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8/19/2019 Orientfahrten http://slidepdf.com/reader/full/orientfahrten 1/6 122 Jürg Stenzl Orientfahrten Orient n der Auseinandersetzung des Abendlandes mit den Kulturen des wechselten ständig die Konstellationen zwischen beiden Kulturen 1 Desh sen sich die aus der Begegnung hervorgegangen Ergebnisse auch nicht b nebeneinanderstellen und vergleichen, ganz unabhängig davon, von welchen ideo logischen und geschichtsphilosophischen Prämissen ausgegangen wird. Spätestens seit den Karolingern betraf die orientalische Einwirkung auf das Abendland nicht mehr dessen Kern; sie wirkte nurmehr in »übersetzter« Fo trat als gefiltertes Kulturgut akzidentiell zum konstanten abendländischen Kern hinzu; das gilt für den reizvollen, verfremdenden Türkeneffekt und die Chinoi serien des 18. Jahrhundens ebenso wie für das Orientbild als imaginären F ort im 19. Jahrhundert, als Lotosblüten die blaue Blume, als Wüste schaften in Form sinfonischer Dichtungen den Hortus deliciarum ersetzten. Sol che subsidiäre Einwirkung orientalischer Kunst ist schließlich auch um 1 Frankreich festzustellen: Fernöstliches diente als Katalysator bei der Em pation vom Akademismus. Im 20. Jahrhundert allerdings gibt es spezifisch andere Formen von kultur Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident. Bei ihnen wird vorgeg daß durch die Aneignung von Fernöstlichem der Kern des europäischen K und Musikverständnisses getroffen werde. Hier werde entweder der Gege zwischen Orient und Okzident zugunsten einer beide vereinigenden »Weltmu sik« aufgehoben, oder aber das abendländische Kultur- und insbesondere Musik verständnis werde dermaßen bereichert und durch neue orientalische Elemente nun zentral bestimmt, daß es sich als traditionell Abendländisches auflöse in einem erweiterten Begriff von orientalischer Kultur aufgehe. Die Vorstellung einer »Weltmusik« ist nach 1900 auf verschiedene Weise ent

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Jürg StenzlOrientfahrten

Orient

n der Auseinandersetzung des Abendlandes mit den Kulturen deswechselten ständig die Konstellationen zwischen beiden Kulturen 1 • Deshsen sich die aus der Begegnung hervorgegangen Ergebnisse auch nicht bnebeneinanderstellen und vergleichen, ganz unabhängig davon, von welchen ideologischen und geschichtsphilosophischen Prämissen ausgegangen wird.Spätestens seit den Karolingern betraf die orientalische Einwirkung auf dasAbendland nicht mehr dessen Kern; sie wirkte nurmehr in »übersetzter« Fot rat als gefiltertes Kulturgut akzidentiell zum konstanten abendländischen Kernhinzu; das gilt für den reizvollen, verfremdenden Türkeneffekt und die Chinoiserien des 18. Jahrhundens ebenso wie für das Orientbild als imaginären Fort im 19. Jahrhundert, als Lotosblüten die blaue Blume, als Wüsteschaften in Form sinfonischer Dichtungen den Hortus deliciarum ersetzten. Sol

che subsidiäre Einwirkung orientalischer Kunst ist schließlich auch um 1Frankreich festzustellen: Fernöstliches diente als Katalysator bei der Empation vom Akademismus.Im 20. Jahrhundert allerdings gibt es spezifisch andere Formen von kulturAuseinandersetzung zwischen Orient und Okzident. Bei ihnen wird vorgegdaß durch die Aneignung von Fernöstlichem der Kern des europäischen Kund Musikverständnisses getroffen werde. Hier werde entweder der Gegezwischen Orient und Okzident zugunsten einer beide vereinigenden »Weltmu

sik« aufgehoben, oder aber das abendländische Kultur- und insbesondere Musikverständnis werde dermaßen bereichert und durch neue orientalische Elementenun zentral bestimmt, daß es sich als traditionell Abendländisches auflöse in einem erweiterten Begriff von orientalischer Kultur aufgehe.

