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Arch. Psychiat. Nervenkr. 218, 223--233 (1974) by Springer-Verlag 1974 Neurotoxische Nebenwirkungen des Piperazins im Erwachsenenalter Epileptischer D/immerzustand mit Myoklonien D. K6mpf und B. Neund6rfer Neurologische Klinik im Klinikum Marmheim der Universit~t Heidelberg (Direktor: Prof. Dr. O. tIallen) Eingegangen am 24. August 1973 Neurotoxie Side Effects of Piperazine in Adults Epileptic Twilight State with Myoclonia Summary. During piperazine medication for a worm infection an epileptic semiconscious state accompanied by myoclonic jerks occurred in a 44-year-old patient. The patient had a history of petit real epilepsy in childhood but had been free of attacks for the intervening 30 years. The myoclonic jerks were not correlated with the discharges in the EEG. The symptoms are discussed together with the literature. Key words: Piperazine-Side Effect -- Epileptic Semiconscious State -- Myoelonie Jerks. Zusammen]assung. Wghrend einer Wurmkur mit Piperazin entstand bei einem Erwachsenen, bei dem in der Kindheit voriibergehend Petit-Mal-AnfNle manifest geworden und anschliegend 30 Jahre lang keine Anfiille mehr aufgetreten waren, ein epileptischer DEmmerzustand mit Myoklonien. I)iese zeigt~n keine strenge Korrelation zu den EEG-Veriinderungen und iiberdauerten den D~mmerzustand. Mit der bisherigen Literatur werden die Symptome diskutiert. Schliisselw6rter: Piperazin-Nebenwirkungen -- Epileptischer Diimmerzustand -- Myoklonien. Naehdem Piperazin und seine Derivate schon um die Jahrhundert- wende gegen Gicht und Harnsgurekonkremente eingesetzt worden war, land es dann seit den ffinfziger Jahren dieses Jahrhunderts eine breite Anwendung als Antihelminthicum bei Ascaridiasis uncl Oxyuriasis. Wghrend zungchst das Fehlen yon Nebenwirkungen hervorgehoben wurde, h&uften sieh doch in der Folgezeit Beriehte fiber neurologische Befleiterscheinungen, die sowohl bei normaler [2, 4, 7, 8,11,13,14, 23, 24, 28, 31] wie bei iTberdosierung [4, 5, 22, 25, 26, 30] auftraten. Es handelte sieh dabei nm Klagen fiber Sehwindel [28,30], hoehgradige Muskel- sehw/~ehe [4,11,26,28,30] und Sehst6rungen[30], um Koordinations- stSrungen [2,4,11,23,24,30], Tremor [23,24], Myoklonien [2,5,13,

Neurotoxische Nebenwirkungen des Piperazins im Erwachsenenalter

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Arch. Psychiat. Nervenkr. 218, 223--233 (1974) �9 by Springer-Verlag 1974

Neurotoxische Nebenwirkungen des Piperazins im Erwachsenenalter

E p i l e p t i s c h e r D / i m m e r z u s t a n d m i t M y o k l o n i e n

D. K 6 m p f und B. Neund6rfer

Neurologische Klinik im Klinikum Marmheim der Universit~t Heidelberg (Direktor: Prof. Dr. O. tIallen)

Eingegangen am 24. August 1973

Neuro tox ie Side Effects of P iperaz ine in Adu l t s

Epileptic Twilight State with Myoclonia

Summary. During piperazine medication for a worm infection an epileptic semiconscious state accompanied by myoclonic jerks occurred in a 44-year-old patient. The patient had a history of petit real epilepsy in childhood but had been free of attacks for the intervening 30 years. The myoclonic jerks were not correlated with the discharges in the EEG. The symptoms are discussed together with the literature.

Key words: Piperazine-Side Effect -- Epileptic Semiconscious State - - Myoelonie Jerks.

