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Z Gerontol Geriat 2013 · 46:106–111 DOI 10.1007/s00391-012-0470-8 Eingegangen: 22. Oktober 2012 Überarbeitet: 26. November 2012 Angenommen: 28. November 20112 Online publiziert: 25. Januar 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013 M.A. Rapp 1, 2 1 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Mitte 2 Klinik für Gerontopsychiatrie, Asklepios Fachklinikum Brandenburg Neurobiologische  Subtypen der  Altersdepression Ihre Bedeutung für Diagnostik und Therapie Altersdepression als Modell biobehavioraler Interdependenz Historischen diagnostischen Termini wie „vorzeitiger Versagenszustand“ [5] und „Involutionsdepression“ [22] für die Be- schreibung und Klassifikation depressi- ver Syndrome im höheren Lebensalter liegt der Gedanke einer Regression psy- chischer Funktionen im Alter zugrun- de. Interessanterweise aber zeigen längs- schnittliche Untersuchungen körperlicher und seelischer Funktionen im höheren Lebensalter einen engen Zusammenhang zwischen körperlicher Gesundheit und Depressivität. Zudem scheint die somati- sche Morbidität [17] und Gebrechlichkeit [40] im vierten Lebensalter stärker zuzu- nehmen als beispielsweise die Prävalenz depressiver Erkrankungen [17]. Eine wechselseitige Beeinflussung kör- perlicher Erkrankungen und psychischer Mechanismen ist etwa für Krebs (z. B. [39]), kardiovaskuläre [11] und gastroin- testinale Erkrankungen [14] belegt. Hier- bei handelt es sich jedoch nicht nur um reine psychische Anpassungsprozesse an körperliche Einschränkungen. Modelle kumulativer Einflüsse von erlebtem psy- chischen Stress auf körperliche Erkran- kungen zeigen eine erhöhte Vulnerabili- tät für sowohl körperliche als auch psy- chische Erkrankungen, insbesondere De- pressionen und Angststörungen [28]. Auf einer allgemeinen Ebene können somit für die depressive Morbidität im Alter ku- mulative psychische und körperliche Me- chanismen identifiziert werden. Heterogenität der Altersdepression Die Depression im höheren Lebensalter hat viele Gesichter. So kann die phänome- nologische Ausprägung primär als Apa- thie [24], als Melancholie im Sinne einer Depression mit somatischen Symptomen [27] oder auch als dominierende Anhe- donie [36] imponieren. Neurobiologisch kann es sich beispielsweise primär um eine vaskuläre Depression [2, 23] oder um die bei rezidivierenden depressiven Episo- den häufige Veränderung des Neuroendo- kriniums im Sinne einer Hyperkortisolä- mie [20, 31] handeln (s. . Abb. 1). Ob- gleich Mischformen wohl häufig sind, zei- gen verschiedene Studien, dass diesen bei- den Formen der Altersdepression durch- aus unterschiedliche biologische und be- haviorale Mechanismen zugrunde liegen, die im Folgenden anhand der vaskulären Depression einerseits und der wiederkeh- renden Depression im Alter andererseits dargestellt werden. Depression Vaskuläre Erkrankungen Direkte (zerebrovaskuläre) Effekte Gemeinsame Faktoren: Stress Homozystein, Vitamin B12, Folsäure HPA-Achse Entzündung Autonome Dysfunktion Thrombozytenaggregation Funktion Störung der Exekutivfunktionen Gedächtnisstörung Risikofaktor für Demenzerkrankungen Abb. 1 8 Gemeinsame neurobiologische Faktoren der vaskulären und der wiederkehrenden Depression im Alter. HPA Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse 106 | Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 2 · 2013 Beiträge zum Themenschwerpunkt

Neurobiologische Subtypen der Altersdepression

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Z Gerontol Geriat 2013 · 46:106–111DOI 10.1007/s00391-012-0470-8Eingegangen: 22. Oktober 2012Überarbeitet: 26. November 2012Angenommen: 28. November 20112Online publiziert: 25. Januar 2013© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