Die Vorstellung einer »Weltmusik« ist nach 1900 auf verschiedene Weise ent

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Was Skrjabin verbirgt, wird in andern Werken direkt benannt,so etwa in JosipSlavenskisSymphoniedes Orients auch Asiosinfonie- Religiosinfonia genannt)für Soli, Chor und Orchester. Die romantische Idee der Sinfonie als Welt wir

hier in sieben Sätzen auf die verschiedenen Religionen und Erdteile projizieund in einem letzten SatzMusik wie eine Super-Religion) - Europa als Fugezusammengefaßt. Die Skrjabinsche Panreligiositäthat ihre benannte geographische Mitte: Europa, ihre musikalische Mitte: die Fuge.Halten wir fest: Im Begriff »Weltmusik«wird nicht nur die traditionelle Vorstellung einer »Symphonie als Welt« zu einer »Musik als Welt« und »Welt alMusik« hypostasiert, sondern zugleich hat solche Harmonia mundi ihre selbsverständliche Mitte im Abendland, von welchem aus alleine sieso gedacht werdenkann.Im Unterschied zur mystisch religiösenforderte Georg Capellen2 in seiner 1906erschienenen SchriftEin neuer exotischer Musikstileine »Weltmusik«, die durcheinen neuen exotischen Musikstil zu einer neuen Kunstära führenmüsse.Solche »Weltmusik« wie Capellen sie nannte) ist enzyklopädisch: Durch exotische Melodien, Skalen und davon abgeleitete Harmonien sollte die europäischeMusik durch Vermählung mit orientalischen Elementen zu einer werden, dieweder ganz europäisch noch ganz exotisch ist. Durchdiese Vermählung - so Ca-pellen - von Orient und kzident gelangen wir zu dem neuen exotischen M u-

sikstil, zur »Weltmusik«, die natürlich je n ch der nationalen und individuellenVeranlagung des Schaffenden in den verschiedenen Nuancen schillern wird.Die•Weltmusik« sei also gleichzeitig individuell und universal, ist aber in ersterLinie ein kohärenter Stil, der durch exotische Zusätze zum traditionell Abend:ändischen gleichzeitig individuellen und universellen Anspruch erhebt. Dies h; .e mit der mystisch religiösen »Weltmusik« Skrjabins gemeinsam.Tie die mystische »Weltmusik« ist auch die enzyklopädische durch den abend:indischen Kunst- und Künstlerbegriff zentral bestimmt. Beiden ist eineHypo-r::asierung eigen: Jener eine der Symphonie-Idee, dieser eines Musikstils. Alle~ n g ssoll Capellens exotischer Musikstil als authentischer beweisbar sein:Erz::egriert originale exotische Materialien, ohne dabei zu bedenken, daß diese

Materialien begriffen, gar noch in abendländischer Notation, bereits ausC.ließlich abendländisch verstanden, mithin gefiltert sind. Gleichzeitig steht be::.C.?ellen im Hintergrund und das verbindet ihn mit Ferruccio BusonisEnt- 1:-.„f einer neuen Ästhetik der Tonkunst die Überzeugung, daß die abendlänti::die Musik an einemPunkt angelangt sei, von dem aus sie nur noch durch eine~ e i h e r u n gmit exotischen Skalen ihre Fortschrittlichkeit oder Freiheit beide

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Olivier Messiaens Schaffen, das für viele europäische Orientfahrer zum Paradigma und Muster geworden ist, kann als Fusion der zwei Arten von Weltmusik

verstanden werden:Vom Frühwerk an Triptychon aus den Offrandes oubliees von 1930) ziSchaffen auf ein Totales: Durch das katholische Verständnis von Welt als göttlicher rdo bestimmt, entwirft es seine musikalischen Gehalte als kosmologisIn dieser Musikwelt fallen die Grenzen, und Messiaens reformierender Ezismus (Pierre Boulez) 3 bringt vom Vogelgesang bis zur Gregorianik, vonscher Rhythmik bis zum Cäcilianismus, vom Tastendonner Liszts bisOndes Martenot Disparatestes zusammen, ohne sich um Homogenität od

ditionelle Stimmigkeit sonderlich zu kümmern. Im Glauben des Kompverbindet letztlich der alles umfassende Ordo jedes mit jedem.Die Idee solcher Totalität ist bis in die musikalische Mikrostruktur nachzusen: Messiaens Totale zielt auf eine umfassende Zueinanderordnung der einzelnen musikalischen Gestaltelemente, die in interdependenten Analogien ihre traditionelle Getrenntheit preisgeben 4 • Melodie und Harmonik, Rhythmik, Mund Klangfarbe sind nicht als Parameter voneinander isolierbar, sondern in ihregegenseitigen Durchdringung bestimmt durch die ihnen übergeordneten Prinzipien des transzendierenden Ordo.Auf Enzyklopädisches weisen nicht nur Titel wie Canteyodjaya oder C

es oiseaux, sondern ebenso direkte übernahmen orientalischer Skalen und vallem Rhythmen. Aber auch hier werden diese aus ihren soziokulturellen Kontexten isoliert und, als musikalische Materialien im abendländischen Verständnisin ein durch und durch europäisches Kunst- und Musikdenken integriert. Orientalisches ist hier, wie in Capellens Schrift, eine »Bereicherung«.