Zusammen]assung. Wghrend einer Wurmkur mit Piperazin entstand bei einem Erwachsenen, bei dem in der Kindheit voriibergehend Petit-Mal-AnfNle manifest geworden und anschliegend 30 Jahre lang keine Anfiille mehr aufgetreten waren, ein epileptischer DEmmerzustand mit Myoklonien. I)iese zeigt~n keine strenge Korrelation zu den EEG-Veriinderungen und iiberdauerten den D~mmerzustand. Mit der bisherigen Literatur werden die Symptome diskutiert.

Schliisselw6rter: Piperazin-Nebenwirkungen -- Epileptischer Diimmerzustand -- Myoklonien.

N a e h d e m Piperaz in und seine Der iva t e schon u m die J a h r h u n d e r t - wende gegen Gicht und H a r n s g u r e k o n k r e m e n t e e ingesetz t worden war, l a n d es dann seit den ffinfziger J a h r e n dieses J a h r h u n d e r t s eine bre i te Anwendung als Antihelminthicum bei Ascaridiasis uncl Oxyuriasis. W g h r e n d zungchs t das Feh len yon Nebenwi rkungen hervorgehoben wurde, h&uften sieh doch in der Folgezei t Ber ieh te fiber neurologische Befleiterscheinungen, die sowohl bei no rma le r [2, 4, 7, 8,11,13,14, 23, 24, 28, 31] wie bei iTberdosierung [4, 5, 22, 25, 26, 30] au f t r a t en . Es hande l t e sieh dabe i n m Klagen fiber Sehwindel [28,30], hoehgradige Muskel- sehw/~ehe [4,11,26,28,30] und Sehs t6rungen[30] , u m Koordinations- stSrungen [2,4,11,23,24,30] , T r e m o r [23,24], Myoklonien [2,5,13,

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22- -24] , epileptische An/dlle in Form von Petits. und Grand-Maux [1,8, 21,23, 24) sowie Bewu/3tseinsiinderungen mi t dem Gefiihl des , ,Los- gel5stseins" [25], SchlSs Bcnommenhe i t , Apa th ie , bis zur Be- wugt los igke i t [2, 4,11,13, 23, 24, 26, 28, 30] oder d r angha f t en Angst - und Unruhezust /~nden zum Tell un t e r dem Bi ld einer Psychosc yore cxogenen R e a k t i o n s t y p [1,14,23]. I m E E G waren en t sp rechend zum Teil erhcb- liche Ver/~nderungen nachweisbar (u. a. [2, 5, 8, 23, 24, 30]).

Die Ber ich te bezogcn sich vor a l lem au f neurologischc S t5rungen bei K inde rn , wobei insbesondere cerebra l vorgesch/~digte K i n d e r ge- f/~hrdet s ind [1,5, 21,23, 24], w/ ihrend neuro toxische Nebenwi rkungen bei Erwachsenen offenbar nur sel ten beobach t e t wurden [7, 8,13,14,25, 26,28,31].

Aus diesem Grunde ha l t en w i r e s ffir angebrach t , nochmals an H a n d ciner F a l l b e o b a c h t u n g m i t durch P ipe raz in hervorgerufenem epi lept i - schen D / immerzus t and und Myoklonien im Erwaehscnena l t e r au f diese Kompl ika t i onsmSg l i chke i t e iner W u r m k u r hinzuweisen, und m6ehten gleichzei t ig einen Be i t rag zur Di//erentialdiagnose epileptischer Ddmmer- zustiinde erbr ingen.

