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Lebensretter für Millionen

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Lebensretter für Millionen

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Lebensretter für Millionen

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Lebensretter für Millionen

Editiones RocheBasel

Sabine PäuserChristoph MörgeliUrs B. Schaad

Vorwort von

Eric Notegen

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Impressum

Herausgeber Alexander L. Bieri Lektorat Regine Pötzsch Graphik BBF AG, Basel

Foto Schutzumschlag: Urs Schachenmann

2001275

ISBN 978-3-907770-93-1

© 2012 Editiones Roche, Basel

Inhalt

Zum Geleit

Vorwort

Isoniazid (Rimifon): erstes Spezifikum gegen die Tuberkulosevon Sabine Päuser

Bactrimvon Christoph Mörgeli

Rocephinvon Urs B. Schaad

Biographien

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8

14

84

150

201

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Vor 60 Jahren brachte Roche das erste gegen die Lungentuber-kulose wirksame Medikament, «Rimifon», auf den Markt. Die Wirksubstanz von «Rimifon», Isoniazid, ist bis heute nicht aus der Tuberkulosetherapie wegzudenken. Zur Behandlung bakterieller Infekte führte Roche 16 Jahre später «Bactrim» ein. Der aus zwei Wirksubstanzen zusammengesetzte Inhaltsstoff Cotrimoxazol wurde seither rund zwei Milliarden Mal verabreicht. Als güns-tig verfügbares, breit einsetzbares Medikament sind «Bactrim» und dessen Generikaformen besonders in Entwicklungsländern zu einem Standard der Infektionsbehandlung geworden. Vor 30 Jahren entwickelte Roche das Cephalosporin-Antibiotikum «Rocephin» zur Marktreife. Auch mit diesem Produkt, das bei besonders vielen Infektionskrankheiten eingesetzt werden kann, sind inzwischen Millionen Patientinnen und Patienten behandelt worden.

Matthew White, Autor des Buches «Atrocitology. Humanity’s 100 Deadliest Achievements» rechnet vor, dass sämtliche Kriege aus 2500 Jahren Menschheitsgeschichte rund 455 Millionen Menschenleben gekostet haben. Demgegenüber halfen diese drei bemerkenswerten Antiinfektiva von Roche mehrere Milliarden Mal, Menschenleben zu retten.

Oftmals werden diese altgedienten Heilmittel heute als selbst-verständlich verfügbare Produkte betrachtet. Dabei wird gerne vergessen, dass ihre Erforschung und Vermarktung überhaupt erst durch Investoren ermöglicht wurde, die einerseits den Mut hatten, in moderne Pharmaforschung zu investieren, andererseits aber auch ihre in die Forschung getätigten Investitionen bezahlt haben wollten. Bei allen drei genannten Produkten ist dies in der Vergangenheit geschehen und diese Produkte werden nun als Generika von vielen Anbietern mit nur geringem Aufschlag auf die Herstellungskosten angeboten. Die durch mutige Inves-toren ermöglichte Forschungsleistung kommt seither breitesten Bevölkerungsschichten auf der ganzen Welt zugute. Angesichts der zunehmenden Resistenzen gegen Antibiotika werden wir auch

in Zukunft darauf angewiesen sein, dass eine forschende Phar-maindustrie neue Produkte entwickelt und damit die heutigen Heilungschancen auf dem bisherigen Niveau erhalten bleiben oder gar noch ausgebaut werden können.

Das doppelte Jubiläum von «Rimifon» und «Rocephin» bildet den Anlass, auf die Geschichte und den heutigen Nutzen dieser drei Antiinfektiva zurückzublicken. Jedes hatte auf dem Weg zum Klassiker der Pharmazie seine eigenen Hürden zu überwinden, bei allen waren es überaus begabte Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftler, die den Erfolg ermöglicht haben. Ihnen hat Roche ein Umfeld geboten, in dem sie sich entfalten konnten. Von dem so erzielten medizinischen Fortschritt profitieren letztlich vor allem auch die Patientinnen und Patienten in den Entwicklungsländern. Es ist die Absicht der vorliegenden Darstellung, diese Zusammen-hänge anhand der konkreten Beispiele aufzuzeigen.

Dr. Gottlieb KellerGeneral Counsel und Mitglied der KonzernleitungF. Hoffmann-La Roche AG

Zum Geleit

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8 9

Die Erforschung und Entwicklung von neuen Medikamenten und Therapien ist ein äusserst kostspieliges und langwieriges Unternehmen. Die Entwicklungskosten können heutzutage, je nach Indikation, zwischen 500 bis 1000 Millionen Franken oder mehr betragen. Die Entwicklungsdauer liegt zwischen acht und zwölf Jahren. Andererseits ist es möglich, Medikamente sehr leicht und rasch zu kopieren, weil deren Zusammensetzung jeweils bekannt gemacht werden muss. Damit sich solche Investitionen in Forschung und Entwicklung (F & E) überhaupt lohnen, müs-sen sie adäquat geschützt werden können, und hier kommen die Patente ins Spiel. Patente gewähren ein zeitlich beschränktes Recht, das geschützte Medikament exklusiv zu vermarkten. Bil-ligere Nachahmerprodukte dürfen erst nach Ablauf der Patente auf den Markt kommen.

Der Patentschutz ist, wie erwähnt, zeitlich beschränkt. Patente werden für eine Laufzeit von 20 Jahren ab dem Anmeldetag erteilt. Bei Patenten für neue Medikamente kann die Laufzeit in Abhän-gigkeit der Entwicklungsdauer um bis zu fünf Jahre verlängert werden. Da die Patente allerdings in einem sehr frühen Stadium der Entwicklung angemeldet werden müssen, beträgt die effektive Patentlaufzeit, das heisst die Zeit zwischen Markteinführung und Patentablauf, im Durchschnitt etwa 13 bis 14 Jahre. In Entwick-lungsländern und aufkommenden Ländern, wie Brasilien, China, Indien und Mexiko, können Patente allerdings nicht verlängert werden. Weil neue Medikamente in diesen Ländern auch erst später auf den Markt kommen, beträgt die effektive Patentlaufzeit nur etwa sechs bis acht Jahre.

Da nur über Patente eine zeitlich beschränkte Marktexklu-sivität ermöglicht werden kann, sind sie für ein forschendes Pharmaunternehmen wie Roche von ausserordentlicher Bedeu-tung. Patente bilden quasi das Rückgrat unseres Geschäftsmo-dells.

Das war aber nicht immer so. Die Bedeutung der Patente hat im Verlauf der letzten 40 Jahre stetig zugenommen. Im gleichen

Vorwort Zeitraum veränderte sich auch das regulatorische Umfeld sehr stark und hat somit die Entwicklung einer starken Generika1 -In- dustrie ermöglicht.

Die Entwicklung des PatentsystemsDie Schweiz ist dem Europäischen Patentübereinkommen (EPUe) am 7. Oktober 1977 beigetreten und hat mit diesem Beitritt auch den sogenannten Stoffschutz für chemische Erzeugnisse einschliesslich pharmazeutisch wirksamer Stoffe eingeführt. Der Stoffschutz ermöglicht es, den Wirkstoff selber zu patentieren. Ein Stoffpatent gewährt einen umfassenden Schutz für den Wirkstoff, der unabhängig vom Herstellungsverfahren, von der Formulie-rung oder der Anwendung ist.

Vor dem Beitritt zum EPUe konnten in der Schweiz und auch in vielen anderen Ländern2 nur Verfahren zur Herstellung von Wirkstoffen patentiert werden. Das führte dazu, dass die Industrie sehr viel Geld in die Erforschung und Entwicklung von Herstellungsverfahren investierte, um einen möglichst dichten Schutz für den Wirkstoff zu erhalten. Man wollte damit verhin-dern, dass die Generika-Firmen patentfreie Herstellungsverfah-ren entwickeln konnten. Im Verlauf der 1980er Jahre haben dann immer mehr Länder den Stoffschutz eingeführt. Häufig geschah das im Zuge von Freihandelsabkommen, wobei die USA hier eine führende Rolle übernommen hatten. Im Rahmen der Uruguay-Runde der GATT3-Verhandlungen wurde dann am 15. April 1994 in Marrakesh, Marokko, die WTO4 gegründet. Integraler Bestandteil des Vertragswerkes war auch der TRIPS5-Vertrag, in welchem weltweit gültige Standards für die verschiedenen Rechte des geistigen Eigentums festgeschrieben wurden. Unter anderem wurde im TRIPS-Vertrag auch der Stoffschutz für chemische und pharmazeutische Wirkstoffe festgeschrieben.

Die am wenigsten entwickelten Länder müssen sich noch nicht an sie halten. Sie haben eine Übergangsfrist bis 2016, um die Standards einzuführen. Es ist aber davon auszugehen, dass diese Frist noch weiter verlängert wird. Schwellenländer, wie China, Indien und Brasilien, mussten diese Standards mittler-weile in ihre Gesetzgebung aufnehmen. Indien hat als letztes dieser Länder den Stoffschutz für pharmazeutische Wirkstoffe per 1. Januar 2005 implementiert.

1 Generika sind Kopien des Originalpräparates, welche nach Patentablauf auf den Markt kommen.

2 Italien hat den Stoffschutz ebenfalls mit dem Beitritt zum EPUe am 1. Dezember 1978 eingeführt. Deutschland kannte den Stoffschutz schon seit 1968. Einzig in den USA konnten pharmazeutische Wirkstoffe seit jeher als solche patentiert werden.

3 General Agreement on Tariffs and Trade4 World Trade Organization/

Welthandelsorganisation5 Trade-related Aspects of Intellectual

Property/Handels-bezogene Aspekte des Geistigen Eigentums

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Figure 1

10 11

Entwicklung des regulatorischen Umfeldes

Früher konnte mit der Entwicklung von Generika erst nach Patentablauf begonnen werden. Zudem konnten sich die Gene-rikahersteller für die Zulassung ihrer Produkte nicht auf die Regis-trierungunterlagen des Originalherstellers beziehen, sondern mussten eigene Registrierungsunterlagen vorlegen, das heisst, sie mussten klinische Prüfungen vornehmen. Die Anforderungen an die fraglichen Unterlagen waren allerdings bis in die späten 1960er Jahre nicht besonders hoch.

Heute können Generika bereits während der Laufzeit des Patentes für das Originalpräparat entwickelt werden. Für die Zulassung kann man auf die Registrierungsunterlagen des Ori-ginalherstellers Bezug nehmen. Es muss lediglich gezeigt werden, dass die Bioverfügbarkeit des Generikums mit derjenigen des Originalpräparates vergleichbar ist. Generika werden heutzutage praktisch am Tag eins nach Patentablauf auf den Markt gebracht.

Die mit Patentabläufen einhergehenden Umsatzverluste ver-liefen daher früher wesentlich moderater als heute. Dies kann anhand von zwei Beispielen illustriert werden.

Abbildung 1 zeigt die in den USA erzielten Umsätze in Milli-onen US-Dollar für Valium in den Jahren 1981 bis 1992. Valium war damals das umsatzstärkste Medikament von Roche. Das Patent für Valium lief in den USA im Februar 1985 ab. Die ersten Generika kamen etwa ein Jahr später auf den Markt. Während

die Verkäufe in den USA im Spitzenjahr 1985 total 755 Millionen US-Dollar betrugen, fielen sie 1986 auf 350 Millionen und 1987 auf 210 Millionen Dollar zurück.

Wesentlich dramatischer fallen die Umsatzeinbussen heut-zutage aus; vergleiche Abbildung 2. Diese Figur zeigt die in den USA erzielten Umsätze in Millionen Franken für Rocephin in den Jahren 2000 bis 2006. Das Patent lief Mitte Juli 2005 ab. Die ersten Generika kamen am Tag nach Patentablauf auf den Markt und die Umsätze von Roche brachen völlig ein.

Gerade dieses letzte Beispiel, welches die Kosequenzen von Patentabläufen eindrücklich dokumentiert, belegt sehr gut, wes-halb solide, starke Patente für forschende Pharmaunternehmen so wichtig sind. Um ein nachhaltiges Geschäft zu gewährleisten, muss Roche im Durchschnitt etwa alle 10 Jahre sein gesamtes Produkteportfolio nicht nur erneuern, sondern auch erweitern, und zwar mit patentierten und innovativen, neuen Medika-menten und Therapien. Die Innovation wird quasi zur Pflicht!

Im heutigen Umfeld gibt es zwei Faktoren, die für den medizinischen Fortschritt verantwortlich sind. Einerseits das Patentsystem, welches die Voraussetzung schafft, um in die Erforschung und Entwicklung von neuen Medikamenten und Therapien zu investieren, und andererseits die Existenz der Generika-Industrie, welche forschende Unternehmen zur Innovation zwingt.

1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006

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470

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525

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660

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210

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1200

1000

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600

400

200

0

Abbildung 1 Abbildung 2

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Isoniazid, Co-Trimoxazol und Ceftriaxon

Die drei in diesem Buch beschriebenen Antiinfektiva, Isoniazid, Co-Trimoxazol und Ceftriaxon, hatten in Bezug auf den Patent-schutz völlig unterschiedliche Hintergründe.

Isoniazid, der Wirkstoff, den Roche unter der Marke Rimifon auf den Markt brachte, war schon lange bekannt, bevor dessen Wirksamkeit gegen die Tuberkulose gefunden wurde. Auch wenn Anfang der 1950er Jahre der Stoffschutz möglich gewesen wäre, hätte Isoniazid nicht mehr patentiert werden können, weil der Stoff eben nicht mehr neu war. Neuheit ist jedoch ein zwingendes Erfordernis für die Patentierbarkeit. Da auch schon verschiedene Herstellungsverfahren bekannt waren, konnte auch mit Ver-fahrenspatenten kein einigermassen wirksamer Schutz erzielt werden. Die Folge war natürlich, dass mehrere Firmen innerhalb kurzer Zeit mit diesem Wirkstoff auf den Markt kamen, was erwartungsgemäss auf die Preise drückte.

Ein patentfreier Wirkstoff, wie Isoniazid, würde heutzutage kaum mehr entwickelt werden. Es gibt zwar noch den soge-nannten Erstanmelderschutz, der aber keine Marktexklusivität verleiht. In der Europäischen Union und in der Schweiz beträgt der Erstanmelderschutz zehn Jahre für einen Wirkstoff, der erst-mals als Medikament entwickelt wurde. Die Dauer von zehn Jahren ist normalerweise deutlich kürzer als der Patentschutz. Keinen Schutz gibt es, wenn für einen bekannten Wirkstoff eine völlig neue Indikation gefunden wird. Der Erstanmelderschutz bedingt, dass die Gesundheitsbehörden während zehn Jahren nach der Erstzulassung keine weiteren Zulassungen erteilen, welche sich auf die Daten des Originalherstellers abstützen. Ausserhalb Europas ist dieser Schutz entweder nicht erhältlich oder zu kurz, um ein nachhaltiges Geschäft zu gewährleisten. Der Erstanmelderschutz müsste weltweit attraktiver ausgestaltet, und auch auf neue Indikationen, welche umfangreiche klinische Prüfungen voraussetzen, ausgedehnt werden. Nur dann wäre es genügend attraktiv, einen patentfreien Wirkstoff, wie Isoniazid, oder eine völlig neue Indikation für einen bekannten Wirkstoff zu entwickeln.

Co-Trimoxazol wurde von Roche und Wellcome gemeinsam entwickelt. Roche vermarktete Co-Trimoxazol unter der Marke Bactrim seit Ende der 1960er Jahre. Bactrim enthält eine Kom-bination aus zwei Wirkstoffen, nämlich Sulfamethoxazol und Trimethoprim. Die Wirkstoffkombination war als solche bereits in der Literatur beschrieben, so dass sie nicht mehr patentiert

werden konnte. Sulfamethoxazol war ebenfalls ein seit langem bekannter Wirkstoff und konnte nicht mehr patentrechtlich geschützt werden. Beim Trimethoprim sah es allerdings etwas anders aus. Burroughs Wellcome erhielt am 10. November 1953 ein Patent in den USA, das den Wirkstoff als solchen schützte. Das Patent lief im November 1970 ab. Inner- und ausserhalb der USA gelang es auch, ein relativ dichtes Patentportfolio auf-zubauen, das in einigen wichtigen Märkten die Exklusivität für Roche und Wellcome sicherte.

Ceftriaxon wurde in den Labors von Roche erfunden und ab den frühen 1980er Jahren unter der Marke Rocephin vermarktet. Ceftriaxon wurde 1979 weltweit zum Patent angemeldet und genoss auf allen wichtigen Märkten den Stoffschutz. Die Patente von Roche sind weltweit im Jahre 1999 abgelaufen. In den USA gab es jedoch Patentschutz bis Mitte Juli 2005. Dieses Patent gehörte Hoechst und war genügend breit, um den Wirkstoff Cef-triaxon mit zu umfassen. Das Patent war vor den Roche-Patenten angemeldet worden, wurde aber erst viel später, nämlich im Jahre 1988, erteilt. Da US-Patente damals eine Laufzeit von 17 Jahren ab dem Tag der Erteilung hatten, lief der Stoffschutz für dieses Medikament somit erst Mitte 2005 ab. Roche war unter diesem Patent exklusiv lizenziert.

Alle drei Produkte sind heute generisch und billig erhält-lich, und sie befinden sich alle auf der Liste der essentiellen Medikamente der WHO. Diese innovativen Produkte kommen den Patientinnen und Patienten heute noch zugute. Einst als medizinische Innovationen von Roche auf den Markt gebracht, helfen sie dank ihrer breiten Verfügbarkeit bis heute, täglich Leben zu retten.

Dr. Eric NotegenChief Patent OfficerF. Hoffmann-La Roche AG

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Isoniazid (Rimifon): erstes Spezifikum gegen die Tuberkulose

Sabine Päuser

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16 17

Manchmal ist die Zeit reif für bestimmte Entdeckungen und der Druck, sie zum Segen der Menschen praktisch umzusetzen, ist riesengross. Und meist kommen dann an mehreren Stellen gleichzeitig auf der Welt Forscher unabhängig voneinander und doch im Austausch miteinander zu einer Lösung. Selten ist sie so deckungsgleich wie im Falle des Isoniazids, des ersten spezifisch gegen Tuberkulose-Bazillen gerichteten Medikaments, welches von Forschern der Firmen Roche, Squibb und Bayer kurz hin-tereinander entdeckt wurde.2

Selten auch ruft die Lösung eines medizinischen Problems soviel Euphorie hervor wie dieses Tuberkulose-Mittel, welches auch 60 Jahre nach seiner Entdeckung noch zum Lebensretter für viele Menschen wird – wenn auch in Kombination mit anderen Medikamenten.

Aber selten war ein Arzneimittel auch so dringend nötig und so gesucht wie ein Tuberkulose-Heilmittel in der Mitte des 20. Jahrhunderts, denn diese Infektionskrankheit wird immer dann zur Geissel der Menschheit, wenn Hunger und Elend das Immunsystem seiner Vertreter schwächen. Und so war auch den Tuberkulose-Forschern klar, was der Zweite Weltkrieg mit sich bringen würde: einen Wiederanstieg der Tuberkulose-Toten, der sich nicht auf Europa beschränken sollte.

Wir haben heute in Westeuropa nahezu vergessen, welche Gefahr diese Infektionskrankheit einst bedeutete. Tuberkelbazillen werden über die Luft verbreitet. Im Gegensatz zu vielen ande-ren Krankheitserregern, wie etwa den Grippe verursachenden Influenza-Viren, verändern sie ihre Oberfläche nicht.3 Sie nutzen die Immunantwort in Form von Husten- und Niesreizen, um durch Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch übertragen zu werden. Hustet ein Patient mit offener Tuberkulose, so gelangt ohne entsprechende Schutzmassnahmen, wie eine Maske für den Erkrankten, ein infektiöses Aerosol in die umgebende Raumluft, in dem diese Mykobakterien stundenlang verbleiben können.4 Schon zehn dieser Bakterien sollen ausreichend sein, um eine Primärinfektion hervorzurufen.5 Die sich nur langsam vermeh-renden Tuberkelbazillen können sich, wenn sie – meist ausgehend von der Lunge – den Blutstrom erreichen, in fast jedem Organ des Körpers einnisten und es zerfressen. Der Tod naht unaus-weichlich, wenn das Immunsystem und/oder Medikamente den Erreger nicht in Schach halten können. Nicht umsonst hatte man der aktiven Tuberkulose einst auch den Namen «galoppierende Schwindsucht» gegeben.

Schon der Erste Weltkrieg hatte die Anzahl der Tuberkulose-Opfer ansteigen lassen: 1914 lag die Zahl der jährlichen Tuberku-lose-Todesopfer in Deutschland bei 142 auf 100 000 Einwohner. Im Jahr 1918 war sie auf 230 pro 100 000 Einwohner gestiegen.6

In Frankreich starb 1918 jeder Sechste an der Tuberkulose.7 Als sich dann 1945 Armeen und Flüchtlingsströme durch Europa wälzten und viele Tausende dichtgedrängt, frierend und hun-gernd in Notunterkünften, in Luftschutzkellern, Militärbaracken und Kriegsgefangenenlagern untergebracht waren, hatten viele dieser Menschen einer Infektion mit Tuberkelbazillen wenig entgegen zu setzen.

Und so stieg denn auch die Tuberkulose-Mortalität, beispiels-weise im kriegsgebeutelten Berlin, wieder an. Lag sie im Jahr 1938 dort, bezogen auf 100 000 Lebende, bei 82 Toten, so betrug sie 316 im Jahr 1946. Das entspricht einer Steigerung der Todesrate an Tuberkulose auf 385%.8 Doch «wenn wir allein die Sterbefälle an Tuberkulose betrachten, sehen wir das Ausmass der Katastrophe noch nicht…», schrieb Anfang 1948 Professor Dr. med. Gerhard Johannes Paul Domagk (1895–1964), der Entdecker des ersten Sulfonamid-Antibiotikums Prontosil, damals Leiter des Institutes für experimentelle Pathologie und Bakteriologie der Farbenfa-briken Bayer in Wuppertal-Elberfeld und führte genauer aus:

1 Fox HH. The chemical attack on tuberculosis. Trans N Y Acad Sci. 1953 May;15(7):234-42.

2 Isoniazid (INH) wurde 1952 von etlichen Firmen auf den Markt gebracht, da sich die Substanz nicht patentieren liess. Unter folgenden Handelsnamen wurde INH damals hergestellt: Rimifon (Hoffmann-La Roche), Nydrazid (Squibb and Sons, New York und London), Neoteben (Farbenfabriken Bayer), Bacillin (chem. Werke Minden), Cotinazin (Chs. Pfizer & Co., New York), Mybasan (Antigen Laborat. Ltd, London), Pycazide (Herts Pharmaceuticals Ltd, London), Isonicotinic Acid Hydrazyde (Organon Labor. Ltd., London).» Quelle: Enenkel H, Enenkel G. Isonikotinsäurehydrazid. Das neue Antituberkulotikum. Sonderdruck aus Promedico 1952; 21 (6).

In der DDR wurde es 1952 von der Firma Jenapharm hergestellt. Quelle: Blaurock G. Zur Chemotherapie der Tuberkulose II. Mitteilung: Tuberkulostase durch Isonikotinsäurehydrazid. Dtsch Gesundheitsw. 1952 Jul. 24;7(30):941-3.

«Es wird oft gesagt, dass ‘der Mensch der grösste Feind des Menschen sei’. Das mag wahr sein oder auch nicht, sicher ist, dass er andere Feinde hat, die mit ihm um diesen Titel wetteifern. Einer der bösartigsten unter ihnen, und einer, der ihn seit den Anfängen der Geschichte und darü-ber hinaus plagte, ist die Tuberkulose. Es ist allgemein nicht bekannt, dass der ‘Weisse Tod’ vergangener Zeiten, dieser unablässige Dezimator menschlicher Populationen, immer noch eine der möglichen Todesursachen von heute ist. Tat-sächlich ist die Tuberkulose mehr als jede andere Ur sache für den Tod der 15- bis 45-Jährigen verantwortlich.» 1 Herman Herbert Fox, 1953

3 Comas I, Chakravartti J, Small PM, Galagan J, Niemann S, Kremer K, et al. Human T cell epitopes of mycobacterium tuberculosis are evolutionarily hyperconserved. Nat Genet. 2010 Jun;42(6):498-503.

4 Marseken, M. Tuberkulose: Unterschätzt, gefährlich, tödlich. Fastbook Publishing; 2010.

5 Ewig S, Schaberg T. Tuberkulose heute. 2. vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, München –Deisenhofen: Dustri Verlag Dr. Karl Feistle; 2007.

6 Burke RM. A historical chronology of tuberculosis. 2nd ed. Springfield (IL): Charles C Thomas; 1955.

7 Siehe Anm. 4.8 Hein J, Kleinschmidt H, Uehlinger E.

Handbuch der Tuberkulose. Band 1, Allgemeine Grundlagen. Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 1958.

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1918

Tuberkulose: Von der Infektion zur Schwindsucht

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Tuberkelbakterien gesehen mit dem Elektronenmikroskop. Die gram-positiven aeroben Stäbchen-Bakterien teilen sich nur alle 16 bis 20 Stunden. Dies ist extrem langsam im Vergleich zu anderen Bakterien und macht eine antibakterielle Behandlung schwierig.

Mycobacterium tuberculosis-Bakterien können na-

hezu jedes Gewebe und jedes Organ des Körpers

infizieren. Die Infektion erfolgt meist durch Einatmen

der Erreger. Es bilden sich kleine Entzündungsherde

in der Lunge, die der Körper mit Blutabwehrzellen

einkapselt. Diese Knötchen, die auch als Tuberkel

oder Primärkomplexe bezeichnet werden, können

sich ruhend verhalten und ohne Auswirkung bleiben.

Nur bei etwa 5–10% der Infizierten entwickelt sich

daraus die Krankheit Tuberkulose.

Noch Jahre nach einer Infektion kann sich aber aus

ruhenden Herden eine Tuberkulose entwickeln, be-

sonders bei schlechter Infektabwehr des Infizierten,

z. B. in höherem Alter oder wenn Krankheiten (AIDS)

oder Medikamente (Immunsuppressiva) das Immun-

system schwächen. Wenn sich die Tuberkelbakterien

in den Primärherden vermehren, diese Herde grö-

sser werden und dann Kontakt zu den Blutgefässen

bekommen, können die Erreger von dort im ganzen

Körper verteilt werden. Besonders häufig siedeln sich

die Bakterien nicht nur in der Lunge, sondern auch in

der Hirnhaut, in den Lymphknoten, in den Knochen,

Tuberkulöser Knieerguss: Weil er drei Jahre seine Lungentuberku-lose nicht behan-deln liess, trat bei diesem Patienten eine schmerzhaf-te Schwellung des Kniegelenks auf, die in Folge eine Prothese nötig machte.

den Nieren, den Eierstöcken und in den Nebenho-

den ab. Man spricht dann von extrapulmonaler Tu-

berkulose.

Bei sehr schwachem Immunsystem können sich Tu-

berkelbakterien – verteilt über das Blut im ganzen

Körper – in Form hirsekorngrosser Krankheitsherde

in mehreren Organen ansiedeln. Eine solche Miliartu-

berkulose (ausgehend vom lateinischen Wort milium

für Hirsekorn) führt in der Regel ohne Einsatz wirksa-

mer Medikamente innerhalb weniger Tage zum Tod.

Die häufigste Form aber ist die Lungentuberkulose.

Hustet der Tuberkulose-Patient keine Bakterien aus,

hat er eine geschlossene Tuberkulose. Findet der

tuberkulöse Herd in der Lunge Anschluss an eine

Luftröhre und werden aktive Erreger ausgehustet,

hat der Infizierte eine offene Tuberkulose und kann

innerhalb eines Jahres bis zu zehn andere Personen

anstecken. Eine rasche Diagnose und Therapie ist

notwendig. Zu den klinischen Krankheitssymptomen

zählen Husten, Gewichtsabnahme, Appetitlosigkeit,

Müdigkeit, Fieber, Nachtschweiss und manchmal

Blutbeimengungen im Auswurf.

Bei dieser Patientin führte die tuberkulöse Entzündung zur vollständigen Zerstörung der Nase.

Tuberkuloseherde treten nicht nur in der Lunge auf

A B

Nachweise einer Knochen-tuberkulose im zweiten Lendenwirbelkörper (schwarzer Pfeil) und im Dornfortsatz des dritten Lendenwirbelkörpers (weisser Pfeil) mit der Magnetresonanztomogra-phie (MRT). Bei der Abbil-dung A handelt es sich um ein T2-gewichtetes MR-Bild, bei der Abbildung B um ein T1-gewichtetes MR-Bild nach Kontrast-mittelgabe. Die beiden in-fektiösen Herde sind stark durchblutet und nehmen daher viel Kontrastmittel auf.

