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(Aus der Neurologisch-psychiatrischen Universit~tsklinik in Wien [Vorstand: Prof. Dr. O. P6tzl].) Pallidiires Syndrom mit Hyperkinesen und Zwangs- denken als Folgezustand nach Nitrobenzolvergiftung. Von Dr. Alexandra Adler. Mit 2 Textabbildungen. (Eingegangen am 13. Februar 1934.) Cr. R., ein 26j~hriger Franzose, wurde am 25.11.33 mit der Diagnose ,,Melan- cholie" auf die psychiatrische Klinik gebracht. Wir erfuhren die Vorgeschichte zun~chst haupts~chlich nur aus Angaben des Bruders, da er selbst, wortkarg und apathisch, nur wenig Auskunft gab. Der Patient ist Chemiker und besch~ftigte sich mit der tterstellung yon Seifen, die er, wie es gebr~uchlich ist, mit ein paar Tropfen MirbanS1 (das ist Nitrobenzol, C6HsN02) parfiimierte, um ihnen so einen Bittermandelgeruch zu geben. Er war bis Juni 1933 vollkommen gesund gewesen. Am 16. Juni 1933 war er einmal betrunken nach Hause gekommen. Seine Mutter, an der er sehr hing, machte ihm darauf heftige Vorwfirfe und trank plStzlich aus einem GefM3 mit MirbanS1 einige Schlucke. In seiner Erregung dariiber leerte Cr. den ganzen Rest, angeblich ungef~hr 60 g und stfirzte sofort bewuBtlos zusammen. Beide wurden ins Wilhelminenspital gebracht, wo die Mutter nach 2 Tagen starb. Unser Patient blieb bis zum 22.9.33 im Wilhelminenspital. Wie wit yon den dortigen J(rzten erfuhren, zeigte auch er zun~chst die typischen Zeichen der Nitrobenzol- vergiftung. Die Haut war blhulich verfarbt, ein Symptom, das bekanntlich dutch Meth~moglobinbildungim Blute bedingt ist, da ja Nitrobenzol, ebenso wie mehrere andere Benzolderivate, z. B. Anilin, ein starkes Blutgift ist. Er war 4 Tage lang bewuBtlos. ])arauf war er zun~chst am ganzen K6rper steif, konnte zwei Monate lang nicht frei gehen. Diese Starre ging allm~hlich zuriick, und es entwickelte sich ein Tremor bei Ruhehaltung, der mehrere Monate anhielt. Ferner traten bei dem friiher ~uBerst lebhaften Patienten mimische Starre und Bewegungsarmut auf, die sich seither nur wenig gebessert haben. Noch bei seiner Aufnahme auf die psy- chiatrische Kllnik war er ~ul3erst apathisch, allen seinen bisherigen Interessen gegeniiber vollst~ndig gleichgiiltig; tagsfiber besch~ftigte er sich meistens mit dem Schachspiel. Die Libido war geschwunden. Es bestand nur eine ihm willkommene psychische )~nderung insofern, als er, der frfiher gelegentlich ein begeisterter Trinker war, seither auch keinerlei Verlangen mehr nach Alkohol zeigt und keinen Tropfen mehr getrunken hat. Einen Monat nach seiner Vergiftung nun bemerkte er eine SchreibstOrung, die sich seither nut wenig gebessert hat: die Buchstaben wurden immer kleiner und kleiner, wenn er sehrieb, und flossen schliel3lich zu ]~4.~'~_,~ ~ /~_9 einem Strich zusammen. Schriftprobe aus der Zeit vor Abb. 1. seiner Erkrankung (Abb. 1): Sehriftprobe aus der Zeit naeh der Vergiftung (8.1.34): 11 Uhr: ~ . . ~...~,~,.,0~ .~,.~., ~.,,, 14 Uhr: Abb. 2. ,,Allgemeines Krankenhaus in Wien IX, Alserstral3e 4."

Pallidäres Syndrom mit Hyperkinesen und Zwangsdenken als Folgezustand nach Nitrobenzolvergiftung

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Page 1: Pallidäres Syndrom mit Hyperkinesen und Zwangsdenken als Folgezustand nach Nitrobenzolvergiftung

(Aus der Neurologisch-psychiatrischen Universit~tsklinik in Wien [Vorstand: Prof. Dr. O. P6tzl].)

