitativ, wenn er in »Winston Churchills Boy« mit den Zeilen »One day this boy will be fine« Zuversicht äußert. Dann melodramatisch, wenn er in Stücken wie »Adios« mit stolz geschwellter Brust seine dunkle Stimme erhebt. Chanson trifft hier auf Pop und Klassik, erhabene Strei- cher und unruhiges Piano-Geklimper Soulig- jazzige Melodien bebildern die aufgewühlte Emotionalität des häufig verloren vor sich hin summenden Sängers. Mit beklommener Stimme sucht er in »Cornerstone« nach ei- nem Hoffnungsschimmer an trüben Tagen, schluchzt, seufzt und stöhnt sich in »Quiver A Little« ins Tal der Melancholie, um am Ende wie alle Menschen doch nur eines zu wollen: Glück und Unabhängigkeit. Jacques Brei und Edith Piaf hätten ihre Freude an dieser leiden- schaftlichen Offenherzigkeit gehabt. Daniel Voigt Benjamin Clementine At Least For Now Carolme / Universal Der ghanaisch-britische Sänger Benjamin Clementine begeistert auf seinem Debüt Diverse Francesco Tristano presents Body Language Vol. 16 Get Physical / Rough Trade Detroit hat angerufen und möchte sein Oldschool-Mixtape zurückhaben. Krie- gen sie aber nicht, denn was Francesco Tristano für Get Physical präsentiert, be- halten wir lieber selbst. Das sympathische Pariser Label Infine ist nicht gerade für große Gesten und zugängli- che Musik bekannt. Wer als Künstler bei ihnen aufwächst, macht vor allem sein eigenes Ding. Das richtige (Fach-)Publikum findet sich dann hoffentlich schon. Mitte der 1990er hat der Pianist Francesco Tristano seine ers- ten ernsthaften Arbeiten bei den Parisern verlegt, und den Einfluss meint man noch immer zu hören, wenn er nun die 16. Ausga- be der »Body Language«-Reihe der Berliner Get Physical kuratiert. Tristanos eigenen, oft mit Piano-Stabs verzierten Tracks ma- chen etwa ein Drittel des Mixes aus, der Rest sind Labelkollegen, Freunde oder Geistesver- wandte wie M.A.N.D.Y. oder Cardopusher. Ein wenig schrullig ist das Ganze geworden, »peculiar« würde der Engländer sagen, und ziemlich klassisch. Klassisch nicht im Sinne von klassischer Pianomusik, sondern von klassischem Detroit-House undTechno - was sich in einer trockenen Instrumentierung und geringer Lautstärke ausdrückt. Denn während elektronische Musik heute ja allzu oft an die Basslimits gedrückt wird, ist hier im Vergleich vieles flach und geradezu unscheinbar. Der Retro-Enthusiast wird sich freuen, aber man braucht schon Geduld und ein gewisses Ohr, um die Feinheiten schätzen zu können. Henje Richter Diverse NDW - Aus grauer Städte Mauern Bear Family Das Bear-Family-Label hat sich der Aufga- be gestellt, die Neue Deutsche Welle retro- spektiv aufzuarbeiten. Mit viel Fleiß und Kenntnis, aber nicht völlig alternativlos. Niemand kann ernsthaft behaupten, dass die Neue Deutsche Welle nicht hinreichend ausgeforscht wäre - auch die Compilation- und Wiederveröffentlichungsexperten des Bear-Family-Labels nicht. Dennoch haben sie sich der Mammutaufgabe gestellt, der schieren Masse an Hit-Giganten-Samplern, Fetenhits-Zusammenstellungen und etwas tiefer schürfenden, die Ehre des prototypi- schen deutschen Sell-out-Genres wiederher- stellenden Quellenforschungen etwas Neues hinzuzufügen. Die Lösung lag für die Macher in purer, wenn auch geschmackvoller Quanti- tät: »NDW - Aus grauer Städte Mauern / Die Neue Deutsche Welle 1977-1985« ist nur der Auftakt einer vier Doppel-CDs umfassenden Reihe, umfasst aber trotzdem schon einen Gutteil des maßgeblichen NDW-Erbes. Klar kennen sich die Macher gut aus und kön- nen nostalgischen Partygängern noch den «SS *"»*£ '~

MikalCroninMCIII · 2015. 7. 6. · und Mischer Lasse Märten, den Sound auf ... findet sich mit »Circle« ein fünfteiliger Song-zyklus, in dem Cronin die Geschichte seines Erwachsenwerdens