M.A. Rapp1, 2

1 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Mitte2 Klinik für Gerontopsychiatrie, Asklepios Fachklinikum Brandenburg

Neurobiologische Subtypen der AltersdepressionIhre Bedeutung für Diagnostik und Therapie

Altersdepression als Modell biobehavioraler Interdependenz

Historischen diagnostischen Termini wie „vorzeitiger Versagenszustand“ [5] und „Involutionsdepression“ [22] für die Be-schreibung und Klassifikation depressi-ver Syndrome im höheren Lebensalter liegt der Gedanke einer Regression psy-chischer Funktionen im Alter zugrun-de. Interessanterweise aber zeigen längs-schnittliche Untersuchungen körperlicher und seelischer Funktionen im höheren Lebensalter einen engen Zusammenhang zwischen körperlicher Gesundheit und Depressivität. Zudem scheint die somati-sche Morbidität [17] und Gebrechlichkeit [40] im vierten Lebensalter stärker zuzu-nehmen als beispielsweise die Prävalenz depressiver Erkrankungen [17].

Eine wechselseitige Beeinflussung kör-perlicher Erkrankungen und psychischer Mechanismen ist etwa für Krebs (z. B. [39]), kardiovaskuläre [11] und gastroin-testinale Erkrankungen [14] belegt. Hier-bei handelt es sich jedoch nicht nur um reine psychische Anpassungsprozesse an körperliche Einschränkungen. Modelle kumulativer Einflüsse von erlebtem psy-chischen Stress auf körperliche Erkran-kungen zeigen eine erhöhte Vulnerabili-tät für sowohl körperliche als auch psy-chische Erkrankungen, insbesondere De-pressionen und Angststörungen [28]. Auf einer allgemeinen Ebene können somit für die depressive Morbidität im Alter ku-

mulative psychische und körperliche Me-chanismen identifiziert werden.

Heterogenität der Altersdepression

Die Depression im höheren Lebensalter hat viele Gesichter. So kann die phänome-nologische Ausprägung primär als Apa-thie [24], als Melancholie im Sinne einer Depression mit somatischen Symptomen [27] oder auch als dominierende Anhe-donie [36] imponieren. Neurobiologisch kann es sich beispielsweise primär um

eine vaskuläre Depression [2, 23] oder um die bei rezidivierenden depressiven Episo-den häufige Veränderung des Neuroendo-kriniums im Sinne einer Hyperkortisolä-mie [20, 31] handeln (s. . Abb. 1). Ob-gleich Mischformen wohl häufig sind, zei-gen verschiedene Studien, dass diesen bei-den Formen der Altersdepression durch-aus unterschiedliche biologische und be-haviorale Mechanismen zugrunde liegen, die im Folgenden anhand der vaskulären Depression einerseits und der wiederkeh-renden Depression im Alter andererseits dargestellt werden.

DepressionVaskuläre ErkrankungenDirekte (zerebrovaskuläre) E�ekte

Gemeinsame Faktoren:Stress

Homozystein, Vitamin B12, FolsäureHPA-Achse

EntzündungAutonome Dysfunktion

Thrombozytenaggregation

FunktionStörung der Exekutivfunktionen

GedächtnisstörungRisikofaktor für Demenzerkrankungen

Abb. 1 8 Gemeinsame neurobiologische Faktoren der vaskulären und der wiederkehrenden Depression im Alter. HPA Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse

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» Der Altersdepression liegen unterschiedliche Mechanismen zugrunde

Dabei wird die vaskuläre Depression als im höheren Lebensalter (etwa jenseits des 60. Lebensjahres, „late onset“) auftreten-de Erkrankung definiert, bei der neuro-radiologische Zeichen zerebrovaskulä-rer Läsionen oder kognitive Einschrän-kungen vorliegen (s. . Tab. 1). Die re-zidivierende Depression bezeichnet hin-gegen Erkrankungen, die im jüngeren Le-bensalter erstmals aufgetreten sind und bis zum höheren Lebensalter mindestens 2-mal wiederkehrten. Die Begriffe rezidi-vierend und wiederkehrend werden dabei synonym verwendet. Diese Übersicht be-schränkt sich auf diese 2 Subtypen; ande-re klinische Prägnanztypen wie etwa die „subthreshold“ Depression werden an an-derer Stelle in diesem Heft besprochen.

