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Jean-Claude Wolf Pantheismus nach der Aufklärung Religion zwischen Häresie und Poesie VERLAG KARL ALBER B A

Pantheismus nach der Aufklärung€¦ · Hartmann einen Pantheismus als neue und universelle Kunstreligion ausformuliert; doch hinter der scheinbar sachlichen Formulierung ver-bergen

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»Alles, was ist, ist in Gott, und nichts kann ohneGott sein noch begriffen werden.«

Spinoza

»Wir sind naturforschend Pantheisten, dichtendPolytheisten, sittlich Monotheisten.«

J. W. von Goethe

Jean-Claude Wolf

Pantheismusnach derAufklärungReligion zwischenHäresie und Poesie

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Jean-Claude Wolf

Pantheismus nach der Aufklärung

VERLAG KARL ALBER A

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Ist Pantheismus eine verwerfliche Häresie, die zu Atheismus undMaterialismus führt? Oder die universelle Religion der Zukunft?Beide Fragen lassen sich deshalb nicht bündig beantworten, weil es»den« Pantheismus nicht gibt. Es gibt zahlreiche Spielarten des Pan-theismus. Eine Spurensuche findet sie in den Religionen nach der Auf-klärung, insbesondere bei einer Reihe von europäischen und außer-europäischen Philosophen (Tagore), die den Übergang von KantsKritizismus zu einer neuen Vision auf das Eine und Ganze wagen. Eindynamischer Neospinozismus (Lessing, Herder) inspiriert mehr alseine Generation von Denkern und Dichtern. Um kontroverstheologi-sche Abgrenzungen und weltanschauliche, insbesondere naturalisti-sche Vereinnahmungen zu verhindern, wird ein weiter und offenerBegriff von »Pantheismen« untersucht (Herder, Schleiermacher). AmBeispiel von Hegels Ausführungen zum unglücklichen Bewusstseinwird eine spekulative Variante von Pantheismus dargestellt. DerÜbergang vom Pantheismus zum Atheismus (Feuerbach, Bruno Bauer)ist möglich, aber nicht zwingend. Einige Pantheisten verknüpfen dieautonome (oder »reine« Ethik) mit heteronomen Elementen derAbhängigkeit der Menschen vom Einen und Ganzen. Für eine monis-tische Deutung der Ethik (Schopenhauer) wird die Verschiedenheitunter den Individuen unwichtig. Auch das Interesse von Hegel undSchopenhauer für den Mesmerismus bezeugt eine Annäherung der»Aufklärung über die Aufklärung« an Elemente einer liberalen Welt-frömmigkeit. Der Mesmerismus wird von Emerson erweitert zumGleichnis des Einen und Allen.

Der Autor:

Jean-Claude Wolf ist Ordinarius für Ethik und politische Philosophiein Fribourg in der Schweiz. Bereits bei Alber erschienen: Verhütungoder Vergeltung? Einführung in ethische Straftheorien (1992); JohnStuart Mills »Utilitarismus«. Ein kritischer Kommentar (2. Auflage2012); gemeinsam mit Peter Schaber: Analytische Moralphilosophie(1998).

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Jean-Claude Wolf

Pantheismusnach derAufklärung

Religion zwischenHäresie und Poesie

Verlag Karl Alber Freiburg/München

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Originalausgabe

© VERLAG KARL ALBERin der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2013Alle Rechte vorbehaltenwww.verlag-alber.de

Umschlagmotiv: Samuel Buri, Aus Kosmos: Galaxie 1989© VG Bild-Kunst, Bonn 2012Photographie des Umschlagmotivs: Christian BaurSatz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier

ISBN (Buch) 978-3-495-48584-2ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86063-2

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Vorwort

Meine ersten Entwürfe zum Thema Pantheismus verdanken sich vie-len Einflüssen, die – halb bewusst, halb unbewusst – in meine Problem-skizze eingeflossen sind. Erste Anregungen gehen auf Walter RobertCorti und Guido Schmidlin in Winterthur zurück. Ihrem Andenkensind die folgenden Kapitel gewidmet.