Was bei Messiaen eklektisches Beieinander ist, wird bei Karlheinz Stocin Telemusik zu einer wie er sagt erträumten Musik, die nicht seine indivsei sondern eine Musik der ganzen Erde, aller Länder und Rassen 5 • Wiin Hymnen 6 wird hier die ganze Welt verkabelt: Gagaku, spanische und ungrische Musik, solche aus Bali, vom Amazonas, China und Vietnam, buddhistisd.c

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brochen ihr spezifischer Charakter der durch ihre Funktionalität alleine bestimmt ist wird ihnen ausgetrieben; aber im schöpferischen kt des komponierenden Führers Stock.hausen der über die Welt herrscht und sie autoritär verwalten will werden die entpersönlichten neutralisierten Materialien werdenGegenwart und Zukunft verbunden und als freie Begegnung ihres Geistes postuliert. In Telemusik hypostasiert Stockhausen den Begriff der »Welt ls Völkerfamilie« zu einer Ideologie welche auch bei ihm verbergen soll daß in

dieser »Familie« alleine der kapitalkräftige autoritäre Vater das Sagen hat unddarüber bestimmt wieweit die dritte und vierte Welt stets noch weiter ausgehungert werden darf. Daß solche »Weltmusik« gar noch in einem deutschenNationalpavillon auf einer fernöstlichen Weltausstellung präsentiert wird istvon kaum mehr überbietbarem Zynismus.

Hypostasiert sich Stock.hausen zum Weltenherrscher mittlerweile schon zumkosmischen Medium so hypostasieren andere den Orient zur großen Mutter diein der abendländischen Kultur zu sich selber gekommen sei: Da wird etwa dieIsorhythmie des 14. Jahrhunderts - eine Technik der musikalisch-formalen Artikulation von Strophenstrukturen - als in Abhängigkeit von orientalischer

Rhythmik stehend behauptet gar die Dodekaphonie mit Maqä.m und Riga iVerbindung gebracht und schließlich hört man aus Edgard Vareses ensity 21 5gar einen exotischen Melodie-»Stil« heraus. Umgekehrt wird der Orient zu jenerganz anderen Welt stilisiert durch deren Imitation der Orientfahrer mit dervorwiegend rationaliJtiJchen Entwicklung des bendlandes - wie Peter MichaeHamel7 reaktionäres Gedankengut aufwärmend meint - bricht. Die Orientfahrer wollen als versteckt Rückwärtsgewandte doch teilhaben am Traditionsriß wie er in der europäischen Kultur des 20. Jahrhunderts mittlerweile bereits zur eigenen Tradition geworden ist. Der Orient wurde zur Fluchtperspektive geschichtsmüder Kleinbürger: Unfähig in der konkreten gegenwärtigenWelt zu wirken auf sie einzuwirken handlungsgehemmt flieht der OrientfahrerU den melancholischen Raum mit orientalischer Beleuchtung und glimmendenRauchstäbchen 8 • Und er verdrängt die Tatsache daß er eine bloße Reproduktiondes weltflüchtigen verinnerlichenden Bürgers ist.

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Denken lauert: er Orient kennt keine »Musik«, die sich aus dem Kon

Isolierbares abtrennen ließe, er kennt damit keinen europäischen Musik-BegriffUnd auch jene Naturvölker, die Stockhausen in Telemusik miteinandemodulierte, die er in freier egegnung ihres Geistes zusammenzwang, wissekeinem solchen Musik-Begriff, da Musik für sie kein ästhetischer Gegenstandkann. Gerade ein Komponist, der als Erforscher orientalischer Kulturen unorientalischen Denkens diese Andersartigkeit kennt, Constantin Regamey,sich stets in aller Deutlichkeit von solchen Weltmusikern distanziert 9 • Dsicht in die wirkliche Eigenart dieser Völker, damit Einsicht in deren Ander

artigkeit als Wissen um die trennende Distanz, verbietet es die orienKultur als Fluchtperspektive zu mißbrauchen. Solche Einsichten hindern inner Weise, daß sich der abendländische Komponist mit fernöstlicher Kult

einandersetzt, versucht, sein Denken zu relativieren; aber sie verbietet dieristisch erobernde Perspektive jener Orientfahrer, die unfähig sind, die soziokulturelle Funktionalität fernöstlicher Musikkulturen zu sehen; diejenigen, diim Fernöstlichen doch nur sich selber suchen, heiraten mit geschlossenen Aund Ohren.