Pallidiires Syndrom mit Hyperkinesen und Zwangs- denken als Folgezustand nach Nitrobenzolvergiftung.

Von

Dr. Alexandra Adler.

Mit 2 Textabbildungen.

(Eingegangen am 13. Februar 1934.)

Cr. R., ein 26j~hriger Franzose, wurde am 25.11.33 mit der Diagnose ,,Melan- cholie" auf die psychiatrische Klinik gebracht. Wir erfuhren die Vorgeschichte zun~chst haupts~chlich nur aus Angaben des Bruders, da er selbst, wortkarg und apathisch, nur wenig Auskunft gab. Der Patient ist Chemiker und besch~ftigte sich mit der tterstellung yon Seifen, die er, wie es gebr~uchlich ist, mit ein paar Tropfen MirbanS1 (das ist Nitrobenzol, C6HsN02) parfiimierte, um ihnen so einen Bittermandelgeruch zu geben. Er war bis Juni 1933 vollkommen gesund gewesen. Am 16. Juni 1933 war er einmal betrunken nach Hause gekommen. Seine Mutter, an der er sehr hing, machte ihm darauf heftige Vorwfirfe und trank plStzlich aus einem GefM3 mit MirbanS1 einige Schlucke. In seiner Erregung dariiber leerte Cr. den ganzen Rest, angeblich ungef~hr 60 g und stfirzte sofort bewuBtlos zusammen. Beide wurden ins Wilhelminenspital gebracht, wo die Mutter nach 2 Tagen starb. Unser Patient blieb bis zum 22.9.33 im Wilhelminenspital. Wie wit yon den dortigen J(rzten erfuhren, zeigte auch er zun~chst die typischen Zeichen der Nitrobenzol- vergiftung. Die Haut war blhulich verfarbt, ein Symptom, das bekanntlich dutch Meth~moglobinbildung im Blute bedingt ist, da ja Nitrobenzol, ebenso wie mehrere andere Benzolderivate, z. B. Anilin, ein starkes Blutgift ist. Er war 4 Tage lang bewuBtlos. ])arauf war er zun~chst am ganzen K6rper steif, konnte zwei Monate lang nicht frei gehen. Diese Starre ging allm~hlich zuriick, und es entwickelte sich ein Tremor bei Ruhehaltung, der mehrere Monate anhielt. Ferner traten bei dem friiher ~uBerst lebhaften Patienten mimische Starre und Bewegungsarmut auf, die sich seither nur wenig gebessert haben. Noch bei seiner Aufnahme auf die psy- chiatrische Kllnik war er ~ul3erst apathisch, allen seinen bisherigen Interessen gegeniiber vollst~ndig gleichgiiltig; tagsfiber besch~ftigte er sich meistens mit dem Schachspiel. Die Libido war geschwunden. Es bestand nur eine ihm willkommene psychische )~nderung insofern, als er, der frfiher gelegentlich ein begeisterter Trinker war, seither auch keinerlei Verlangen mehr nach Alkohol zeigt und keinen Tropfen mehr getrunken hat. Einen Monat nach seiner Vergiftung nun bemerkte er eine SchreibstOrung, die sich seither nut wenig gebessert hat: die Buchstaben wurden immer kleiner und kleiner, wenn er sehrieb, und flossen schliel3lich zu ] ~ 4 . ~ ' ~ _ , ~ ~ /~_9 einem Strich zusammen.

Schriftprobe aus der Zeit vor Abb. 1. seiner Erkrankung (Abb. 1):

Sehriftprobe aus der Zeit naeh der Vergiftung (8.1.34):

11 Uhr: ~ . . ~ . . . ~ , ~ , . , 0 ~ . ~ , . ~ . , ~. , , ,

14 Uhr:

Abb. 2. ,,Allgemeines Krankenhaus in Wien IX, Alserstral3e 4."

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842 Alexandra Adler: Pallid/~res Syndrom mit Hyperkinesen

Die Schriftproben stammen yon ein und demselben Tage. Die Schwere der Stfrung sehwankt im Laufe des Tages. Die Buehstaben werden gegen Ende des Wortcs deutlieh kleiner, was Patient trotz Bemiihung nicht i~ndern kann.