Der vorliegende Text wurde in den Jahren 2011 und 2012 verfasst.Verschiedene Personen haben sich zu ersten Entwürfen geäußert: Mar-tin Bondeli, Andreas Graeser, Anita Gröli, Barbara Hallensleben,Florian Häubi, Hans Peter Lichtenberger, Thomas Regehly, MarietteSchaeren, Adrian Schenker, Thomas Schindler und Helmut Zander.Catherine Buchmüller-Codoni hat überdies das ganze Manuskriptsorgfältig lektoriert. Wohlwollendes Entgegenkommen, verbundenmit wertvollen redaktionellen Hinweisen habe ich von Lukas Trabertvom Alber Verlag erfahren. Zahlreiche Kommentare von Genanntenund Ungenannten haben mich zu Änderungen und Zusätzen angeregt;allen Ansprüchen konnte ich nicht genügen. Für eventuelle Irrtümerund Fehler der Darstellung bin ich selber verantwortlich. Bei den hiererwähnten und bei allen Personen, die an meinen Vorlesungen undSeminaren teilgenommen haben, möchte ich mich bedanken.

Ich vermeide im Text die Rede von »dem« Pantheismus und lasseden bestimmten Artikel meist weg. »Der« Pantheismus als homogeneDoktrin wird entsprechend immer in Anführungszeichen gesetzt, umzu signalisieren, dass es sich dabei meist um einen Kampfbegriff han-delt, nicht um eine neutrale Bezeichnung. Auf die Formulierung »Pan-theistinnen« wurde aus stilistischen Gründen verzichtet, aber ich habenicht die Absicht, Frauen auszuschließen.

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Zitate

»Wohin ich mich auch wende,Da ist kein Ort, wo du nicht bist,Du wohnst in allen Wesen,und strahlst doch über alle hinaus.«(Hinduistisches Gebet)

»Alles, was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein noch be-griffen werden.« (Spinoza, Ethica I, prop. XV)

»Für mich ist die Gewissheit eines ethischen Weltwillens absolut undsicher darin gegeben, dass er sich in mir gestaltet und erlebt. Ich sehemeine Philosophie als ethisch gewordenen Pantheismus, als die not-wendige Synthese von Theismus und Pantheismus.« (Albert Schweit-zer, aus einem Brief vom 30. Januar 1927 an Oskar Kraus)

»Jene heilige Einheit nun, worin Gott ungetrennt mit der Natur ist,und die im Leben zwar als Schicksal erprobt wird, in unmittelbarer,übersinnlicher Anschauung zu erkennen, ist die Weihe zur höchstenSeligkeit, die allein in der Betrachtung des Allervollkommensten ge-funden wird.« (Schelling, Bruno oder über das göttliche und natürli-che Prinzip der Dinge, 101)

»Wir sind naturforschend Pantheisten, dichtend Polytheisten, sittlichMonotheisten.« (J. W. von Goethe, Maximen und Reflexionen, 807)

»[…] nur im Pantheismus ist Gott ganz, überall in jedem Einzelnen.«(Novalis, Blüthenstaub)

»Und man erkenne, dass in der Demuth und Niedrigkeit die grössesteKraft und Tugend samt den Wundern liegen; und wie Gott allen Din-gen so nahe sey, und Ihn doch kein Ding begreiffet, es stehe Ihm dannstill, und ergebe den eigenen Willen, so wircket Er durch alles, gleich-wie die Sonne durch die gantze Welt.« (Jacob Böhme, MysteriumMagnum, XVII, 43)

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Erster TeilPantheismus – eine sanft vereinnahmende Visionvon Gottes Allgegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

1.1 Pantheismus, Einsfühlung, Teil und Ganzes . . . . . . . 15

1.2 Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

1.3 Endlich, unendlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

1.4 Allgegenwart und Allmacht . . . . . . . . . . . . . . . 26

1.5 Pantheismus als Vision und praktische Orientierung . . . 30

1.6 Alter Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

1.7 Konkreter Monismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

1.8 Theodizee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

1.9 Erkennbarkeit Gottes im Bild der guten Eltern . . . . . . 48

1.10 Toleranz und Trost . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

Literatur zur Einleitung und zum ersten Teil . . . . . . . . . . 74

Zweiter TeilHegels Diagnose des unglücklichen Bewusstseinsals unbewusster Pantheismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

2.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

2.2 Das unglückliche Bewusstsein als unbewussterPantheismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

2.3 Weitere Stellen bei Hegel und neuere Kommentare . . . 97

2.4 Pantheismus und Selbsterlösung . . . . . . . . . . . . . 102

2.5 Das Umschlagen des unglücklichen Bewusstseins inAtheismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

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2.6 Der Kommentar von Jean Wahl . . . . . . . . . . . . . . 111