Fa l lb eschreibung

E. L., Aufnahme in die Klinik am 6. 2. 1973 im 44. Lebensjahr. I)er Pa%. wurde als 6. Kind 1929 in Lettland geboren, die Geburt erfolgte

termingerecht. Nach Angaben der Schwester sei er als 4 Monate altes Baby von einem Tisch gefailen und habe ansehliegend lange geschrien. Uber eine BewuBtlosigkeit ist nichts bekannt. Die weitere frfihkindliche und kindliche Entwicklung vollzog sieh regelrecht. Er besuchte noch in Lettland 2 Jahre die Volksschule, nach der Flucht der Familie in denWarthegau (Pommern) im Jahre 1933 noeh einmal 2 Jahre Volksschule in Hohensalza. Sp~ter war ihm infolge der Kriegswirren ein Schul- besueh nicht mehr mSglich.

Ab dem 11. bis einschlieBlieh dem 14. Lebensjahr traten nahezu tgglich, manehmal auch 2--3real pro Tag, Petit-Mal-Anfglle aufi Er habe seine jeweilige T~tigkeit unterbroehen, eine Blickbewegung nach oben und eine Kopfbewegung nach hinten ausgefiihrt. Die Dauer der Anfi~lle wird mit maximal 2--3 sec angegeben; fiir die Zeit des Anfalles habe jeweils eine Amnesie bestandeD. Myoklonien seien nie aufgetreten. In der Familie wurde der Pat. tier ,,Gucker" genannt. Es erfolgte zu keiner Zeit eine antikonvulsive Therapie. In der Folgezeit war der Pat. v611ig anfallsfrei. Zwisehen dem 14. und 16. Lebensjahr werden 4--5 ngchtliche Spontanmiktionen angegeben. ~ber ngehtliche Anfiille ist jedoch nights zu erfahren.

Nach polnischer Kriegsgefangensehaft (2malig Commotio) lebte der Pat. bei den Eltern und arbeitete als Bergmann. 1971 erlitt er einen Autounfall mit Sch~delhirntrauma. Es wird eine Bewugtlosigkeit yon 2 Tagen angegeben. Sp~tere, auf dieses Trauma zuriickgehende Beschwerden werden verneint. Nach dem Tod der Eltern wurde der Pat. bei einer Schwester aufgenommen, da ,,er wohl alleine nicht zurecht gekommen und verkommen w~ire". Im Rahmen des Familienlebens fiel der Pat. immer wieder durch liippische und distanzlose Bemerkungen auf; ansonsten war er jedoch sozial gut angepaBt. Bei der Arbeit als Bauschlosser war er nur bedingt einzusetzen. Er erledigte seine Arbeiten oft nachlgssig, Wichtiges wurde oft vergessen.

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Wegen eines festgestellten Wurmbefalls begann er am 1.4. 1973 eine orale Kur mit einem Piperazin-Pr~parat (Uvilon) und nahm das Mittel vom 1.--4. 4. in vorschriftsmiiBiger Dosierung yon 3 E~lSffeln pro die (15 ml = 3000 mg) ein. Am 3.Tage der Einnahme, am 3 . 4 , wurden beim Arbeiten einfache Aufforderungen falsch oder doch zumindest unvollst~ndig ausgeffihrt. Am 4. 4. ffihlte sich der Pat. sehr miide und leicht benommen. Das weitere Verhalten wurde jedoch als unauf- f~llig angegeben. Am Morgen des 5.4. suchte er wegen zunehmender Benommenheit den Hausarzt auf, wegen zunehmender Mfidigkeit legte er sich nachmittags ins Bert. Ab da kSnne er sich an nichts mehr erinnern. Die Sehwester des Pat. berichtet, am Morgen des 5. 4. habe er auf Fragen entweder inad~quat oder fiberhaupt nicht mehr geantwortet. Nachmittags sei er iedoch noch in der Lage gewesen, korrekt Kreuzwortr~tsel zu 15sen und Postkarten an Verwandte (mit den fiblichen orthographisehen Fehlern) zu schreiben. Abends sei er sinnlos in der Wohnung umhergelaufen, habe wortlos, stumpf in eine Zimmerecke gesehaut und an den Ereignissen um sich herum keinen Anteil mehr genommen. Ohne sich auszuziehen, babe er sich dann sp~t abends naeh Aufforderung zum Schlafen anf sein Bert gelegt.