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20 21

Dieses Szenario liess Tuberkulose-Forscher zum Teil unsägliche Anstrengungen und Risiken auf sich nehmen, um dieser unheil-vollen Krankheit Einhalt zu bieten und zwar auf beiden Seiten des Atlantiks. Denn auch im kriegsverschonten Amerika starben die Menschen an Tuberkulose, trotz Sonnenschein-Sanatorien und auch ohne Hunger und überfüllte Notunterkünfte. Tuberkulose war der «Killer Nummer 1» der 15–35 Jährigen.111948 starben in den USA 43 833 Menschen an der Tuberkulose.12 Noch im Jahr 1953 erkrankten von 100 000 US-Einwohnern 52.6 an Tuberku-lose und 12.4 starben daran.13

Neben dieser dringenden Not waren in den 1940er und 1950er Jahren aber auch die wissenschaftlichen Grundlagen gelegt, die das Auffinden wirksamer Medikamente zur Behandlung der Tuberkulose möglich machten: Der Erreger Mycobacterium tuber-culosis war nebst einiger seiner sehr spezifischen Eigenschaften schon seit 1882 bekannt. Verfahren, um in Zellkulturen und in Tierversuchen zu untersuchen, wie sich seine Vermehrung stop-pen liesse, waren etabliert. Das erste, in dieser Zeit gefundene Antibiotikum gegen Tuberkulose sollte indes nicht halten, was es zunächst versprach.

Hilfe aus dem Boden: StreptomycinVermutlich existierten Tuberkulosebakterien schon im Boden, lange bevor es humane Lebewesen gab. Und so wurde das erste Heilmittel gegen Tuberkulose auch «im Boden» gefunden.

Genauer gesagt handelte es sich um das Produkt von im Boden lebenden Mikroorganismen, von Bakterien, die – wie Pilze – mehrzellige Gebilde und Hyphen ausbilden. Entdeckt wurde die antituberkulöse Wirksamkeit im Labor des Mikrobiologen Sel-man Abraham Waksman (1888–1973) an der Rutgers-Universität in New Jersey in den USA.

Waksman, der seinen ersten akademischen Abschluss an der Rutgers-Universität im Fach Landwirtschaft erworben hatte, war damals der Spezialist für Bodenbakterien in den USA und hatte 1932 von der Amerikanischen Tuberkulose-Gesellschaft den Auf-trag erhalten, die Überlebensfähigkeit von Tuberkulosebazillen im Boden zu untersuchen. Wie sein Mitarbeiter Chester Rhines herausfand, überlebten Tuberkulosebakterien in sterilisierten Bodenproben recht gut. Ja sie vermehrten sich sogar, wenn diese mit verschiedenen Bodenbakterien angereichert wurden. Wurden die Bodenproben dagegen nicht sterilisiert und nichts unternom-men, um die Pilze im Boden abzutöten, verringerte sich die Anzahl der Tuberkulosebakterien. Trotzdem können Tuberkulosebak-terien im Boden für Monate überleben, selbst wenn es dort eine komplexe mikrobiologische Population gibt, die ihnen das Leben schwer macht. Welche der Bodenmikroorganismen für die Zerstö-rung der Tuberkelbazillen verantwortlich sein könnten, vermochte Rhines nicht herauszufinden. Diesen Aufsehen erregenden, 1935 veröffentlichten Ergebnissen14 folgten zunächst keine weiteren Experimente mit Tuberkulosebakterien. Waksman interessierte sich zu dieser Zeit mehr für das Miteinander der Bakterien im Boden, das – wie er herausfand – in einem knallharten Konkur-renzkampf um das Angebot an Platz und Nährstoffen bestand, ausgefochten mit Hilfe «chemischer Waffen».

Die Dinge änderten sich als 1939 einer seiner ehemaligen Doktoranden, René Dubos (1901–1982), am Rockefeller Institut in New York aus Bacillus brevis-Bodenbakterien diese chemischen Waffen isolierte und mit ihnen bakterielle Infektionen bekämpfte. Die von Dubos isolierten und von Waksman 1942 «Antibiotika» getauften Substanzen erwiesen sich zwar, sowohl oral als auch intravenös verabreicht, als zu toxisch für den Menschen, aber sie konnten bei Wundinfektionen und auf der Haut lokal ange-wendet werden. Und sie beflügelten die Phantasie der Forscher und liessen erneut die Hoffnung keimen: Sollte sich nicht doch auch ein Antibiotikum gegen Tuberkulose finden lassen und zwar im Boden? Die zu dieser Zeit schon existierenden Antibiotika, das von Fleming gefundene, aus Schimmel isolierte Antibioti-kum Penicillin, und auch das erste synthetische Antibiotikum

9 Prof. Rudolf Degwitz (1889–1973) war ein herausragender Kinderarzt und früher Anhänger der NSDAP, der er 1923 beitrat. Später wandte er sich jedoch gegen das Naziregime und ging dafür ins Gefängnis.

10 Domagk G. Die experimentellen Grundlagen einer Chemotherapie der Tuberkulose. Beitr Klin Tuberk Spezif Tuberkuloseforsch. 1948;101(4):365-94.

11 The toll of TB. Industrial bulletin of Arthur Dehin Dolittle. 1951 Dec;282.

12 Kaempfert W. New drugs that combat tuberculosis hold out a promise of far more effective control. 1952, Historisches Archiv Roche (HAR).

13 Reported Tuberculosis in the United States, 2009 [Internet]. Atlanta (GA): Centers for Disease Control and Prevention; [updated 2010 Oct 25; cited 2011 Jul]. Available from: http://www.cdc.gov/tb/statistics/reports/2009/table1.htm.

14 Rhines C. The persistence of avian tubercle bacilli in soil and in association with soil microorganisms. J Bacteriol. 1935 Mar;29(3):299-311.

«Die Tuberkulose bedroht Deutschland in einem Ausmaß, wie es uns bisher unbekannt ja unvorstellbar war. Ich brau-che nur wenige Zahlen zu nennen: Allein in der Provinz Schleswig-Holstein schätzte man die Zahl der Behandlungs-bedürftigen 1947 auf mindestens 40 000, die der Offen-Tuberkulösen auf etwa 12 000. In den Großstädten liegen die Verhältnisse noch katastrophaler, Degkwitz9 gab allein für Hamburg folgende Zahlen an: 46 000 Patienten mit offener Tuberkulose und 150 000 Behandlungsbedürftige, für die aber nur 12 000 Heilstättenbetten zur Verfügung stehen.»10

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Streptomycin

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Prontosil, vermochten nichts gegen Mycobacterium tuberculosis auszurichten.

Und so wurde von nun an mit finanzieller Unterstützung der pharmazeutischen Firma George Merck & Co15 in Waks-mans Labor nach neuen Antibiotika gesucht – vor allem gegen Tuberkulose. Untersucht wurde die Hemmwirkung von im Boden lebenden Mikroorganismen, meist Bakterien, auf den Tuberkulose-Erreger. Die Firma Merck beteiligte sich an der Suche nach einem neuen Antibiotikum nicht nur finanziell: Während Waksman und seine Mitarbeiter sich mit den Mikroben beschäftigten, kümmerten sich Wissenschaftler von Merck um die Chemie und Pharmakologie der gefundenen Antibiotika.16

Die finanzielle Vereinbarung mit Merck sah vor, dass die Firma alle Erfindungen von praktischer Bedeutung patentieren lassen und dann 2.5% der Einnahmen aus den Verkäufen von daraus hervorgegangenen Medikamenten an die Rutgers-Universität zahlen würde.

Am 19. Oktober 1943 isolierte ein Doktorand Waksmans, Albert Schatz (1920–2005), erstmals ein Antibiotikum aus Strep-tomyces griseus-Bakterien, welches den Namen Streptomycin erhielt. Im Januar 1944 veröffentlichten Schatz, Waksman und Elizabeth Bugie die Entdeckung, dass dieses Streptomycin das Wachstum etlicher grampositiver und gramnegativer Bakterien hemmen konnte.17 Mitte 1945 folgten weitere Publikationen, in denen bekannt gegeben wurde, dass Streptomycin das Wachstum von Tuberkelbazillen im Kultur- und im Tierversuch verhinderte. Das Antibiotikum wurde unter anderem mit der gefährlichsten Art humaner Tuberkulosebakterien getestet: mit H37Rv, einem Stamm, mit dem später auch Forscher der Roche ihre potenziellen Tuberkulose-Mittel testeten.

In den Jahren 1945 und 1946 wurden die ersten Ergebnisse der klinischen Prüfung von Streptomycin veröffentlicht.18 Es ist anzunehmen, dass der erste Tuberkulose-Patient, der Streptomy-cin erhielt, noch mit Material behandelt wurde, welches Schatz in mühsamer Handarbeit im Labor hergestellt hatte. Ab 1946 wurde Streptomycin biotechnologisch in den Fermentern der amerika-nischen Firma Merck & Co in Elkton, Virginia, produziert.

Ohne Patente keine MedikamenteAls Waksman 1945 zu ahnen begann, welche Bedeutung Strep-tomycin erlangen könnte, und dass die Produktionskapazitäten von Merck eventuell nicht ausreichen würden, den Bedarf zu

15 Kingston W. Streptomycin, Schatz v. Waksman, and the balance of credit for discovery. J Hist Med Allied Sci. 2004 Jul;59(3):441-62.

16 Lechevalier HA. The search for antibiotics at Rutgers University. Parascandola J. The History of Antibiotics: A Symposium. Madison (WI): American Institute of the History of Pharmacy; 1980.

17 Schatz A, Bugie E, Waksman SA. Streptomycin, a substance exhibiting antibiotic activity against gram-positive and gram-negative bacteria. Proc Soc Exp Biol and Med. 1944;55:66-9.

18 Fust B, Wernsdorfer G, Wernsdorfer W. Erfahrungsbericht des Teams der Gesellschaft Schweizerischer Tuberkuloseärzte zur klinischen Prüfung

von Rimifon. Schweiz Z Tuberk. 1955;12 (Suppl 1):9.

19 Zankl H. Wertvoller Bakterienkiller. In: Kampfhähne der Wissenschaft. 1.Aufl. Weinheim: Wiley VCH; 2010.

20 Siehe Anm. 16.

decken, wandte er sich mit der Bitte an Merck, die Patentrechte an die Rutgers-Universität zurückzugeben. Auch andere Firmen sollten Lizenznehmer werden können. Die Firma Merck kam dem entgegen und übertrug ihre 1939 mit Waksman ausgehandelten Patentrechte 1946 zurück an die Rutgers-Forschungsstiftung. Allerdings bedingte sich Merck einen Rabatt auf die Gebühren für die nichtexklusive Lizenz zur Produktion von Streptomycin aus, um zum Teil die Kosten zu kompensieren, die die Firma in die Entwicklung von Streptomycin gesteckt hatte. Damit war der Weg frei für andere Firmen, Lizenzen zur Herstellung des dringend benötigten Streptomycins zu erwerben.

Waksman überredete nun auch seine Mitentdecker Schatz und Bugie, «auf alle Einnahmen aus dem Streptomycin-Patent zuguns-ten der Rutgers-Forschungsstiftung zu verzichten».19 Schatz entdeckte jedoch später, dass Waksman einen Vertrag mit der Rutgers-Forschungsstiftung abgeschlossen hatte, der Waksman persönlich 20% der Einnahmen aus dem Streptomycin-Patent sicherte. Der erboste Schatz zog 1950 vor Gericht, was ihm eine Abfindung und 3% der jährlichen Streptomycin-Lizenzgebühren der Rutgers-Forschungsstiftung einbringen, aber – wie sich spä-ter zeigte – seine wissenschaftliche Karriere verhindern sollte. Waksmans persönlicher Anteil an den Einnahmen wurde auf 10% herabgesetzt, 7% wurden unter den anderen, an der Entdeckung von Streptomycin beteiligten Mitarbeitern des Labors verteilt. Waksman selbst reduzierte später seinen Anteil auf 5%.

Diese Regelung, einer Firma nicht mehr die alleinigen Rechte an einem Antibiotikum einzuräumen, sollte Rutgers beibehalten und führte letzlich dazu, dass die Antibiotika-Forschung an dieser Universität eingestellt wurde musste.20

EnttäuschungenDer Nobelpreis für Medizin ging im Jahr 1952 nur an Waksman für «seine Entdeckung des Streptomycins, als des ersten gegen Tuberkulose effektiven Antibiotikums», was Schatz und die an der klinischen Testung von Streptomycin beteiligten Ärzte verbitterte.

Und: Streptomycin erwies sich leider nicht als das Wunder-mittel gegen Tuberkulose, für das man es anfangs gehalten hatte. Es wirkte nicht bei allen Patienten und die «Heilung» war oft nicht von Dauer. Kehrte die Tuberkulose bei den mit Streptomycin behandelten Patienten zurück, so erwiesen sich die Tuberkelba-zillen bei diesen Patienten nun oft als resistent gegen Streptomy-cin. Schlimmer noch, Streptomycin war auch wirkungslos bei

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para-Amino-Salizylsäure

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jenen, die sich bei Patienten mit gegen Streptomycin resistenter Tuberkulose angesteckt hatten. Zudem schädigte Streptomycin bei einigen Patienten die Hörnerven, etliche wurden durch die Therapie taub oder schwerhörig. Die Situation verbesserte sich etwas, als man in Amerika erstmals eine Kombinationstherapie in kontrollierten klinischen Studien prüfte: Streptomycin in Kombination mit para-Amino-Salizylsäure (PAS).

Geniale Überlegung: para-Amino-Salizylsäure Im Gegensatz zur Findung des Streptomycins war die Entde-ckung von PAS zunächst nicht das Ergebnis umfangreicher mikrobiologischer Experimente im Labor, sondern Frucht eines genialen Gedankenexperiments. Im kriegsneutralen Schweden las 1940/1941 der dänische Physiologieprofessor Jørgen Leh-mann (1898–1989), Leiter des Zentrallabors des Sahlgrenska Universitätsspitals, die Artikel seines Kollegen Frederick Bern-heim (1905 bis vermutlich 1988) von der Duke University Medi-cal School. Dieser berichtete davon, dass sich der Sauerstoffver-brauch von Tuberkelbazillen nach Zugabe von Acetylsalicylsäure (Aspirin) erhöhte. Dies war von der Aspirin-Konzentration abhängig21 und geschah auch erst nach einer gewissen Zeit, die, wie Bernheim annahm, wohl dazu gebraucht würde, um «die Acetylgruppe des Aspirins zu hydrolysieren». Bernheim hatte zuvor den Einfluss mehrerer Substanzen auf den Stoffwechsel der Tuberkelbazillen untersucht.22 Aspirin oder ähnliche Ver-bindungen könnten für Tuberkelbazillen wichtig sein, schluss-folgerte er. Lehmann spann diesen Gedanken weiter: Wenn man Acetylsalicylsäure-Moleküle so modifizierte, dass sie von den Tuberkelbazillen zwar zur Energiegewinnung aufgenommen, dann dazu aber nicht mehr verwertet werden konnten, hätte man vielleicht ein Heilmittel. Aber welche Art von Modifikation sollte man am Aspirin vornehmen? «Tatsächlich war es sehr einfach. Bei den Sulfonamiden befand sich eine Aminogruppe in der para-Position. Wenn man diese Aminogruppe durch eine andere Gruppe ersetzte oder sie an die ortho- oder meta-Position setzte, verminderte sich der bakteriostatische Effekt oder verschwand ganz»,23 soll Lehmann seine Überlegungen später beschrieben haben.

Lehmann schlug daher dem schwedischen mittelständischen Unternehmen Ferrosan die Synthese eines modifizierten Aspirins mit einer Aminogruppe in para-Position zur Acetylgruppe vor. Diese Substanz, mit der auf dem Papier so einfach aussehenden

Struktur (siehe nebenstehende Formel), liess sich anfangs aller-dings nicht einfach herstellen. Zudem war sie von deutschen Chemikern schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts synthetisiert worden und liess sich daher auch nicht mehr patentieren. Und dennoch arbeitete ein Chemiker bei Ferrosan an einer neuen Synthese und die Firma stellte Lehmann die Substanz für dessen Laborversuche und später auch für die klinischen Studien zur Verfügung.

Lehmann erdachte und prüfte PAS nicht nur eigenhändig im Labor, er testete die Substanz auch an sich selbst. Erst nachdem er die Substanz geschluckt und sich selbst injiziert hatte, gab er sie zur Prüfung an einer kleinen Patientin frei, die an einem Lymphom und an Knochentuberkulose litt. Im Frühling 1946 wurde die Presse über das Ergebnis der Testung mit weiteren Patienten informiert.24 Noch im selben Jahr kam das Präparat in den Handel und zu breiter klinischer Anwendung.

PAS hatte weder solche gravierenden Nebenwirkungen wie Streptomycin, noch musste es wie dieses gespritzt werden; man konnte es schlucken. Auch war PAS einfacher durch chemische Synthesen herzustellen als das biotechnologisch erzeugte Strepto-mycin. Aber beide Medikamente hatten nur eine bakteriostatische Wirkung, das heisst sie hemmten das Wachstum der Tuberkel-bazillen, konnten sie aber nicht abtöten. Zudem entwickelten sich schnell Resistenzen gegen beide Medikamente. Mit einer Kombinationstherapie aus beiden Medikamenten konnte man Patienten helfen, bis Erkrankungen mit neuen Tuberkelbazillen auftraten, die gegen beide Mittel resistent waren.

Zu toxisch, aber doch den Weg weisend: die Thiosemicarbazone

Bei Bayer hatte man die Tuberkulose-Forschung mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zunächst aufgegeben. Domagk, damals tätig am Forschungsinstitut für experimentelle Pathologie und Bakteriologie der Farbenfabriken Bayer in Wuppertal-Elberfeld, befürchtete jedoch aufgrund seiner Erfahrungen im und nach dem Ersten Weltkrieg eine neue Tuberkulose-Epidemie. Am 9. November 1940 riet er in einem Schreiben an das Management von Bayer dringend dazu, die Tuberkulose-Forschung wieder aufzunehmen. Schon bald nach Wiederaufnahme der Experi-mente entdeckte Domagk, dass von den Sulfonamiden «die thia-zolhaltigen einen bemerkenswerten Hemmungseffekt gegenüber Tuberkelbacillen entfalteten».25 Und bereits im November 1941

21 Bernheim F. The effect of salicylate on the oxygen uptake of the tubercle bacillus. Science. 1940 Aug 30;92(2383):204.

22 Bernheim F. The effect of various substances on the oxygen uptake of the tubercle bacillus. J Bacteriol. 1941 Mar;41(3):387-95

23 Ryan F. Tuberculosis: The greatest story never told. Bromsgrove (UK): Swift Publishers Ltd; 1992.

24 Ryan F. Tuberculosis: The greatest story never told. Bromsgrove (UK): Swift Publishers Ltd; 1992.

25 Domagk G, Offe HA, Siefken W. Weiterentwicklung der Chemotherapie der Tuberkulose. Beitr Klin Tuberk Spezif Tuberkuloseforsch. 1952 Aug 22;107(4):

325-37.

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Tibione (Conteben)

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war den Experten in Elberfeld bekannt, dass die Thiosemicarba-zone eine bemerkenswerte antituberkulöse Wirkung im Kultur- und Tierversuch aufwiesen. In der ersten Hälfte des Jahres 1944 musste diese Forschung aber erneut eingestellt werden: Nach einer massiven Bombardierung war die Stadt Elberfeld nur noch ein Trümmerhaufen. Die meisten von Domagks Mitarbeitern waren obdachlos, verwundet oder tot.

Viele Schwierigkeiten mussten überwunden werden, um der Tuberkulose-Forschung bei Bayer nach dem Krieg wieder Leben einzuhauchen: Erst im Oktober/November 1945 gestattete die britische Besatzungsmacht die Wiedereröffnung der Elberfelder Forschungslaboratorien. Im kriegszerstörten Deutschland zu diesem Zeitpunkt Materialien für die Forschung aufzutreiben, war zudem alles andere als einfach: «Dazu kam, dass in den ersten Nachkriegsjahren infolge der schwierigen Ernährungsverhältnisse das für die pharmazeutische Forschung nun einmal unumgäng-lich notwendige Tiermaterial kaum zu beschaffen war, da es entweder der menschlichen Ernährung zugeführt wurde oder wegen Futtermittelknappheit gar nicht erst gezüchtet werden konnte»27, erinnerte sich 1956 Fritz Mietzsch28 (1896–1958). Das Hauptproblem war jedoch die Rekrutierung neuer Mitarbeiter. Viele Mitglieder der alten Belegschaft hatten ihr Leben lassen müssen oder waren durch den Krieg in alle Winde zerstreut wor-den. Dies galt übrigens auch für Domagks Familie: Seine Mutter war auf der Flucht aus Ostpreussen verhungert. Seine Schwester überlebte die Flucht und erreichte Wuppertal im Januar 1946 «in bedauernswertem Zustand».29 Seine Frau und drei seiner Kinder waren noch evakuiert.

Trotzdem kam die Forschung mit den Thiosemicarbazonen so gut voran, dass Domagk 1946/1947 ihre klinische Erprobung für gerechtfertigt hielt. Eine dieser Substanzen, das p-Acetylamino-benzaldehyd-thiosemicarbazon, erwies sich als besonders wir-kungsvoll und sollte später in Europa als Conteben vermarktet werden.

In den USA wurde es Tibione genannt, abgeleitet von «TB one». Allerdings wurden die Erfahrungen über die klinische Anwendung «nur zögernd und in relativ geringer Zahl publi-ziert, da sich das mittlerweile verfügbare Streptomycin, meist zusammen mit PAS, als Mittel der Wahl durchsetzen konnte und sich der Anwendungsbereich der Thiosemicarbazone wegen ihrer toxischen Nebenwirkungen und der relativ bescheidenen Wirksamkeit bei bestimmten Tuberkuloseformen mehr und mehr einengte».30

Nur gering gegen Tuberkulose wirksam und trotzdem viel bewirkend: ein B-Vitamin

Paris im Jahr 1945: Trotz eines entsprechenden Befehls von Hitler hatten die Deutschen beim Abzug die Stadt nicht zerstört. Am Institut Pasteur beschäftigte sich der Franzose Vital Chorine mit Tuberkulose und fand heraus: Die Tuberkulose des Meer-schweinchens lässt sich mit Nikotinsäureamid, einem Vitamin des B2-Komplexes, positiv beeinflussen. Diese Neuigkeit wurde von den Chemikern bei Bayer mit Interesse aufgenommen und sollte etwas später auch deren Wirkstoffsynthesen beeinflussen.

Diese Erkenntnis liess aber auch Experten der Firma Roche aufhorchen, der damals bedeutendsten Produzentin von Vita-minen. Neben dem Aufbau entsprechender Labor-Forschungs-kapazitäten für die Tuberkulose-Forschung liess Roche klinische Studien mit Nikotinsäureamid bei Tuberkulose-Patienten in der

26 Domagk G. Lebenserinnerungen Band 1 S. 267 Bayer Archiv Leverkusen.

27 Mietzsch F. Die Pharmazeutische Nachkriegsforschung der Farbenfabriken Bayer Aktiengesellschaft. Medizin und Chemie Bd.V. Weinheim/Bergstr.: Verlag Chemie GmBH; 1956; S. 11-24.

28 Professor Fritz Mietzsch (1896–1958) wurde 1954 Leiter der Elberfelder Forschung.

29 Domagk G. Lebenserinnerungen in Bildern und Texten. Leverkusen: Bayer AG; 1995; S. 46.

30 Fust B, Wernsdorfer G, Wernsdorfer W. Erfahrungsbericht des Teams der Gesellschaft Schweizerischer Tuberkuloseärzte zur klinischen Prüfung von Rimifon. Schweiz Z Tuberk. 1955;12(Suppl 1):1-344.

Domagk: «Mein Verdienst an der Auffindung der Tuberkuloseheilmittel ist im übrigen die Tatsache, dass ich 20 Jahre an dem fast allen hoffnungslos erscheinenden Problem unter steter Gefährdung für mich und meine Mitarbeiter arbeitete, selbst alle Verantwortung für diese Arbeiten trug und sie trotz aller Enttäuschungen nicht aufgab.» 26

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Schweiz und im benachbarten Frankreich, aber auch in Portugal und in Italien, durchführen. Die Ergebnisse dieser klinischen Studien fielen jedoch nicht eindeutig aus.

Die bei Roche in Basel tätigen Forscher Bernhard Fust31 (1910–1973) und Alfred Studer (1917–2005) bestätigten die Befunde von Chorine in Tierversuch und zeigten, dass Niko-tinsäureamid in hohen Dosen (2.8 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht) die Tuberkulose noch günstiger beeinflusst als Streptomycin oder PAS.

Aber diese hohen notwendigen Dosen bedeuteten für Nikotin-säureamid letztlich das «Aus» als potenzielles Tuberkulose-Medi-kament. Denn wie in einem internen Bericht festgehalten wurde, hätte man, um einen ähnlichen Effekt wie beim Meerschweinchen zu erzielen, einem 60 Kilogramm schweren Menschen täglich 168 Gramm Wirkstoff verabreichen müssen.32 Aufgrund des Preises und der Nebenwirkungen konnte das kein Medikament für Mil-lionen von Patienten werden. Allerdings wurde das «Pellagra-Vitamin» in weit geringeren Dosen dennoch in seltenen Fällen eingesetzt, 1952 zum Beispiel bei einigen der ersten Patienten, deren Tuberkelbazillen auch eine Resistenz gegen Isoniazid (INH, Rimifon) entwickelten.33

Und doch bewirkten die Untersuchungen mit dem B-Vitamin Gutes: Eine Molekülstruktur des Nikotinsäureamids, der Pyrin-dinring, sollte unverzichtbarer Bestandteil des ersten wirklichen Tuberkulose-Heilmittels werden.

Isonikotinsäurehydrazid (INH): ein Zwischenprodukt wird mehrfach Klinik-Kandidat

In den Chemotherapy Laboratories der Hoffmann-La Roche Inc. in Nutley, New Jersey, begannen 1949 der deutsche Mediziner Robert Julius Schnitzer (1894–1987) und der amerikanische Bak-teriologe Emanuel Grunberg (1922–1995) mit der Tuberkulose-Forschung. Sie testeten Kombinationen von Nikotinsäureamid, Conteben und PAS34 an intravenös mit H37Rv infizierten Mäusen.

Wie Domagk hatte Schnitzer zu diesem Zeitpunkt schwere Jahre hinter sich und wahrscheinlich waren sich die beiden vor dem Krieg sogar einmal begegnet. Geboren in Berlin, hatte Schnit-zer dort von 1913 bis 1918 Medizin studiert. 1919 – als auch in Berlin die Spanische Grippe wütete – war er Assistent an der Cha-rité und danach neun Jahre in der Abteilung für Chemotherapie am Berliner Robert Koch-Institut tätig. Ab 1928 war er Leiter der

Abteilung für Chemotherapie der I.G. Farben, Werk Höchst bei Frankfurt am Main.35

Schon bei Höchst arbeitete Schnitzer an einer chemotherapeu-tischen Behandlung der Tuberkulose. Am 24. August1938 erhielt er dort als Nichtarier die Kündigung und nur wenig später, am 30. September, entzog man ihm die Approbation. «Er arbeitete daraufhin im Jüdischen Krankenhaus – Cleaning the dishes», wie er später berichtete.36 Am 12. November desselben Jahres wurde er in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert und im Januar 1939 von dort mit der schriftlichen Verpflichtung ent-lassen, Deutschland innerhalb von vier Wochen zu verlassen. Schnitzer schickte daraufhin seine Kinder Muriel und Bertram mit einem Kindertransport nach Belgien und floh selbst mit seiner Frau und den zehn Reichsmark, die er mitnehmen durfte, nach Frankreich. Dort fand die Familie wieder zusammen. Schnitzer arbeitete für einige Monate bei Rhône Poulenc und bewarb sich auch bei Roche. Die Firma konnte für Schnitzer jedoch nicht

36 Lindner M, Lindner SH. Das Ende des «Zauberbergs»: Robert Julius Schnitzer und die erfolgreiche Bekämpfung der Tuberkulose. Atemwegs- und Lungenkrankheiten. 2004 Apr;198-203.

31 Der Mediziner Professor Dr. Med. Bernhard Fust hatte sich bereits während seiner Doktorandenzeit mit Tuberkulose beschäftigt. 1949 wurde er von der F. Hoffmann La Roche & Co. AG als Leiter der Abteilung für Chemotherapie berufen. Diese Position hatte er bis 1967 inne und war gleichzeitig Dozent an der Berner Universität.

32 HAR: PD.3.1.RIM-102670 b N589.33 Wiesmann E, Wanner J, Tanner E. Erste

Beobachtungen von Rimifon Resistenz. Schweiz Med Wochenschr. 1952 Aug 2;82(31):785-7.

34 Grunberg E. Schnitzer RJ. The in vivo antitubercular activity of the combination of p-aminosalicylic acid, nicotinamide and tibione (Ro-1-6317). Report 6917 to Management 7.3.1950.

35 HAR: PE1.S-106962a.

Robert Julius Schnitzer (links) und Emanuel Grunberg tes-teten mit ihren Mitarbeitern in Nutley ab 1949 die Wirkung der bei Roche als Antituber-kulosemittel synthetisierten Substanzen in Mäusen.