Literatur zum zweiten Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

Dritter TeilAusblicke auf eine heteronome Alltagsmoral . . . . . . . . . . . 117

3.1 Autonome Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

3.2 Heteronome Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

3.3 Die Rechtsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

3.4 Schopenhauers Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

3.5 Heteronome Alltagsmoral . . . . . . . . . . . . . . . . 151

3.6 Heteronomie und Hedonismus der Alltagsmoral . . . . . 158

3.7 Pantheismus und Heteronomie . . . . . . . . . . . . . . 163

Literatur zum dritten Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166

Vierter TeilHegel und der animalische Magnetismus . . . . . . . . . . . . . 171

Literatur zum vierten Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

Nachgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

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Inhalt

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Einleitung

Pantheismus ist – im Unterschied zu Mystik – gegenwärtig kein aka-demisches Modethema. Am Ende des 19. Jahrhunderts hat Eduard vonHartmann einen Pantheismus als neue und universelle Kunstreligionausformuliert; doch hinter der scheinbar sachlichen Formulierung ver-bergen sich der Eifer des Kulturkampfes und die Vorgeschichte einerhitzigen Verfolgungskampagne, mit der die Orthodoxie nach HegelsTod und seit dem Vormärz in Deutschland und in der Schweiz1 gegendie »Drachensaat des Hegelschen Pantheismus« mobilisierte. Die Zei-ten, in denen Enzyklopädisten wie Saint-Simon, Comte und von Hart-mann fast zu postchristlichen Religionsstiftern wurden, sind vorbei.Gleichwohl sind pantheistische »Visionen« in vielen Religionen anzu-treffen. Moden können sich übrigens schnell ändern. Varianten oderMomente von (nicht-affektiver) Mystik und Pantheismus finden sichzuweilen bei ihren heftigsten Kritikern wie z. B. Karl Barth und EmilBrunner. Vielleicht wird es bald »in« sein, pantheistische Visionen wis-senschaftlich und philosophisch zu erforschen. Pantheisten haben sichauf dem Internet bereits global vernetzt und organisiert. Es scheint, alsseien pantheistische Elemente im Zeitgeist und in der zeitgenössischenKunst anzutreffen. Diese Indizien regen zu einer Spurensuche an, diemit einer Vielfalt von Ausprägungen, Praktiken und Formulierungenrechnet.

Anregungsquelle eines Pantheismus ist mystische Erfahrung.

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1 Der sog. »Zeller-Handel«, ein Streit um die Berufung von Eduard Zeller von 1847 andie Universität Bern, treibt seltsame Blüten wie z.B. die Streitschrift von Romang 1848.Die 277 Seiten lange Schrift wiederholt genüsslich das Votum des LandammannsBlösch: »das Leugnen Gottes ist seinem innersten Wesen nach anarchisch; das Leugnender Unsterblichkeit nothwendig communistisch« (168, 172), auch wenn der Autormeint, ein »Kommunismus der Entsagung« sei mit dem christlichen Glauben vereinbar,aber nicht ein Kommunismus der Überheblichkeit und Begierde. (Vgl. 175) Ordnungs-politische Zuordnung dieser Art werden heute kaum mehr vorgenommen.

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Neuere Philosophen von Schopenhauer bis Bergson, die sich mit derMystik beschäftigten, haben betont, dass der Philosoph (oder die Phi-losophin) selber nicht Mystiker ist. Ein Mystiker gibt sich Gott hin undversucht, den Weg der Hingabe (oder der Verneinung des Egoismus) biszum Ende zu gehen. Der Philosoph achtet auf die Reden der Mystiker.Er geht ein bisschen über die bloße Gelehrsamkeit im Umgang mit Tex-ten hinaus, aber er geht, jedenfalls in seiner Rolle und Aufgabe als Phi-losoph, nicht so weit wie der praktizierende Mystiker. Er ist jemand, der,wie es Ralph Waldo Emerson ausdrückt, (Mystiker und Dichter) zitiertund in Zitaten denkt. Zitieren schließt Originalität nicht aus. SogarGenies wie Shakespeare und Proust sind Virtuosen des Zitats.