Nach einem ungewShnlich langen Schlaf war am n~ehsten Morgen (6.4.) derselbe Bewul3tseinszustand wie am Vorabend zu beobachten. Ungeordnete Gliederzuckungen traten hinzu. Auf dem Weg zur Toilette lieB der Pat. unter sich. Zur Abkl~rung des D~mmerzustandes wurde er stationer eingewiesen.

Ruhig auf der Bahre liegend bietet der Pat. ein stuporSses Zustandsbild. Die Augen sind often, der Blick starr, die Pupillen pendeln unregelmi~13ig und fixieren nicht. Ein Rapport mit dem Pat. ist nieht herzustellen; er ist nieht ansprechbar, auf Fragen wird nicht geantwortet, einfachen Aufforderungen wird keine Folge geleistet. Es sind dauernde unregelm~l~ige Zuckungen der Arme und der Beine beidseits, aber auch am li. Mundwinkel und Kinn zu beobachten, an den Armen Beugebewegungen im Ellenbogen, an den Beinen Adduktionsbewegungen der Oberschenkel.

Der neurologische Befund ist unauffi~llig. Bei grol3er Schmerzempfindlichkeit reagiert der Pat. seitengleich auf Schmerzreize mit gerichteten Abwehrbewegungen. RR 120/80, Temperatur axillar 36,8~

Im EEG (Abb. 1) finder sich eine durehgehende regelm~l~ige Krampfaktivit~t in Form von triphasisehen sharp waves, die frontal zum Teil mit Ausbreitung nach pr~zentral, fronto-temporal, sowie temporo-basal (yon den Ohrelektroden aus- gehend) lokalisiert waren, und in die nur vereinzelt spikes und spike-waves ein- gelagert waren. An einigen Stellen zeigte sieh aueh fiber der mittleren bis hinteren Temporalregion intermittierend sharp waves. Weder durch AugenSffnen noeh dureh Am'ufen konnte der regelmiiBige Ablauf der Steilwellen moduliert oder gar unterbroehen werden. (Tber der Parieto-Occipital-Region herrschten zur glei- chen Zeit als Grundaktivit~t 5--6/see-Zwischenwellen vor. Die sehr unregelm~Big auftretenden Myoklonien standen in keinem zeitliehen Zusammenhang zu der sehr regelm~l~igen Krampfaktivitiit .

Nach einer Injektion yon 10 mg Valium i.v. kIart der Pat. sofort auf. Er ist ansprechbar, auf Fragen wird ad~quat geantwortet, einfache Aufforderungen wer- den regelrecht befolgt. Anhand der Arztkittel erkennt er, dal~ er sich im Kranken- haus befinde~. :Name und Adresse werden richtig angegeben. Die Myoklonien treten nur noch vereinzelt auf. Der Pat. ist insgesamt noch deutlich schl~frig und ver- hangen.

Die regelm~Bige Krampfaktivitii t wurde dutch die V~lium-Injektion sofort unterbroehen (Abb.2). Der gesamte Wellenablauf verlangsamte sich zun~ehst

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Abb. l. EEG wiihrend des DBmmerzustandes zum Zeitpunkt der station~ren Aufnahme mit im Vordergrund stehenden regelmiigigen bi- und triphasischen

sharp waves

und es t ra ten frontal und frontotemporal zuerst nur diffus eingestreut abgestumpfte Steihvellen in Erscheinung. Nach ca. 150 see zeigten sieh ii1 gleicher Lokalisation erstmals wieder einzelne sharp waves, die sich nach ca. 200 see gruppierten und mit einer D~uer won ca. 3--5 see und in Abst~nden yon 3--10 see auftraten. Die Myoklonien zeigten auch jetzt wieder keine zeitliche Korrelutien zu den EEG- Paroxysmen. AuBerdem war klinisch w~hrend der KrampfpotentiM~usbrfiehe ~n dem Patienten keine Ver~nderung zu bemerken.