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Nikotinsäureamid

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Isoniazid

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Die Infektion der Mäuse erfolgte durch Injektion der Bakterien in die Schwanzvene der Tiere, hier vorgenommen von der Assistentin Barbara Lievan. Eigentlich wurden für Tierversuche in der Tuberkuloseforschung bevorzugt Meerschweinchen eingesetzt. Weil deren Haltung schwieriger war und ausserdem mehr Platz beanspruchte, der in Nutley nicht vorhanden war, entschied Schnitzer, die Versuche an Mäusen durchzuführen.

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sofort ein Visum erwirken. Deshalb ging Schnitzer zunächst für zwei Jahre nach Kanada und arbeitete im Connaught Laboratory der Universität Toronto. 1941 kam er dann als Leiter des chemo-therapeutischen Labors zu Roche in Nutley. Ab 1946 arbeitete er dort mit dem Bakteriologen Grunberg zusammen. Grunberg hatte 1946 an der Yale Universität promoviert und arbeitete bei Roche zunächst wie Schnitzer an Sulfonamiden.37

Als Schnitzer und Grunberg mit der Tuberkulose-Forschung begannen, fanden sie sehr schnell heraus, dass die Kombination von PAS, Nikotinsäureamid und Conteben die Tuberkulose bei Mäusen stoppen konnte, auch wenn PAS und Nikotinsäureamid in Dosen gegeben wurden, die für sich alleine wirkungslos waren. Die drei Substanzen, so ihre Schlussfolgerung, wirken synergis-tisch zusammen. Schnitzer und Grunberg testeten auch viele neue Substanzen, welche die Chemiker in Nutley, ausgehend von der Struktur des Nikotinsäureamids und der allgemeinen Strukturfor-mel der Thiosemicarbazone, synthetisierten. Darunter befand sich

auch das vom Chemiker Herrman Herbert Fox (wahrscheinlich geb. 1912) erstmals am 12. August 1949 als Zwischenprodukt erhaltene Isonikotinsäurehydrazid (INH), welches von Fox unter der internen Präparate-Nummer Ro 2-3973 am 7. Juli 1950 zur Prüfung auf antituberkulöse Wirkung eingewiesen wurde.

Grunberg und Schnitzer sollte diese Substanz im Sommer 1950 erstmals mit einer ausserordentlichen Aktivität gegenüber Tuberkelbazillen überraschen.38 Wieder nutzten sie für ihre Expe-rimente die mit H37Rv-Tuberkelbazillen infizierten Mäuse. Im Report Nummer 7273 vom 20. Dezember 1950 berichteten sie an das Management von Roche:

37 Böhni, E. Montavon M, Studer, RO. Zum Hinschied des Bakteriologen Emanuel Grunberg: Ein Original mit Spürsinn und Rückgrat. Roche Nachrichten. 1995; 3:7-8.

38 Fust B. Orientierung über das Antituberculo-ticum Rimifon Roche. Schweiz Med Wochen-schr. 1952 Mar 29;82(13):333-5.

«Eine Substanz, Ro 2-3973, schien eine ganz besondere Aktivität aufzuweisen. Obwohl ihre Toxizität im gleichen Bereich wie die anderer Mitglieder dieser Gruppe lag, war die Aktivität in den mit Tuberkulose infizierten Mäusen ungewöhnlich hoch, 20-mal höher als die von Streptomycin und mehr als 10-mal höher als die von Tibione…Ro 2-3973 scheint darüber hinaus noch eine weitere unge-wöhnliche Eigenschaft aufzuweisen. Wie allgemein bekannt, zeigen PAS und Streptomycin im Mäuseversuch einen strikten bakteriostatischen Effekt. Wie von uns zuvor beschrieben wurde, entwickeln die mit Tuberkelbazillen intravenös infizierten Tiere gewöhnlich nach Abbruch der effektiven 21-tägigen Behandlung nach weiteren drei Wochen eine Miliartuberkulose. In einem ähnlichen Experiment mit Ro 2-3973 wurde gefunden, dass Mäuse, intravenös infiziert mit einer Standarddosis von M. tuberculosis H37Rv und 21 Tage lang behandelt mit einer Dosis von 250 mg/kg oder 50 mg/kg, verabreicht mit der Nahrung, nach drei weiteren Wochen ohne Behandlung die erwartete Miliartuberkulose nicht entwickelten.»

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Iproniazid (Marsilid)

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Herrman Herbert Fox synthe-tisierte bei Roche erstmals am 12. August 1949 Isonikotin-säurehydrazid (INH) und wies es zur Testung als Antituberkulose-mittel ein.

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Aufzeichungen im Laborjournal von Herrman Herbert Fox vom 12.8.1949.

Im Dezember 1950 wiesen auch die Basler Laboratorien von Roche Ro 2-3973 «zur Prüfung auf tuberculocide [abtötende] Wirkung» ein. Es folgten Untersuchungen von Ro 2-3973 (INH) und Ro 2-4572 (dem später Marsilid getauften Isopropyl-Derivat von INH) an mit Tuberkulose infizierten Meerschweinchen und Affen. Die Verträglichkeiten der Substanzen wurde an Affen, Hunden, Ratten und Mäusen getestet; und die chronische Toxi-zität von INH in der Zeit vom Dezember 1950 bis Mai 1951 bestimmt.

INH hatte schon in den Kulturversuchen eine deutliche Überlegenheit gegenüber anderen Derivaten gezeigt. Es konnte noch in einer Verdünnung von 1 : 60 Millionen eine antitu-berkulöse Wirkung gegenüber H37Rv-Tuberkulosebakterien entfalten. Zum Vergleich: Das Isopropylderivat wirkte nur bis zu einer Verdünnung 1 : 600 000 hemmend auf Tuberku-losebakterien. Trotzdem wurden bei Roche weitere ähnliche Verbindungen synthetisiert und im Labor getestet. Unter den drei, die schliesslich von Edward Heinrich Robitzek (1912–1984) und Irving J. Selikoff (1915–1992) am Sea View Hospital von Staten Island, einem Städtischen New Yorker Institut für Tuber-kulosekranke, ab Juni 1951 klinisch getestet wurden, waren ein Glukosyl-Derivat von INH (ab dem 19. Juni 1951), das Isopropyl-Derivat von INH (Testung ab dem 2. Oktober 1951) und das INH selbst, welches als letztes erst ab dem 17. Dezember 1951 getestet wurde.39

39 Robitzek EH, Selikoff IJ. Hydrazine derivatives of isonicotinic acid (rimifon, marsilid) in the treatment of active progressive caseous-pneumonic tuberculosis; a preliminary report. Am Rev Tuberc. 1952 Apr;65(4):402-28.

Es waren die allerschwersten und hoffnungslosen Tuberkulose-Fälle, die erstmals eine dieser Substanzen in Dosen von zwei bis vier Milligramm, später auch zehn Milligramm Substanz pro Kilogramm Körpergewicht, erhielten. Alle anderen Behandlungs-möglichkeiten, die von strikter Bettruhe und einer medikamen-tösen Therapie mit Streptomycin oder Streptomycin und PAS (bei den meisten Patienten), über chirurgische Resektionen der Tuberkulose-Herde und bis hin zum Pneumothorax (bei einigen Patienten) reichten, waren ausgeschöpft und erfolglos geblieben. Die Patienten, zwischen zehn und 70 Jahren, grösstenteils jedoch zwischen 20 und 39 Jahre alt, waren abgemagert, fiebrig, kraft- und appetitlos und hatten starken Husten. In ihrem Auswurf wimmelte es nur so von Tuberkulosebakterien.

Bei den meisten der bislang unheilbaren Kranken sank das Fieber schon nach wenigen Tagen, manchmal sogar schon 36 Stunden nach Behandlungsbeginn. Und schon nach wenigen Wochen stellte sich auch eine Gewichtszunahme ein, so dass

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alle nach etwa acht Wochen wieder ihr Normalgewicht erreicht hatten. Manche nahmen innerhalb von neun bis 15 Wochen Therapie fünf bis 14 Kilo zu! Der Hustenreiz wurde gelindert, der Auswurf vermindert und der Allgemeinzustand der Pati-enten beträchtlich gebessert. Bei einigen waren sogar weder im Magensaft noch im Auswurf Tuberkelbazillen nachweisbar. Die Substanzen vermochten die Bakterien also wirklich abzutöten – im Tier wie im Menschen, was bisher weder mit Streptomycin noch mit PAS beobachtet worden war.

Als man Roche Firmenchef Emil C. Barell (1874–1953) bei einem Besuch in den USA 1951 die ersten Ergebnisse mit INH präsentierte, soll er gesagt haben:

Diese ritterliche Absicht wurde Wirklichkeit, wenn auch auf andere Art und Weise, als es sich alle Beteiligten damals wohl vorstellten. Denn mehrere Firmen brachten das Medikament 1952 auf den Markt. Und so fiel der Preis dafür – schon wegen der starken Konkurrenz – ziemlich bald sehr moderat aus. INH in Kulturversuchen sowie an Tier und Mensch erforscht hatten jedoch nur die Firmen Roche, Squibb und Bayer.

Die Tuberkulose war ein medizinisches Problem ersten Ran-ges auf beiden Seiten des Atlantiks. Im Nachkriegsdeutschland aber war sie so allgegenwärtig geworden, dass sich beispielsweise ein «Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose in der bri-tischen Zone» gezwungen sah, ärztliche und Fürsorge-Richtlinien für die Arbeitsvermittlung Lungentuberkulöser» aufzustellen.41,42

Die Firma Bayer betrieb am Forschungsstandort Elberfeld nun nicht nur intensiv die Suche nach neuen Tuberkulose-Mitteln, ab September 1949 hatte die Firma auch das «alte» Tuberkulose-Medikament PAS als Pasalon im Angebot, seit Februar 1950 Streptomycin43 und seit 1950 das von der Firma selbst entwickelte Conteben. Wie Schnitzer und Grunberg in Amerika, testete auch Domagk in Deutschland Kombinationen bereits vorhandener Tuberkulose-Mittel. Er führte umfangreiche Experimente mit PAS, Streptomycin und Conteben in vitro mit Tuberkulosebakterien auf verschiedenen Nährböden und in vivo an mit humanen Tuberkelbazillen infizierten Meerschweinchen sowie an mit Erregern der Rindertuberkulose infizierten Kanin-chen durch.

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Dr. Edward Robitzek im Sea View Hospital von Staten Island.

«Gentlemen, dieses neue Roche-Medikament ist ein solch bedeutender Beitrag zur Menschlichkeit, dass wir es zu einem Preis vertreiben sollten, dass auch arme Menschen überall auf der Welt es ohne Schwierigkeit erhalten können. In diesem Fall sollten wir uns nicht über Profite sorgen, sondern uns darauf konzentrie-ren, dass genug für Jeden da ist, der es benötigt.»40

In diesem, 30 Meilen von New York entfernten Gebäude befand sich das Labor, in dem die antituberkulöse Wirkung von Isoniazid bei Roche entdeckt wurde.

40 Zobel A. Brief vom 10.7.1979 an Marcus Tschudin, Roche Nachrichten, Historisches Archiv Roche PE I.Z-1022291.

41 Bayer Archiv Leverkusen (BAL) 316 003 07542 Die Aufgaben dieses Zentralkomitees

umfassten neben dem Arbeitseinsatz und der Arbeitstherapie von Tuberkulosekranken auch das Fürsorge- und Heilstättenwesen, die Asylierung, Dispositions- und Expositionsprophylaxe, Desinfektion, Forschung und Wissenschaft, Soziologie, die hygienische Volksaufklärung und Propaganda sowie die laufende Statistik der Tuberkulose.

43 Ich danke Frau Monika Gand, Bayer Archiv Leverkusen für diese Information.

Daniel Murphy, 61, war einer der todgeweihten Tuberkulose-Patienten, an denen Isoniazid erstmals getestet wurde. Tuberkulosebakterien hatten sich in seiner Zunge eingenistet, die so geschwollen war, dass er nicht mehr essen und fast nicht mehr sprechen konnte. Bei seiner Ankunft im Spital soll er, gemäss Dr. Robitzek, mühsam geäussert haben: «Ich glaube an nichts mehr, je früher es zu Ende geht, desto besser.» Während der ersten Tage im Krankenhaus wurde er künstlich ernährt. Es dauerte ungefähr zwei Wochen bis die Behandlung mit Isoniazid ansprach; nach einem Monat konnte er fast ohne Probleme wieder essen und die Zunge sah normal aus. Auf dem Bild ist er mit seiner Krankenschwester Effie K. Whitted zu sehen und hat offensichtlich seinen Lebensmut wiedergefunden.

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Wie bereits erwähnt, kannte man bei Bayer auch die Arbeiten mit dem Nikotinsäureamid. Und so kam man auch dort bald der antituberkulösen Wirkung von INH auf die Spur.44 Aus-gehend von den Thiosemicarbazonen wurden systematisch verschiedene Thiosemicarbazide und Carbonsäurehydrazide getestet und dabei wohl am 28. März 1951 erstmals das INH.45 Domagk schilderte die Entdeckung der antituberkulösen Wir-kung der Substanz in der Deutschen Medizinischen Wochen-schrift 1952 mit den Worten: «Zu besonders interessanten Ergebnissen gelangten die weiteren experimentellen Unter-suchungen als mir von Offe (Wissensch. Hauptlaboratorien, Leverkusen) Substanzen zur Prüfung auf ihre tuberkulostati-schen Eigenschaften zur Verfügung gestellt wurden, von denen er auf Grund bestimmter Vorstellungen über die Beziehung zwischen chemischer Konstitution und tuberkulostatischer Wirksamkeit, über die wir an anderer Stelle berichtet haben, besondere tuberkulostatische Eigenschaften erwartete. Die Untersuchung dieser Substanzen erwies sich als sehr lohnend, da es sich um eine für die Chemotherapie der Tuberkulose völlig neuartige Stoffgruppe handelte, von der somit u. U. auch eine andere Wirkungsweise auf den Tuberkelbazillus erwartet werden konnte als von den bisher bekannten Tuberkulostatizis. Die umfassende chemische Bearbeitung dieser Gruppe wurde später gemeinsam von Offe und Siefken durchgeführt. Eine grosse Anzahl von Säurehydraziden und davon abgeleitete Hydrazidhydrazone sowie ähnlich gebaute zyklische Verbin-dungen – insgesamt über 500 Präparate – wurden geprüft. Mit einigen Verbindungen dieser neuen Stoffgruppe, insbesondere dem Isonikotinsäurehydrazid (Neoteben) sowie mit seinen Hydrazonen, z. B. dem Glukosederivat und den Abkömm-lingen von zyklischen und heterozyklischen Oxoverbindungen, erreicht man im Experiment zum Teil erheblich günstigere Resultate als mit PAS oder auch dem Streptomycin. Über-raschend war dabei, daß Verbindungen aus der Reihe des Nikotinsäurehydrazids unseren Ansprüchen im Tierexperi-ment nicht voll genügten, während entsprechende Derivate der Isonikotinsäure-Reihe befriedigten.»46

In den Unterlagen des Historischen Archivs von Bayer in Leverkusen findet sich ein Brief des Chemikers Hans Albert Offe (1912–1993) an Domagk vom 3. September 1951. Darin schreibt er über das bei Bayer mit der Präparate-Nummer OS 711 versehene INH: «Die Ergebnisse Ihrer in vitro-Ver-suche und einiger Ihrer Tierversuche am Isonikotinsäure-

44 Domagk G. Lebens erinnerungen in Bildern und Texten. Leverkusen: Bayer AG; 1995; 55.

45 McDermott W. Isonicotinic acid derivatives in tuberculosis treatment; history of the development of the drugs. Trans Annu Meet Natl Tuberc Assoc. 1952;48:421-4.

46 Domagk G, Offe HA, Siefken W. Ein weiterer Beitrag zur experimentellen Chemotherapie der Tuberkulose (Neoteben). Dtsch Med Wochenschr. 1952 May 2;77(18): 573-8.

47 BAL 3160 003 089: Brief von Offe an Domagk.

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Die Chemiker Hans Siefken (links) und Hans Albert Offe synthetisierten bei Bayer neue Antituberkulosemittel, unter ihnen auch Isoniazid.hydrazid und seinen Derivaten legen den Gedanken nahe,

auch wenigstens eines der Derivate alsbald toxikologisch und pharmakologisch von Dr. Hecht prüfen zu lassen… Die ersten 3 kg OS 711 sind am 31.7. 1951 zum Tablettieren gegeben worden, weitere grössere Mengen sind bald fertig, so dass mit der klinischen Prüfung im Oktober begonnen werden kann.»47

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Wenige Tage später besuchte Domagk in New York die Sitzungen des XII. International Congress of Pure and Applied Chemistry, auf welcher der Roche-Chemiker Fox gleich drei Vorträge über synthetische Tuberculostatica hielt. In den veröffentlichten Kurz-fassungen eines dieser Vorträge findet sich auch die Strukturfor-mel von INH. Allerdings tauchte die Formel nur als Zwischenpro-dukt einer Synthese auf, die zu einem Thiosemicarbazon-Derivat von INH führte.49

Warum war Fox das Risiko eingegangen, INH zu zeigen? Vermutlich, weil es für ihn gar keines war. Die Substanz INH

an sich liess sich nicht mehr patentieren, denn sie war schon 1911 von Hans Meyer und Josef Mally an der Karls-Universität in Prag synthetisiert, aber nicht weiter hinsichtlich ihrer bio-logischen Eigenschaften untersucht worden.50 Nahm Fox trotz der überaus klaren Ergebnisse der mikrobiologischen Testung im Labor die nicht patentierbare Substanz zu diesem Zeitpunkt nicht als das Heilmittel ernst, welches es werden sollte? INH war zwar, wie bereits erwähnt, von Roche mit zwei weiteren Derivaten schon zur klinischen Testung eingewiesen, aber die patentierbaren INH-Derivate hatten dabei Vorrang. INH aus den Laboratorien von Roche wurde erst im Dezember 1951 bei Tuberkulose-Patienten getestet.

Was mag in Domagk vorgegangen sein, als er den Foxschen Kurzbeitrag las und darin die Formel von INH als Zwischenpro-dukt einer Synthese sah? In seinen überlieferten Tagebuch-Auf-zeichnungen findet sich darüber nichts. Darin hielt er lediglich fest, dass er auf dieser Konferenz dazu eingeladen wurde, aus dem Stegreif einen 15-minütigen Vortrag über Tuberkulose-Mittel zu halten, da der Vortrag eines Italieners ausfiel. «Es war mein erster unvorbereiteter Vortrag in englischer Sprache», schrieb er in seinem Bericht über die Amerika-Reise.51 Domagk berichtete in seinem improvisierten Vortrag ebenfalls über die antituberkulöse Wirkung von Thiosemicarbazonen sowie über die von Hydrazonen. Die Formel von INH zeigte er nicht.

Nach seiner Rückkehr nach Deutschland Anfang Oktober veranlasste Domagk jedoch umgehend die Einweisung von OS 711 zur klinischen Prüfung bei Tuberkulose-Patienten durch Professor Philipp Klee (1884–1978) von der Medizinischen Klinik der Städtischen Krankenanstalten Wuppertal-Elberfeld.52 In Klees Klinik nannte man das Präparat Novoteben. Am 20. Februar 1952 taufte Bayer OS 711 in «Neoteben» um. Dabei handelte es sich um eine eingetragene Warenbezeichnung, die schon einmal kurzfristig für eine andere, später wieder aufgege-bene Thiosemicarbazon-Verbindung von Bayer genutzt worden war, was noch zu einigen Missverständnissen führen sollte.

Domagk muss bereits im Dezember 1951 vom aussergewöhn-lichen Potenzial von OS 711 überzeugt gewesen sein, denn er schrieb an den Leiter des wissenschaftlichen Hauptlaboratoriums der Farbenfabriken Bayer Leverkusen, Professor Dr. Otto Bayer, am 4. Dezember 1951: «Ich bin begründet «optimistisch» und würde es für richtig halten, wenn OS 711 und OF 807 schon heute im Grossen hergestellt würden, auch wenn noch keine klinischen Ergebnisse vorliegen, ausser der Tatsache, dass selbst OS 711,

«Nur halte ich es für vordringlich, dass wenigstens über OS 711 und seine Derivate in der mit Herrn Prof. Bayer und Herrn Dr. Offe formulierten Weise eine vorläufige Mitteilung erfolgt, um unsere Priorität zu wahren und die Verdienste unserer Firma und unserer Laboratorien heraus-zustellen, in denen die Pionierarbeit geleistet worden ist, ehe noch mehr durchsickert und nachgearbeitet wird.»48

Auf dem XII. International Congress of Pure and Applied Chemistry im September 1951 zeigte der bei Roche tätige Chemiker Herbert Herman Fox erstmals öffentlich die Formel von Isoniazid (INH), allerdings nur als Zwischenprodukt auf dem Weg zur Synthese eines komplizierter aufgebauten Thiosemicarbazons, wie auf diesem Ausschnitt aus dem Zeitungsband mit Kurzfassungen der Vorträge zu erkennen ist. Zu diesem Zeitpunkt hatte Roche INH schon zur Testung an Tuberkulose-Patienten eingewiesen.

48 BAL 316 003 089: Brief von Domagk an Direktor Mertens vom 6.9.1951.

49 Fox HH. Synthetic tuberculostats: III. Isonicotinaldehyde thiosemicarbazone and some related compounds. XIIth International Congress of Pure and Applied Chemistry.1951 Sept 9–13; Abstract of Papers. 299.

50 Meyer H. Mally J. Hydrazine derivatives of pyridinecarboxylic acids. Monatshefte für Chemie. 1912; 33:393-414.

51 BAL 316/236.52 Brief an Professor Dr. A. Butenandt, Max

Planck Institut für Biochemie, Tübingen vom 24.4.1952.

Domagk schrieb daher am 6. September 1951 an Direktor Mertens:

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das die Pharmakologen als schlecht verträglich beurteilen, doch beim Menschen überraschend gut verträglich ist. An der PAS überlegenen Wirkung auch in der Klinik kann nach unseren expe-rimentellen Ergebnissen überhaupt kein Zweifel mehr bestehen und es wäre schade, wenn wir durch die klinischen Prüfungen allzu viel Zeit verlören. Nur wenn bald soviel OS 711 vorrätig ist, dass Sie allen Ansprüchen genügen, können Sie das Weltgeschäft von PAS übernehmen und PAS aus dem Sattel heben.»53,54

Im Squibb-Institut für medizinische Forschung der amerika-nischen Firma E.R. Squibb und Sons, welches ebenfalls in New Jersey, in New Brunswick, nur rund eine halbe Auto-Stunde vom Roche-Forschungsstandort entfernt, angesiedelt war, fand man 1951 ebenfalls die antituberkulöse Wirkung von INH. Die Forscher von Squibb und Roche in New Jersey kannten einander. Inwieweit dies die fast zeitgleiche Entdeckung von INH gefördert hat, darüber kann heute, 60 Jahre später, nur spekuliert werden.

Nach einem Artikel aus dem Jahr 1978 waren damals 40% der wissenschaftlichen Mitarbeiter des Squibb-Institutes in die Suche nach oral verfügbaren Tuberkulose-Medikamenten ein-gebunden. Eine Mannschaft von 24 Forschern testete mehr als 8000 Substanzen. Und auch bei Squibb war es wohl so, dass ein Chemiker, Harry L. Yale, im Sommer 1951 INH (SQ 7425) «nur» als Zwischenprodukt in einem sechsstufigen Syntheseprozess zu einem vermeintlichen Tuberkulose-Mittel, dem Isonikotinsäure-aldehyd-Thiosemicarbazon, synthetisierte. Er gab das Zwischen-produkt lediglich deshalb seinen Kollegen zum Testen, weil dies so vorgeschrieben war.55

«Am Silvestertag des Jahres 1951 stellte sich heraus, dass die Forscher der amerikanischen Firma Squibb zur selben Zeit die gleiche Substanz testeten», erinnerten sich Roche-Forscher Jahre später in den Roche-Nachrichten.56

Eile war geboten. Am 15. Januar 1952 trafen sich Vertreter der Firmen Roche und Squibb und fanden dabei ganz offiziell heraus, dass es sich in beiden Firmen bei dem verheissungsvollen Klinik-Kandidaten für ein Tuberkulose-Medikament um INH handelte. Der Leiter der amerikanischen Niederlassung von Roche, Law-rence Davis Barney,57 schrieb am 16. Januar 1952 an Barell:

Ende Januar 1952 einigten sich beide Firmen nach einigem Hin und Her darauf, gleichzeitig mit der Meldung über die erstaun-liche Heilkraft von INH an die Öffentlichkeit zu gehen. Sie sollte «in einer führenden medizinischen Zeitschrift zuerst mitgeteilt und dann auf einem öffentlichen Symposium New Yorker Ärzte am 1. April 1952 in den Einzelheiten diskutiert werden…».59 Die Presse sollte am kommenden Tag, dem 2. April 1952, informiert werden.

Eine Sensationsmeldung geht um die WeltEs kam anders: Der Leiter aller Städtischen Krankenhäuser New Yorks, Dr. Marcus D. Kogel, wollte und konnte vielleicht auch angesichts der spektakulären Heilerfolge und der «Pyjama-Par-ties» auf den Tuberkulose-Stationen, nicht warten. Ohne Rück-sprache mit Roche beraumte er am Abend des 20. Februar 1952 eine Sonderpressekonferenz an, auf der von der antituberkulösen Wirkung von Rimifon (INH), Marsilid (Isopropyl-Derivat) und dem Glukose-Derivat von INH berichtet wurde.

«Infolge Indiskretion Kogel bringt amerikanische Presse Arti-kel Rimifon was uns zu entsprechenden Massnahmen zwingt», telegraphierte Roche Nutley am 21. Februar 1951 um 11.50 Uhr nach Basel. Noch am selben Tag ging eine Meldung der Konzern-zentrale an die Schweizer Depeschenagentur:

«Während es zunächst unglaublich klingt, dass zwei Firmen unabhängig voneinander auf diese Substanz kommen wür-den, ist es bei weiterer Betrachtung durchaus plausibel. Der Grund dafür ist, das Squibb in den vergangenen fünf Jahren ein aktives Tuberkulose-Screening-Labor hatte, in dem in dieser Zeit über 5000 chemische Verbindungen getestet wurden. Die Hälfte davon wurde in ihren eigenen Laborato-rien getestet… Wir haben weiterhin erfahren, dass Squibb seit 1950 auf dem Gebiet Isonikotinsäure arbeitet.»58

53 BAL 316 003 089.54 Bei OF 807 handelte es sich nach

Unterlagen im Bayer Archiv Leverkusen um ein INH-Derivat, das Benzol-iso-nikotinsäurehydrazon.

55 Kauffman GB. Isoniazid – Destroyer of the white plague. J Chem Educ. 1978;55(7):448-9.

56 Böhni, E. Montavon M, Studer, RO. Zum Hinschied des Bakteriologen Emanuel Grunberg: Ein Original mit Spürsinn und Rückgrat. Roche Nachrichten. 1995; 3:7-8.

57 Lawrence Davis Barney war von 1944 bis 1965 President and Chairman of the Board von Hoffmann-La Roche Inc., Nutley.

58 HAR: Brief von L.D. Barney an E.C. Barell vom 16.1.1952

59 «Rimifon» die neue Hoffmann-La Roche-Erfindung, Abendblatt 26.2.1952.

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Ebenso wurden die Niederlassungen von Roche in Montreal, Johannesburg, Stockholm, Wien, Grenzach, Buenos Aires, Paris, Mailand, Lissabon, Madrid und Montevideo mit dieser Mittei-lung und einem längeren Text für die Redaktionen medizinischer Zeitschriften versorgt, der «in diesem aussergewöhnlichen Fall als Annonce»60 geschaltet wurde:

«Im Verlaufe langjähriger Forschung ist es der Firma Hoffmann-La Roche gelungen, ein neues Heilmit-tel gegen die menschliche Tuberkulose aufzufinden. Die Substanz, «Rimifon» genannt, hat sich im Verlaufe gross angelegter Versuche in Spitälern und Sanatori-en als wirksamer und verträglicher als die bisherigen Mittel erwiesen. Die Behandlungskosten werden mit Hilfe des neuen Präparates ganz wesentlich gesenkt werden. Es wird weiter geprüft und soll sobald mög-lich allgemein zugänglich gemacht werden.»

Rimifon «Roche» ein neues Antituberculoticum

In gemeinsamer Forschungsarbeit der Laboratorien der Firma Hoffmann-La Roche wurde ein neues Heilmittel gegen die Tuberkulose aufgefunden. Von einer Reihe von Pyridin-verbindungen erwies sich Isonicotinsäurehydrazid, das unter der Bezeichnung Rimifon in den Handel gebracht wird, sowohl im Reagenzglas als auch bei experimenteller Meer-schweinchen- und Mäusetuberkulose als besonders wirk-sam. Im Gegensatz zu den bisher in die Klinik eingeführten Antituberculotica, die im Organismus vorwiegend die Ver-mehrung der Tuberkelbazillen hemmen, ist Rimifon anschei-nend auch im Stande, die Krankheitserreger abzutöten.