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Page 1: MikalCroninMCIII · 2015. 7. 6. · und Mischer Lasse Märten, den Sound auf ... findet sich mit »Circle« ein fünfteiliger Song-zyklus, in dem Cronin die Geschichte seines Erwachsenwerdens

98 #Review

keinen Sommer macht, macht auch viel Getuenicht automatisch ein rundes Album. Citizens!sind so stark auf Disco toupiert, dass manihnen hier und da ein Glätteisen zuwerfenwill. Spätestens bei »Are You Ready« hatman genug von Kopfstimme und sakralemMännergesangsverein. »Mamma mia, nein«,rebelliert der Gehörgang bei der gruseligenMusical-Nummer »All l Want Is You«. Umdie Hälfte reduziert, wäre »European Soul«ein schniekes Sommeralbum. Der Rest istein schauderhafter Mix aus Schiff er k lavier,Gospel und Schlaghose. Autsch. »Somebodyhave mercy on me!«Carlotta Eisele

LeslieClio EurekaVertigo Berlin/Universal

Auf ihrem zweiten Album zeigt Leslie Cliowenig Substanz. Statt auf aneckendenSoul setzt sie zu oft auf belanglosen Pop.

Als Leslie Clio vor zwei Jahren ihr De-büt »Gladys« veröffentlichte, galt dieHamburgerin als Soul-Pop-Hoffnung, dieauch anecken kann. Ihr zweites Album»Eureka« klingt dagegen nun ziemlich glattgeschliffen. Optimismus und eine positiveGrundeinstellung soll es ausstrahlen, den Popspielerisch und leichtfüßig erkunden. Entspre-chend belanglos und willkürlich klingt zumin-dest die erste Hälfte auf »Eureka«. Leslie Cliohätte lieber ihren Weg in Richtung Soul fort-setzen sollen, statt radiotauglichen Pop mitlauwarmen Instantgefühlen zu übergießen.Immerhin gelingt es Produzent Dimitri Tikovoiund Mischer Lasse Märten, den Sound auf»Eureka« nicht zu überladen und Klavier,Glockenspiel und Handclaps am skandina-vischen Pop von Bands wie Those DancingDays auszurichten. Dass Clio das Zeug fürmehr Substanz hat, zeigen Songs wie dasjazzige »Make Things Better« oder das voneiner Akustikgitarre begleitete »Falling ToPieces«. Auch das trotzige, mit abgehackten1980er-Beats versehene »Bad Eyes« verzich-tet auf aufgesetztes Gedudel. Schade, dassClio davon diesmal nicht mehr gewagt hat.Verena Reygers

MikalCroninMCIIIMerge / Cargo

Mikal Cronins Blut besteht aus flüssigemVinyl. Sowohl sein psychedelischer Pop alsauch die Albumstruktur verweisen auf dieVorreiterjahrzehnte des Mediums.

Mikal Cronin hat die Sonne im Rücken.Mit »MCIII« erinnert der Songwriter ausKalifornien daran, dass Popmusik von derWestküste seit jeher ein guter Partner beider Bewältigung der Alltagskälte ist. Dabeizeigt sich der Multiinstrumentalist, der denGroßteil seines dritten Albums allein einge-spielt hat, vom amerikanischen PsychedelicPop der 1960er und den Visionen eines BrianWilson beeinflusst. Die zumeist auf einer ein-gängigen Gitarrenmelodie fußenden Liederstaffiert Cronin mit Streichern und Bläsernzu opulenten Kleinoden aus. »Turn Around«oder »Say« verbinden introvertierte Gedan-ken mit euphorischer Musik und machensich auf dem Mixtape perfekt zwischen denfrühen Shins und Buffalo Tom. Zusammenmit drei weiteren Stücken bilden sie die ersteHälfte von »MCIII«. Auf der B-Seite des fürsSchallplattenformat arrangierten Albumsfindet sich mit »Circle« ein fünfteiliger Song-zyklus, in dem Cronin die Geschichte seinesErwachsenwerdens erzählt. Wer noch nachdem perfekten Soundtrack für die Sonntageim Sommer sucht, wird hier fündig.Bastian Küllenberg

»At Least For Now« mit inbrünstigemPiano-Pop.