Der Philosoph lebt so, als ob er sich auf den Weg des Mystikersbegeben wollte, aber er schreitet diesen Weg nicht ab. Er trifft alleReisevorbereitungen, ohne sich selber auf die Reise zu begeben. Daniemand in einer einzige Rolle aufgeht, kann ich auch über Mystiknachdenken und Mystik praktizieren, so wie ich über Verliebtheitnachdenken und mich selber verlieben kann. Aber es ist nicht zwin-gend, beide Rollen (gleichzeitig) zu spielen. Philosophie ist ein Lebenfür die Erkenntnis, womit mehr gemeint ist als nur wissenschaftlicheErfahrung oder banale Alltagserfahrung. Mitgemeint ist jene Erkennt-nis, der alles zum Sinnbild werden kann. Damit ist aber nicht gesagt,dass sich Religion bloß in fiktionalen Welten bewegt. Religionsphiloso-phie bezieht sich auch auf jene Erfahrungen, die Kontaktnahme oderBegegnungen mit dem Göttlichen oder Heiligen bedeuten. Ob es sichdabei um eine »theoretische« Erkenntnis handelt, bleibt umstritten.

Mit Henri Bergson können wir mystische Erfahrung als eine Formder sympathetischen Teilnahme am göttlichen Einen und Ganzen cha-rakterisieren.

»Jeden Augenblick eratmen wir etwas von diesem Ozean von Leben, dem wireingesenkt sind, fühlen wir, wie sich unser Wesen, oder doch der Verstand,der es lenkt, nur durch eine Art örtlicher Erstarrung aus ihm gebildet hat. DiePhilosophie kann nur die Anstrengung sein, sich diesem Ganzen neu zu ver-schmelzen. Und der in sein Prinzip aufgelöste Intellekt wird zum Entgelt seineigenes Entstehen erleben. Nicht aber auf einen Wurf wird sich ein solchesUnternehmen verbinden können. Mit Notwendigkeit wird es kollektiv undprogressiv, wird zu einem Austausch von Eindrücken, die sich so lange be-richtigen und überbauen, bis endlich die Menschheit sich weitet, bis erreichtwird, dass sie sich selbst überwächst.«2

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Einleitung

2 Bergson 1969/1927, 207f.

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Erkenntnis als Teilnahme geht über ein teilnahmsloses Betrachten hi-naus und nimmt Teil am göttlichen Ganzen. Beim Mystiker findet dasGöttliche vollen Anklang. Gibt es so etwas wie teilnehmende Intuition,so finden lebhafte Berichte darüber selbst bei nüchternen Zeitgenosseneinen gewissen Anklang.

Im Folgenden geht es um Mitteilung dieses Klangs. Der mystischeKlang erscheint den Areligiösen als bloßes Geräusch und als gedanken-lose Weitergabe von Zitaten; umgekehrt vermag ein religiös »musika-lischer« Mensch sogar in Geräuschen eine Art von Musik zu hören; dasZitat wird zur generationenübergreifenden Quelle von Originalität. Sobetrachtet kann neuere und zeitgenössische Musik, welche Geräuscheinkorporiert, als »pantheistische« Kunst gelten. Solche Vergleiche undAnspielungen sind alles andere als frei erfunden. Sie sind Zitate. Wersich in »den Abgrund aller Seligkeit« versenkt, ist »[…] ein Mitklangin der Wesen Harmonie« (Herder). Und dass es genuin religiös »Un-musikalische« wie Sigmund Freud gibt, wird weder verschwiegen nochangeprangert. Überzeugte Agnostiker und Atheisten haben kein Be-dürfnis nach »Heilung«. Doch so, wie wir manchmal finden, was wirnicht gesucht haben, sind »Ungläubige« a fortiori nicht vom Heil aus-geschlossen.

Pantheismus mit und nach der Aufklärung fügt sich in Bestrebun-gen ein, Religion ihren aufgeklärten Gegnern neu schmackhaft zu ma-chen. Neben Judentum, Islam und den diversen christlichen Konfessio-nen bilden Deismus, religiöser Agnostizismus (»Fideismus«) undPantheismus eine Bereicherung im Spektrum religiöser Optionen, dieauf postchristliche Fortbildungen der Religionsphilosophie verweisen.Auf religionssoziologische Stellungnahmen zu Begriff und These derSäkularisierung und der Moderne wird in dieser Arbeit verzichtet.

Im ersten Teil geht es nicht so sehr um ein historisches Porträt,sondern eher um eine Umkreisung »des« Pantheismus in einschlägigenBildern und Begrifflichkeiten. Pantheismus vereinigt Anregungen derReligionen, der Kunst und der Philosophie. Er hat die Aufklärung über-lebt, ohne in Magie, Esoterik oder Obskurantismus zu verfallen. Erwidersetzt sich der Entzauberung, aber er inszeniert keine Wiederver-zauberung der Welt. Er bleibt eine lebendige religiöse Option in einemZeitalter, das von Wissenschaft und Technik geprägt ist.