Diese Einteilung ist sicherlich im Ein-zelfall unzutreffend, da sowohl Mischty-pen als auch alternative Prägnanztypen vorkommen können und durchaus ge-meinsame pathophysiologische Mecha-nismen vorliegen (. Abb. 1). Der Begriff vaskuläre Depression wird in der Literatur durchaus kritisch diskutiert [2, 9, 38], die Abgrenzung erscheint jedoch insbesonde-re hinsichtlich der optimalen Therapie so-matischer Komorbidität von einigem heu-ristischen Interesse.

Vaskuläre Depression im Alter

Vaskuläre Depressionen bezeichnen das Vorliegen einer depressiven Episode bei gleichzeitigem Vorliegen von kardio-vaskulären Risikofaktoren und vaskulä-ren zerebralen Läsionen, insbesondere in der tiefen weißen Substanz des Frontal-hirns [2, 23, 31, 34]. Dabei korreliert der Grad der vaskulären Läsionen im Fron-talhirn mit dem Schweregrad der De-pression; klinisch imponieren Anhedo-nie, Motivationsverlust und Apathie [24]. Dieser Typ der Depression ist häufig mit Defiziten in Handlungsplanung und Auf-merksamkeitsfunktionen [31] sowie deut-lichen Verlusten in den Alltagsaktivitä-ten [1] assoziiert. Vaskuläre Depressionen sind häufiger therapierefraktär, was eben-falls mit der Schwere der zerebralen vas-kulären Veränderungen assoziiert ist [43]. Für die vaskuläre Depression wurden kli-nische Kriterien vorgeschlagen, die in ei-nigen Studien erste Anhaltspunkte für ein valides klinisches Bild geben konnten [2, 23, 43]. In . Tab. 1 sind mögliche diag-nostische Kriterien der vaskulären De-pression aufgeführt, wie sie von Krishnan et al. [23] empfohlen wurden.

Wiederkehrende depressive Episoden im Alter

Rezidivierende depressive Episoden über die Lebensspanne sind primär mit Ge-dächtnisdefiziten [31] assoziiert. Interes-santerweise sind hier eventuell Neuronen-verluste im Hippocampus ursächlich [37], die wiederum durch eine erhöhte Respon-sivität der neurohumoralen Stressachse bedingt sein könnten [28]. Diese Verän-derungen sind jedoch nicht allein auf rezi-divierende depressive Episoden begrenzt und spielen möglicherweise auch bei der vaskulären Depression eine wichtige Rolle (s. . Abb. 1). Wesentlich ist, dass sowohl die Anzahl kritischer Lebensereignisse [8] als auch die Dauer der einzelnen depres-siven Episoden [4] das Ausmaß der Ge-dächtnisdefizite und hippocampaler Atro-phie beeinflussen. Es gibt Hinweise dafür, dass psychischer Stress und seine neuro-humoralen Folgen über die Lebensspan-ne depressive Erkrankungen unterhalten können, während gleichzeitig depressive Erkrankungen ihrerseits via Veränderung

der hippocampalen Neuroplastizität [13, 42] kognitive Defizite verstärken können [31]. Das bei Patienten mit Altersdepres-sion erhöhte Risiko für eine Demenz vom Alzheimer-Typ [34] ist mit hoher Wahr-scheinlichkeit eine Folgeerscheinung die-ser Veränderungen. So korrelieren erhöh-te Neurotizismuswerte über die Lebens-spanne mit dem Grad pathologischer Veränderungen bei der Alzheimer-De-menz [44], und das Vorhandensein von Depressionen in der Anamnese geht bei Alzheimer-Patienten mit einer vermehr-ten Ausprägung der Alzheimer-typischen neuropathologischen Veränderungen [32, 33] einher.