Die klinischen Vorprüfungen ergaben ungewöhnlich günstige Resultate. Febrile Patienten mit doppelseitiger käsi-ger Pneumonie, positivem Sputumbefund und hochgradiger Asthenie, deren Zustand hoffnungslos erschien und durch längere Kuren mit Streptomycin und p-Aminosalizylsäure kaum oder nicht beeinflusst werden konnte, wurden unter Rimifon in wenigen Tagen dauerhaft fieberfrei. Der Appetit nahm in erstaunlicher Weise zu, sodass das Körpergewicht im Laufe von 9-15 Wochen um 5-14 kg anstieg. Die für Schwertuberkulöse charakteristische Apathie verschwand, der Hustenreiz wurde gelindert, die Expectoration hörte nach mehreren Wochen auf und bei einigen Patienten liessen sich weder im Sputum noch im Magensaft Tuberkel-bazillen nachweisen. Nebenwirkungen (Obstipation, Hyper-reflexie, Schwindel) waren selten, flüchtig und harmlos. Die systematische Untersuchung wird in gros sem Masstab fortgesetzt. Die Hersteller sind bereit, im Rahmen des Möglichen Versuchsmengen an Interessenten abzugeben.»61

60 HAR: LG.DE-101859p.61 HAR: PD 31.RIM-102670.62 HAR: Brief von L.D. Barney an Emil Barell

vom 24.2.1952.

Im amerikanischen Nutley glühten derweil die Telefondrähte heiss: «Die vergangenen drei Tage waren, milde ausgedrückt, hektisch ….» schrieb am Sonntag, den 24. Februar 1952, Barney an Barell und etwas weiter im Brief: «Dr. Kogels Mittwochnacht-Pressekonferenz startete eine Kettenreaktion von Telefonanrufen die ganze Nacht hindurch, die seither die meiste Zeit tags- und nachtsüber anhalten. Radio-, Presse-, Magazin- und andere Schreiber ersuchen uns um Informationen…. Heute Mittag treffen wir uns mit Vertretern der Nationalen Tuberkulose-Vereinigung, um ihnen zu erklären, dass Dr. Kogel auf eigene Faust und ohne unsere Erlaubnis handelte…»62 Barney konnte der

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Sache allerdings auch etwas Gutes abgewinnen: «Dieses verfrühte Bekanntwerden kann Roche aber auch zum Vorteil gereichen. Am Montagmorgen wird Dr. Sevringhaus die zwei Topleute der Food and Drug Administration mit zum Sea View nehmen, für eine erste Inspektion der klinischen Fälle …. Dies könnte unser Gesuch auf Zulassung und die Erteilung derselben bei der FDA beschleunigen.»

PrioritätenstreitWährend man bei Squibb eher gelassen erstaunt über die nahezu zeitgleiche Entdeckung des INH reagiert hatte63, war man bei Bayer mehr als überrascht über diese Neuigkeit. So sagte der Direktor der Bayer-Werke Leverkusen, Dr. Mertens, in einem Interview mit dem Nordwestdeutschen Rundfunk am 28. Februar 1952:

Es blieb nicht bei diesem Interview, wie die deutsche Niederlas-sung von Roche in Grenzach Mitte März an die Konzernzentrale in Basel berichtete, «Die Reaktion der Farbenfabriken Bayer auf die ersten Mitteilungen über Rimifon aus den USA ist derart, dass wir u. E. hierzu Stellung nehmen müssen. Der zweckmässigste Weg dürfte sein, sich hier mit den in Frage kommenden Herren der Farbenfabriken Bayer zu unterhalten und eine gemeinsame Erklärung herauszugeben…

Es wird beispielsweise in einem bebilderten Artikel im «Quick» Nr. 11 v. 16.3. angegeben, daß aus den Panzerschränken der I.G. Farben bei der Besetzung im Jahre 1945 Forschungsergebnisse von der Besatzungsmacht erbeutet wurden, die den «amerikanischen Firmen Squibb und Hoffmann La Roche» zugänglich gemacht wurden und ihnen die Grundlage für ihre jetzigen günstigen Ergebnisse lieferten….»

In der Folge einigten sich im Juni 1952 beide Firmen darauf, folgende gemeinsame Erklärung in deutschen und schweizeri-schen Fachzeitschriften64 zu veröffentlichen:

«Die sensationell aufgemachte Mitteilung der amerikani-schen Presse, insbesondere der «New York Times», über die Wirksamkeit und die chemische Zusammensetzung des neuen amerikanischen Tuberkulosemittels zwingt uns, aus unserer bisher geübten Reserve herauszutreten. Überraschenderweise stellt sich nun heraus, dass die neuen amerikanischen Präparate chemisch völlig identisch mit den Tuberkulosemitteln sind, die in den letzten Jahren in den Farbenfabriken Bayer entwickelt worden sind. Wir können beim besten Willen nicht entscheiden, wie diese Duplizität der Erfindungen zustande gekommen ist…..»

63 Im Historischen Archiv Roche befindet sich eine Aktennotiz vom 7./8.2.1952: «Herr Dr. Barell berichtete über den Besuch des Präsidenten von Squibb. Letzterer kam doch auf die Tuberkulose-Sache zu sprechen und bemerkte, es sei eigenartig, dass zwei Firmen gleichzeitig dasselbe Präparat gefunden hätten, er lobte bei dieser Gelegenheit die faire Handlungsweise von Nutley.»

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Tuberkulosebazillen im Auswurf (Sputum).

«Die unterzeichneten Firmen stellen nach gegenseitiger Einsichtnahme in die einschlägigen Akten fest, dass sie im Rahmen einer voneinander völlig unabhängigen Forschung auf dem Gebiet Tuberkulose das Hydra-zid der Isonikotinsäure als Mittel zur Bekämpfung der Tuberkulose erkannt haben. Das Isonikotinsäurehydrazid wurde von beiden Firmen unabhängig voneinander im Jahre 1951 in die klinische Erprobung eingewiesen.»F. Hoffmann-La Roche & Co., Aktiengesellschaft, Basel, den 8. August 1952 Farbenfabriken Bayer, Leverkusen, den 8. August 195265

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War die Forschung wirklich völlig unabhängig voneinander? Nein, denn in renommierten wissenschaftlichen Fachzeitschriften waren Artikel über die antituberkulöse Wirkung des Nikotinsäu-reamids und der Thiosemicarbazone und verwandter Verbindun-gen erschienen. Schon ein Blick auf die Struktur dieser Substanzen lässt ahnen, dass wenn Chemiker ausgehend von diesen Struktu-ren mit Molekül-Bausteinen jonglieren, sie eines Tages auch das INH in den Händen halten werden. In allen drei Firmen wurde, ausgehend von Nikotinsäureamid und den Thiosemicarbazonen, intensiv nach Tuberkulose-Medikamenten gesucht. Dabei wurde – eher als Zwischenprodukt – auch INH synthetisiert und als mögliches Tuberkulose-Mittel in die mikrobiologische Testung eingewiesen. Und so nahmen die Dinge ihren Lauf.

Patente und Preise Die verfrühte und überstürzte Mitteilung an die Laienpresse bescherte Roche indes nicht nur Probleme mit Bayer. Die Firma stand nun unter enormem Druck, die Wundermittel Rimifon und Marsilid sowie entsprechende Informationen zur Dosierung und Verträglichkeit auch liefern zu können. Allen Vorgängen, die mit der Testung und Fabrikation von Rimifon zu tun hatten, wurde erste Priorität eingeräumt. In einer internen Mitteilung wies Fir-menchef Barell am 28. Februar 1952 zehn Abteilungen in Basel an:

Es gab viel zu tun. Informiert werden mussten ja neben den Stand-orten von Roche und den Redaktionen in aller Welt, vor allem die Tuberkulose-Spezialisten, und besonders jene, die das Mittel noch testen sollten. Mit Squibb hatte man sich darauf geeinigt, welche Firma mit welchen Prüfärzten zusammen arbeiten würde, mit Bayer wohl nicht. Auch musste das Medikament ja erst noch zugelassen werden. Und nicht zuletzt sollte es jetzt in grossem Ausmass produziert werden.

Vier preisgünstige Varianten standen für die Synthese von INH zur Verfügung. Die Verfügbarkeiten der dafür benötigten

Ausgangsmaterialien auf dem Weltmarkt waren zu prüfen, denn es war klar, dass man mit Wettbewerbern – zumindest mit den beiden nun schon bekannten – um einige Ausgangsmaterialien für die Synthesen konkurrieren würde.

Wie sich bald herausstellen sollte, konkurrierten um die Aus-gangsstoffe auch andere Firmen. Trotzdem kam wohl niemand bei Roche auf die Idee, wegen der zu erwartenden Konkurrenz INH und dessen Isopropylderivat (Marsilid) nicht auf den Markt zu bringen. Es gibt auch keine Hinweise darauf, dass Zweifel bestanden hätten, den Bedarf an den Medikamenten decken zu können. Denn in einer Medienmitteilung vom Februar 1952 heisst es:

Klar aber war den Verantwortlichen bei Roche, dass sie schneller sein mussten als alle anderen, um der Welt zu zeigen: INH, das ist das Medikament Rimifon von Roche.

Im März 1952 produzierte Roche INH an vier verschiede-nen Standorten der Firma nach drei verschiedenen Verfahren: In amerikanischen Nutley wurde es ausgehend von γ-Picolin aus Steinkohlenteer, in Basel aus Zitronensäure und im deut-schen Grenzach sowie im britischen Welwyn aus Pyridin her-gestellt. Das hatte den Vorteil, nicht auf einen Ausgangsstoff angewiesen zu sein. Mangel und Preistreiberei an einem der Ausgangsstoffe für die Synthese von INH konnte so entgegen gewirkt werden.

Am 5. März 1952 brachte Roche in der Schweiz INH als Rimifon auf den Markt. Bereits ab dem 6. März 1952 wurden Rimifon-Tabletten in alle Welt geliefert: zum Verkauf und für klinische Studien. Bis zum 19. September 1952 wurden mehr als 137 Millionen Tabletten mit je 50 Milligramm INH ausgeliefert, das heisst in diesem Zeitraum wurden bei Roche mindestes 7000 Kilogramm Wirkstoff INH zu Tabletten verarbeitet. Im Juni 1952 gab das «Pharmacopoeia Committee» in den USA INH den Substanznamen Isoniazid.68

Betrifft Rimifon

«In Anbetracht der äussersten Dringlichkeit bitte ich Sie, alle Arbeiten im Zusammenhang mit Rimifon mit allen Mitteln zu beschleunigen und dabei auch nicht vor Samstags- oder Sonntagsarbeit zurückzuschrecken.»66

«Die Hoffmann-La Roche Gesellschaft erklärt, dass ausreichende Mengen der Medikamente verfügbar sein werden, sobald die Massenproduktion ins Rollen kommt. Es wird damit gerechnet, dass dieser Zeit-punkt bereits im Mai dieses Jahres sein wird.»67

64 Gemäss den Unterlagen im Historischen Archiv Roche erschien die Erklärung in folgenden Fachzeitschriften: Deutsche Apotheker-Zeitung, Deutsche Medizinische Wochenschrift, Münchener Medizinische Wochenschrift, Pharmazeutische Industrie und Arzneimittelforschung, Experientia, Schweizerische Apotheker-Zeitung, Schweizer Medizinische Wochenschrift und Helvetica Medica Acta.

65 Separatum Experientia. Vol.VIII/9 Basel: Verlag Birkhäuser; 1952; 364.

66 HAR: N 589 PD3.1. RIM-102670.

67 Pressemitteilung der Roche vom Februar 1952: Zwei Medikamente «stoppen Tuberkulose».

68 HAR: PD.3.1. RIM-102670a; Brief von P.J. Cardinal vom 19.6.1952 an Roche

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Das Isopropyl-Derivat mit dem Roche Handelsnamen Marsi-lid erhielt später den Substanznamen Iproniazid. Es kam im Juni1952 auf den Markt.69 Wie sich später zeigte, sorgte Marsilid für eine ungewöhnliche Stimmungsaufhellung bei den Patien-ten. Es wurde daher 1957 auch als Antidepressivum zugelassen. Die Aufklärung des zugrunde liegenden Wirkmechanismus wies den Weg zu einer neuen Klasse von Antidepressiva: den Hemmstoffen der Monoaminoxidase. Aufgrund seiner leber-schädigenden Wirkung wurde Marsilid jedoch zum 1. Mai 1963 von Roche aufgegeben.70

Bayer liess INH in deutschen Tuberkulose-Heilstätten prüfen und brachte es ebenfalls Anfang März 1952 unter dem Handels-namen Neoteben in den Handel.

Zusätzlich zu den erwähnten Auseinandersetzungen zwischen Roche und Bayer wurde von dritter Seite das Gerücht gestreut, erst nach der Bekanntgabe der Heilwirkung des INH hätte Bayer mit der Testung des Mittels begonnen. Dieses Gerücht konnte entstehen, da der Name Neoteben, wie schon erwähnt, zuerst einem anderen Präparat von Bayer zugedacht war. Bayer konnte nachweisen, dass diese Vorwürfe haltlos waren. Dies brachte aber nicht nur für Bayer, sondern auch für Roche viel Aufregung mit sich. Firmenchef Barell sah sich gezwungen, gegenüber Bayer richtigzustellen, dass Roche nicht Urheber dieser Gerüchte war.

Liess sich auch die Substanz INH an sich nicht patentieren, so konnte der Roche-Chemiker Herman Herbert Fox am 7. März 1952 in den USA doch wenigstens ein Verwendungspatent einrei-chen. Es trug den Titel «Zusammensetzungen zur Bekämpfung von Tuberkulose» und wurde am 6. Mai 1952 erteilt. Patentiert wurden «Kompositionen», die neben INH (oder den Salzen dieser Substanz, wie dem Monohydrochlorid) steriles Wasser (zwecks Injektion der Substanz) oder Hilfsstoffe für die Tablettenher-stellung wie Milchzucker, Stärkemehl, Talk, Stearinsäure und ähnliches enthielten.71

Ein solches Verwendungspatent für das INH hielt Roche nur für die USA, da man in Basel wohl mit Recht davon ausging, sol-che «use-patents» seien nur etwas für den amerikanischen Markt. Mit Squibb hatte man sich darauf geeinigt, dass weder Roche der Firma Squibb noch Squibb der Firma Roche Lizenzgebühren zu zahlen hatte.72 Die Firmen einigten sich sogar darauf, dass dieje-nige der beiden Firmen, welche die Patentrechte erhalten würde, die andere zu 50% an den anfallenden Lizenzgebühren beteiligen würde.73 Auch die Firma Squibb, welche INH als Nydrazid auf den Markt brachte, hatte eine Art Verwendungspatent eingereicht,

Isoniazid, das erste «Spezifikum» gegen Tuberkulose, wurde von Roche 1952 mit dem Handelsnamen Rimifon auf den Markt gebracht.

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Das Isopropylderivat von Isoniazid, Iproniazid, wurde unter dem Handelsnamen Marsilid ebenfalls 1952 von Roche auf den Markt gebracht. Es war 100fach weniger wirksam gegen Tuberkulose-Bakterien als Isoniazid, dafür aber sehr wirksam gegen Depressionen, eine Indikation, für die es 1957, in geringeren Dosen, zugelassen wurde.

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Bayer brachte Isoniazid ebenfalls 1952 auf den Markt, unter dem Namen Neoteben.

69 In einem Schreiben vom 26.6.1952 wurde festgehalten, dass «Marsilid jetzt neben Rimifon in den U.S.A. dem Handel übergeben wurde.»

70 HAR: PD.1.1.3.-101335.71 Herman Herbert Fox, Passaic, N.J. assignor

to Hoffmann-La Roche Inc., Roche Park, Nutley, N.J. a corporation of New Jersey: Compositions for combating tuberculosis. US Patent 2,596,069.

72 HAR: Brief von Dr. E.C. Barell and Mr. L.D. Barney bezüglich Licenses under prospectives use – patents for isonicotinyl-hydrazine – Roche /Squibb vom 8.4.1952.

73 HAR: Brief von L.D. Barney, Hoffmann La Roche Nutley an Dr. Emil C. Barell vom 9.5.1952.

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sogar schon im Januar 1952. Aber Squibb war mit der Testung der Substanz am Menschen noch nicht so weit fortgeschritten. Deshalb wurden Roche die Patentrechte erteilt. Die Einigung der beiden Firmen war dennoch zu beiderseitigem Vorteil, denn ohne sie hätte sich die Erteilung des Patents über Jahre hinziehen können.

Im weiteren Verlaufe des Jahres 1952 brachten, trotz des amerikanischen Verwendungspatents von Roche, neben Squibb und Bayer gleich fünf weitere Firmen Isoniazid auf den Markt. Es folgte was folgen musste: ein drastischer Preisverfall schon im ersten Jahr. Kostete anfangs ein Kilo INH noch 5000 Dollar, so brachte es schon kurze Zeit später in Pillenform nur noch ein Zehntel davon ein. Als Wirkstoff kostete INH sogar nur noch 200 bis 300 Dollar pro Kilo. Und alles deutete auf einen weiteren Preisverfall hin, der irgendwo bei 18 Dollar pro Kilo für die Sub-stanz und etwa dem doppelten Preis für INH in Tablettenform angesiedelt wurde.74

Gab es Bedenken hinsichtlich einer Unwirtschaftlichkeit? In einem internen Bericht bei Roche vom 23. Juli 1952 über ein Treffen eines Roche-Mitarbeiters mit dem kaufmännischen Chef der pharmazeutischen Abteilung von Bayer in Leverkusen heisst es:

Roche blieb bei der eigenen Produktion. «Wir dürfen sicher sein, im Rimifon ein Tuberkulostatikum zu besitzen, das die wenigen bisherigen Tuberkulosemittel nicht nur aufs wertvollste ergänzen, sondern wahrscheinlich mit der Zeit verdrängen wird», heisst es vorsichtig optimistisch in einem internen Bericht bei Roche aus dem Jahr 1952. Wer immer diese Zeilen auch geschrieben haben mag, er sollte Recht behalten. INH ist bis heute das Mittel Nummer 1 in der Tuberkulosebehandlung geblieben. Der Wirk-stoff bereitete, wie es ein Medizinhistoriker einmal reimte, «dem

Sterben auf den Zauberbergen ein Ende» und rettet(e) Millionen Tuberkulose-Patienten das Leben. Und er war und ist billig. 1953 kosteten 100 Tabletten mit 50 Milligramm INH 3.75 Franken.

Der Stundenlohn eines Betriebsarbeiters betrug damals 3.05 Franken.75 Zum Vergleich: Zur erfolgreichen Tuberkulose-Behandlung mit Streptomycin mussten pro Tag ein bis drei Gramm des Antibiotikums eingesetzt werden76 und 1952 kos-teten fünf Gramm Streptomycin 2.20 Dollar.77 In der Schweiz dürften die meisten Tuberkulose-Patienten diese Kosten damals aber nicht selbst getragen haben und nur einen geringen oder gar keinen Selbstkostenanteil gezahlt haben. Denn seit «dem 1.1.1931 leistete der Bund Beiträge an Krankenkassen, die eine Zusatzversicherung für Tuberkulose anboten. Die Tuberkulo-seversicherung bestand aus einer Krankengeldversicherung, die Taggelder ausbezahlte, und einer Krankenpflegeversicherung, welche die Behandlung, die Medikamentation und einen Teil der Kurkosten in einer zugelassenen Heilstätte übernahm.»78 1953 hatten über 90% der Wohnbevölkerung in Basel Anspruch auf Leistungen der Tuberkuloseversicherung.

INH setzte indes nicht nur dem Sterben in den Tuberkulose-Sanatorien eine Ende, dieses Medikament läutete auch das Ende dieser Heilstätten ein. Nicht zuletzt bedeutete dieses Medikament damit auch eine finanzielle Entlastung der Krankenkassen, denn die Kosten für die Sanatoriumsbehandlung waren viel höher als

«Bayer wisse, dass eine Unzahl von Unternehmungen mit dieser Fabrikation beschäftigt seien. Es würden nur wenige davon übrig bleiben. Je grösser die Fab-rikation des Einzelnen sei, desto günstiger der Preis. Ob wir nicht daran interessiert wären, unsere Subs-tanz doch endgültig von Leverkusen zu beziehen?»

74 Anonym: The TB drug - A case for commercial chemical development. Chemonomics. 1952; Spring;3(3).

75 Für diese Information danke ich Bruno Halm vom Historischen Archiv Roche. HAR: PO.7-102384 und MV.51-104544.

76 Hinshaw HC, Feldmann WH, Pfuetze KH. Treatment of tuberculosis with streptomycin; a summary of observations on one hundred cases. J Am Med Ass 1946; 132 (13):778-782.

77 Für diese Information danke ich Pamela Eisele, Global Media Relations, Merck & Co., Inc.

78 Gredig D. Die Entwicklung der Tuberkulose-fürsorge 1930 bis 1961 In Gredig D. Tuberkulosefürsorge in der Schweiz. Verlag Haupt, Bern, 2000.

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die für INH. Die Basler Heilstätte beispielsweise stellte damals 4.50 Franken pro Tag in Rechnung und im Jahr 1952 garantierte die Basler Oeffentliche Krankenkasse ihren Versicherten eine Kurdauer von 1080 Tagen.79

1975 kostete die Jahresbehandlung mit INH bei einer täg-lichen Dosis von 300 Milligramm nur zwei bis drei englische Pfund.80

Bis Mitte der 1990er Jahre wurde INH unter dem Handels-namen Rimifon von Roche vertrieben. 1999 verkaufte Roche die Marke an die Firma Laboratoires Laphal SA in Frankreich.81

Es hört niemals auf: resistente KeimeAber auch gegen das INH allein werden Tuberkulosebakterien in der Regel nach zwei bis drei Monaten resistent. Schon im Sommer 1952 erhielt Domagk auf seinen Wunsch hin aus vielen Teilen Deutschlands Tuberkulosestämme zugesandt, die von Patienten isoliert wurden, bei denen INH nichts mehr ausrichten konnte. So erhielt er am 20. Juni 1952 Post aus der Hansestadt Hamburg:

Bayer brachte 1953 Kombinationspräparate von INH und Streptomycin auf den Markt, Orthomycin und Orthomycin «forte».83 Mit der Dreierkombinationen von PAS, INH und Strep-tomycin wurde 1952/1953 eine Heilung in 93% der Fälle erreicht, wenn acht bis zehn Monate täglich INH verabreicht wurde. 1955 waren Dreierkombinationen von PAS, INH und Streptomycin oder Zweierkombinationen von Streptomycin und INH oder PAS und INH gängige Praxis der Tuberkulosetherapie.84 Um es gleich vorwegzunehmen: Die «Dreifachtherapie» mit PAS, INH und Streptomycin sollte in den kommenden 15 Jahren die Standardtherapie für alle Tuberkuloseformen bleiben, erforderte aber Behandlungszeiträume von bis zu zwei Jahren.85 Erst als Mitte der 1960er Jahre Rifampicin entdeckt worden war, konnten unter Einbeziehung von Pyrazinamid Tuberkulose-Therapien kürzerer Dauer entwickelt werden. Diese kombinierten dann aber auch mehr als drei unterschiedliche Medikamente um der Resistenzbildung zuvorzukommen.

Taktieren und Paktieren Aber begeben wir uns zurück in die 1950er Jahre: Sowohl bei Roche als auch bei Bayer wurden ab 1952 etliche Isonikotinsäure-Derivate synthetisiert und zum Patent angemeldet. So erteilte das deutsche Patentamt am 29. April 1954 Herbert Herman Fox das Patent Nr. 910298 mit dem Titel «Verfahren zur Herstellung von Isonikotin-säurederivaten» auf dem Gebiete der Bundesrepublik Deutschland.86

«Die Farbenfabriken Bayer stellten 1955 Tuberkuloseärzten mit Nicoteben comp ein Kombinationspräparat aus zwei tuberku-lostatischen Komponenten, dem Isonicotinsäurehydrazid (INH) und dem Isonicotinaldehyd-thiosemicarbazon zur Verfügung. Jede 0.1 g schwere Tablette enthielt 8 Teile INH und 2 Teile des Thiosemicarbazons.»87

«Unsere beiden Firmen entfalten auf dem Gebiet des Isoni-azids bzw. seiner Derivate eine rege Tätigkeit. Dabei hat es sich natürlicherweise ergeben, dass sich diese Tätigkeit auf gleiche oder ähnliche Verbindungen erstreckt. Dieser Umstand hat dann auch dazu geführt, dass sich Kollisionen zwischen den beiderseitigen Patentanmeldungen entwickelt haben, und es muss wohl erwartet werden, dass noch weitere solche Kollisi-onen entstehen. Die Bearbeitung solcher Fälle verlangt jeweils von beiden Parteien grossen Aufwand, und überdies führt die Erledigung von Streitverfahren durch behördliche Entscheidung oft zu einer Durchlöcherung des gemeinsamen Patentbesitzes,

«Auf Wunsch Ihres wissenschaftlichen Vertreters in Ham-burg, Herrn Dr. Schürmann, übersenden wir Ihnen einen Tuberkulosestamm, den wir bei unseren Neotebenversuchen gewonnen haben und der sich im Tierversuch auf festen Nährböden nach Hohn als resistent gegen 1g Neoteben erwiesen hat… Der besagte Stamm wurde nach einer 21tägigen Neoteben-Behandlung mit 150 bis einschliesslich 400 mg Neoteben pro Tag isoliert. Leider konnten wir vor Beginn der Therapie noch keinen Resistenzversuch ansetzen, da uns die Ausgangssubstanz fehlte. Wir können deshalb nicht entscheiden, ob der Stamm schon primär diesen Resistenzgrad hatte… Der klinische Verlauf der Tuberkulose zeigte bei dieser Patientin trotz Verabfolgung von insgesamt etwa 19 g Nikotinsäurehydrazid keine Beeinflussung.»82

79 Gredig D. Die Tätigkeiten der Tuberkulosefürsorge 1930 bis 1961. In: Gredig D. Tuberkulosefürsorge in der Schweiz. Verlag Haupt, Bern, 2000.

80 Springett VH. The treatment of tuberculosis. Practitioner. 1975 Oct;215(1288):480-6.

81 Für diese Auskunft danke ich dem Leiter des Historischen Archivs bei Roche, Alexander Bieri.

82 BAL 316 003 082.83 BAL Geschäftsbericht für das Jahr 1953

Farbenfabriken Bayer Aktiengesellschaft Leverkusen.

84 Hupe W: Über den gegenwärtigen Stand der Chemotherapie der Tuberkulose. Das deutsche Gesundheitswesen 10 1145, 1955.

85 Murray JF: A century of tuberculosis. Am J Respir Crit Care med 169, 1181-1186, 2004.

86 Patentanmeldung bekannt gemacht am 20.8.1953, Patenterteilung bekannt gemacht am 25.3.1954, patentiert im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vom 15.12.1951 an. Die Priorität der Anmeldung in den V.St.v.A. vom 18.1.1951 war in Anspruch genommen im Pat.No.2685580 = (ser.No.206,732).

87 Von Arnim HH. Vorläufige Erfahrungen in der Tuberkulosebehandlung mit dem Kombinationspräparat Nicoteben® comp. Beitr Klin Tuberk Spezif Tuberkuloseforsch. 1957;116(7):575-86.

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so dass Dritten die Ausnützung von ins Freie fallenden Teilen der Forschungsergebnisse der Originalbearbeiter leicht möglich wird. Es ist daher bei uns der Gedanke aufgetaucht, ob es nicht zweckmässiger wäre, in einer gemeinsamen Besprechung mit Ihnen den Versuch zu machen, eine direkte Verständigung über das Kollisionsgebiet herbeizuführen. Wir erlauben uns daher, Sie heute anzufragen, ob auch Sie eine solche Besprechung für nützlich halten?», fragte die Basler Patentabteilung in einem Brief vom 4. Februar 1955 bei Bayer an.88 Nachdem man sich gegen-seitig Einblick in sämtliche Patente und Patentanmeldungen gewährt hatte, wurde in einer Besprechung am 24. Juni 1955 in Basel «folgendes vereinbart:1. Die Parteien fechten ihre Schutzrechte nicht an.2. Die Parteien erteilen sich gegenseitig keine Lizenz auf solche

Schutzrechte, bei denen keine Kollisionen mit den Schutz-rechten des anderen Partners bestehen.

3. In den Fällen, in denen beide Parteien Patentanmeldun-gen eingereicht haben, die sich gegenseitig überschneiden, gewähren sie sich gegenseitig eine Option auf eine Lizenz zu Bedingungen, die noch vereinbart werden müssen.

4. Bei denjenigen Schutzrechten, wo die sachlichen Überschnei-dungen so stark sind, dass sich praktisch eine Trennung nicht durchführen lässt, gewähren sich die Parteien gegenseitig Freilizenzen.»89 Ein entsprechender, mehrseitiger, von Roche aufgesetzter

Vertrag wurde aber erst nach zähem Ringen im Januar 1956 unterzeichnet.