Stimmungen einer All-Einheit und All-Verbundenheit findensich in vielen, auch voneinander unabhängigen Kulturkreisen. Es liegtim Charakter dieser nebulösen Vision, dass sie sich nicht als Waffe zu

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Einleitung

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kontroverstheologischen Abgrenzungen eignet. Eine ultimative Be-trachtungsweise lässt sich einnehmen oder nicht – aber sie lässt sichnicht beweisen oder widerlegen. Dass de facto um Visionen gestrittenwird, »beweist« nur die Neigungen mancher Menschen zum (religiö-sen) Fanatismus. Einige werden sich daran stoßen, dass Pantheismus(relativ) profillos bleibt, selten völlig widerspruchsfrei formuliert wirdoder sich bis zu einem gewissen Grad den Spielregeln einer rationalenDiskussion entzieht. Andere werden ihn dafür preisen, dass er ihreSichtweise zum Ausdruck bringt und dem intensiven Gefühl ent-spricht, »mitten drin« in der Natur und der Geschichte und damit »inder Wahrheit« zu stehen – eine »Wahrheit«, die vielleicht nicht mehr(aber auch nicht weniger!) als eine subjektive Ansicht der Welt ist. EinPantheismus, der das Böse leugnete, wäre kein Beitrag zur Lösung desTheodizeeproblems, doch ist dieses Problem überhaupt lösbar? Kannein Pantheismus, der die Nähe Gottes hervorhebt, eine Quelle desTrostes sein?

Im zweiten Teil wende ich mich Hegel zu, genauer gesagt einemAbschnitt seiner Phänomenologie des Geistes. Hegel erhebt bekannt-lich einen strengen Anspruch auf systematisches Denken. Er hätte am»Stimmungspantheismus« des ersten Teils keine Freude gehabt. Aller-dings muss man hinzufügen, dass Hegel an Gotteserkenntnis und so-gar Gottesbeweisen nur deshalb festhalten kann, weil er versucht, denVerstand mit seinen starren Unterscheidungen (wie z. B. Natur undGeist, Leib und Seele, Jenseits und Diesseits usw.) zur Vernunft zubringen. In diesem Sinne wird auch die strenge Unterscheidung vonTheismus und Pantheismus problematisiert.

Hegel als Pantheist zu lesen, ist keine neue Idee. Leider wurde esschon zu Hegels Lebzeiten und in den polarisierenden Stellungnahmennach seinem Tod oft getan, um ihn politisch oder theologisch zu dis-kreditieren oder zu vereinnahmen. Die pantheistische Lesart, die u. a.Heinrich Heine populär gemacht hat, kann jedoch ein Licht auf Hegelseigentümlich schroffe Behandlung von Religion als »unglücklichemBewusstsein« werfen. Hegel hat wie kein anderer die Frage provoziert,ob Pantheismus eine Vorstufe zum Atheismus sei oder ob er, in Ver-bindung mit seiner dialektischen Auffassung des Begriffs, dazu ge-eignet sei, die »Abgründe Gottes« angemessener zur Darstellung zubringen. Hegel hat – vielleicht in einer gewissen kritischen Nachfolgevon Herder und Schleiermacher – ein Denken entwickelt, das es er-laubt, scheinbar Unvereinbares, etwa den christlichen Theismus und

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Einleitung

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den »heidnischen« Pantheismus, auf eine anregende Weise zusammen-zufassen. Insbesondere Herder hat den Übergang von Natur- zu Kraft-und Geistpantheismus vorgezeichnet.

Im dritten Teil werden autonome und heteronome Elemente derEthik unterschieden und aufeinander bezogen. Wäre Pantheismus Fa-talismus, dann wäre es schlecht um die Möglichkeit von Ethik bestellt.Führt Pantheismus zu einer Retheologisierung der Ethik? Theologi-sche oder religiöse Hintergrundannahmen der Ethik werden oft als Ele-mente der Fremdbestimmung verdächtigt. Doch was ist eigentlich soschlimm an einem gewissen Grad an Fremdbestimmung? Stehen wirnicht von der Geburt bis zum Prozess des Sterbens in radikal abhängi-gen und asymmetrischen Beziehungen, in denen wir abhängig von und– im besten Fall – im Vertrauen auf andere Kräfte leben? Ist nicht derMensch das Wesen, das zuerst nicht einmal aufrecht gehen kann undöfter als die meisten anderen Lebewesen fällt? Ist es legitim, denMensch nur nach dem Maßstab seines aufrechten und selbständigenGangs zu beurteilen?3 Autonome oder »reine« Ethik gilt zwar ge-wöhnlich als die einzige und beste Theorie, doch ist sie das auch?Heteronomie und »unreine Ethik« finden sich auch bei Kant, Schopen-hauer und in der Alltagsmoral. Die Konzeption einer »reinen« Moralist irreführend und problematisch; Moral kann nicht auf heteronomeElemente verzichten.