Differenzialdiagnostik der Altersdepression

Aufgrund der Heterogenität der Alters-depression erscheint es klinisch zunächst zwingend, auf phänomenologischer Ebene spezifische Charakteristika des de-pressiven Syndroms zu beschreiben. Hier liegen altersspezifisch validierte Selbstbe-wertungs- (geriatrische Depressionsskala, [3]) und Fremdbeurteilungsskalen (Bech-Rafalesen-Melancholie-Skala, [21]) vor, die sowohl zur Erfassung des Schwere-grads als auch zur Charakterisierung von Anhedonie, Apathie und Melancholie ge-eignet sind. Die Rolle von psychischem Stress kann ebenfalls altersspezifisch be-urteilt werden. Mit dem SF-36-Fragebo-gen steht hierfür eine auch für ältere Pa-tienten validierte Skala zur Verfügung [7]. Neben diesen Untersuchungen erscheint es sinnvoll, den kognitiven Status zu do-kumentieren, einerseits, um das Ausmaß der Verbesserung der Kognition nach Bes-serung der depressiven Symptomatik im Verlauf abbilden zu können, andererseits, um die Beeinträchtigung des Gedächtnis-ses und der Handlungsplanung bzw. Auf-merksamkeit abschätzen zu können.

» Essenziell ist die Charakterisierung somatischer Komorbidität

Essenziell ist die Charakterisierung soma-tischer Komorbidität, die depressive Syn-drome sowohl auslösen als auch unterhal-

Tab. 1 Diagnostische Kriterien der vaskulären Depression. (Nach [23])

A Mittelschwere bis schwere depressive Episode in Zusammenhang mit MRT-Be-fund vaskulärer Läsionen (B1), zerebro-vaskulärer Erkrankung (B2) oder neuro-psychologischer Störung (B3)

B1 Stattgehabter Insult, transitorische ischämische Attacken (TIA) oder fokale Zeichen bzw. Symptome einer zerebro-vaskulären Erkrankung

B2 Hyperintensitäten in weißer oder grauer Substanz (Läsionen >2 mm + irreguläre Verteilung), konfluierende Läsionen der weißen Substanz oder kortikale oder subkortikale Infarkte

B3 Kognitive Störung der exekutiven Funktionen, Handlungsplanung oder Prozessverarbeitungsgeschwindigkeit

Erfüllt sein müssen Kriterium A plus Kriterium B1, 2 oder 3

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ten kann. Hierzu gehört neben der klini-schen Labordiagnostik, die einen Schwer-punkt auf kardiovaskuläre, endokrine und metabolische Basisparameter legen sollte, die Routineabklärung kardiovaskulärer Funktionen, und schließlich in erster Li-nie die leitliniengerechte Durchführung einer zerebralen Bildgebung, um vasku-läre zerebrale Läsionen und ihre Lokali-sation darstellen zu können. Bei Vorlie-gen signifikanter zerebrovaskulärer Lä-sionen ist eine Risikostratifizierung nach den Richtlinien der Schlaganfalltherapie bedenkenswert. Erst auf der Basis einer solchen multiperspektivischen Diagnos-tik ist eine spezifische Therapieplanung möglich, die auch mögliche Folgeerkran-kungen in Betracht zieht.

Pharmakotherapie

Vaskuläre Depressionen

Die Berücksichtigung des Zusammen-hangs zwischen kardiovaskulären und depressiven Erkrankungen im Alter legt eine kombinierte interdisziplinäre Be-handlung gleichzeitig aus psychiatrischer und geriatrischer Perspektive nahe. Ne-ben der Pharmakotherapie der vaskulä-ren Depression sollte hierbei die Thera-pie mit Thrombozytenaggregationshem-mern bei Vorliegen einer relevanten zere-brovaskulären Indikation sowie die opti-mierte Behandlung einer kardiovaskulä-ren Grunderkrankung wie etwa einer ko-ronaren Herzerkrankung, eines Hyper-tonus, einer Herzinsuffizienz oder eines Diabetes mellitus an erster Stelle stehen. Die Risikostratifizierung bei stattgehabten zerebrovaskulären Ereignissen oder vor-handenen zerebrovaskulären Läsionen so-wie eine adäquate Prophylaxe zerebrovas-kulärer Ereignisse steht abhängig vom Er-krankungstyp im Mittelpunkt.