Isoniazid-NachfolgerIronie der Geschichte: Bei den nachfolgenden Tuberkulose-Mitteln handelte es sich nicht um INH-Derivate. Warum denn auch, die im Körper aktive Substanz eines INH-Derivates war ja letztlich doch immer das INH selbst. Und zumindest dies war den Forschern damals nicht ganz unbekannt, hatte doch der Roche-Forscher Bernhard Fust schon 1952 geschrieben:

Bei der nächsten Substanz, die in den Reigen der auch heute noch eingesetzten Tuberkulose-Medikamente aufgenommen wurde, handelte es sich jedoch wieder um eine Substanz, die grosse Ähnlichkeit mit dem B-Vitamin Nikotinsäureamid hatte. Beim 1952 erstmals an Tuberkulose-Patienten erprobten Pyrazinamid (PZA) ist lediglich ein Kohlenstoffatom im aromatischen Ring von Nikotinsäureamid durch ein Stickstoffatom ersetzt worden (siehe Formeln auf Seite 56).

Die Aufklärung der tuberkelkillenden Wirkmechanismen von INH und PZA sollte noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen und Heerscharen von Wissenschaftlern in Forschungseinrichtungen in aller Welt beschäftigen. Im Jahr 2003 erschien eine Arbeit, in der für PZA folgender Wirkmechanismus vorgeschlagen wurde: Die Substanz dringt als so genanntes Prodrug, das heisst als eine Vorstufe der eigentlichen Wirksubstanz, durch passive Diffu-sion und möglicherweise auch aktiven Transport in die Bazillen ein. Dort wird sie durch ein Nikotinamidase/Pyrazinamidase

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Testung von Neoteben im Kulturversuch.

«Die Kondensationsprodukte des Isonikotinsäure hydrazids mit Aldehyden sind alle mehr oder weniger wirksam, was bei ihrem glatten Zerfall im Organismus unter Entstehung des freien Isonikotinsäurehydrazids nicht verwunderlich ist.»90

88 Brief der F. Hoffmann La Roche Aktiengesellschaft Chemische Fabrik Basel Abteilung VIII Patentabteilung an die Farbenfabriken Bayer, Aktiengesellschaft, Leverkusen Bayerwerk betreffend Patente und Patentanmeldungen betr. Isoniazid-Derivate. BAL: 367-025.

89 Aktennotiz über die Besprechung mit Hoffmann-La Roche in Basel am 24.6.1955, Leverkusen den 28.6.1955. BAL 367-026.

90 Fust B. Die Entstehungsgeschichte von Rimifon »Roche». Sonderabdruck aus: Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für innere Medizin. 58. Kongress 1952.

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Pyrazinamid

Nikotinsäureamid

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(PZAase) genanntes Enzym in Pyrazinsäure umgewandelt, welche aus den Bazillen herausdiffundiert. Herrscht in der Umgebung der Bazillen ein stark saurer pH-Wert, so wird diese Pyrazin-säure protoniert und kann in dieser Form die Bakterienwand viel schneller wieder in Richtung Bakterieninneres durchdringen, als die ursprüngliche Form von PZA. Die Pyrazinsäure bringt so aber auch Protonen mit in die Bazillen, was zu einer Übersäuerung von deren Zytoplasma und damit zu deren Absterben führt. Dies geht so lange gut, bis Mutationen die PZAase-Aktivität beeinträchtigen und damit die Tuberkelulosebakterien auch gegen PZA resistent werden lassen; und es funktioniert so lange, wie ein saurer pH-Wert in der Umgebung der Bazillen herrscht.91

Im Menschen wirkt PZA nur während der ersten zwei Monate der Therapie. Es wird vermutet, dass Entzündungen zu Beginn der Infektion dafür sorgen, dass in der Umgebung der Bazillen ein saures Milieu entsteht, welches – wie erwähnt – notwendig ist, damit PZA seine Wirkung entfalten kann. Soviel zum Wirk-mechanismus von PZA. Wie aber wirkt nun INH?

91 Zhang Y, Mitchison D. The curious characteristics of pyrazinamide: a review. Int J Tuberc Lung Dis. 2003 Jan;7(1):6-21.

Die Tuberkulose und Massnahmen zu ihrer Bekämpfung im Zeitraffer

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Die Tuberkulose-Therapie erfolgt in der Regel mit INH, Rifampicin, Etahmbutol und Pyrazinamid. Die multiresistenten Tuberkulose-Fälle, bei denen mindes-tens die zwei der-zeit potentesten Antituberkulotika, INH und Rifampi-cin, wirkungslos waren, und die extensiv resisten-ten Tuberkulose-Erkrankungen, bei denen zusätzlich drei und mehr der nachfolgend ein-gesetzten Zweit-rangantituberku-lotika versagen, nehmen zu.

heute

Hippokrates (460–370 v.Chr.)liefert die erste Beschreibung der Lungentuberkulose als Phtisis = Auszehrung und empfiehlt diätische und hygienische Massnahmen.

um 400 v.Chr.

Conrad Wilhelm Röntgen (1845–1923) entdeckt die X-Strahlen, die eine frühe Diagnose der Lungen-tuberkulose ermöglichen.

1895

Hermann Brehmer(1826–1889)beginnt mit der systematischen Freilufttherapie der Tuberkulose in Görbersdorf (damals Deutschland, heute Polen). 1862 konnte er ein grösseres Sanatorium eröffnen, seine «Heilanstalt», die 1904 die grösste derartige Einrichtung mit 300 Betten war.

1854

Johann Lukas Schönlein(1793–1864)prägt den Begriff «Tuberkulose».

um 1830

Robert Koch (1843–1910) entdeckt den bakteriellen Erreger der Tuberkulose.

1882

René Théophile Hyacinthe Laënnec (1781–1826) erfindet das Stethoskop, beschreibt die physischen Zeichen der Tuberkulose in verschiedenen Stadien, deren gemeinsames Merkmal die Tuberkel sind.

1819

Erste erfolgreiche Anwendung der von Albert Calmette (1863–1933) und Camille Guérin (1872–1961) seit 1906 entwickelten BCG (Bacille-Calmette-Guérin) Schutzimpfung mit abgeschwächten(Rinder-) Tuberkelbakterien in Frankreich, die Wirksamkeit ist umstritten.

1921

Albert Schatz (1920–2005) links im Bild, ein Mitarbeiter von Selman Waksman (1888–1973), rechts, isoliert das erste gegen Tuberkelbazillen wirksame Antibiotikum aus Streptomyces griseus Bodenbakterien: Streptomycin.

19431865

Jean Antoine Villemin (1827–1892)beweist mit Tierexperimenten die infektiöse Natur der Tuberkulose beiMensch und Rind.

1890

Koch entwickelt das Tuberkulin (Filtrat einer Tuberkelbazillen-Kultur), welches sich später als Diagnose- aber nicht als Heilmittel erweist.

1895

Niels Ryberg Finsen(1860–1904) entwickelt eine systematischeLichttherapie zur Behandlung der Hauttuberkulose.

1849

C.J.B. Williams berichtet über Heilerfolge bei Tuberkulose mit hohen Dosen Lebertran, das bedeutet mit hohen Dosen Vitamin D.

1930

Lübecker Impfunglück76 Kinder sterben durch ungenügend inaktivierte Tuberkelbazillen der BCG-Impfung.

1944

Jørgen Lehmann (1898–1989) entdeckt das erste chemische Medikament gegen Tuberkulose: Para-Amino-Salizylsäure (PAS).

Gerhard Domagk (1895–1964) entdeckt bei Bayer die antituberkulöse Wirkung der Thiosemicarbazone.

1946/471679

François de le Boë (Sylvius) (1614–1672) veröffentlicht seine Schrift «De Phtisi» und beschreibt Knötchen in der Lunge, welche die Lungen-schwindsucht verur- sachen, wenn sie nicht vernarben.

1950/1951

Das erste chemische Spezifikum gegen Tuberkelbazillen mit hoher Wirksamkeit: Isoniazid (INH) wird gleichzeitig und nahezu unabhängig voneinander von Forschern in den drei Firmen Roche, Bayer und Squibb entdeckt.

Die antituberkulöse Wirkung des Pyrazinamidswird entdeckt.

19521961

Ethambutol,ein Antibiotikummit anti-tuberkulöser Wirkung wird entdeckt.

1966

Die antituberkulöse Wirkung des AntibiotikumsRifampicin wird entdeckt.

1993

Aufgrund der star-ken Zunahme der Tuberkulose ruft die WHO den globalen Gesund-heitsnotfall aus.

Carlo Forlanini (1847-1918) wendet erstmals den künstlichen Pneumothorax, den er bereits 1882 theoretisch beschrieben hatte, zur chirurgischen Behandlung der Lungentuberkulose an.

1888

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Erste Untersuchungen zum Wirkmechanismus von Isoniazid

«Sicher steht nur, dass die Tuberkelbazillen unter dem Einfluss genügender Rimifon-Mengen ihre Vermehrung einstellen; gemäss elektronenmikroskopischer Untersuchungen teilen sich zwar die Kernäquivalente der Bakterienzellen noch, aber die protoplas-matische Zellteilung sistiert dann. Infolge noch unbekannter Stoffwechselveränderungen unter dem Einfluss des Isoniazid kommt es zu morphologischen Veränderungen und Verküm-merungen des Bakterienleibes, der schliesslich den Abwehrkräften des Wirtsorganismus zum Opfer fällt. Ob hierbei eine Vitamin-Verdrängung oder Eingriffe im Fermentsystem eine Rolle spielen, steht noch keineswegs fest,»92 hiess es in einem internen Bericht von Roche zum Stand der Erfahrungen mit Rimifon aus dem Jahr 1952.Eines aber stand 1953 ganz gewiss fest:

Einer der die Wirkung von INH und Iproniazid sowohl auf die Tuberkulose-Bakterien als auch auf die behandelten Menschen besser verstehen wollte, arbeitete in der Abteilung für Biochemie und Bakteriologie an der Northwestern University Medical School (Chicago): der Biochemiker Ernst Albert Zeller (1907–1987). Er testete mit seinen Kollegen 1952 den Einfluss von INH und Iproniazid auf Enzyme von Bakterien und Säugetieren. Genauer gesagt: Sie untersuchten die Wirkung auf die Aktivität der bak-teriellen Diaminoxidase und Guanidindeamidinase sowie der Diaminoxidase und der Monoaminoxidase (MAO) von Säuge-tieren, weil zu jener Zeit bekannt war, dass alle basischen Anti-biotika und basischen tuberkulostatischen Chemotherapeutika die Aktivität der bakteriellen Diaminoxidase hemmen.94 «Die beiden neuen Tuberkuloseheilmittel wirken auch auf eine gerei-nigte Diaminoxydase aus Schweineniererinde…Auffallend stark ist die Hemmung der Monoaminoxydase der Mitochondria aus Rattenleber durch Iproniazid…»95, so ihr Ergebnis.

92 HAR:PD.3.1.RIM-105429 Derzeitiger Stand der Erfahrungen mit Rimifon.

93 Fust B: Die Therapie der Tuberkulose mit Isoniazid [Rimifon]; Sonderdruck aus: Therapie der Lungentuberkulose Lieferung 4 des Handbuches der Therapie in Einzeldarstellungen. Bern: Verlag Hans Huber; 1953.

94 López-Muñoz F, Alamo C. Monoaminergic neurotransmission: the history of the discovery of antidepressants from 1950s until today. Curr Pharm Des. 2009;15(14):1563-86.

95 Zeller EA, Barsky J, Fouts JR, Kirchheimer WF, Van Orden LS. Influence of isonicotinic acid hydrazide (INH) and 1-isonicotinic-2-isopropyl-hydrazide (IIH) on bacterial and mammalian enzymes. Experientia. 1952;8:349-50.

«Andere Bakterien, Pilze, Protozoen und Virusarten werden durch Isoniazid wenig oder nicht beeinflusst. Isoniazid darf daher praktisch wohl als Spezifikum gegen die Tuberkulose bezeichnet werden.»93

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Später erinnerte sich Zeller, dass INH die Diaminoxidase wie erwartet hemmte, in der gleichen Konzentration aber keine bemerkenswerte Wirkung auf die MAO hatte. Iproniazid dage-gen erwies sich als ein so starker Hemmstoff für MAO wie keine andere Substanz zuvor.96

Bakterienkiller gegen DepressionenIm Herbst 1952 hatten die beiden am Cincinnati General Hospital tätigen Psychiater Harry Salzer und Max Lurie begonnen, die stimmungsaufhellende Wirkung von INH bei Patienten ohne Tuberkulose, aber mit schweren chronischen, das heisst oft schon jahrelang bestehenden Depressionen, zu erproben. «Psychiater suchen immer neue und effektivere Chemotherapeutika für psy-chische Störungen», so ihre Motivation.97 Die als Nebenwirkung beschriebene euphorisierende Wirkung des neuen Tuberkulose-Mittels schien ihnen denn doch etwas über die Freude hinauszu-gehen, die zu erwarten ist, wenn Patienten von einer als unheilbar geltenden Krankheit genesen.

Einige ihrer depressiven Patienten waren zuvor erfolglos mit «chemischen Mitteln» gegen Depressionen behandelt worden. Zu diesen zählten damals Amphetamin, Barbiturate, andere Sedativa, Vitamine und die Subkoma-Insulin-Therapie. Ein gutes Drittel der Patienten hatte zuvor auch mehrere, bis zu 19 Elektroschock-Therapien über sich ergehen lassen müssen, die bei schweren Depressionen oft wirksam sind – allerdings nur für eine begrenzte Zeit.

Diesen Patienten wurde nun dreimal pro Tag je 50 Milli-gramm INH verabreicht, denn bei dieser Dosis waren noch keine Nebenwirkungen98 zu erwarten. Schwere Fälle erhielten dreimal 100 Milligramm pro Tag. Von den 41 behandelten Pati-enten konnten die beiden Psychiater 28 von ihren Depressionen befreien, und dies in der Regel innerhalb von sechs Monaten. Die Schlaf-, Appetit- und Antriebslosigkeit der Patienten verschwand. «Aber der exakte ‘modus operandi’ muss noch gezeigt werden», stellten sie 1954 fest.99

Lurie und Salzer hatten jedoch wohl übersehen, dass die Ergebnisse der ersten klinischen Studien von Roche an Tuber-kulose-Patienten mit INH und seinen Derivaten hauptsächlich mit Iproniazid durchgeführt worden waren.100 Dieses Präparat war 87 der insgesamt 97 Patienten verabreicht worden. Zunächst fiel auch nicht auf, dass die Versuche mit INH allein nicht die gleiche euphorisierende Wirkung hervorriefen. Ende 1952 wies

96 Healy D. Max Lurie – The enigma of Isoniazid. The Psychopharmacologists II. London: Arnold (a member of the Hodder Headline Group); 1999; 119-34.

97 Salzer HM, Lurie ML. Anxiety and depressive states treated with isonicotinyl hydrazide (Isoniazid). AMA Arch Neurol Psychiatry. 1953 Sep;70(3):317-24.

98 Zu den auffallendsten Nebenwirkungen zählten die Ärzte damals: «orthostatischen Blutdruckabfall, fibrilliäres Muskelzittern, Rigidität, Schwitzen, Obstipation, Miktionsstörungen, Pulsverlangsamung und Schläfrigkeit. siehe: Viollier, G, Quiring E, Staub H. Einfluss von oral verabreichtem Isonikotinsäurehydrazid und dessen Isopropylderivat auf den Enzymhaushalt der weissen Ratte. Helvetica Chimica Acta. 1953 Vol XXXVI Fasciculus III No. 92 724-30.

99 Salzer HM, Lurie ML. Depressive states treated with isonicotinyl hydrazide (Isoniazide); a follow-up study. Ohio Med. 1955 May;51(5):437-41.

100 Robitzek EH, Selikoff IJ. Hydrazine derivates of isonicotinic acid (rimifon, marsilid) in the treatment of active progressive caseous-pneumonic tuberculosis; a preliminary report. Am Rev Tuberc. 1952 Apr;65(4):402-28.

dann der Orthopäde David M. Bosworth, der beide Medika-mente zur Behandlung der Knochentuberkulose testete, darauf hin, dass Iproniazid «neben seiner bakteriostatischen Kontrolle von Mycobacterium tuberculosis einen bemerkenswerten Effekt auf Gewebe hat.»101

«Von da an entwickelten sich beide Präparate in ihrer klini-schen Verwendung nach verschiedenen Richtungen», hiess es in einer Ende der 1950er Jahre erschienenen Werbebroschüre von Roche.102 Während das noch heute als Tuberkulose-Mittel einge-setzte INH (leider) nicht weiter als Antidepressivum untersucht und genutzt wurde, machte Iproniazid für wenige Jahre Karriere als erstes wirkliches Antidepressivum.

Vielleicht lag es daran, dass für INH kein Patentschutz bestand, vielleicht aber auch daran, dass Iproniazid viel öfter und ausgeprägter «neuropsychiatrische Nebenwirkungen» bei den Tuberkulose-Patienten hervorrief als INH. Nicht zuletzt waren es diese Psychose erzeugenden Nebenwirkungen, die das «Aus» von Iproniazid als Tuberkulose-Medikament bedeuteten. Aber es hatte damit den Psychiatern angezeigt: Es wirkt auch im Gehirn und könnte dort «Mechanismen in Gang setzen, welche zur Korrektur oder Anomalie mentaler Prozesse führen.»103

Iproniazid wirkte – wie die Experten es damals nannten – als «psychischer Energizer» bei Patienten mit Depressionen. Es erzeugte Gefühle des Wohlbefindens, steigerte ganz beträchtlich den Appetit, gab Energie und verminderte das Schlafbedürfnis. Eine typische Äusserung damaliger Patienten lautete: «Ich habe mich seit Jahren nicht so gut gefühlt.»104

1956 fanden dann Forscher, darunter auch ein späterer For-schungsleiter von Roche, der Schweizer Alfred Pletscher (1916-2006), heraus, dass Iproniazid im Gehirn einen Anstieg des Sero-tonin- und Noradrenalin-Spiegels bewirkt.105 Beide Stoffe wirken als Neurotransmitter, sind biogene Amine und werden durch MAO abgebaut. Serotonin wird aufgrund seiner stimmungsauf-hellenden Wirkung auch als Glückshormon bezeichnet.

Ein Jahr später, 1957, postulierten Nathan S. Kline (1916–1983) und seine Mitarbeiter, dass diese antidepressive Wirksam-keit von Iproniazid wahrscheinlich auf die von Zeller gefundene MAO-Hemmung zurückzuführen sei.106 Dies bestätigten weitere Experimente mit anderen MAO-Hemmstoffen, die ebenfalls Depressionen bekämpfen konnten; einige davon waren auch bei Roche synthetisiert worden.

Im März 1955 hatte die FDA Marsilid zur Behandlung von Tuberkulose in Dosen von zwei bis vier Milligramm pro Kilo-

101 5. Bosworth DM, Wright HA, Fielding JW. The treatment of bone and joint tuberculosis; effect of 1-isonicotinyl-2-isopropylhydrazine; a preliminary report. J Bone Joint Surg Am. 1952 Oct; 34 A(4):761-71.

102 HAR PD.3.1.MAS-103620a Dossier über Marsilid F. Hoffmann-La Roche & Co. A.G. Basel.

103 Crane GE. Further studies on iproniazid phosphate; isonicotinil-isopropyl-hydrazine phosphate marsilid. J Nerv Ment Dis. 1956 Sep; 124(3):322-31.

104 Crane GE. Further studies on iproniazid phosphate; isonicotinil-isopropyl-hydrazine phosphate marsilid. J Nerv Ment Dis. 1956 Sep; 124(3):322-31.

105 Pletscher A. Wirkung von Isonikotinsäurehydraziden auf den 5-Hydroxytryptaminstoffwechsel in vivo. Experientia. 1956 Dec 15;12(12):479-80.

106 Loomer HP, Saunders JC, Kline NS: A clinical and pharmacodynamic evaluation of iproniazid as a psychic energizer. Psychiatri Res Rep Am Psychiatr Assoc. 1957 Dec; 8: 129-41.

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gramm Körpergewicht zugelassen. Im März 1957 erfolgte die Zulassung auch für die Behandlung von Depressionen, allerdings in geringeren Dosen bis zu maximal 150 Milligramm täglich. Die Packungsbeilage enthielt die Warnung: «Dies ist ein potentes Arzneimittel, welches nur unter ärztlicher Kontrolle angewandt werden soll.»107

Ein Tuberkulose-Mittel als neuartiges Medikament gegen Depressionen: Das war den Redakteuren grosser amerikanischer Zeitungen wie dem Wall Street Journal, der New York Times und der New York Herald Tribune Anfang April 1957 den Besuch einer Pressekonferenz von Roche und eine Meldung wert.108,109,110 Dies wohl auch, weil es New Yorker Ärzte waren, welche die Subs-tanz nicht nur bei Patienten mit Depressionen erprobten, sondern auch die antidepressive Wirkung mit der MAO-Hemmung in Verbindung brachten. Am 6. April 1957 hatten die New Yorker Experten unter der Leitung von Kline auf einer Psychiater-Tagung in Syracuse (New York) darüber berichtet. Allerdings erschienen diese Artikel in der amerikanischen Tagespresse eher auf den hinteren Seiten.

In der Schweiz wurden 1957 noch klinische Versuche mit Marsilid für die neue Indikation durchgeführt. Am 27. Mai 1958 war es dann aber auch hier soweit. Die Schweizerische Interkan-tonale Kontrollstelle für Heilmittel (IKS) in Bern genehmigte die neuen Verwendungsempfehlungen für Marsilid zur Bekämpfung depressiver Verstimmungszustände.111

«Zusätzlich zu dem bedeutenden therapeutischen Fort-schritt, der sich darin widerspiegelt, dass seit ihrer Einführung vor anderthalb Jahren über eine halbe Million Patienten mit solchen Wirkstoffen behandelt wurden, glauben wir, dass der Fortschritt bezüglich des Verstehens der Biochemie psychischer Erkrankungen grössere Bedeutung hat», schrieben Kline und seine Co-Autoren nicht wenig stolz 1959.112

Isoniazid: so einfach das Molekül, so komplex die Wirkung

Es gibt wohl nichts komplexeres als das menschliche Gehirn. Und so mutet es schon ein wenig paradox an, dass die Aufklärung des Mechanismus der antidepressiven Wirkung eines INH-Derivates im Gehirn nur fünf Jahre in Anspruch nahm, die Aufklärung der Ursachen der antituberkulösen Wirkung von INH dagegen mehr als 50 Jahre. Es entbehrt auch nicht einer gewissen Tragik, dass es allen an der Auffindung von INH beteiligten Akteuren nicht

107 HAR: Fo32-102118108 Wall Street Journal Staff reporter: Hoffmann-

La Roche Discovers new Drug for Mental patients, The Wall Street Journal, Monday April 8, 1957.

109 Emma Harrison: TB drug is tried in mental cases. Use of Iproniazid at Rockland indicates Energizing effect in case of depression. The New York Times April 7, 1957.

110 Earl Ubell: Promise seen for Depressed TB drug tested for mental ills. New York Herald Tribune, Sunday April 7, 1957.

111 HAR: Fo32-102118. 112 Bailey SD, Bucci L. Gosline E, Kline NS, Park

IH, Rochlin D, Saunders JC, Vaisberg M: Comparison of iproniazid with other amine oxidase inhibitors, including W-1544, JB-516, RO 4-1018, and RO 5-0700. ANN N Y Acad Sci 1959 Sep 17;80:652-68.

New York Herald Tribune 7. April 1957

Wall Street Journal8. April 1957

Ein Tuberkulose-Mittel als neuartiges Medikament gegen Depressionen: Das war den Redakteuren grosser amerikanischer Tageszeitungen im April 1957 eine Meldung wert.

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70 71

NAD ist ein so genanntes Koenzym, das an zahlreichen Reaktio-nen im Stoffwechsel beteiligt ist.

Was für ein Wirkmechanismus! Ein kleines Molekül, das die wachsartige, für Mykobakterien charakteristische Zellwand von Tuberkulosebakterien durch passive Diffusion durchdringen kann, wird in den Bakterien durch das Enzym KatG zum Radikal, formt mit einem weiteren (Ko)-Enzym, NAD, ein Addukt und hemmt so ein drittes Enzym, InhA, welches Bestandteile der einzigartigen Membran der Tuberkelbakterien synthetisiert. Diese Hemmung der Mykolsäure-Synthese bedeutet dann den Zelltod. Wenn alles gut geht, sind die Forscher heute in der Lage, solche Wirkmecha-nismen von Medikamenten aufzuklären. Arzneimittel mit solchen Wirkmechanismen über drei Stufen gezielt von vornherein zu entwerfen und nicht durch ein Screening der antibakteriellen Wir-kung von Substanzen an Erregerkulturen und infizierten Tieren zu finden, ist aber auch heute noch nahezu unmöglich.

Mit genetischen Methoden wurden einige Mechanismen der INH-Resistenz aufgeklärt. Einer besteht zum Beispiel darin, dass die Tuberkelbakterien das Enzym InhA häufiger bilden. Eine Mutation in der Steuersequenz des Gens, welches den Bauplan für das Enzym InhA trägt, sorgt dafür, dass 20-mal häufiger inhA mRNA gebildet wird.116 Die mRNA schleust den Bauplan für ein Protein aus dem Zellkern zu den Eiweiss-Fabriken der Zelle. Regeln Bakterien solcherart die Bildung eines Enzymes hinauf, kann ihnen eine Hemmung desselben nicht mehr viel anhaben.

Isoniazid (INH) formt mit dem Koenzym NADH einen Komplex, der das Enzym InhA hemmen kann. InhA spielt eine Rolle in der Synthese von Mykolsäuren, wichtigen Zellwand-Bestandteilen von Tuberkulosebakterien. 115

vergönnt sein sollte, zu erfahren, warum INH letztlich Tuberkel-bakterien wirklich abzutöten vermag.

Dabei handelt es sich auch bei der tötenden Wirkung von INH auf Tuberkelbakterien schlussendlich wieder um die Hem-mung eines Enzymes. Aber, und dies macht die Sache etwas komplizierter und erforderte den Einsatz gentechnologischer Untersuchungsmethoden zur Aufklärung des Wirkmechanismus, es ist nicht das INH selbst, welches als Enzymhemmstoff auftritt, sondern ein in den Tuberkelbakterien aus INH gebildetes so genanntes Addukt.

Schon 1953 hatte der amerikanische Mikrobiologe Gardner Middlebrook (um 1915–1986), durch Untersuchung mit INH-resistenten Tuberkelbakterien herausgefunden, dass diese eine geringe oder keine Aktivität des Enzymes Katalase aufwiesen.113 Katalasen sind Enzyme, die im Stoffwechsel anfallendes, für die Zelle giftiges Wasserstoffperoxid zu Sauerstoff und Wasser umset-zen. Middlebrook hatte übrigens wie viele andere Tuberkulose-Forscher einen ganz besonderen Grund für seine wissenschaft-lichen Arbeiten auf dem Tuberkulose-Gebiet. Sein Antrieb: Er hatte selbst an einer Lungentuberkulose gelitten.

Die Katalase-Aktivität spielte also eine Rolle. Aber welche? Im Jahr 1960 hatte Frank Winder die Hypothese aufgestellt, dass aus INH freie Radikale gebildet werden, die für die bakterientötenden Eigenschaften notwendig seien.114 1970 wurde herausgefunden, dass INH die Synthese von den für Tuberkelbakterien lebens-notwendigen Bestandteilen der Zellwand hemmen kann. Dabei handelt es sich um langkettige Fettsäuren, sog. Mykolsäuren. Bio-chemische Untersuchungen bestätigten dann, dass INH eigentlich eine inaktive Vorstufe ist, die erst in den Tuberkelbakterien durch eine Katalase in ein Isonicotinyl-Radikal umgewandelt wird, wel-ches dann wohl die Mykolfettsäuren-Synthese hemmt und damit den Zelltod bewirkt.

1987 hatte man dann die Werkzeuge in der Hand, das Gen-material von Tuberkelbakterien gezielt zu verändern. Durch Manipulationen des genetischen Bauplanes einzelner Enzyme konnten die identifziert werden, die aktiv sein mussten, sollte INH seine Wirksamkeit entfalten. Es waren, wie in den 1990er Jahren gefunden wurde, das Katalase-Peroxidase Enzym KatG und die NADH-abhängige Enoyl-ACP (Acyl carrier Protein) Reduktase InhA, welche in die Mykolsäurebiosynthese involviert ist.

1998 stellte sich dann heraus, dass das INH-Radikal nicht direkt an InhA bindet, sondern erst eine kovalente Bindung mit Nikotinsäureamid-Adenin-Dinukleotid (NAD) eingehen muss.

113 Middlebrook G: Isoniazid-resistance and catalase activity of tubercle bacilli; a preliminary report. American review of tuberculosis 1954;69(3):471-472

114 Winder F: Catalase and peroxidase in mycobacteria. Possible relationship to the mode of action of isoniazid. Am Rev Respir Dis 1960; 81: 68-78.

115 Der Roche-Mitarbeiter Jörg Benz hat diese Abbildung mit InhA in Bänderdarstellung basiernd auf den Daten von 1ZID mit dem Programm PyMol Molecular Graphic System erstellt. NADH ist die Abkürzung für NAD in der reduzierten Form.

116 Vilchèze C, Jacobs WR: The Mechanism of Isonziad Killing: Clarity through the scope of Genetics Annu. Rev Microbiol. 2007;61:35-50.