Am sp~ten Naehmittag, auch am Abend, sowie am n~chsten Tag ist der Gesamt- befund unver~ndert. ])er Palb. ist schl~frig und wirkt insgesamt noch deutlich

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Abb.2. EEG ca. 70 see nach Beendigung des D~mmerzustandes durch i .v.-Injektion yon 10 mg Valium mi t jetzt nur eingestreuten, z.T. abgestumpften sharp waves

verhangen. Immer wieder t re ten die beschriebenen Myoklonien auf, die bei Gehversuchen auch ein Einknieken in den Knien verursachen.

An den folgenden 3 Tagen waren trotz einer Medikation mi t 3 X 1 Tablet te Zen- tropil und einer abendlichen In jekt ion yon 0,1 Luminal in etwa die gleichen, oben besehriebenen EEG-Ver~nderungen zu beobaehten; allerdings liefen die paroxysmalen Ausbrfiche jetzt weitgehend bilateral synehron mi t Ausbrei tung fiber beiden Hemisph~ren ab, wobei neben dominierenden sharp and slow waves auch spikes und unregelmB6ige Steilwellen auftraten. Hypervent i la t ion und Photost imulat ion ha t t en weder eiaen Einflu6 auf das EEG noeh auf die un- abh~ngig davon auftretenden ~[yoklonien.

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I s e c

Abb. 3. Das EEG, 41/2 Monate nach dem D~mmerzustand. zeigt einen dureh Hyper- ventilation provozierten Ausbruch mit unregelm~l~igen spikes und z.T. bis zu

triphasisehen sharp waves

Am 8. und 9. 4. klart das Bewul]tsein des Pat. zunehmend weiter auf, es ist nur noeh eine geringe Schl/~frigkeit festzustellen. Die Myoklonien treten nut noch ganz vereinzelt auf, jetzt vor allem am linken Arm. Auff~llig ist, dab sich diese Myoklonien nach Anheben des Armes deutlich verst~rken. Am 10. und I1.4. ist der Pat. vol] orientiert und bewulltseinsklar. Er liest Bticher und Zeitungen und beteiligt sich rege am Stationsleben. Es ist lediglich noeh eine ]eichte Unsicherheit beim Gehen festzustellen. Ein Einknicken in den Knien t r i t t nur noeh ganz selten auf, Myoklonien im Bereieh der Arme sind nur noeh sehr vereinzelt zu beobachten. Nachdem 6 Tage sparer ira EEG keine spezifisch epileptisehen Elemente mehr

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naehweisb~r waren, wurde die antikonvulsive Medikation ~bgesetzt. Daraufhin zeigten sich im EEG 8 T~ge sparer (am 14. Tag nach dem D~mmerzustand) erneut paroxysmale Ver~nderungen mit bilateral synchronen, zum Teil deformierten spikes, polyspikes und Steilwellen mit langsamer Naehsehwankung.

Diese Ver~indernngen waren bei wiederholten EEG-Ableitungen -- auch in der Provokation mit HV und 1%tos~imulation -- bis zum Zeitpunkt der Ent- lassung bei wiederholten Ableitungen zwar nieht regelm~Big, jedoch vereinzelt immer wieder nachweisbar. W~hrend der letzten Zeit des station~ren Aufenthaltes ist der Pat. anfallsfrei. Er ist jetzt insgesamt in das Sozialgeffige der Station gut angepaBt. Immer wieder f~llt jedoch eine Distanzlosigkeit sowie eine auff~llige Witzelsucht auf. ?Jber das Tagesgesehehen ist er gut informiert.