» Bei Vorliegen vaskulärer Läsionen ist eine Augmentation empfehlenswert

Die Prinzipien der Psychopharmakothe-rapie der vaskulären Depression unter-scheiden sich an sich bei älteren Men-schen nicht von der Behandlung anderer

Formen depressiver Erkrankungen [6]. Die Auswahl der antidepressiven Medi-kation jedoch ist durch die kardiovasku-läre Komorbidität, hier nicht zuletzt auf-grund von Wechselwirkungen zwischen Medikamenten, oft eingeschränkt. Gut belegt ist, dass das Vorhandensein vasku-lärer Läsionen mit einer verzögerten Re-missionsrate und einem erhöhten Risi-ko für einen ungünstigen Verlauf einher-geht [43]. Hier sind frühzeitige Augmen-tationsstrategien wie z. B. die Kombina-tion verschiedener Antidepressiva, emp-fehlenswert [12]. Die von Dew et al. [12] untersuchte Augmentation eines selekti-ven Serotonin-Wiederaufnahmehemmers (SSRI) mit Lithium, Nortriptylin oder Bu-propion führte bei 50% der zunächst als therapierefraktär eingeschätzten Patien-ten zu einer Remission. Für trizyklische Antidepressiva gelten jedoch gerade bei der vaskulären Depression Einschrän-kungen hinsichtlich unerwünschter kar-diovaskulärer Wirkungen, wie eine ver-längerte Überleitungszeit am AV-Knoten oder Orthostasereaktionen. Andere Aug-mentationsstudien untersuchen bei der vaskulären Depression auch eine gezielte Beeinflussung vaskulärer Mechanismen. So wurde über erste Behandlungserfolge für die Kombination eines SSRI mit dem Kalziumantagonisten Nimodipin [41] be-richtet, die jedoch als Off-Label-Behand-lung erst in zweiter Linie klinisch relevant sein sollten. Spezifischen Leitlinien der Differenzialtherapie fehlt es jedoch bis-lang an Evidenz [34].

Wiederkehrende depressive Episoden

Der Einfluss von psychischem Stress und die erhöhte Vulnerabilität durch neurohu-morale Veränderungen legen nahe, dass wiederkehrende Depressionen in beson-derem Maße von multimodalen Behand-lungsansätzen profitieren könnten. Dies gilt insbesondere deshalb, da bei rezidivie-renden Depressionen im Alter das Stress-erleben nicht nur als auslösender, sondern auch als unterhaltender Faktor eine Rolle spielen kann [18]. Psychiatrische Komor-biditäten spielen ebenfalls eine besonde-re Rolle. So fanden Mulsant et al [29] bei Depressionspatienten mit komorbider Angststörung eine Verzögerung der Re-

Zusammenfassung · Abstract

Z Gerontol Geriat 2013 · 46:106–111DOI 10.1007/s00391-012-0470-8© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

M.A. Rapp

Neurobiologische Subtypen der Altersdepression. Ihre Bedeutung für Diagnostik und Therapie

ZusammenfassungIm Alter kommt es zu einer Zunahme biologi-scher Einschränkungen, die durch die häufi-ge medizinische Komorbidität noch verstärkt werden. Diese betreffen jedoch nicht nur kör-perliche, sondern auch seelische Prozesse. So liegen bei der Altersdepression einerseits Ef-fekte rezidivierender depressiver Episoden über die Lebensspanne auf die Neurobiolo-gie der Depression vor. Andererseits besteht ein enger Zusammenhang zwischen kardio-vaskulären Erkrankungen und zerebrovasku-lären Veränderungen in zerebralen Arealen, die für die Emotionsverarbeitung und -steue-rung wichtig sind. Hier liegt eine biobehavio-rale Interdependenz vor, die für die Differen-zialdiagnostik und Therapie der Altersdepres-sion eine große Bedeutung hat.