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72 73

Beispiel Indien: Isoniazid zur Prophylaxe und Therapie

Indien ist eines der am stärksten von Tuberkulose betroffenen Länder. Jedes Jahr stecken sich auf dem Subkontinent 1.98 Milli-onen Menschen neu mit Tuberkulose an. Im Jahr 2010 starben in Indien rund 320 000 Menschen daran.121 Die Seuche ist die häu-figste Infektionskrankheit in dem Schwellenland mit 1.21 Milli-arden Einwohnern und hat epidemische Ausmasse angenommen. Die hohe Anzahl von Tuberkulosefällen dort ist sicherlich nicht zuletzt auf die hohe Bevölkerungsdichte und die grosse Armut weiter Bevölkerungsschichten zurückzuführen.

Ein weiterer Grund ist aber auch, dass es oft zu lange dauert, bevor die exakte Diagnose gestellt wird. So kann ein Mensch mit offener Tuberkulose in Indien sogar bis zu 15 andere Menschen anstecken.

»Indien ist ein Land, in dem die Kosten für die Behandlung von Krankheiten nicht rückerstattet werden. Eine Ausnahme sind die nationalen Gesundheitsfürsorge-Programme der Regierung oder jene für Angestellte der Regierung und einige wenige Per-sonen, die eine Versicherung bis zu einer bestimmten Grenze haben», erklärt Girish Telang, General Manager von Roche Pro-ducts in Indien und weiter: »Die Bekämpfung der Tuberkulose erfolgt im Rahmen eines solchen nationalen Programmes, aber die diagnostischen und therapeutischen Massnahmen in den

121 Tuberculosis country profiles. World Health Organization [zitiert: 24.2.2012]. abrufbar unter: http://www.who.int/tb/country/data/download/en/index.html.

Denn auch wenn der Resistenzmechanismus bekannt sein sollte, kann die Dosis eines Medikamentes in der Regel aufgrund der Nebenwirkungen nicht in einem solchen Ausmass gesteigert werden.

Die antituberkulöse Wirksamkeit von INH beschäftigt die Forscher nach wie vor, besonders natürlich weil man die Resis-tenzbildungen besser verstehen und Angriffspunkte für neue Antituberkulose-Mittel finden möchte. Vorschläge für weitere Wirkmechanismen von INH wurden gemacht. Aber noch im Jahr 2010 erschien eine Publikation, die einen für wahrscheinlich gehaltenen Wirkmechanismus wieder in Zweifel stellte.117

Tuberkulose heute: wieder eine gefürchtete Infektionskrankheit

Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind heute zwei Milliarden Menschen mit Tuberkulose-Erregern infiziert – ein Drittel der Weltbevölkerung. Im Jahr 2010 steckten sich 8.8 Millionen Menschen neu an, rund 1.4 Millionen Menschen starben an Tuberkulose und 5.7 Millionen Menschen wurden dagegen behandelt. Die überwiegende Mehrheit dieser Menschen schluckte in ihrem Medikamentencocktail auch INH. «Für die Menschen, die eine Tuberkulose haben, die sich mit Arzneimit-teln noch behandeln lässt, ist die Einnahme von INH oft eine lebensrettende Massnahme»118, lautet das Urteil von Christine F. Sizemore, Leiterin der Abteilung für Tuberkulose, Lepra und andere durch Mykobakterien hervorgerufene Erkrankungen innerhalb der Division Mikrobiologie und Infektionskrankheiten des National Institute of Allergy and Infectious Diseases.119

In den westlichen Wohlstandsländern wie der Schweiz, mit nur 500 neuen Tuberkulosefällen pro Jahr, ist man sich der Herausforderung der Menschheit durch diese Krankheit kaum bewusst. Aber die Tuberkulose gehört noch immer zu den töd-lichsten und mit Recht zu den am meisten gefürchteten Infekti-onskrankheiten des Menschen. Wie einst breitet sie sich aus, wenn Not und Elend sowie Zusammenleben auf engstem Raum den Anstieg von übertragbaren Erkrankungen fördern. Hinzu kommt, dass die Immunschwäche-Krankheit AIDS seit den 1980er Jahren zu einem Wiederanstieg der Tuberkulose beiträgt. «Von 1985 bis 1991 nahm die Tuberkulose in den USA um 12% und in Europa um 30% zu. In jenen Regionen Afrikas aber, wo Tuberkulose- und HIV-Infektionen oft zusammen auftraten, stieg die Zahl der Kranken um 300%.»120

117 Wang F, Jain P, Gulten G, Liu Z, Feng Y, Ganesula K, et al. Mycobacterium tuberculosis dihydrofolate reductase is not a target relevant to the antitubercular activity of isoniazid. Antimicrob Agents Chemother. 2010 Sep;54(9):3776-82.

118 Wang L. Isoniazid. Chemical and Engineering News June 20. 2005, 76.

119 NIAID is a component of the National Institutes of Health, which is part of the

U.S. Department of Health and Human Services.

120 Porter, R. Die Kunst des Heilens. Eine medizinische Geschichte der Menschheit von der Antike bis heute Spektrum. Berlin, Heidelberg: Akademischer Verlag, 2000; 492.

Wo immer Menschen dicht gedrängt unter schlechten hygienischen Verhältnissen leben, breiten sich Krankheiten wie die Tuberkulose schnell aus.

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staatlichen Institutionen unterscheiden sich von denen in priva-ten Einrichtungen. In staatlichen Institutionen wird eine Tuber-kulose bei den Betroffenen anhand klinischer Symptome sowie grundlegender Untersuchungen wie Röntgenaufnahmen des Brustkorbes, Untersuchungen des Sputums (Auswurf) und dem Nachweis von Entzündungsmarkern diagnostiziert. Im privaten Bereich dagegen kommen, wenn erforderlich, zusätzlich zu diesen Basis-Untersuchungen auch bildgebende Untersuchungsmetho-den wie die Magnetresonanz-Tomographie (MRT), Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und Computer-Tomographie (CT) zum Einsatz. In-vitro-Diagnostika, basierend auf der Polymerase-Kettenreaktion (PCR) zum Nachweis des geneti-schen Materials von Tuberkulosebakterien, werden hier ebenfalls eingesetzt, je nach Anforderung und Bezahlbarkeit durch den Patienten. Die Tuberkulosebehandlung wird im Rahmen des nationalen Programmes von der Regierung bezahlt und schliesst nicht nur die Medikamente, sondern auch Untersuchungen zum Management der Tuberkulose in staatlichen Gesundheitseinrich-tungen ein. Werden die Patienten dagegen in privaten Kliniken und Institutionen behandelt, müssen sie für alle im Rahmen einer Tuberkulose-Behandlung anfallenden Untersuchungen und Medikamente selbst aufkommen.»

Dr. Ashok Mahashur, Lungenarzt am P.D. Hinduja National Hospital & Medical Research Center ist davon übezeugt, dass »wahrscheinlich jeder Inder einen Primärkomplex in seiner Lunge

oder in den angrenzenden Lymphknoten hat.” Seine Patienten können die 10 000 Rupien zahlen, die eine PET-Untersuchung kostet. Jede Woche sieht er drei bis vier Patienten, die sich neu mit Tuberkulose angesteckt haben und 10 bis 15 Patienten, bei denen die Tuberkulose-Infektion schon länger bekannt ist. Normalerweise erkranken nur 10% der Infizierten, meist solche mit einer eingeschränkten Funktion ihres Immunsystems. Weil die Tuberkulose in Indien so häufig ist, gibt er INH prophylak-tisch auch all jenen Patienten, die mehr als sechs Monate mit Kortikosteroiden behandelt werden. Meist sind das Patienten, die an schwerwiegenden Autoimmunerkrankungen wie Lupus erythematodes oder rheumatoider Arthritis leiden.

Die unheilvolle Allianz der Immunschwäche-Krankheit AIDS und der Tuberkulose charakterisiert der indische Epidemiologe und Tuberkulose-Forscher Madhukar Pai, Associate Professor an der MC Gill University Montreal, so: »HIV-Patienten mit einem positiven Tuberkulose-Test haben ein um das Zehnfache erhöhtes Risiko, das Krankheitsbild einer Tuberkulose zu entwickeln.» Deshalb empfiehlt die WHO für mit HIV infizierte Jugendliche und Erwachsene eine Tuberkulose-Prophylaxe-Therapie mit 300 Milligramm INH täglich für die Dauer von mindestens sechs Monaten. Laut WHO-Report wurden im Jahr 2009 weltweit 80 000 Menschen mit HIV prophylaktisch mit INH behandelt.

In Indien sind schätzungsweise 2.3 Millionen Menschen mit HIV infiziert. Erhalten diese Menschen alle INH zur Prophylaxe?

Er ist mit HIV und dem Tuberkulose-Erreger infiziert und hatte zahlreiche Tuberkuloseherde im Gehirn (Tuberculoma) und in der Lunge (beidseitiger Befall). Sein physisches Erscheinungsbild zeigte die für Tuberkulose typische Auszehrung. Mit vier Medikamenten konnte seine Tuberkulose bekämpft werden.

Quelle: Professor Dr. Alaka Deshpande, Direktorin des Centre of Excellence in HIV care in Grant Med. College & Sir JJ Group of Govt. Hospital in Mumbai

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Bei den hier mit der PET aufgespürten aktiven Herden im Nacken- und Brustbereich könnte es sich um ein Lymphom oder eine Tuberkulose handeln. Wie die Biopsie ergab, war es eine Tuberkulose. Die Patientin erhielt eine medikamentöse Therapie und überlebte. Die starke Signalgebung (Schwärzung) im Gehirn ist nicht auf Tuberkulose- oder Tumorherde dort zurückzuführen, sondern physiologisch bedingt. Das Gehirn nimmt sehr viel Glukose auf.

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Seit dem Jahr 2008 wird auch die Positronen-Emissi-

ons-Tomographie (PET) zur Tuberkulose-Diagnostik

eingesetzt.122 Dabei handelt es sich um ein bildge-

bendes Verfahren unter Einsatz einer radioaktiv mar-

kierten Substanz, welches meist mit der Computer-

Tomographie kombiniert wird (PET/CT). Wie bei der

Krebsdiagnostik mit PET, wird auch bei der Tuberku-

lose-Diagnostik ein mit radioaktivem Fluor markierter

Zucker (Glukose) eingesetzt, Fluor-18-Deoxyglukose

(18-FDG). Entzündungszellen, aber auch entartete

Zellen haben einen hohen Glukoseverbrauch. Des-

halb reichert sich 18-FDG in Tumoren, aber auch

in Entzündungs- und Tuberkuloseherden an. Eine

Unterscheidung zwischen Tumor- und Tuberkulose-

herd ist derzeit mit PET nicht sicher möglich. Aber

dieses Verfahren, bei dem der ganze Körper unter-

sucht wird, hilft dabei, die Krankheitsherde aufzuspü-

ren, die bei Tumor- und Tuberkulosefällen oft überall

im Körper versteckt sein können. Eine Biopsie, das

heisst eine Entnahme von Material aus einem der ak-

tivsten so gefundenen Herde führt dann zur richtigen

Diagnose. «Wenn die Diagnose Infektion (wie Tuber-

kulose) oder maligner Tumor einmal gestellt und mit

einer Therapie begonnen wurde, kann die Untersu-

chung mit PET/CT und 18-FDG gut zur Therapiever-

laufskontrolle eingesetzt werden, weil sich der Erfolg

anhand der Stoffwechselveränderungen eher able-

sen lässt, als anhand der anatomischen Veränderun-

gen. Manchmal ändert sich die Grösse der Läsionen

nicht, aber die Stoffwechselaktivität nimmt beträcht-

lich ab, weil die aktiven kranken Zellen abgestorben

sind», erklärt Dr. Ujwal Bhure, ein PET-Spezialist aus

Mumbai, und dass «Entzündungs- und Infektions-

herde mit grosser Wahrscheinlichkeit eine verringer-

te 18-FDG-Anreicherung in PET-Aufnahmen zeigen,

die 60 bis 90 Minuten nach Injektion des Radiotra-

cers aufgenommen werden, während sich 18-FDG

in Tumorzellen mit der Zeit immer mehr anreichert.»

Anhand der Intensitäten von Aufnahmen nach einem

längeren Zeitraum erhalte man somit schon einen

ersten Hinweis.

Wo steckt der Tuberkuloseherd? Untersuchungen mit der Positronen-Emissions-Tomographie

Auch dieser Patient überlebte dank medikamentöser Therapie seine Tuberkulose-Erkrankung. Die Bilder in der oberen Reihe zeigen den Patienten nach, in der unteren Reihe vor der Therapie.

Dr.

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122 Harkirat S, Anand SS, Indrajit IK, Dash AK. Pictorial essay: PET/CT in tuberculosis.Indian J Radiol Imaging 2008;18:141-47.

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78 79

werden die an Tuberkulose Erkrankten in Katergorien nach den Richtlinien der WHO eingeteilt und mit DOTs (Directly observed therapy, short course) behandelt. Neu diagnostizierte Fälle werden in die Kategorie 1 eingeteilt und erhalten für zwei Monate eine Kombinationsbehandlung aus INH, Rifampicin, Ethambutol und Pyrazinamid gefolgt von einer viermonatigen Therapie mit INH und Rifampicin. Erleidet der Patient einen Rückfall oder lassen sich nach zwei Monaten Therapie immer noch Erreger im Aus-wurf nachweisen, wird ihm zusätzlich intravenös Streptomycin verabreicht.»

Aber auch Professor Deshpande setzt in vereinzelten Fällen INH prophylaktisch ein: Wenn eine an Tuberkulose erkrankte Mutter therapiert wird, bekommt der von ihr gestillte Nachwuchs während sechs Monaten ebenfalls prophylaktisch INH. Wenn Patienten mit Bindegewebs- und Knochenerkrankungen über lange Zeit Steroide nehmen müssen, erhalten auch sie prophy-laktisch INH.

Wie Professor Deshpande berichtet, ruft Rifampicin oft eine INH-induzierte Gelbsucht hervor. Wenn ein Patient eine solche Arzneimittel-bedingte Gelbsucht entwickelt, wird die medika-mentöse Anti-Tuberkulose-Therapie so lange ausgesetzt, bis die Gelbsucht verschwindet. Erst dann wird wieder schrittweise damit begonnen: erst mit INH und Ethambutol, nach einer Woche mit Rifampicin und dann mit Pyrazinamid. Erstaunlicherweise tritt eine Gelbsucht dann nicht mehr auf.

In Professor Deshpandes Krankenhaus erhalten mittellose Tuberkulose-Patienten INH kostenfrei. Wer in Indien seine Medikamente selber zahlen muss, legt für 100 Tabletten mit je 300 Milligramm INH etwa 100 indische Rupien an, das entspricht ungefähr zwei Dollar und dem Tagesverdienst eines einfachen Arbeiters. Hinzu kommen dann allerdings noch die Kosten für die Arztkonsultationen, die mit je 25 bis 100 Rupien für den Besuch beim Allgemeinmediziner bis hin zu 500 bis 3000 Rupien beim Lungenspezialisten zu Buche schlagen können, wie von Anil Kukreja, Direktor Medical Affairs bei Roche Products in Indien zu erfahren ist.

Die Tuberkulose war und ist eine Krankheit der Armut. Aber bakterielle Infektionskrankheiten, die mit der Luft verbreitet werden, machen nicht Halt vor Palasttüren. »Wir müssen bedenken, dass die Tuberkulose auf dem Luftweg übertragen wird. Wenn Sie also beispielsweise in Mumbai, der indischen Hochburg multiresistenter Tuberkulose, in ein Taxi steigen und der Fahrer hustet, können Sie nicht wissen, ob er eine

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Professor Dr. Alaka Deshpande, Mumbai: «Die Resistenz der Tuberkelbakterien gegen INH steigt in der Allgemeinbevölkerung an.»

«Nein», sagt Frau Professor Dr. Alaka Deshpande, Leiterin des Grant Medical College and Sir J J Gr. of Govt. Hospitals, eines von der Regierung finanzierten Krankenhauses in Mumbai für die mittleren und unteren Einkommensgruppen, in dem die Pati-enten kostenfrei behandelt werden. Und sie führt weiter aus: «Es gibt keine kontrollierten Studien dafür und ausserdem steigt die Resistenz der Tuberkelbakterien gegen INH in der Allgemeinbe-völkerung an. Daher bevorzugen es die Ärzte hier die Tuberkulose erst zu behandeln, wenn sie ausbricht. Es dauert acht bis 10 Jahre bis sich aus einer HIV-Infektion das Vollbild AIDS entwickelt. Während dieser Jahre erleben die HIV-Infizierten zwei- bis dreimal den Ausbruch einer Tuberkulose-Erkrankung. In den frühen Stadien, wenn die CD4-Zahl stabil ist, entwickelt der HIV-Patient eine Lungentuberkulose. Wenn die Immunschwäche dann zunimmt, entwickeln die Patienten eine extrapulmonale oder eine in mehreren Organen auftretende Tuberkulose. Nach dem überarbeiteten nationalen Programm zur Tuberkulose-Kontrolle

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Gensequenzen von Tuberkulosebakterien zu finden», kommen-tiert Bhuwnesh Agrawal, der von 2007 bis 2012 General Manager von Roche Diagnostics in Indien war.

AusblickAngesichts der hohen Anzahl mit Mycobacterium tuberculosis infi-zierter Menschen und des Verhaltens des Erregers, jahrzehntelang im tierischen und menschlichen Organismus ruhend an Orten zu persistieren, an denen Immunzellen ihn nicht aufspüren können, scheint es fraglich, ob die Tuberkulose jemals ausgerottet werden kann – was euphorisch im 20. Jahrhundert noch für möglich gehalten, und mit grossen Anstrengungen auch versucht wurde. Die Tuberkulose kann auch heute noch, unbehandelt, innerhalb von fünf Jahren zum Tod führen.

Von 1995 bis zum Jahr 2009 wurden weltweit 41 Millionen Tuberkulose-Patienten innerhalb von DOTs-Programmen mit INH behandelt und sechs Millionen Leben gerettet, zwei Millionen davon waren Frauen und Kinder.123 Noch ist das vor 60 Jahren entwickelte INH also Lebensretter für Millionen von Tuberkulose-Patienten.

Im Jahr 2009 hatten weltweit schätzungsweise 250 000 Tuber-kulose-Patienten eine multiresistente Tuberkulose, das heisst mindestens die zwei derzeit potentesten Antituberkulotika, INH und Rifampicin, waren bei ihnen wirkungslos. Nur 12% dieser

Erkältung hat oder eine Tuberkulose. Und die Klimaanlage bläst die Keime vom Fahrer auf dem Vordersitz zu den Gästen auf den Rücksitzen. Diese Ansteckungsgefahr ist in den über-füllten Bussen, die über das Land fahren, nicht weniger gering. Es wurde mehrfach nachgewiesen, dass sich Menschen anste-cken, wenn sie lange, für mehrere Stunden, in der Nähe von Personen mit offener Tuberkulose reisen. Wir alle sollten uns unserer Verantwortung für die Tuberkulose bewusst sein, denn sie wird mit der Luft übertragen, die wir einatmen», mahnt Lucica Ditiu von der im Jahr 2001 gegründeten Organisation Stop TB Partnership.

Anjali Nayyar, Senior Vizepräsidentin der Global Health Stra-tegies Company in New Delhi drückt es noch klarer aus:

Der Arzt Dr. Hemant P. Thacker, Spezialist für Herz- und Stoff-wechselerkrankungen am Bhatia Hospital in Mumbai, einem Krankenhaus für die Mittelklasse, konkretisiert dies: «Neue Arzneimittel werden gebraucht und schnelle diagnostische Testverfahren, keine Testverfahren mit Antikörpern, sondern PCR-basierte.» Er sieht 20 bis 30 Patienten am Tag, fünf bis sieben davon haben eine Tuberkulose!

Gebraucht wird in der Tat ein billiger und schneller patienten-naher Tuberkulose-Test (point of care test). Und dieser Test sollte in Indien entwickelt werden, darüber waren sich die Experten einig, die sich am 25. und 26. August 2011 in Bangalore auf der Konferenz «TB-Diagnostik in Indien: Von Import und Imitation zu Innovation» trafen. «Wir erkennen kaum 60% der Fälle, und die undiagnostizierten Tuberkulose-Patienten sind neue Infek-tionsquellen. Die Fehldiagnosen sind ein weiteres Problem – es gibt Dutzende fehlerhafter Bluttests zum Nachweis einer aktiven Tuberkulose», so Madhukar Pai, der auch Co-Chairman der neuen Arbeitsgruppe Diagnostika von Stop TB Partnership ist.

Akkuratere Testverfahren zum schnellen Nachweis der Tuberkulose-Erreger werden also gebraucht, besonders solche, die die medikamentenresistenten feststellen können. «Weltweit führend im Bereich In-vitro Diagnostika hat Roche innerhalb der Sparte Roche Applied Science die Mittel, um genomweite Analysen verschiedener neuer medikamentenresistenter M. tuber-culosis-Stämme vorzunehmen. Roche könnte so die Forschung unterstützen, um die für eine Arzneimittel-Resistenz spezifischen Fo

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Dichtgedrängt, stundenlang in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs – dies ist bei Infektionskrankheiten, deren Erreger, wie bei der Tuberkulose, mit der Luft übertragen werden, immer eine Gefahr.

«Etwas muss in Indien geschehen. Es ist dringend.»

123 WHO report 2010 Global Tuberculosis Control

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Dank

Leider ist heute, 60 Jahre nach der Entdeckung von Isoniazid (INH), keiner der beteiligten Akteure mehr am Leben. Umso dankbarer bin ich all Jenen, die mir bei der Spurensuche in der Vergangenheit geholfen haben: allen voran Alexander Bieri und seinen Mitarbeitern Bruno Halm und Dr. Lionel Löw vom Histori-schen Archiv Roche, aber auch den Mitarbeitern des Historischen Archivs der Firma Bayer, besonders Hans Herrmann Pogarell. Mein Dank gilt den Mitarbeitern des wissenschaftlichen Informa-tionsdienstes von Roche, im Besonderen den Basler Mitarbeitern Reinhard Bassermann und Carola Lefrank, die mir halfen, der in den Datenbanken und der Literatur gefundenen Quellen, auch wirklich habhaft zu werden und der Kollegin Sandra Digiacomo aus Nutley, die dort die zitierten internen Forschungsberichte von Herbert Herman Fox sowie Robert Julius Schnitzer und Emanuel Grunberg «ausgrub».

Für die aktuellen MR-Bilder der Knochentuberkuloseherde in der Wirbelsäule eines 34-jährigen Immigranten danke ich herzlich Dr. Marius Schmid vom Medizinisch Radiologischen Institut in Zürich. Für den Kontakt zu Dr. Schmid danke ich Oberarzt Dr. Jan Fehr, Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene des Universitätsspitals Zürich, der in einem Vortrag auf solche Fälle aufmerksam machte.

Mein herzlicher Dank gilt auch Dr. Silvia Gatti-McArthur, von der ich wertvolle Hinweise zur antidepressiven Wirkung von INH erhielt sowie Dr. Niggi Iberg und Dr. Gottlieb Keller, die mich mit aktuellen Zeitungsberichten zur weltweiten Tuber-kulose-Situation unterstützten. Herrn Dr. Gottlieb Keller danke ich zudem für die Möglichkeit, in Indien vor Ort recherchieren zu können. Den indischen Kollegen Dr. Girish Telang und Dr. Anil Kukreja danke ich für ihre wertvolle Hilfe beim Finden von Interviewpartnern in Mumbai.

Fälle wurden auch diagnostiziert.124 Und die extensiv resisten-ten Tuberkulose-Erkrankungen, bei denen zusätzlich drei und mehr der nachfolgend eingesetzten Zweitrangantituberkulotika versagen, nehmen zu.125 «Niemand in Europa ist 100% sicher vor medikamentenresistenter Tuberkulose», so ein Vertreter der WHO. Im September 2011 hat die WHO deshalb einen neuen Plan zur Bekämpfung der Tuberkulose in Europa verabschiedet. Das Ziel: Bis Ende 2015 sollen 85% aller Patienten diagnostiziert und mindestens 75% von ihnen behandelt werden. Derzeit sind nur 32% aller Patienten mit medikamentenresistenter Tuberku-lose in Westeuropa diagnostiziert und viele brechen ihre Therapie vorzeitig ab, was die Entwicklung resistenter Keime fördert.126

124 Siehe Anm. 123125 Vilchèze C, Jacobs WR: The Mechanism of

Isonziad Killing: Clarity through the scope of Genetics Annu. Rev Microbiol. 2007;61:35-50.

126 Associated Press: Drug-resistant tuberculosis spreading fast across Europe, WHO issues new plan to fight disease. 14.9.2011.

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Bactrim

Christoph Mörgeli1

1 Prof. Dr. Christoph Mörgeli, Medizin-historisches Institut und Museum der Universität Zürich, Hirschengraben 82,

CH-8001 Zürich, [email protected]. Ganz herzlich danke ich Herrn Dr. Gottlieb

Keller, General Counsel der Roche Holding AG, sowie den Mitarbeitern des Historischen Archivs der F. Hoffmann-

La Roche AG in Basel, Alexander L. Bieri, Bruno Halm, Dr. Lionel Loew wie auch

Regine Pötzsch für ihre kompetente und freundliche Unterstützung.

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Sulfamethoxazol

Trimethoprim

SMZ = sulfamethoxazoleTM = trimethoprim

Dihydrofolic acid synthetase

Dihydrofolic acid reductase

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Die Substanz Cotrimoxazol – seit 1969 von der Firma F. Hoffmann-La Roche AG als «Bactrim», von der Firma Burroughs Wellcome & Co. als «Septrin» entwickelt, produziert und vertrieben – gehört zu den wirksamsten und erfolgreichsten Heilmitteln der bisherigen Medizingeschichte überhaupt. Die Kombination der beiden antibio-tisch wirksamen Arzneistoffe Sulfamethoxazol und Trimethoprim im Dosis-Verhältnis fünf zu

eins bildete einen Welterfolg im Kampf gegen die Infektionskrank-heiten. Beide sich gegenseitig potenzierenden Komponenten greifen gleichzeitig, aber in unterschiedlicher Weise in den Bakterienstoff-wechsel ein und bewirken einen erstaunlich intensiven bakterien-tötenden Effekt. Bactrim erzeugt eine gleichzeitige Blockade zweier Enzyme innerhalb derselben Reaktionskette im Mikroorganismus. Diese Enzymblockade bewirkt eine Hemmung der Purinsynthese

sowie von Thymidin und verunmöglicht daher die Produktion von Desoxyribonukleinsäure (DNS) und Ribonukleinsäure (RNS). Der damals neuartige Doppeleffekt beeindruckte im Labor-experiment wie in der klinischen Anwendung am Menschen durch eine Wirkungssteigerung im Sinne einer Potenzierung, nicht bloss einer ein-fachen Addition.2 Die beiden Wirkstoffe zeigen sich auch darum als gute Kombinationspartner,

weil sie über eine ähnliche Halbwertszeit verfügen und in bequemen Intervallen von zwölf Stunden morgens und abends verabreicht werden können. Zudem erweisen sich die Nebenwirkungen als gering, und bakteriell infizierte Patienten können Cotrimoxazol fast immer in Tablettenform einnehmen.

Fast zwei Milliarden Menschen behandeltDas im Jahr 1969 eingeführte Heilmittel Bactrim von Roche fand 1977 Aufnahme in die von der Weltgesundheitsorganisation WHO herausgegebene Liste der unentbehrlichen Medikamente.3 Bis zum 31. März 2011 wurden 1,884 Milliarden Menschen – es sind auch wiederholte Therapien möglich – mit Bactrim behan-delt.4 Bei annähernd zwei Milliarden Menschen heilte Cotrimoxa-zol Infektionskrankheiten der oberen und unteren Atemwege, der Nieren und Harnwege, der Geschlechtsorgane und des Magen-Darm-Trakts oder es brachte doch in den allermeisten Fällen zumindest erhebliche Besserung.

Nach der Markteinführung wurde Bactrim zu einem wichtigen Präparat für Roche und erzielte bis 2011 einen Gesamtumsatz von beinahe 10 Milliarden Franken.5 Für den Basler Pharma-konzern bedeutete das Medikament damit kommerziell ein Produkt von mittlerer Bedeutung. Was hingegen die segensrei-chen Auswirkungen auf die gesamte Weltbevölkerung betrifft, so gehört Bactrim zu den ganz grossen Produkten: Mit ihm gelang es den Ärztinnen und Ärzten in den letzten gut vierzig Jahren, mehr Menschen vor dem Tode zu bewahren, als sämt-

2 «Bactrim» Roche. Bakterizides Breitband-Therapeutikum. Hg. von der F. Hoffmann-La Roche & Co. A.G., Basel o. J. [1969].

3 WHO Model Lists of Essential Medicines. Siehe www.who.int/selection_medicines/committees/expert/18/applications/FDC_622.pdf

4 Bactrim Patient Exposure, 1969-31 March 2011. F. Hoffmann-La Roche AG.

5 Bactrim-Umsätze 1969-2010. Historisches Archiv Roche, im Folgenden abgekürzt HAR FR.2.3.5 – 107395.

Wie unentbehrlich antiinfektive Mittel sind, zeigt die Tatsache, dass heute noch immer ein Drittel der Weltbevölkerung an Infektionskrankheiten stirbt.