Bei einer Nachuntersuchung 41/2 Monate nach Entlassung war der klinisehe Befund unver~ndert. Epileptische Anf~ille waren angeblich nieht mehr aufgetreten. Das EEG zeigte aber unter Hyperventilation mehrfaeh paroxysmale Ausbrfiche mit spikes, polyspikes, sharp waves und unregelm~Bigen, z.T. ~typisehen spike- waves (Abb.3).

Diskussion

Durch Piperaz in hervorgerufene neurotoxische l~ebenwirkungen bei Erwaehsenen werden in der Li te ra tur ex t rem selten und d a n n als Einzel fa l ldars te l lungen besehrieben.

Slaughter [26] ber iehte t erstmalig 1896 yon einer 32j/~hrigen Pat ien- t in , die i r r t i imlich eine Uberdosis yon 1,2 g Piperazin in Wasser gelSst t rank . Noch am selben Tag t r a t ein bedrohlicher, toxischer, ,,semi- komatSser" Zus tand mi t Pupi l lenverengung u n d einer vollst~ndigen Bewegungsunf/~higkeit der un t e r en Extremit/~ten auf bei sehneller und vSlliger Reversibilit/~t der Symptomat ik .

White u. Standen [31] beschrieben bei 14 erwachsenen l~ormalpersonen, Sims [25] in 1 Fall bei leichter ~berdosierung, Schwindel, ein ,,Geffihl des Los- gel5stseins" ("sense of detachment"), Seh- und KoordinationsstSrungen.

Combes u. Mitarb. [7] kormten bei einem 39 j~hrigen Mann bei bekannter Nieren- insuffizienz (Elektrolyte im Normbereieh) nach ~hnlicher Dosierung eine Bewul]t- seinstrfibung, ebenfalls ein Gefiihl des Losgel5stseins, eine Ataxie, sowie einen arhythmischen Tremor aller Extremit~ten und des Kopfes mit zus~itzliehen choreatiformen Bewegungen beobachten.

Bei einem 52j~hrigen Patienten Webers [28], bei dem aul]er leiehten Herz- besehwerden keine Krankheit bekann~ war, trat ein Drehschwindel, sowie eine Benommenheit, ja ein Trance-Zus~and auf, in dem der Patient die Umwelt nur noeh wie durch einen Schleier hindurch wahrnehmen konnte.

Bei einer 63j~hrigen kliniseh gesunden Patientin [13], die sich wegen einer Alkoholentziehungskur in der Klinik befand, trat bei Normaldosierung am 4. Tag eine Bewufitseinstrfibung, am 5. Tag eine BewuBtlosigkeit auf. Es werden weiterhin bei der Patientin faseieul/ire Muskelzuekungen, die vorwiegend den linken Mundast des IN. faeialis und die Zunge betr~fen, sowie blitzartig einschieBende Zuckungen in Muskelgruppen aller GliedmaBen beschrieben.

Bei gleichzeitiger Gabe yon tricyelischen Psychopharmak~ beobachteten ttelmchen u. Hippius [14] naeh Piperazinverordnung in Normaldosis geh~uft delirante Syndrome. Ffinfgeld [8] ver5ffentlichte einen Fall einer 54 Jahre alten Patientin, die zeitlich, 5rtlich sowie fiber die eigene Person vSllig desorientiert

16"

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zur Aufnahme kam. Klinisch und pneumencephMographisch konnte die Diagnose einer diffusen Hirnatrophie mit schwerer Demenz gesichert werden. Nach Piperazingsben trsten ,,linksbetonte" Krsmpfanf~lle suf, die such auf das Gesicht iibergriffen, die Bewul]tseinslage war stark eingeengt. Im EEG war eine rechtsbetonte streckenweise regelm~Bige Krampfstromsktivitgt nachweisbar, im Gegensatz zur Vorsbleitung, in der sich lediglich eine Grundrhythmusverlangsamung bei vermehrter Thetaeinstreuung frontal und temporal beidseits nachweisen lieB. Am 3. Tag nach Absetzen der Medikation war die Patien~in wieder bewuBtseinsklar.