SchlüsselwörterDepressive Symptome · Geriatrie · Psychologische Prozesse · Emotionen · Neurobiologie

Neurobiological subtypes of geriatric depression. Their importance for diagnosis and treatment

AbstractWith age, increasing biological constraints on functioning are often aggravated by increas-es in multimorbidity. These effects, however, not only have an impact on somatic, but also psychological processes. In geriatric depres-sion, for instance, there are both effects of re-current depressive episodes on the neurobi-ology of the disorder as well as effects of car-diovascular comorbidity that interact with brain areas associated with the perception and regulation of emotions. These biobehav-ioral interactions have strong implications for both the differential diagnosis and treatment of geriatric depression.

KeywordsDepressive symptoms · Geriatrics · Psychological phenomena and processes · Emotions · Neurobiology

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mission um im Mittel 30 Tage. Weiterhin konnten Reynolds et al. [35] zeigen, dass das Lebensalter und der Schweregrad der Depression die Remission einer rezidivie-renden Depression im höheren Lebens-alter beeinflussen.

Psychotherapie

Angesichts der besonderen Bedeutung von psychosozialen Einflüssen bei der Entstehung wie der Behandlung rezidi-vierender depressiver Episoden im Al-ter scheint eine kombinierte psycho- und pharmakotherapeutische Behandlung be-sonders wichtig. Praktische Erfahrungen und Evaluationsdaten liegen insbeson-dere für die interpersonale Psychothera-pie (IPT) vor [19]. Die IPT ist eine manu-algestützte Kurzzeitpsychotherapie, bei der anhand von 4 Kategorien (abnorme Trauerreaktion, Konflikte, Rollenverände-rungen und interpersonaler Defizite) zu-sammen mit den Patienten interpersona-le Konfliktfelder bearbeitet werden. Ver-schiedene Studien belegen die Wirksam-keit der IPT bei der Depressionsbehand-lung im Alter (Übersicht s. [15, 16]). Diese stellt jedoch in Deutschland kein Richtli-nienverfahren dar und wird deshalb wohl in praxi Spezialambulanzen vorbehalten sein.

» Das Zusammenwirken von Psycho- und Pharmakotherapie ist effektiv

Auch bei der vaskulären Depression spie-len psychotherapeutische Verfahren eine besondere Rolle [10] und auch Gedächt-nistrainings haben sich als effektiv er-wiesen [30]. Von besonderer Bedeutung ist der gesicherte Effekt des Zusammen-wirkens von Psycho- und Pharmakothe-rapie bei allen Patienten mit depressiven Erkrankungen im Alter, auch in der Lang-zeittherapie [25].

Schlussfolgerungen

An der Altersdepression kann das Zusam-menspiel biologischer und psychosozialer Faktoren bei der Entstehung und im Ver-lauf psychischer Erkrankungen im Alter

beispielhaft studiert werden. Insbesonde-re Modelle der vaskulären Depression und rezidivierender depressiver Episoden im Alter belegen die Interdependenz biopsy-chosozialer Faktoren und ermöglichen die Identifizierung und Quantifizierung des Einflusses der einzelnen Einflussgrößen. Für die Diagnostik des alten Patienten hat das die Konsequenz, dass ein besonde-res Augenmerk sowohl auf psychosoziale Faktoren über die Lebensspanne als auch auf medizinische Komorbidität im höhe-ren Alter gelegt werden muss. Auf die-ser Grundlage zeichnen sich erste Ansät-ze einer spezifischen Differenzialtherapie ab, die sowohl psychosoziale als auch bio-logische Faktoren berücksichtigt.