Schematische Darstellung des Wirkmechanismus von Bactrim

Para-aminoben-zoic acid+Dihydropteridin

Dihydrofolic acid Tetrahydrofolic acid

DNA RNA

SMZ TM

Synthesis of purines

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liche Kriege der Weltgeschichte an Opfern gefordert haben (siehe Geleitwort).

Auch wenn wir heute den noch in den 1970er und 1980er gehegten therapeutischen Optimismus bezüglich der Überwindung aller Infektionskrankheiten nicht mehr teilen können, bildete Bactrim doch eine entscheidende Wegmarke zu deren Bekämpfung.

Exemplarisch zeigen Entwicklung, Produktion und Vertrieb von Bactrim beziehungsweise Septrin eine erfolgreiche Koope-ration mit dem britischen Pharmaunternehmen Burroughs Wellcome6; die erfreuliche Zusammenarbeit zum Nutzen bei-der Partner funktionierte dank ähnlicher Interessen, Strukturen und – trotz kleinerer Reibereien und Unstimmigkeiten im schon damals hart umkämpften globalen Pharmamarkt – bemerkens-wert intensiver und letztlich fairer Absprachen.

Später Einstieg in die ChemotherapieRoche7 ist vergleichsweise spät in die Chemotherapie zur Behand-lung bakteriologischer Krankheiten eingestiegen. Dennoch ver-mochte der Konzern in Basel und in Nutley/New Jersey nach dem Zweiten Weltkrieg eine stattliche Anzahl wichtiger antibakteriel-ler Präparate zu entwickeln.8 Die Sulfonamide als synthetisches chemisches Arzneimittel haben allerdings andere Firmen in die Behandlung eingeführt. 1935 entdeckte der deutsche Pathologe und Bakteriologe Gerhard Domagk die bakterienschädigende Wirkung des «Prontosil» rubrum, eines Sulfonamid-Farbstoffs.9 Domagk forschte in der Bayer AG10 innerhalb der Firma I.G. Farben in Wuppertal-Elberfeld.

Die Entwicklung der natürlich gebildeten Antibiotika als Stoffwechselprodukte von Pilzen oder Bakterien begann bereits 1929 mit der Entdeckung des Penicillins durch den schottischen Bakteriologen Alexander Fleming in London.11 Grossbritannien,

6 1880 von Silas Burroughs und Henry Wellcome gegründet, seit 1995 Glaxo Wellcome, heute GlaxoSmithKline.

7 1896 von Fritz Hoffmann-La Roche in Basel gegründet.

8 Die von Roche eingeführten antibakteriellen Präparate heissen: Sulfa Mesarco, PerOsCillin, Gantrisin, Madribon, Gantanol, Fanasil, Rimifon, Cycloserin Roche, Bactrim, Nibrisin, Rocephin, Tibirox, Lorecin, Coactin, Trimpex, Globocef, Quinodis, Marbofloxacin.

die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten haben dieses bedeu-tende antibakterielle Heilmittel gegen Ende des Zweiten Welt-kriegs eingesetzt; Roche hatte auf diesem Markt kaum grosse For-schungschancen. Dennoch wurden in der Niederlassung Nutley auf Wunsch der US-Regierung seit 1943 neben der florierenden Vitamin-Produktion grosse Mengen von Penicillin hergestellt. Nach 1945 zeigte sich aber rasch eine Übersättigung des Mark-tes, so dass Roche in den USA die Produktion wieder einstellte. Lediglich das oral einzunehmende Präparat «PerOsCillin» konnte sich noch eine gewisse Zeit halten.

Trotz solcher Enttäuschungen wurde im Bereich Antiinfektiva intensiv weitergearbeitet; in Nutley an den fermentativen Prozes-

Wenn wir den Umsatz mit der Anzahl Behandlungen in Verbindung setzen, so kostete eine durchschnittliche Therapie mit Bactrim etwa fünf Schweizer Franken – wahrlich ein bescheidener Preis im Vergleich mit der Rettung von vielen hundert Millionen Menschenleben.

Sir Alexander Fleming

Werbeanzeige aus der Ärztezeitschrift «Image Roche» für Gantrisin Roche (Wirkstoff Sulfisoxazol). Das Bild demonstriert die leichte Löslichkeit des besonders bei Harnwegsinfekten eingesetzten Medikaments, 1969

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Gerhard Domagk, 1920er Jahre

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9 Domagk, Gerhard: Ein Beitrag zur Chemotherapie der bakteriellen Infektionen. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift 61 (1935), S. 241-251. – Siehe auch Grundmann, Ekkehard: Gerhard Domagk. The first man to triumph over infectous diseases. Münster 2004.

10 1863 von Friedrich Bayer und Johann Friedrich Weskott in Barmen gegründet.

11 Hobby, Gladys L.: Penicillin. Meeting the Challenge. New Haven / London 1985. – MacFarlane, Gwyn: Alexander Fleming. The Man and the Myth. Cambridge/Mass. 1984.

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sen, also an der Stoffumwandlung durch Gärung, in Basel an den Synthesen antibiotischer Substanzen. Roche Basel verkaufte die unter Hans Spiegelberg fabrikationsreif entwickelte Synthese des Breitbandantibiotikums Chloramphenicol. Zusammenfassend ist aber festzuhalten, dass die grossen Forschungsanstrengungen im Bereich Antibiotika im Gegensatz zu den Sulfonamiden wenig Früchte getragen haben.12

Dabei ging es in den ersten Jahren auch in der Sulfonamidfor-schung von Roche eher schleppend voran. Domagks «Prontosil» konnte entgegen in Basel und Nutley gehegter Hoffnungen nicht rasch durch ein besseres Produkt verdrängt werden.13 Doch im Jahr 1949 gelang es der Firma, mit «Gantrisin» ein neuartiges Sulfonamid anzubieten und damit künftig den Sulfonamidmarkt wesentlich mitzugestalten. Es war dem aus Deutschland vertriebe-nen Chemiker Max Hoffer, zusammen mit Heinz Moritz Wüest, schon 1944 in Nutley gelungen, den Wirkstoff Sulfisoxazol herzu-

12 Fehr, Hans: 3 mal 25 Jahre, Fragmente aus der Roche-Geschichte, Sondernummer der «Roche-Zeitung», Basel 1970, S. 70f.

13 Peyer, Hans Conrad: Roche. Geschichte eines Unternehmens 1896-1996. Mit einem Geleitwort von Paul Sacher. Basel 1996,

S. 137.14 Rürup, Reinhard: Schicksale und

Karrieren. Gedenkbuch für die von den Nationalsozialisten aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vertriebenen Forscherinnen und Forscher. Unter Mitwirkung von Michael Schüring. Göttingen 2008, besonders S. 230-231.

stellen.14 Gantrisin bedeutete eine Wegmarke in der Chemothera-pie und wird noch heute – trotz seitheriger Resistenzentwicklung – wegen seiner guten Verträglichkeit in der Kinderheilkunde und bei Harnwegsinfekten eingesetzt.

1952 führte Roche das von H. Herbert Fox synthetisierte und von Emanuel Grunberg und Robert J. Schnitzer als Antituber-kulosemittel erkannte Isonicotinsäurehydrazid als «Rimifon» ein – damals ein Markstein in der weltweiten Tuberkulosebekämp-fung. 1956 folgte mit dem D-Cycloserin ein weiterer antibiotisch wirksamer Arzneistoff gegen die noch immer grassierende Volks-krankheit Tuberkulose, an dem auch Forscher anderer Firmen mitwirkten. Aufgrund seiner Toxizität wird D-Cycloserin jedoch nur als Mittel zweiter Wahl bei Resistenz gegen andere Antibiotika eingesetzt.

An Gantrisin wurde, wie überhaupt an den Sulfonamiden, in den 1950er Jahren bei Roche weiterhin intensiv geforscht und so das isomere, so genannte «Iso-Gantrisin» gefunden. 1956 entdeckte man das «Azo-Gantrisin». Aufgrund der Studien des Innsbrucker Chemieprofessors Hermann Bretschneider brachte Roche 1959 das Sulfadimethoxin «Madribon» auf den Markt, das vor allem in der Kinderheilkunde ein breites Spektrum mit guter Verträglichkeit und langer Wirkungsdauer verband. Die

Heinz Moritz Wüest (links) und John J. Aeschlimann (rechts) im Gespräch, Roche Nutley, 1942

Ärztefaltblatt «Madribon – Ambulante Langzeittherapie», 1960er Jahre

Robert J. Schnitzer, Roche Nutley

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Hans Spiegelberg, Roche Basel, 1966

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Bezeichnung «Madribon» stammte übrigens von einem früheren, nicht realisierten Vitaminpräparat.15 Bei der systematischen Prü-fung aller Isomeren des «Madribon» fand Bretschneider auch das lange wirksame Sulfadoxin «Fanasil» für die Tropenmedizin, das mittels Einnahme einer einzigen Tablette eine Woche lang wirkte.

Gantanol – in Japan entwickeltDas 1962 eingeführte neue Sulfonamid «Gantanol», das für die spätere Entwicklung von Bactrim so entscheidend werden sollte, war vorerst keine Forschungsleistung von Roche. Vielmehr hatte die Firma, in zweifellos rationaler Zukunftsplanung, aber auch mit dem nötigen Quentchen Glück, den Wirkstoff Sulfamethoxa-zol der japanischen Pharmaunternehmung Shionogi & Co., Ltd.16 abgekauft. In den Laboratorien von Shionogi in Osaka war 1958 das «Sinomin» (Sulfamethoxazol) entwickelt worden. Es handelte sich bei Sinomin beziehungsweise Gantanol um eine Abwandlung

des Gantrisins (nor-iso Analoges) mit mittlerer Wirkungsdauer (vier Tabletten pro Tag). Sulfamethoxazol kam mit beträchtli-chem Erfolg gegen Harnwegsinfekte und Lungenentzündungen zum Einsatz.17 Noch spezifischer im Unterleib wirkte das Nach-folgeprodukt «Uro Gantanol».18

Die für längere Zeit letzte Entwicklungsstufe in der Chemo-therapie gegen bakterielle Infektionskrankheiten erreichte man 1968 durch das zusammen mit Burroughs Wellcome entwickelte Kombinationspräparat Bactrim.19 Dieses Breitbandtherapeuti-kum sollte sich auf dem Heilmittelmarkt der 1970er und 1980er Jahre als eines der wichtigsten Roche-Präparate bewähren. Vor-aussetzung für die Entdeckung des Bactrims war die vorgängige Firmengeschichte: Die Beruhigungsmittel Librium (1960) und Valium (1963) erzielten spektakuläre medizinische und geschäft-liche Erfolge. Sie waren von dem in Nutley forschenden Chemiker Leo Sternbach synthetisiert worden und prägten Roche während der ersten Hälfte der 1960er Jahre.20 Dank dieser Benzodiazepine flossen der Firma wesentlich mehr Mittel zu, als durch die 1933 eingeführten synthetischen Vitamine. Hatte der Umsatz 1946 noch 221 Millionen Franken betragen, wuchs er bis 1965 auf über zwei Milliarden Franken.21 Dies war neben der grossen Nach-frage nach den neuen Produkten auch eine Folge des allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs und des Ausbaus des Kranken-versicherungswesens in den westlichen Staaten. Die so erlangten

15 Peyer (1996), S. 185.16 1878 von Gisaburo Shiono in Osaka

gegründet.17 «Gantanol» Roche: sulfamide moderne,

d’action de durée moyenne, doué de toutes les propriétés des produits supérieurs. Bâle 1968.

18 Fehr (1970), S. 63.19 Ibid.20 Baenninger, Alex: The life and legacy

of valium inventor Leo Sternbach. New York 2004. – Sternbach, Leo H.: Die Benzodiazepin-Story. Basel 1986.

21 Bürgi, Michael: Pharmaforschung im 20. Jahrhundert. Arbeit an der Grenze zwischen Hochschule und Industrie. Zürich 2011, S. 34.

Arbeitsbesprechung in den 1960er Jahren. Mit dem Gesicht zur Kamera, v.l.n.r.: O. Isler, A. Pletscher, O. Schnider, H. Spiegelberg, M. Montavon, E. Böhni

Ärztefaltblatt «Uro-Gantanol», 1960er Jahre

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finanziellen Möglichkeiten des Unternehmens führten vor allem in Basel und Nutley zu einer expansiven Bautätigkeit, zu der Suche nach neuen Arbeitsgebieten, vor allem aber auch zu einem massiven Ausbau der Forschungsmöglichkeiten. Seit 1956 koordi-nierte die Roche Research Management Group (RRMG) die gesamte Forschungsorganisation, die 1967 über einen Forschungsetat von 134 Millionen Franken verfügte. Verschiedene Projektgruppen vereinigten die Vertreter der einzelnen Forschungsgruppen zur Bearbeitung eines bestimmten Vorhabens. Als medizinischer Forschungsleiter von Basel präsidierte der Arzt Professor Alfred Pletscher22 auch seine Kollegen im amerikanischen Nutley und im englischen Welwyn. Pletscher führte seine Mitarbeiter an der langen Leine, hegte aber ähnlich ehrgeizige Zukunftsvisionen wie der neue operative Gesamtleiter, der Urner Arztsohn und Jurist Adolf Walter Jann.23

Zunehmende Auflagen für PrüfverfahrenDie Basler Abteilung für experimentelle Medizin gliederte sich in Pharmakologie, Biochemie, Chemotherapie, Pathologie, Physio-

22 Stauffacher, Werner: Alfred Pletscher (1917-2006). In: Jahresbericht der Akademie der medizinischen Wissenschaften. Basel 2006,

S. 20.23 Peyer (1996), S. 213-273.24 1946 in Stolberg gegründet von Hermann

Wirtz, Sitz in Aachen.25 Freitag, Walburga: Contergan: eine

genealogische Studie des Zusammenhangs wissenschaftlicher Diskurse und biographischer Erfahrungen. Münster 2005.

26 Peyer (1996), S. 187-188. – Bürgi (2011), S. 129-130.27 Auszug aus dem Roche- und Sapac-

Geschäftsbericht 1966, Beilage zur Roche-Zeitung 1966/2, o. S. [4].

logie, Hämatologie sowie die Versuchstierfarm in Füllinsdorf auf. Immer wichtiger wurde auch die Abteilung für klinische Prüfung der Präparate, die mit Krankenhäusern und Universitätskliniken auf der ganzen Welt zusammenarbeitete. Die durch den unbe-dachten Einsatz des Schlaf- und Beruhigungsmittels «Contergan» des deutschen Unternehmens Grünenthal GmbH24 verursachten entsetzlichen Missbildungen Neugeborener löste einen Schock in der Gesellschaft aus und führte seit 1961 zu wesentlich strengeren Auflagen der staatlichen Kontrollbehörden.25 Speziell die Food and Drug Administration (FDA) der USA erliess auf Weisung des Kongresses verschärfte Zulassungsbedingungen für neue Medi-kamente und beanspruchte das Bewilligungsrecht für klinische Tests. Neu bestimmte diese Behörde die wissenschaftlichen Ver-fahren, die Qualifikation des Personals, verlangte toxikologische Versuche und auch Studien, wie die Arzneimittel im Organismus verändert oder abgebaut wurden.26 Diese Auflagen sollten die Entwicklungsphase bis zur Markteinführung von Bactrim nach-haltig prägen.

Bei allem Verständnis für verantwortungsvolle Bewilligungsver-fahren äusserte der Verwaltungsratspräsident von Roche, Adolf Walter Jann, deutliche Kritik an ausufernden wissenschaftlichen Prüfungen und geradezu unsinnigen Kontrollanforderungen staatlicher Behörden, hinter denen er den Missbrauch für pro-tektionistische Ziele vermutete. So mussten zahlreiche Versuche

Der hohe Stand der westlichen Pharmaindustrie machte es bereits damals immer schwieriger, neuartige und wesentlich bessere Medikamente zu entwickeln. Die Entscheidung, ob ein Präparat alle Kriterien bezüglich Wirksamkeit und den Grad der zu verantwortenden Nebenwirkungen erfüllte, war erst nach umfangreichen Studien möglich. Schon Mitte der 1960er Jahre waren zur Prüfung eines Medikaments die klinischen Ergebnisse von 10 000 und mehr Patienten erfor-derlich. Eine Dauer von fünf Jahren vom Zeitpunkt der Syn-these an bis hin zur Marktreife waren durchaus realistisch.27

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Leo H. Sternbach mit Max Hoffer im Labor Bau 25 in Nutley, 1940er Jahre

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und Tests im jeweiligen nationalen Rahmen wiederholt werden, was einen riesigen bürokratischen Aufwand erforderte, For-schungsressourcen verschleuderte, die Medikamente verteuerte und kleinere Firmen zum Aufgeben zwang.

1970 beschäftigte Roche in der Forschung weltweit etwa 3500 Personen.28 In Basel arbeiteten damals 300 Akademiker mit durchschnittlich je drei Mitarbeitern in der Forschungsab-teilung, also insgesamt 1200 Personen. Jährlich wurden 5000 neue Verbindungen synthetisiert, wobei nur etwa 30 das Stadium der klinischen Prüfung erreichten und die Firma sich glücklich schätzte, wenigstens zwei Präparate zur Marktreife zu führen. Forschungschef Alfred Pletscher meinte denn auch am Chemistry Meeting 1970:

Biologie statt Chemie als LeitwissenschaftDie Anfänge des Heilmittels Bactrim spielten sich vor dem Hintergrund der allmählichen Umstellung von der Chemie zur Biologie als Leitwissenschaft der industriellen Pharmaforschung ab.30 Im Gegensatz zu den Chemikern zeigte sich, dass viele junge Biowissenschaftler einer industriellen Tätigkeit skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Um diesen Graben zwischen akademischer Grundlagenforschung und Industrieforschung zu überwinden, gründete Roche 1967 in den USA (Nutley, NJ) das Roche Institute of Molecular Biology (RIMB), kurz darauf in Basel das Basel Institute for Immunology (BII). Auch herrschte nach einem eigentlichen Pharmaschub in den 1950er Jahren, der eine Vielzahl neuer Präparate hervorbrachte, in den 1960er Jahren weltweit eine gewisse Innovationskrise. Davon war die Firma Roche nicht ausgenommen, und sie machte sich Sorgen, weil es ihr beispielsweise nicht gelang, genügend chemisch völlig neuartige Spezialitäten auf den Markt zu bringen.32 Die Geschäfts-leitung war darüber beunruhigt, dass mittlerweile tausende von neuen chemischen Verbindungen geprüft werden mussten, bis man eine zur Therapie geeignete Substanz gefunden hatte.33 Auch die Forschungsarbeiten im Gebiet der Virologie erwiesen sich als undankbar und stagnierten ohne einen Durchbruch in Form eines

28 Jann, Adolf W.: Auszug aus der Präsidialadresse, in: Roche-Nachrichten 3 (1965), o. S. [4] – Fehr (1970), S. 73.

29 Isler, Otto: «Rückblick – Ausblick», Rapport No. 71’855, Weihnachtskolloquium VI/Chemie vom 23.12.1970, Mskr., 8.1.1971.

30 Bürgi (2011), S. 10.31 Beide heute nicht mehr bestehend, siehe

Bürgi (2011), S.125-126.32 Geschäftsbericht der F. Hoffmann-La Roche

& Co., 1962, S. 7.33 Geschäftsbericht der F. Hoffmann-La Roche

& Co., 1963, S. 10.34 Bürgi (2011), S. 130.35 Referat von Kurt Feinstein, «RRMG» 1969, S. 5. HAR FE.0.4 - 101129c. – Bürgi (2011), S. 131.36 Peyer (1996), S. 190.

verkaufsfähigen Medikaments.34 Valium und Librium machten im Jahre 1968 beängstigende 62% des gesamten Pharma-Umsatzes aus. Die Verkaufsabteilung sprach im Zusammenhang mit diesem riskanten Zustand von «zu vielen Eiern in einem Korb».35 Inner-halb von etwa zehn Jahren drohte der Ablauf der entsprechen-den Patente, und damit bestand die dringende Notwendigkeit, ertragreiche Nachfolgeprodukte auf den Markt zu bringen. Dies war umso mehr angezeigt, als sich zeitgleich die Diskussion um Nebenwirkungen und Suchtpotential von Beruhigungsmitteln entfachte.36

«Erfolgreiche Arzneimittel sind rar wie wundervolle Perlen. Ich bin überzeugt, dass mit Individualismus die Chancen grösser sind als mit Uniformität, dass wir solche köstliche Perlen finden.»29

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Roche Institute for Molecular Biology (RIMB), Nutley, New Jersey, 1968

Die Laboratorien des Instituts für Immunologie (BII), in denen auch Struktur und Funktion der Antikörper untersucht wurden, waren zweistöckig angelegt und mit einer Wendeltreppe verbunden, um die Kommunikation zwischen den Labors zu erleichtern (1971)

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Die Tranquilizer Librium und Valium, die Vitaminpräparate – sowie immerhin bereits an dritter Stelle – die antibakteriellen Sulfonamide, bildeten damals die Haupteinnahmequellen von Roche. Es ging in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre darum, neben dem einseitigen, risikobehafteten Verkaufserfolg der Ben-zodiazepine ein zusätzliches Standbein aufzubauen. Im Gremium der Roche Research Management Group (RRMG), in der die Lei-ter der Forschungs- und Fabrikationsabteilungen der Standorte Schweiz, USA und Grossbritannien vertreten waren, wurde eine Neuausrichtung der Forschung verlangt.37 Drei Wissenschaftler aus der Niederlassung im englischen Welwyn wiesen darauf hin, dass die Chemiker die biologische Wirkung ihrer synthetisierten Produkte nicht voraussagen könnten. Darum müsse die bio-logische Forschung zulasten der herkömmlichen chemischen Aktivitäten ausgebaut werden.

Gegenwehr der ChemikerDie Chemiker leisteten gegen solche Zukunftsvisionen entschie-dene Gegenwehr. Otto Isler39, der verdiente Vitaminforscher und Chef der chemischen Forschungsabteilung, wies energisch auf die Bedeutung der chemisch hergestellten Medikamente und deren Verkaufserfolg für das Unternehmen hin. Er verwahrte sich deutlich gegen biologische Theorien und Spekulationen, die mit der Realität wenig zu tun hätten.40 Isler war sich aber durchaus bewusst, dass mit der Chemotherapie für eine Pharmafirma Geld

37 Pletscher, Alfred: 25 Jahre Roche-Forschung. Erlebte Geschichte. In: Forschung bei Roche. Rückblick und Ausblick. Hg. von Jürgen Drews und Fritz Melchers. Basel 1989,

S. 44-45. – Bürgi (2011), S. 131.38 Bürgi (2011), S. 132-134.39 Brönnimann, R[oland]: Zum Hinschied von

Dr. Otto Isler. In: Chimia 46 (1992), S. 449. – Notizen von einem Besuch bei Dr. Otto Isler. In: Roche-Magazin 38 (1991), S. 36-46.

40 Isler, Otto: Continuity in Chimistry Research“, 5.6.1969. HAR FE. 0.4 - 103593 a. – Bürgi (2011), S. 134-135.

41 Eine Frau von Format [Erika Böhni]. In: Roche-Magazin 45 (1993), S. 46.

42 Weissbach, Herbert: Reflections on the Roche Institute of Molecular Biology after 20 years. In: Forschung bei Roche. Rückblick und Ausblick. Hg. von Jürgen Drews und Fritz Melchers. Basel 1989, S. 231-259, hier

S. 245-246.– Bürgi (2011), S. 135.43 Peyer (1996), S. 222.

zu verdienen sei und hatte sogar die Tuberkuloseforschung bei Roche als eigentlicher Promotor angeregt.41 Arnold Brossi, der Leiter der chemischen Forschung in Nutley (USA), äusserte zum biologischen Ansatz ebenfalls eine gewisse Skepsis und meinte, Erfolg und guter Ruf der Firma Roche seien den Erkenntnissen der klassischen Synthesechemie zu verdanken, und grosse Inves-titionen in die biologische Forschung seien nicht angebracht.42 Dennoch zeigte die weitere Entwicklung, dass sich die Vertreter der chemischen Disziplin in der Defensive befanden. Dies offen-barte sich auch augenfällig, als 1967 mit Alfred Pletscher erstmals ein Mediziner und biomedizinischer Wissenschaftler die Leitung der gesamten Konzernforschung übernahm.43

Otto Isler mag sich als Chemiker später etwas gerächt haben, indem er die Bedeutung der Roche-Forschung bei der Konzeption von Bactrim fast gänzlich in Frage stellte und den Forschungserfolg hauptsächlich dem Wellcome-Konzern zuerkannte. Tatsächlich warb der amerikanische Biochemiker George H. Hitchings, For-schungschef von Burroughs Wellcome in Tuckahoe, New York,

Mit effizienteren Testverfahren und besserer Erforschung der biologischen Krankheitsursachen solle systematischer nach Heilmitteln gesucht werden. Die Biologie – etwa die Stoff-wechseluntersuchung von Bakterien – gehöre an den Anfang jeder Arzneimittelentwicklung. Gerade angesichts verschärfter Prüfungsanforderungen bei der Medikamentenzulassung seien die Kosten der Entwicklung enorm gestiegen; Roche müsse sich jeweils schon zu Beginn des Forschungspro-zesses genaue Vorstellungen über die pharmakologische Wirkung einer Substanz im menschlichen Körper machen.38

Otto Isler in seinem Labor, 1975

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viele Jahre mit theoretischen Argumenten und guten Tierversu-chen vergeblich für die Kombination von Sulfonamiden. Man schenkte ihm erst Glauben, als klinische Prüfungen erstaunliche Erfolge zeigten.44 Hitchings stellte ein bedeutendes wissenschaftli-ches Aushängeschild für Wellcome dar, war er doch neben manch anderen Entdeckungen auch Schöpfer des Leukämie-Heilmittels Mercaptopurin und des Pyrimethamins gegen die Infektions-krankheit Toxoplasmose. Für seine Verdienste um die medika-mentöse Bekämpfung der Infektions- und Krebserkrankungen empfing er 1988, zusammen mit seiner Mitarbeiterin Gertrude B. Elion, den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.45 Roche hatte es also im Fall von Burroughs Wellcome mit erstklassigen Wissenschaftlern zu tun.

Trimethoprim von Burroughs Wellcome1953 erfolgte die Patentierung des Antibiotikums Trimethoprim, dessen Wirkung gegen bakterielle Infektionen Hitchings und Elion 1956 entdeckten. Das Medikament vermochte den Folsäure-Stoffwechsel von grampositiven und gramnegativen Keimen zu hemmen und wurde von Burroughs Wellcome zur Therapie von unkomplizierten Harn- und Luftweginfekten eingesetzt. In den frühen 1960er Jahren begannen recht intensive Forschungskon-takte zwischen Wellcome und Roche. Wellcome hatte zuvor den Basler Firmen J. R. Geigy AG46 und Ciba AG47 vergeblich ange-boten, im Bereich Trimethoprim zusammenzuarbeiten. Beide lehnten ab, da sie die toxischen Wirkungen des Produkts für unverantwortlich hielten. Auch als sich Wellcome 1963 an Roche wandte, war die Skepsis vor allem bei den Mikrobiologen gross. Die Kliniker liessen sich aber rasch von der bakterientötenden Wirkung des Antibiotikums überzeugen. Die Forschungsleitung zeigte sich ebenfalls offen in dem Bewusstsein, dass die bislang eingeführten chemotherapeutischen Präparate wie Gantrisin, Rimifon, Madribon und Gantanol einen wesentlichen Bestandteil des Geschäftserfolgs bildeten. Allerdings wurde in einer internen Mitteilung Mitte der 1960er Jahre vor den damaligen Verhält-nissen auf dem Antiinfektiva-Markt im Allgemeinen und bei den Sulfonamiden im Speziellen gewarnt.48 Es erfüllte die Ver-antwortlichen mit Sorge, dass die Sulfonamide gegenüber den Antibiotika in der Defensive waren.49 Das von Roche entwickelte Sulfadoxin Fanasil stelle ein Sulfonamid mit teilweise völlig neuen Eigenschaften dar, weshalb sich seine Zukunftschancen auf dem Markt nur schwer voraussagen liessen; es überwögen dennoch

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George Herbert Hitchings (1905-1998) und Gertrude Belle Elion (1918-1999) im Jahr 1988. Sie arbeiteten während 30 Jahren in den Forschungslaboratorien von Burroughs Wellcome in den USA zusammen. Aufgrund ihrer bahnbrechenden Arbeiten auf dem Gebiet der Medikamentenentwicklung erhielten sie 1988 den Nobelpreis für Medizin oder Physiologie

Arnold Brossi, 1973

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44 Isler (1971), S. 21f.45 Turney, Jon: Rational drug design: Gertrude

Elion and George Hitchings. London 2011. Autobiographie von Hitchings siehe

www.nobelprize.org/nobel_prizes/medicine/laureates/1988/hitchings-autobio.html

46 Gegründet 1758, seit 1970 Ciba-Geigy AG, seit 1992 Ciba AG, seit 1996 Novartis AG.

47 Gegründet 1883 als Gesellschaft für chemische Industrie Basel, seit 1945 unter Name Ciba, seit 1970 Ciba-Geigy AG, seit 1992 Ciba AG, seit 1996 Novartis AG.