Nenne es Album, Oper oder Hörspiel -Benjamin Clementines Debüt ist ein theatra-lisches Meisterwerk. Voller Hingebung legtder aus London stammende Wahl-Pariserdarin sein Inneres offen. Mal rezitativ, wenner in »Winston Churchills Boy« mit den Zeilen»One day this boy will be fine« Zuversichtäußert. Dann melodramatisch, wenn er inStücken wie »Adios« mit stolz geschwellterBrust seine dunkle Stimme erhebt. Chansontrifft hier auf Pop und Klassik, erhabene Strei-cher und unruhiges Piano-Geklimper Soulig-jazzige Melodien bebildern die aufgewühlteEmotionalität des häufig verloren vor sichhin summenden Sängers. Mit beklommenerStimme sucht er in »Cornerstone« nach ei-nem Hoffnungsschimmer an trüben Tagen,schluchzt, seufzt und stöhnt sich in »QuiverA Little« ins Tal der Melancholie, um am Endewie alle Menschen doch nur eines zu wollen:Glück und Unabhängigkeit. Jacques Brei undEdith Piaf hätten ihre Freude an dieser leiden-schaftlichen Offenherzigkeit gehabt.Daniel Voigt

Benjamin ClementineAt Least For NowCarolme / Universal

Der ghanaisch-britische Sänger BenjaminClementine begeistert auf seinem Debüt

Diverse FrancescoTristano presents BodyLanguage Vol. 16Get Physical / Rough Trade

Detroit hat angerufen und möchte seinOldschool-Mixtape zurückhaben. Krie-gen sie aber nicht, denn was FrancescoTristano für Get Physical präsentiert, be-halten wir lieber selbst.

Das sympathische Pariser Label Infine istnicht gerade für große Gesten und zugängli-che Musik bekannt. Wer als Künstler bei ihnenaufwächst, macht vor allem sein eigenesDing. Das richtige (Fach-)Publikum findetsich dann hoffentlich schon. Mitte der 1990erhat der Pianist Francesco Tristano seine ers-ten ernsthaften Arbeiten bei den Parisernverlegt, und den Einfluss meint man nochimmer zu hören, wenn er nun die 16. Ausga-be der »Body Language«-Reihe der Berliner

Get Physical kuratiert. Tristanos eigenen,oft mit Piano-Stabs verzierten Tracks ma-chen etwa ein Drittel des Mixes aus, der Restsind Labelkollegen, Freunde oder Geistesver-wandte wie M.A.N.D.Y. oder Cardopusher.Ein wenig schrullig ist das Ganze geworden,»peculiar« würde der Engländer sagen, undziemlich klassisch. Klassisch nicht im Sinnevon klassischer Pianomusik, sondern vonklassischem Detroit-House und Techno - wassich in einer trockenen Instrumentierung undgeringer Lautstärke ausdrückt. Denn währendelektronische Musik heute ja allzu oft an dieBasslimits gedrückt wird, ist hier im Vergleichvieles flach und geradezu unscheinbar. DerRetro-Enthusiast wird sich freuen, aber manbraucht schon Geduld und ein gewisses Ohr,um die Feinheiten schätzen zu können.Henje Richter

Diverse NDW - Ausgrauer Städte MauernBear Family

Das Bear-Family-Label hat sich der Aufga-be gestellt, die Neue Deutsche Welle retro-spektiv aufzuarbeiten. Mit viel Fleiß undKenntnis, aber nicht völlig alternativlos.

Niemand kann ernsthaft behaupten, dassdie Neue Deutsche Welle nicht hinreichendausgeforscht wäre - auch die Compilation-und Wiederveröffentlichungsexperten desBear-Family-Labels nicht. Dennoch habensie sich der Mammutaufgabe gestellt, derschieren Masse an Hit-Giganten-Samplern,Fetenhits-Zusammenstellungen und etwastiefer schürfenden, die Ehre des prototypi-schen deutschen Sell-out-Genres wiederher-stellenden Quellenforschungen etwas Neueshinzuzufügen. Die Lösung lag für die Macherin purer, wenn auch geschmackvoller Quanti-tät: »NDW - Aus grauer Städte Mauern / DieNeue Deutsche Welle 1977-1985« ist nur derAuftakt einer vier Doppel-CDs umfassendenReihe, umfasst aber trotzdem schon einenGutteil des maßgeblichen NDW-Erbes. Klarkennen sich die Macher gut aus und kön-nen nostalgischen Partygängern noch den

«SS*"»*£ '~