Korrespondenzadresse

PD Dr. Dr. M.A. RappKlinik für Gerontopsychiatrie, Asklepios Fachklinikum BrandenburgAnton-Saefkow-Allee 2, 14772 Brandenburg a.d. [email protected]

Interessenkonflikt. Der korrespondierende Au-tor weist auf folgende Beziehungen hin: Vertragsho-norare der Fa. Merz und der Evangelischen Kirche in Deutschland.

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Deutschlandweite Diabetes-Präventionsstudie PLIS startet

Neueste Daten des Robert Koch-Instituts

belegen, dass in Deutschland ein deutlicher

Anstieg der Prävalenz der Adipositas (Body

Mass Index (BMI) > 30) zu verzeichnen ist.

Sowohl bei Männern (von 18,9% auf 23,3%),

als auch bei Frauen (von 22,5 % auf 23,9 %) ist

der Anteil seit 1998 gestiegen. Auffallend da-

bei ist, dass auch die Häufigkeit von Diabetes

Typ 2 in diesem Zeitraum bei Erwachsenen

von 5,2 auf 7,2% zugenommen hat. Mit ge-

schätzten 2,1 % an Erwachsenen, bei denen

ein unerkannter Diabetes vorliegt, beträgt die

Häufigkeit des Diabetes in Deutschland somit

9,3%, das entspricht 6 Mio. Erwachsenen. Un-

ertwarteterweise stieg im gleichen Zeitraum

der Anteil derer die regelmäßig Sport betrei-

ben (1 x Woche – um 14,1% bei Männern, um

16,0% bei Frauen).

Die Daten unterstützen die bisherigen Be-

obachtungen, dass Menschen unterschiedlich

gut auf Interventionsprogramme zur Ge-

wichtsreduktion und Diabetesprävention an-

sprechen. So haben mehrere Studien gezeigt,

dass eine Prävention des Typ-2-Diabetes

möglich ist. Die Lebensstilintervention zeigte

dabei die besten Erfolge. Mittlerweile gibt es

genetische und phänotypische Merkmale,

die den Erfolg der Lebensstilintervention

vorhersagen und somit eine individualisierte

Prävention des Typ-2-Diabetes ermöglichen.

Neben noch in der Erforschung befindlichen

Blutparametern spielen hier die verminderte

Insulinwirkung, die Insulinproduktionsschwä-

che, die gut- und bösartige Fettverteilung

und die nicht-alkoholische Fettleber eine

Rolle.

In einer neuen deutschlandweiten Prädia-

betes Lebensstil Interventionsstudie (PLIS)

werden ab sofort Menschen mit einem

erhöhten Diabetesrisiko hinsichtlich ihres

Nüchternblutzuckers und eines Blutzucker-

belastungstests, der auch in der Schwanger-

schaft durchgeführt werden kann, in die

Studie eingeschlossen. Für die Bewertung des

Diabetesrisikos wird der Deutsche Diabetes

Risiko TestsR eingesetzt. Nach einer Ganz-

körper-Kernspin-Untersuchungen zur Bestim-

mung der Körperfettverteilung und des Le-

berfettgehalts werden die Studienteilnehmer

in 2 Gruppen aufgeteilt und erhalten jeweils

eine ganz individuelle und intensive Lebens-

Fachnachrichten

stilberatung zur Ernährungsumstellung und

einer vermehrten körperlichen Aktivität.

Flankiert werden diese Interventionen von

Auswertungen der Essensprotokolle und der

genau dokumentierten körperlichen Aktivität

durch Akzelerationsmessgeräte, welche die

Teilnehmer ausgehändigt bekommen. Paral-

lel werden in Subgruppen wissenschaftliche

Erkenntnisse über die körperliche Fitness im

Rahmen von Untersuchungen auf dem Fahr-

radergometer gewonnen. Auch die Fähigkeit

das Sättigungsgefühl zu kontrollieren wird

mittels Untersuchungen der Gehirnaktivität

geprüft.

Quellen:

Robert Koch-Institut, www.rki.de

Universitätsklinikum Tübingen,

www.med.uni-tuebingen.de

111Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 2 · 2013  |