Der Pantheismus Spinozas und Herders vereinigt das autonomeElement, dass die Tugend ihr eigener Lohn ist, mit der heteronomenAuffassung einer »schlechthinnigen Abhängigkeit« endlicher Wesenvon Gott. Die Stärke des Individuums liegt »nur« in der erkennendenPartizipation am Unendlichen. Das Endliche ist »nur« ein Lichtstrahldes Unendlichen. Damit wird das Individuum zwar nicht isoliert, aberauch nicht geschwächt, sondern gestärkt. In diesem Sinne kann Novalisschreiben: »[…] nur im Pantheismus ist Gott ganz, überall in jedemEinzelnen.«4

Teilnahme am Unendlichen vermag überdies ein Muster von To-leranz zu entwerfen, das – als Kunst zur Selbst- und Rollendistanz –

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Einleitung

3 Vgl. MacIntyre 1999, dtsch. 2001. Zu den Risiken des aufrechten Gangs vgl. Bayertz2012, 249f. Der aufrechte Gang prädisponiert zur Arroganz des »Humanchauvinis-mus«, deshalb schreibt der Apostel Paulus: »Darum, wer meint, er stehe, sehe zu, dasser nicht falle.« 1 Kor. 10, 12.4 Novalis, zitiert nach Zeller 1875, 566.

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über das sture Beharren auf Halbwahrheiten und Vorurteilen hinweg-hilft. Allerdings sollte man diese zutreffenden Beobachtungen nicht zuden falschen Behauptungen zuspitzen, Toleranz und gegenseitiger Res-pekt ließen sich nicht ohne (pantheistische) Religion begründen und/oder realisieren, oder jede Religion (auch die pantheistische) machemoralisch blind, heuchlerisch, korrupt und gewaltbereit. Es empfiehltsich, Pantheismus und sein Verhältnis zur Ethik ohne apologetischeoder polemische Absichten in Betracht zu ziehen. Ich hoffe, dass dasim Folgenden gelungen ist.

Im vierten Teil wird der Gang durch Denkfiguren des Pantheis-mus mit einer Darstellung einiger Aspekte der Wirkungsgeschichtedes Mesmerismus abgerundet. Dazu gehört Hegels »Aufklärung überdie Aufklärung« und sein Versuch, im Übergang von der Natur- zurGeistphilosophie den Mesmerismus als – zumindest therapeutisch re-levantes – Phänomen zu begreifen. Die Erweiterung des Mesmerismusund der Theorie des Fluidums zur Vision eines poetischen Pantheismusist naheliegend und wird u.a. von Emerson vollzogen. Hegel dagegenversucht, die mesmerischen Effekte in seine Enzyklopädie der Wissen-schaften als Übergangsphänomen, das zurück (ins Unbewusste der Na-tur) und voraus (in die Welt geistiger Beziehungen) verweist, zu inte-grieren. Ähnlich wie bei Schopenhauer wird der Mesmerismus undSomnambulismus aber nicht als Eingangstor zu einer okkulten Welt-anschauung verwendet, sondern an die therapeutische Nutzung derHeilwirkung der Natur zurückgebunden. Mehr noch als im zweitenTeil wird deutlich, wie sich bei Hegel pantheistische Tendenzen mitMotiven der Zurückweisung eines weltanschaulichen Pantheismusverbinden. Die Frage, ob ein Pantheismus der Weltseele als eigenstän-dige Option und Vision auch künftig einen festen Platz behalten wird,bleibt aus der Sicht Hegels offen. Nochmals wird bestätigt, dass seinePhilosophie zentrale Elemente eines Pantheismus integriert hat, ohnesich auf einen dogmatisch umrissenen oder weltanschaulich fixiertenPantheismus festzulegen. Pantheismus – in Hegel und anderswo – wirdoft erst dann wahrnehmbar, wenn nicht mehr nach einer wohldefinier-ten Position gesucht wird, sondern nach einem »Duft«, »Klang« oder»Strahl« im Zwischenbereich von Kunst und Religion.

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Einleitung