Wir haben bier also das typische Bfld einer Mikrographie vor uns, wie sie bekanntlieh ausfiihrlich zuerst yon Pick bei luisehen Gehirn- erkrankungen beschrieben und benannt wurde, dann bei Paralysis agitans und anderen Erkrankungen mit akinetiseh-rigidem Symptomenkomplex vorgefunden wurde. Bei Posteneephahtikern, denen der Patient ja weitgehend ~hnelt, wurde diese StSrung zuerst yon Gerstmann und Schilder beschrieben. P6tzl und Herrmann haben die Mikrographie in Beziehung zu den sehweren encephalitischen Sch~digungen des Pallidum- Nigrasystems gebracht und damit, in l~bereinstimmung mit den Aus- ftihrungen Gerstmanns und Schilders die Akinese als eine der Grund- stSrungen der Mikrographie angenommen. Auch Foerster bezeichnet die Mikrographie als die Schrift der Pallidumkranken und bringt unter anderem auch die tonische ~qachdauer der einzelnen Innervationen, bekanntlich ein wichtiges Symptom pallid/~rer Sch/~digung, in Zusammen- hang mit dieser SchreibstSrung.

Daneben aber traten nach einem mehrw6chigen Intervall, wie es uns auch nach Encephalitiserkrankung und auch nach Kohlenoxydgas- vergiftung bekannt ist, Unruhcbewegungen und Zwangszust~nde auf: Sie bestanden in Wischbewegungen am Mund, Kratzen am Kopf, ferner in kontinuierlich rhythmischen Beuge- und Streckbewegungen des linken Knie- und Hiiftgelenkes, die auftraten, sowie Patient ruhig stand. Er konnte diese sowie die anderen Bewegungen bei Willensanspannung nur auf mehrere Sekunden unterdriicken. Zu einem noch sp/s Zeit- punkt, nach ungef/s 3 Monaten, kam es aber zu Unruhebewegungen, die komplizierteren Charakter trugen: so war es ibm, nachdem er ein- real absichtlich aus dem Fenster gespuckt hatte, zur qu/~lenden Gewohn- heir geworden, immer wieder, unz/ihlige Male am Tage, aus dem Fenster zu spucken; auBerdem muBte er, nachdem er sich einmal w/~hrend eines Gebetes bekreuzigt hatte, mehrere Wochen hindurch mehrmals am Tag h/iufig hintereinander sich bekreuzigen. Alle diese Zusti~nde schwanden allm/~hlieh noch im Laufe des Dezembers, nut die rhythmischen Beuge- und Streckbewegungen im linken Knie- und Hiiftgelenke blieben bis zum heutigen Tage (Februar 1934) unver/~ndert bestehen, wodureh es beim Stehen sehr bald zur Ermfidung kommt. Besonders qu/~lend aber war fiir ihn ein Zustand, der sp/iter als die anderen StSrungen auftrat und dann am 1/ingsten anhielt: im September, bei seiner Entlassung aus dem Wilhelminenspital, erfuhr er yon dem Tode seiner Mutter; ungef/~hr einen Monat sp/~ter fiberfielen ihn plStzlich Zwangsgedanken; er mul3te seither in Gedanken immerfort die Worte : , ,maman" und ,,que je meurs" wiederholen. Durch diese Zwangsgedanken war er im freien Denken schwer behindert. Im Januar 1934 kam zu diesen Zwangs-

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und Zwangsdenken als Folgezustand nach Nitrobenzolvergiftung. 348

gedanken noch ,,oubliez tout eela !" hinzu. Bald darauf wurden diese Gedanken, die ihn bis dahin ununterbroehen gequilt hatten, seltener, und in der Reihenfolge, in der sie gekommen waren, sehwanden zun/iehst die Worte ,,maman" und ,,que je meurs", dann auch ,,oubliez tout cela" im Laufe yon 8 Tagen vollkommen. Alle diese Zwangszusts hatte der Patient als durchaus persSnliehkeitsfremd empfunden und hatte bis dahin einen vergebliehen Kampf dagegen gefiihrt.