Nur ist diese Trennung von Kultur und Gesellschaft nicht nur für das Vnis der Orientfahrer zur fremden Kultur wesentlich, es bestimmt ihr Verzur Kultur generell: Die Flucht in das Fremde ist Flucht aus der eigenen Gschichtlichkeit. Die Orientfahrer perpetuieren, wie schon angedeutet, jenes vomKulturmarkt gewollte Musikverständnis, wonach Kultur und Musik alüber den Wassern der Arbeitswelt zu schweben habe. Nur manifestiert slich diese Realität doch wieder in der Notwendigkeit einer harmonisierendeRealitätsenthobenheit, welche in der Freizeit die Gleichgewichte wiederherstelle

soll.Von den Orientfahrern der E-Musik ist denn auch der Bogen unmittelbar zjenen Scharen von anderen Orientfahrern zu schlagen: Die Hippies glaubebenfalls im ganz anderen Orient die »große Weigerung« gegenüber der Technologie ihrer Eltern .zu finden und artikulieren zu können. Aber genauso wie dWunsch nach einer Re-Erotisierung und Re-Ritualisierung der Welt

intensivere und direktere Artikulation jener Lebensziele war, die bei ihren tern den »plastic people«) in formalisierter Form zum mechanischen Usus ve

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zwischen Orient und Okzident. Eine Kulturgeschichte der Wechselbeziehungen, Wilhelmshaven 1977.

2 Biographisches siehe den Art. Capellen im Riemann 12 1959; vgl. die kritischen Bemerkungenin Arnold Schönbergs Harmonielehere, Wien 7 (1966], S. 473 f.

3 P. Boulez, AnhaltsP,unkte. Essays. Aus dem Französischen übertragen von ]. Häusler, Stuttgart 1975, S. 157; der betreffende Text wurde 1974 verfaßt.

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Dazu grundlegend: Kl. Schweizer, Olivier Messiaens Klavieretüde »Mode de valeurs etd intensites«, in: Archiv für Musikwissenschaft XXX (1973), S. 128 146. Neuerdings vondems., Dokumentarische Materialien bei Olivier Messiaen, in: Melos/NZ IV (1978), S. 477485.

5 Alle Stockhausen-Zitate in: K. Stockhausen, Texte zur Musik 1963-1970 Köln 1971, S. 75 ff.6 Vgl. L Pestalozza, Stockhausen und der musikalische Autoritarismus, in: Schweizer Musik

zeitung CXVI (1976), S. 266 273; italienisch in: Quaderni della Rassegna musicale V(1972), S. 33 43. Weiter die Aufsätze von R. Brinkmann: Von einer Veränderung des Redens über Musik, in: Die Musik der sechziger Jahre, Zwölf Versuche, hg. v. R. Stephan,Mainz 1972, S. 77 89 und Stockhausens »Ordnung«. Versuch ein Modell einer terminologischen Untersuchung zu beschreiben, in: Zur Terminologie der Musik des 20. Jahrhunderts,

hg. v. H. H. Eggebrecht, Stuttgart 1974, S. 205 220.7 P. M. Harnei, Durch Musik zum Selbst, Bern 1977.8

Zum »melancholischen Raum« vgl. W. Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt/M.1972. Siehe dazu auch J. Stenz , Tradition und Traditionsbruch, in: Die neue Musik und dieTradition, hrsg. von R. Brinkmann, Mainz 1978, S. 80 101.

9 C. Regamey, Le angage musical est-il devenu universel?, in: Revue musicale de Suisse romande XIX (1966), Nr. 4 S. 3 6 und XX (1967), Nr. 2 S. 3 5 .

:o Dazu J. Hermand, Pop International. Eine kritische Analyse, Frankfurt/M. 1971 (Schriftenzur Literatur, XVI), S. 65 94: Die Subkultur der Hippies.