Der Vergleieh der Intoxikationssyndrome zeigt, dab -- yon ex- tremen ~berdosierungen abgesehen -- die Vergiftnngssymptome am 3. oder 4. Tag der Medikation beginnen und nach Absetzen bis auf einen beschriebenen Fall [23] jeweils roll reversibel sind.

Die neurotoxische Symptomatik ist -- wie aueh bei unserem Patien- ten -- meist durch folgende Trias gekennzeichnet: BewufltseinsstSrungen, Myo]clonien, epileptische Krisen. Die BewuBtseinsst6rungen reichen yon leiehter Benommenheit bis hin zur tiefen Bewugtlosigkeit. Myoklonien werden beschrieben yon feinen, faseieular anmutenden Zuekungen der Muskulatur bis hin zu einer stfirmischen Bewegungsunruhe, so dal3 der Patient das groteske Bild eines bin und her gerissenen Itampelmanns bietet [13]. An epileptischen Krisen konnte bei Kindern mit Pyknolepsie eine Zunahme der Anfallshg~ufigkeit [21,23, 24], bei Grand Ma]-Epilepsie generalisierte Krampfanf~lle, in 2 F/~llen ein Status epileptieus [23] beobaehtet werden. Lediglieh Fiinfgeld sah in 1 Fall fokale Anf/~lle, zudem bei einer Patientin ohne eerebrale Anfglle in der Anamnese. Ein epileptiseher D~mmerzustand naeh Piperazin-Medikation wurde lediglieh yon Sehueh u. Mitarb. [23] bei einem 31/2j/~hrigen Kind be- sehrieben. Bei dem Traneezustand, den Weber [28] bei einem 52j/~hrigen Patienten beobaehten konnte (keine EEG-Aufzeiehnungen), d/irfte es sieh wohl eher um einen Zustand yon allgemeiner Benommenheit als um einen epileptisehen D/~mmerzustand gehandelt haben.

Vom psyehopathologisehen Bild her 1/~gt sieh unser Fall unsehwer in die yon Landolt [19] beschriebenen epileptisehen D/tmmerzust/inde bei Petit-Mal-Status einordnen. Allerdings zeigte sieh nieht das klassisehe 3/see spike-wave-Muster, sondern es waren durehgehend sehr regelm/~gig bi- bis triphasisehe sharp waves zu beobaehten, die -- wie die in den Tagen naeh Beendigung des Petit-Mal-Status auftretenden paroxys- malen Ver/~nderungen mit unregelm/~gigen, zum Teil deformierten spikes, polyspikes und sharp waves -- auf eine Konditionierung der Krampf- aktivitgt in einer Altersstufe hinweisen, die noeh vor dem Pyknolepsie- alter liegt [6,16], wenn aueh die kleinen Anf/~lle laut Anamnese erst um das 11. Lebensjahr kliniseh manifest geworden sind. Obwohl spgtestens seit dem 16. Lebensjahr keine Anf/~lle mehr aufgetreten waren, war offensiehtlieh eine erhShte Anfallsbereitsehaft zuriickgeblieben, so dal3

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beim Hinzutreten einer irri tativen Noxe wie dem Piperazin das Gehirn wieder in der gleiehen Weise reagierte.