Wenn wir nun die Symptome zusammenstellen, so zeigte der somati- sche Befund Rigor, Tremor, mimisehe Starre, Bewegungsarmut und Mikrographie, Symptome also, die das klinische Bild des hypokinetiseh- rigiden Pallidumsyndroms hervorbringen, wie es bekanntlieh yon Foerster, Hunt, Kleist, Vogt, Wilson u. a. beschrieben wurde und erfahrungsgemil3 durch beiderseitige Palliduml~sion bzw. Sch/idigung der Substantia nigra zustande kommt. Daneben aber bestehen unwillkiirliche Unruhe- bewegungen: Wischen, Kratzen, Beuge- und Streckbewegungen, Spueken, Bekreuzigen, also Hyperkinesen, die iterativen Charakter tragen, wie dies ebenfalls hi~ufig bei Postencephalitikern beobaehtet wurde, so an unserer Klinik zuerst yon Gerstmann und Schilder. Diese sowie andere Hyperkinesen werden bekanntlieh yon den meisten Autoren als Ausdruek einer Enthemmung bei Striatumseh~digung angesproehen, wobei aber festzustellen ist, dal~ eindeutige anatomische Befunde bei derartigen F/~llen mit hSherkoordinierter Iterativbewegung derzeit noch nieht vor- liegen. Jedenfalls steht aber diese StSrung in Zusammenhang mit der Palilalie, bei der nach Pick neben anderen Seh/~digungen Herde im Stria- turn ein regelm/~13iger Befund waren. Kleist nimmt als anatomisches Substrat der hSherkoordinierten Hyperkinesen und Iterationen vor allem eine Caudatumsch/idigung an, einzelne seiner F/ille zeigten zum Teil grSbere Ver/inderungen, zum Teil feinere, histologiseh sehwerer fal~bare Zellschidigung. Bekanntlich sind es derartige F~lle mit leichtesten Ver- /~nderungen, yon denen aus Kleist die Briicke zu den St6rungen auf dem Gebiete der Psyehomotorik Geisteskranker legt.

Das Zwangsdenken nun stellt hier ein gewisses psychisehes Analogon zu den iterierenden ttyperkinesen dar, eine Auffassung, die sehon Oppen- helm in Hinblick auf gewisse Zwangsvorstellungen bei Paralysis agitans geiul3ert hat. Auch bei Postencephalitikern wurde Zwangsdenken bekanntlieh mehrfaeh beobachtet, so zuers~ von Mayer-Gross und Steiner, Herrmann, Leyser u.a. Es ist nun selbstverst/~ndlieh iiberhaupt nieht denkbar, derzeit eine genauere pathophysiologische Erklirung des orga- niseh bedingten Zwangsdenkens zu versuchen, insbesondere da auch hier mikroskopisehe Untersuehungen noeh fehlen. Wir kSnnen nur so viel sagen, dal3 organisch bedingtes Zwangsdenken relativ h/~ufig im Rah- men einer sieheren Stammganglienerkrankung auftritt, niemals aber konnte eine ursi~ehliehe Mitwirkung anderer zus/~tzlieher Momente, z. B. eine zugleieh bestehende Rindenseh/~digung aueh nur mit einiger Sieherheit

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ausgeschlossen werden. Zu betonen w~re bier auch die psychologische Determinierung des Inhaltes der vorherrschenden Zwangsgedanken. So wie auffi~lligerweise bei den Zwangsgedanken der Postencephalitiker sehr oft der Gedanke ,,ich werde wahnsinnig", ,,ich bin ein Narr" und /~hnliche wiederkehren, Gedanken, die in ttinblick auf die Eigenarten der Erkrankung leicht verst~ndlich scheinen, so ist hier das seelische Trauma, der Ted der Mutter, der Ausgangspunkt der Zwangsgedanken, die sich in die Worte ,,Mutter" und ,,ieh mSchte sterben" kleiden. Diese Worte waren wohl aueh der letzte Gedanke vor seinem Vergfftungsver- such, eine Tatsache, die in gewisser Beziehung zu den Sprachresten der Aphasiker steht. Kleist bezeichnet ~hnliche Iterationen, deren AuslSsungs- modus verst/~ndlich erseheint, als ,,reaktive" Iterationen und steUt sie den ,,spontanen" gegenfiber.

Wir haben nun auf Grund all dieser Erw/igungen neben anderen ver- mutlichen Seh~digungen als Grundlage der hier gesehilderten Symptome eine doppelseitige, hShergradige Pallidumsch~digung angenommen, ver- bunden mit einer geringeren, vielleicht bistologisch schwer erfaBbaren Striatumerkrankung, somit ein Bild, wie wires bekanntlich h/~ufig bei der Kohlenoxydgasvergiftung vorfinden, die ja ebenfalls oft neben a~deren mehr diffusen die schwerste Sch/~digung im Pallidum hervorruft. Mit dieser Auffassung stimmt unter anderem auch fiberein, dab das Kohlenoxyd ebenso wie das Nitrobenzol ein sehweres Blutgift ist und daher, wie es h/~ufig und verschiedentlich begrfindet wurde (Meyer, Hiller) in erster Linie das Pallidum sch/~digt. Unsere Auffassung hat nun bald darauf eine wichtige Best/~tigung erfahren: als wir uns wegen der Vorgeschiehte ans Wilhelminenspital wandten, erfuhren wir dureh die Kollegen Kogerer und Wagner, dab im Gehirn der Mutter des Patien- ten, die, wie erw/~hnt, an der Nitrobenzolvergiftung gestorben war, symmetrische Erweichungsherde im Pallidum vorgefunden wurden, daneben auch miliare Blutpunkte an anderen Stellen des Gehirns, vet allem auch in der Rinde des Schl/s im Striatum und in der inneren Kapsel, ein Befund, der yon den genannten Kollegen demon- striert wurde 1

In der Literatur wird fiber viele Todesf/~lle nach Nitrobenzolver- giftung berichtet. Die letale Dosis ist auBerordentlich individuellen Sehwankungen unterworfen, betrug zwischen wenigen Tropfen und ,,mehr als 35g" (Koelsch, L~wy). Niemals aber wurde eine genauere mikro- skopische Untersuchung des Gehirnes vorgenommen, obwohl das Nitro- benzol nicht nur als Blut-, sondern auch als Nervengift bekannt ist: es wurden n/~mlich im AnschluB an die akute Vergiftung gclegentlich Kr/~mpfe, Tremor, Faeialisparese und Opticussch/~digung beobachtet. l~ber Sp/~tfolgen aber wird auffallenderweise nur in einem einzigen Falle

1 S. Sitzungsbericht des Vereins f. Psych. und Neurol. vom 9. I. 1934 in Wien. Klin. Wsehr., 1934.

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berichtet, w/~hrend die allgemeine Auffassung dahin geht, dab nach dem Abklingen der aku ten In toxikat ion keine Erscheinungen zurfickbleiben. 1914 aber wurde von Grafe und Homburger fiber eine Nitrobenzolvergif- tung mit Ausgang in geistige Schw/~che mit Korsakowschem Syndrom berichtet, Gin Fall, der in seinem psychischen Verhalten viel Xhnlichkeit mit Zust/~nden nach Kohlenoxydgasvergif tung zeigt. Eine kleine Ahn- lichkeit mit unserer Beobachtung zeigt ferner ein yon Wolpe beschriebener Fall : ein zw61fj~hriges M~dchen, deren Wirbels~ule und Extremit/~ten naeh der Vergiftung steif gestreckt waren und sich nicht beugen liei~en. I m H a m land sich einen Tag lang Zucker (0,1% ), ein Befund, der bekannt- lich auch nach Kohlenoxydgasvergif tung relativ h~ufig ist. Das Kind soll noch Gin J a h r nach der Vergiftung ,,sehr elend gewesen sein und oft gekr~nkelt haben" . Auch in dieser nur klinischen Beobachtung wird die M6glichkeit einer Stammgangl ienerkrankung nicht in Erw~tgung gezogen. Es scheint uns aber durchaus denkbar, dab bei der Begutach tung der relativ h~ufigen gewerblichen Vergiftungen mit Benzolderivaten gelegent- lich die hier geschiiderten Symptome fibersehen oder aber e twa im Sinne einer Zwangs- oder Begehrungsneurose miBdeutet werden, wie das ja bei einmaliger Untersuchung gerade bei unserem Falle 1eicht m6glich gewesen w~re. Auch aus diesem Grunde m6chten wir auf das bier gescbilderte Bild eines pallidi~ren Syndroms mit i terat iven Hyperkinesen und Zwangs- denken als Folgezustand nach Nitrobenzolvergif tung besonders binweisen. Therapeutisch erwies sich der Verlauf der E rk rankung unseres Pat ienten als unbeeinfluBbar, insbesondere auch durch Scopolamin und Atropin.

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