Inwieweit die bei unserem Fall beobaehteten Myoklonien ein kon- stitutives Element des epileptisehen Gesehehens darstellen, - - wie es zumindest auf den ersten Bliek hin den Ansehein hat -- , 1/~Bt sieh nieht mit letzter Sieherheit entseheiden. Aus der Literatur geht hervor, dag bei Piperazinintoxikationen h~ufig ~yoklonien beobaehtet wurden (u.a. [2,4,5,13,22--24]), die sowohl Gesiehts- und Stamm-, als aueh Extremitgtenmuskeln betrafen. Allerdings konnte weder bei unserem Patienten, noeh in den F~llen, in denen aueh eine EEG-Ableitung ge- maeht worden war (u.a. [2,5,23]) eine zeitliehe Korrelation zwisehen den Nyoklonien und spezifiseh epileptisehen Potentialen im EEG fest- gestellt werden. Folgt man den Vorstellungen van Bogaerts [3] fiber die Entstehungsweise yon Nfyoklonien in 3 versehiedenen Funktions- ebenen des Gehirns, so ist als Entstehungsort der dutch Piperazin provo- zierten lV[yoklonien am ehesten die unterste Ebene im Funktionskreis Hirnstamm-Kleinhirn anzunehmen. Es zeigten sieh ngmlieh weder fokale, zu den Myoklonien in strenger Korrelation stehende Krampf- potentiale wie bei der Epilepsia partialis continua [18] entspreehend dem eortiealen Funktionskreis [29], noeh zu den Myoklonien korrelier- bare diffus-synehrone EEG-Paroxysmen, wie zum Teil bei der Impulsiv- Petit-Mal-Epilepsie, die dem Funktionskreis des Thalamus und der Basalganglien zugeordnet werden [29]. Aueh eine I~eflexmyoelonie mit yon intermitt ierenden Liehtreizungen abMngigen Muskelzuekungen [9] konnte in unserem Fall ausgesehlossen werden, da bei Photostimulation keine Beziehung zwischen Lichtreiz und Myoklonien zu beobaehten war.

DiG Annahme einer Irr i ta t ion des Funktionskreises Hirnstamm- Kleinhirn - - und in diesem Bereieh insbesondere des Kleinhirnes -- , gewinnt noeh an Wahrseheinliehkeit aus der Beobachtung, dag die Myoklonien in unserem, wie auch in dem yon Chaptal u. M i ta rb . ns besehriebenen Fall [5], dureh intentionelle Bewegungen und vor allem dureh Einnehmen einer mit Dauertonisierung best immter Muskel- gruppen einhergehenden Haltung verst~rkt und provoziert werden konnten, was naeh Hassler [12] ffir , ,Kleinhirnmyoklonien" typiseh sein so]].

Sehlieglieh weisen auch die unter Piperazin h/~ufig auftretenden eerebellaren Koordinationsst6rungen (u. a. [2,4,11,23, 24~, 30]) in die gleiehe giehtung.

Geht man yon der EEG-Morphologie w/~hrend des beobachteten Petit-Mal-Status und in den Tagen danach aus, die in etwa den Ver- gnderungen entspreehen, wie man sie beim myokloniseh-astatischen Petit- Mal vorfinden kann, dann wfirden sieh die Myoklonien unsehwer als ,,epileptisehes" Element begreifen lassen. Die in der Kindheit beobaeh-

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SeXen Anf/~lle w/~ren d a n n als sog. r ek l ina t ive Anf~lle im R a h m e n eines myok lon i sch -a s t a t i s chen Pe t i t -Mal [16 ,17] zu deuten . Demen tgegen stehX jedoch die fehlende KorrelaXion zwischen den ep i lep t i schen En t - l adungen ira E E G u n d den Myoklonien , wie es G a s t a u t u. Regis [10], sowie K r u s e [17] bei d iesem AnfallsXyp sahen.

Der Fa l l zeigt , dal] m a n n ich t nu r bei K inde rn , sondern auch bei P a t i e n t e n im ErwachsenenalXer mix einer Anfa l l sanamnese oder e inem vorgeseh/ id igten Gehi rn mix der Anwendung von P ipe raz in als W u r m - kur sehr zur f ickha l tend sein mull und besser andere WurmmiXtel ver- wendet .

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0berarzt Priv.-Doz. Dr. B. NeundSrfer Dr. D. K5mpf Nem'ologische Klinik im Klinikum Mannheim der Universit~t Heidelberg D-6800 Mannheim Theodor Kutzer-Ufer Bundesrepublik Deutschland