48 Roche, Interne Mitteilung Nr. 366.49 Protokoll der Informationssitzung, 29.9.1965.

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die positiven Merkmale, die es zu einem wertvollen Medikament mit guten Marktaussichten machten. Immerhin sollte Fanasil später zu den von der Weltgesundheitsorganisation WHO als unentbehrlich bezeichneten Medikamenten – speziell gegen Cholera – gehören.50

Erstaunlich wirksame KombinationNun drängte man in Basel darauf, noch wirksamere Arzneien zu erforschen, zu erproben und zum klinischen Einsatz zu bringen. Ein halbes Jahr lang wurde in den Laboratorien geprüft und schliesslich entdeckt, dass die Kombination des Antibiotikums Trimethoprim mit dem Sulfonamid Sulfamethoxazol (Gantanol) ganz besondere Eigenschaften ergab.

Ausgedehnte Laborversuche liessen die Aktivität von Trimetho-prim (TM) und Sulfamethoxazol (SMZ) alleine sowie in Kom-bination, und zwar gegen eine Reihe von entsprechend gefärbten grampositiven und gramnegativen Bakterien, erkennen. Auf den mikrobiologischen Testscheibchen (Disks) zeigte sich, dass die keimfreien Zonen in Kombination grösser waren, als bei den Einzelkomponenten. Zum selben Ergebnis führten Experimente an Mäusen, die mit dem Bakterium Escherichia coli, dem häufigs-ten Erreger von Darminfekten, infiziert worden waren. Ebenfalls ein Potenzierungseffekt zeigte sich in Mäuseversuchen beim Streptococcus pneumoniae, dem häufigsten Erreger von Lungen-entzündungen, der auch an andern Krankheitsbildern wie Hirn-hautentzündung und Endokarditis beteiligt ist. Die Forscherinnen und Forscher waren nicht nur von der Wirkungsintensität beein-druckt, sondern auch von der Wirkungsbreite der Kombination von TM und SMZ. Deren antibakterieller Effekt erstreckte sich auf ein überaus breites Erregerspektrum und erwies sich gegen-über bislang bekannten Breitbandantibiotika wie Ampicillin, Tetracycline, Penicillin G, Chloramphenicol oder Phenethicillin zumindest als ebenbürtig: Empfindlich auf das neue kombinierte

Präparat reagierte ein breites Spektrum von Bakterien, welche Infektionskrankheiten der Atemwege, des Magen-Darm-Trakts, des Urogenitaltrakts, der Haut und Weichteile sowie andere Infektionen verursachen.52

Bald wurde die Kooperation zwischen den beiden Firmen intensiviert; es kam zu immer neuen Gesprächen in Basel und London. Im Sommer 1966 stellte die damals 44 Jahre alte Mikro-biologin Erika Böhni ihre Forschungsergebnisse vor. Sie hatte ihren englischen Vortrag auswendig gelernt und präsentierte ein-drückliche Dias. Emanuel Grunberg, Leiter der chemotherapeuti-schen Forschung in Nutley, zeigte sich gemäss Böhnis Tagebuch «so erfreut und erregt, dass er aufstand und sagte, er hätte gar nicht gewusst, dass wir so etwas machten».53 Der sonst zurückhaltende Giuseppe Reggiani, einer der bedeutendsten klinischen Forscher bei Roche, nickte der Referentin das erste Mal beifällig zu.54

Der Vertrag mit Wellcome sollte schliesslich drei spezifisch genannte Pyrimidin-Potentiatoren von Wellcome und zwölf Sulfonamide von Roche umfassen. Man verpflichtete sich zur gegenseitigen Information über neue galenische Fortschritte oder Dosierungen. Auch der Austausch wissenschaftlicher Dokumente war vorgesehen, wobei man in Basel streng darauf achtete, nur Informationen und Verbindungen preiszugeben, die wirklich Gegenstand der Zusammenarbeit waren.55

Roche und Wellcome wiesen als forschungsorientierte Unter-nehmen ein ähnliches Profil bei der pharmakologischen Kom-petenz auf und verfügten über eine ähnliche, auf die Medizin fokussierte Firmenkultur. Beide Unternehmen gehörten in der globalen Welt der Heilmittelindustrie zu den wichtigsten Mitspie-lern und strebten nach höchster pharmakologischer Kompetenz

50 WHO Model Lists of Essential Medicines. Siehe www.who.int/selection_medicines/committees/expert/18/applications/FDC_622.pdf

51 Eine Frau von Format (1993), S. 45.52 «Bactrim» Roche [1969], S. 23-25. 53 Böhni, Erika: Tagebuch Nr. VIII, Mskr.,

27.6.1966, [o. S.]. Nachlass Erika Böhni bei Ernst Böhni, Stein am Rhein. Ich danke Herrn Stadtrat Ernst Böhni ganz herzlich für die Gewährung der Einsicht in die Tagebücher.

54 Ibid.55 Roche, Interne Mitteilung von M. Fernex

und H. Neumann, 10.12.1975. HAR FE.2.1 - 103531 o.

Die antibakterielle Wirkung in den Petrischalen erwies sich als erstaunlich und höchst interessant: Eine Potenzierung zweier antibakterieller Substanzen erschien vorerst unglaublich und nie dagewesen.51

Der synergistische Effekt von Bactrim wird mit einem Sensibilitätstest mittels Disks in einer Kultur von Staphylococcus aureus sichtbar gemacht. Unten links Sulphamethoxazol, unten rechts Trimethoprim

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104 105

und Exzellenz. Speziell die Forschungsabteilungen und deren Philosophien waren ähnlich ausgerichtet. Dennoch gab es selbst-verständlich beträchtliche kulturelle Unterschiede zwischen dem 1880 gegründeten Londoner Unternehmen56 und der 1896 am Basler Rheinknie eröffneten pharmazeutischen Fabrik. Die Ver-handlungspartner in der britischen Metropole waren von weltläu-figer Kultiviertheit, und Wellcome erwies sich als vornehme, ele-gante Firma, die noch immer von der Tradition der Kolonialzeit geprägt war. Die vergleichsweise ans «Republikanisch-Schlichte» gewöhnten Basler spürten in den Räumlichkeiten aus Mahagoni und Marmor einen Hauch des vergangenen Imperialismus.57 Sie waren von dem ungewohnten Umfeld durchaus beeindruckt und empfanden die britischen Gastgeber als «höflich, nett, doch bestimmt und präzis, sie sagen’s nur so ruhig und höflich», wie Erika Böhni es in ihrem Tagebuch umschrieb. Weiter führte sie aus: «Es fällt mir überhaupt auf, wie geschlossen die Wellcome vorgehen, wie sicher und wie ruhig, auch in den bedrohlichsten Lagen. Und darum werden sie dereinst die Welt wieder in ihre Hände bekommen wegen dieser überlegenen Ruhe, die auf die Praxis eines Handelsvolkes seit uralten Zeiten zurückgeht. Es sind auch Seeräubertypen darunter, die haarscharf denken, sich nie vergessen und aufbrausen, ‘but we shall go ahead’.»58

Ultimatum aus LondonIm Herbst 1967 wurde in Basel die Projektgruppe «antibakterielle Stoffe» gebildet und deren Leitung der Mikrobiologin Erika Böhni übertragen. Der Hauptauftrag an die Gruppe lautete kurz und bündig: Verteidigung der Roche-Sulfonamide und Suche nach neuen antibakteriellen Stoffen.59 Böhni war anfänglich bezüglich der Toxizität von Trimethoprim ebenfalls skeptisch, denn sie fürchtete wie andere, dass die Potenzierung der Wirkung mit einer Potenzierung der Toxizität einhergehen könnte. Die Labor-versuche der Kombination von Trimethoprim mit dem Wirkstoff von Gantanol, Sulfamethoxazol, offenbarten ihr aber zunehmend überzeugende Resultate.

56 Church, Roy / Tansey, E. M.: Burroughs Wellcome & Co.: Knowledge, trust, profit and the transformation of the British pharmaceutical industry. Lancaster 2007. – Coe, Fred A.: Burroughs Wellcome Co. 1880-1980: pioneer of pharmaceutical research. New York 1980.

57 Eine Frau von Format (1993), S. 45.58 Böhni, Tagebuch Nr. VIII, 28.6.1966 [o. S.].59 «Antibakterielle Stoffe», Protokoll Nr. 1,

10.10.1967, S. 1. HAR FE.0.3 - 103534 a.60 Eine Frau von Format (1993), S. 45.61 Ibid., S. 45.62 Waldvogel, G[uy]: Bericht über mittelfristige,

projekt-orientierte Planung in der Forschungsabteilung, 23.12.1968, S. 4. HAR FE.0.4 - 103593 g, h.

63 Böhni, Tagebuch Nr. VIII, 29.10.1967, [o. S].64 Interview mit Dr. Peter Anghern, 9. März 2012.65 Eine Frau von Format (1993), S. 45.

Bald zeigte sich, dass eine Kombination von fünf Teilen Sulfa-methoxazol zu einem Teil Trimethoprim in so geringen Mengen verabreicht werden konnte, dass die Toxizität vertretbar erschien. Doch selbst die ersten klinischen Prüfungen überzeugten die kritischen Wissenschaftler noch nicht, und sie befürchteten, Trimethoprim könne das Sulfonamid Gantanol und damit den guten Ruf von Roche gefährden. Trotz zunehmender Begeisterung von Erika Böhni behielten die Vorsichtigen in der Forschungs-abteilung mit ebenfalls ernstzunehmenden Argumenten recht lange die Oberhand. Ende 1966 stellte Burroughs Wellcome aber ein Ultimatum und verlangte die rasche gemeinsame Ein-führung des Kombinationspräparats. Andernfalls – so drohte London unverhohlen – würde Wellcome die Markteinführung im Alleingang vorantreiben. Plötzlich kam gewaltige Bewegung in das Projekt. Die kommerzielle Abteilung wollte die grossen bisherigen Anstrengungen keineswegs vergeblich unternommen haben.61 Dies bedeutete für Roche Basel enorme Anstrengungen. Nach einem Tiefstand in den Jahren 1964/65 bildete der Bereich Chemotherapie jetzt wieder einen Schwerpunkt des gesamten Forschungsaufwandes und wurde auch personell verstärkt.62 Nach einem Gespräch mit Direktor Otto Isler, der Erika Böhnis allzu grosse Arbeitslast ebenso wie ihre Bedeutung für das Projekt feststellte, vertraute Böhni ihrem Tagebuch an: «Ich merke, dass viel von der antibakteriellen Chemotherapie erwartet wird.»63

Erika Böhni, im Grunde mehr «Macherin» als Forscherin, zeigte sich bei der Propagierung des neuen Präparats ganz in ihrem Element und voll auf der Höhe ihrer Aufgabe.64 Einmal von einer Sache überzeugt, kannte sie keine Widerstände. Energisches, rasches Vorgehen wurde nun in Basel zur obersten Maxime. Denn als es darum ging, die Gebiete der Einführung zwischen Roche und Burroughs Wellcome aufzuteilen, zeigte sich, dass Wellcome nur in vergleichsweise wenigen Ländern vertreten war. Roche hatte sich indessen seit der Firmengründung 1896 kontinuierlich ein dichtes, globales Distributionsnetz aufgebaut und wurde darum in Bezug auf die Markteinführung zum unbestrittenen Leader.65 In manchen Ländern – etwa in Grossbritannien oder Neuseeland – wurde eine gemeinsame Lancierung von Bactrim und Septrin vereinbart.

Manchmal blieben die Petrischalen, in denen man die Hemmhöfe untersuchte, völlig sauber von jegli-chem bakteriellen Bewuchs – als so effektiv erwies

sich die antibakterielle Wirkung. Dennoch wussten die Forscher noch nicht, ob die Versuche jemals zu einem verkaufsfähigen Präparat führen würden.60

Erika Böhni, 1975

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Erika Böhni – die «Miss Bactrim»

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Die zupackende Bauerntochter Erika Böhni stand

1967 vor einem praktisch unbeackerten Feld. Zwar la-

gen sechs Jahre Experimente mit der Kombination von

Trimethoprim und Sulfamethoxazol hinter ihr, aber es

war noch nichts publiziert worden. Das Frühjahr 1969

wurde zum arbeitsreichsten ihres Lebens. Ostern, Auf-

fahrt, Pfingsten, überhaupt jedes freie Wochenende

war Böhni damit beschäftigt, Publikationen, Vorträge

und Rapporte zu schreiben. Das rasche Arbeiten lag

ihr ausgesprochen; allzu exakten Zauderern gegen-

über konnte sie durchaus ungeduldig werden.66

Erika Böhni wurde durch hartnäckigen Forschungsein-

satz, Veröffentlichungen und Vortragsreisen zur wich-

tigsten Förderin, ja zum «Gesicht» des neuen Heil-

mittels «Bactrim». Die Roche-Mitarbeiter nannten sie

mitunter gerne «Miss Bactrim».67 Sie war am 13. Janu-

ar 1922 als Tochter eines Landwirts und Enkelin eines

Arztes im Städtchen Stein am Rhein geboren wor-

den und behielt zeitlebens ihren unverwechselbaren

Schaffhauser Dialekt bei. Dort wuchs sie auf, absol-

vierte die Primarschule und danach die Kantonsschule

in Schaffhausen. Von 1941 bis 1947 studierte sie als

eine der ganz wenigen Frauen Biologie an der Eidge-

nössischen Technischen Hochschule in Zürich, wo sie

sich zudem eine solide chemische Ausbildung erwarb,

und promovierte 1949 mit einer Arbeit über die Bitter-

fäule an Kirschen.68 Nach kürzerer Tätigkeit in einigen

kleineren Firmen trat die 29-Jährige 1951 in die Diens-

te von Roche, wo sie bis zur Pensionierung 1984 volle

33 Jahre bleiben sollte. Sie begann als Mitarbeiterin

in der Basler Tuberkulose-Forschung bei Bernhard

Fust.69 Das von Roche 1952 eingeführte Tuberkulose-

medikament Rimifon war ein so grosser wissenschaft-

licher Erfolg, dass es in den Folgejahren zur sicheren

Basis der Abteilung und zu einer globalen Visitenkarte

für Roche auf dem Gebiet der antibakteriellen Chemo-

therapie wurde.

Der Bereich Chemotherapie war zuerst in der «Villa

Glaser» untergebracht, die später durch den moder-

nen Bau 70 am Rheinufer ersetzt wurde. «Fräulein

Doktor Böhni» beherrschte die ihr unterstellten Labors

im Parterre des Forschungsbaus mit starker Hand. Sie

war eine geachtete, ja zuweilen gefürchtete Persön-

lichkeit, energisch, unermüdlich und temperamentvoll.

Mit ihren Ansichten hielt sie nie zurück, sondern äu-

sserte sie direkt und unverblümt.70 Als Frau von For-

mat und gesundem Menschenverstand war sie die

dritte Roche-Mitarbeiterin, die in der von Männern

dominierten Firma in die Direktionsetage aufstieg.71

Sie schrieb über Madribon72 und war nicht nur an

Bernhard Fust, 1968

Villa Glaser Bau 23 mit dem Roche-Hochhaus Bau 52 im Hintergrund, 1962. Einige Jahre später wurde das ehemalige Privathaus, das von Roche Basel zu Laboratorien und Büros umfunktioniert wurde, abgerissen. Die neu gegründete mikrobiologische Abteilung unter der Leitung von Erika Böhni zog zunächst hier ein

66 Ibid., S. 45. Interview mit Dr. Peter Anghern, 9. März 2012.67 Interview mit Dr. Peter Anghern, 9. März

2012.68 Böhni, Erika: Untersuchungen über die

Bitterfäule an Kirschen. Langensalza 1949.69 Fust, Bernhard: Bericht über das Symposion

vom 28./29. November 1952 in Basel [der] Gesellschaft Schweizerischer Tuberkuloseärzte, Team zur klinischen Prüfung von Rimifon. Unter Mitarb. von W. Hausheer, M. Walter u.a. Basel 1952. – Fust, Bernhard: Therapie der Tuberkulose mit Isoniazid (Rimifon). Unter Mitarb. von E. Böhni und W. Hausheer u.a. Bern 1953.

70 Vom Genuss, der Phantasie freien Lauf lassen zu dürfen. Erika Böhni, ehemalige Mikrobiologin bei Roche, lehrt Kinder das Staunen vor den Wundern der Natur. Steckenpferde (11). In: Roche Nachrichten 6 (1986), S. 5.

71 Zum Gedenken. Erika Böhni. In: Basler Zeitung, 27.4.1999, S. 30.

72 Böhni, Erika: Tolerance and antibacterial properties of 2,4-dimethoxy-6-sulfanilamido-1,3-diacine ‚Madribon’ and some other sulfonamides. In: Antibiotic medicine and clinical therapy. New York 1959, S. 3-10.

73 Eine Frau von Format (1993), S. 46.74 Vom Genuss (1986), S. 45.75 Roche. Aus Tradition der Zeit voraus. Konzept

und Texte von Alexander L. Bieri. Basel 2008, S. 26. – Guillet, Arnold: Dr. Erika Böhni zum Gedenken. In: Steiner Anzeiger 13 (1999). – Eine Frau von Format (1993),

S. 40-47.

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109108

der Entwicklung des Chemotherapeutikums Bactrim,

sondern später auch am Antibiotikum Rocephin betei-

ligt. Im Bewusstsein, dass sich Bakterien auch an den

Wochenenden teilen und kontrolliert werden müssen,

suchte sie sich eine Wohnung in der Nähe des Werk-

geländes; jahrelang traf man sie auch Samstags und

Sonntags im Labor an.73 Den Höhepunkt ihrer wissen-

schaftlichen Karriere erreichte Böhni nach eigenem

Bekunden aber mit den Forschungs- und Entwick-

lungsarbeiten rund um Bactrim. In ihrer Begeisterung

über die sich gegenseitig potenzierende Wirkung der

beiden Wirkstoffkomponenten Sulfamethoxazol und

Trimethoprim meinte sie rückblickend: «Man dachte,

jetzt spinnt die Böhni. Bis dann die Tatsache von an-

deren Bakteriologen bestätigt wurde. Es war eine tolle

und aufregende Zeit.»74

Nach ihrer Pensionierung schaute Erika Böhni ein für

allemal vom Mikroskop auf und wollte keine Mikro-

organismen mehr sehen, sondern Pflanzen und Tiere,

kurz, die Natur als sinnvoll ineinander greifendes Gan-

zes. Zurück im stattlichen Elternhaus in Stein am Rhein

schrieb sie ein 77 Seiten umfassendes Kinderbuch

über den Fischreiher, der in der Rheinlandschaft zum

Alltag gehört. Das Buch wurde durch ihre Streifzüge

mit Grossnichten und Grossneffen durch die Natur

angeregt, wobei sich die Autorin bestrebte, naturwis-

senschaftliche Erkenntnisse weder zu simpel noch zu

kompliziert darzustellen. Als wirklich kindergerecht ge-

lungenes Werk kann dieses durch die Autorin eigen-

händig illustrierte Projekt freilich kaum bezeichnet wer-

den. Erika Böhni verstarb am 3. Februar 1999 im Alter

von 77 Jahren im Haus ihrer Vorfahren.75

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Betriebsjubiläum bei Roche, 1976, Erika Böhni zusammen mit Peter Angehrn (links) und Rudolf L. Then (rechts)

Feier zu Erika Böhnis 25jährigem Betriebsjubiläum bei Roche, 1976. Die Dekoration bezieht sich auf ihre Liebe zur Natur. Erika Böhni war eine anerkannte Expertin auf dem Gebiet der Pilze, auf dem Bild im Hintergrund wird sie als «Kräuterhexe» dargestellt

Erika Böhni in ihrem Heim in Stein am Rhein. Sie liest in dem von ihr selbst verfassten Kinderbuch «Der Fischreiher», 1986

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110 111

Ermutigende klinische Versuche

Die Verbindung von Sulfamethoxazol und Trimethoprim im Ver-hältnis fünf zu eins zeigte 1966 in den Basler Laboratorien überaus günstige Resultate, so dass man mit den klinischen Prüfungen begann. Es war für die Forschungsleitung nunmehr absehbar, dass die Kombination gewissen Anforderungen an ein Breitspektrum-Chemotherapeutikum genügte.76 Das neue Produkt mit überra-schend starker bakterizider Wirkung schien geeignet, den Anteil von Roche am Sulfonamidmarkt zumindest zu verteidigen, wenn nicht weiter auszubauen. Zwar entwickelten sich Gantrisin und Gantanol recht günstig, doch gerieten die langwirkenden Sulfo-namide in jener Zeit wegen angeblicher Nebenwirkungen wie schwerer allergischer Haut- und Schleimhautreaktionen (Stevens-Johnson-Syndrom) beziehungsweise einer ausgedehnten blasigen Ablösung der Epidermis (Lyell-Syndrom) etwas in Misskredit. Mit einigem Unbehagen musste Roche zur Kenntnis nehmen, dass die Behörden gewisser Staaten die Indikationsgebiete einschränk-ten, was prompt auch zu einem Verkaufsrückgang von Madribon führte und die Weiterentwicklung von Fanasil (Antiinfektivum u.a. gegen Cholera und Lepra) erschwerte. Man wollte solche Vorwürfe raschmöglichst mit entsprechenden Arbeitsgruppen entkräften. Eine umso willkommenere Erweiterung der Indikati-onen für Sulfonamide bildete die Kombination Sulfamethoxazol/Trimethoprim, die in der Human- wie in der Veterinärmedizin vielversprechende Aussichten eröffnete.77 In der zweiten Hälfte des Jahres 1968 konstatierte Roche dann die erfreuliche Tatsache, dass sich Anzeichen einer Wendung in der Einstellung gewisser Gesundheitsbehörden (auch in den USA) gegenüber den lang-wirkenden Sulfonamiden zeigten. Man hoffte darum auf eine sulfonamidfreundlichere Zukunft.78

Am 4./5. Dezember 1967 wurde nach Prüfungsresultaten an mehr als 1000 Patienten beschlossen, in Basel nur noch die Mischung von Sulfamethoxazol/Trimethoprim im Verhältnis fünf zu eins weiterzuprüfen, und zwar hauptsächlich als Tabletten zu 400mg Gantanol plus 80mg Trimethoprim. Burroughs Wellcome machte gleichzeitig klar, dass London diese Kombinationsform zum nächstmöglichen Termin – frühestens etwa September 1968 – einzuführen beabsichtigte. Roche Nutley setzte derweil die klinische Prüfung der Gantrisin (Sulfisoxazol)/Trimethoprim-Kombinationen im Verhältnis 20 zu 1 und 10 zu 1 fort, während die übrigen Roche-Zentren gemeinsam mit Burroughs Wellcome die klinischen Prüfungen der neuen Tabletten intensivierten und

76 Vom Genuss (1986), S. 3.77 Projektgruppe «Antibakterielle Stoffe»,

undatiert, S. 2. HAR FE.0.3 - 103534 a.78 Projektgruppe «Antibakterielle Stoffe»,

10.12.1968, S. 1. HAR FE.0.3 - 103534 b.

verbreiterten. Es wurden vorerst folgende Indikationen vorge-schlagen: Harnwegsinfektionen, chronische Bronchitis sowie sonstige bakterielle Infektionen aller Fachgebiete. Das neue Mittel sollte das breite Spektrum der Kombination in direkter Konkur-renz zu gebräuchlichen Antibiotika darstellen. Vergleichende Untersuchungen erklärte man als durchaus erwünscht.79

Die Einführung des neuen Medikaments war immer parallel mit Burroughs Wellcome vorgesehen. Obwohl auf eine wenig günstige Preissituation für die Einführung von Sulfamethoxazol/Trimethoprim hingewiesen wurde, fiel Anfang 1968 im Einver-ständnis mit der kommerziellen Abteilung der Beschluss, die breite klinische Prüfung des Präparates mit den zusammen mit Burroughs Wellcome festgelegten Anwendungsformen (feste orale Form mit 400mg Sulfamethoxazol plus 80mg Trimethoprim sowie Suspensionssirup mit gleichem Dosisverhältnis) nach den bereits früher festgelegten Plänen durchzuführen und möglichst rasch voranzutreiben. Vorläufig arbeitete man mit Tabletten, doch wollte man noch abklären, ob stattdessen Steckkapseln oder kapselförmige Presslinge als Handelsform zu prüfen seien.80

Im Laufe des Jahres 1968 wurden in verschiedenen Kranken-häusern zahlreiche klinische Studien mit der Kombination durch-geführt, deren Resultate insgesamt bemerkenswert erfreulich ausfielen. Der Internist Paul Schnaars vom Zürcher Stadtspital Waid beseitigte bei sechs von sieben Patienten mit chronischen Harnwegsinfektionen nach zehn Tagen die Symptome.81 Im April 1968 folgten ermutigende Resultate aus Innsbruck, Marseille, Glasgow, Wien, Wülfrath, Interlaken und Belp. Die klinische Prü-fung erfolgte in den von Roche direkt bedienten «Basler Ländern» mit den so genannten «Drapsules» (eine länglich geformte, von Roche entwickelte Lacktablette); lediglich Roche London behielt wegen drohendem Zeitverlust die Tabletten bei. Eine brauchbare Sirupform lag noch nicht vor, und die Muster von Burroughs Wellcome erwiesen sich als geschmacklich vollkommen unge-eignet. Dringend erwünscht waren die bei Wellcome seit langem bestellten Disks, da vor allem in Deutschland die Prüfer diese Testplättchen zum Bakteriennachweis verlangten. Im April 1968 entschied sich Burroughs Wellcome für die Markenbezeichnung «Septrin».82

«Bactrim» – ein gelungener MarkennameAnfang 1968 wurde bei Roche im Rahmen eines «Überblicks über die Therapie mit antimikrobiellen Wirkstoffen» der Kombination

79 VI/Klin. 16/67, 14.12.1967. HAR FE.0.3 - 103534 a.

80 VI/Klin. 2/68, 18.1.1968, S. 1. HAR FE.0.3 - 103534 b.

81 Ibid.82 VI/Klin. 8/68, 25.4.1968, S. 1-7. HAR FE.0.3 -

103534 b.

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112 113

Sulfamethoxazol/Trimethoprim erstmals statistisch die Art und Häufigkeit der Erreger aufgezeigt.83

Im Mai 1968 verfügte Roche über insgesamt 640 auswertbare Fälle mit einer Erfolgsquote von 68%. Vor allem Harnwegsinfekte, chronische Atemwegsinfekte, Tripper (Gonorrhoe) und unspe-zifische Harnröhrenentzündungen konnten zuverlässig geheilt oder gebessert werden. Die Häufigkeit der Nebenwirkungen lag bei 4,3%, wobei es dabei vor allem um Reaktionen der Haut und des Blutbildes ging: «Wenn man sich vergegenwärtigt, dass das Krankengut grösstenteils aus Sulfonamid-resistenten Fällen bestand und die Prüfung nach sehr strengen Kriterien erfolgte, so dürften die erreichten Erfolgsquoten dahingehend interpretiert

83 Projektgruppe Antibiotica, 8.5.1968, S. 2. HAR FE.0.3 - 103534 b.

84 «Antibakterielle Stoffe», Protokoll Nr. 3, 7.5.1968, S. 7. HAR FE.0.3 - 103534 b.

85 VI/Klin. 9/68, 13.-16.5.1968, S. 11. HAR FE.0.3 - 103534 b.

werden, dass die Potenzierung von Sulfamethoxazol durch Tri-methoprim sich auch klinisch eindeutig herausstellt.»85

Die Prüfung der Kombination sollte in der nun definitiv fest-gelegten galenischen Form der Drapsules mit 400mg Gantanol und 80mg Trimethoprim möglichst breit und speditiv fortgeführt werden; nur so waren die erforderlichen Unterlagen für Regis-trierung und Einführung rechtzeitig zu beschaffen. Vor allem in Grossbritannien und Neuseeland drängte die Zeit, da man in Basel parallel zu Wellcome liefern wollte, sobald die Bewilli-gungen der Gesundheitsbehörden vorlagen. Die übrigen Länder sollten ab Herbst 1969 folgen. Tatsächlich erhielt das Projekt nun beträchtlichen unternehmerischen Schub. Ergänzend zu den bisherigen Indikationen wollte das Forschungsmanagement die Wirkung auf folgende Infektionen klinisch geprüft und belegt haben: Streptococcus haemolyticus bei Angina (Tonsillitis), resis-tente Staphylococcen als Erreger von Krankenhausinfektionen (Hospitalismus), grampositive Coccen, bakterielle Infektionen

Im Frühjahr 1968 stellte die Projektgruppe «Antibakte-rielle Stoffe» lapidar fest: «Kombination Gantanol (Sulfa-methoxazol) und Trimethoprim im Verhältnis 5:1 lieferte bisher erwartungsgemäss befriedigende Resultate. Die bakteriologische Diagnostik und die Resistenzprüfung wurden bei Frl. Dr. Böhni durchgeführt.»84 Dies bedeu-tete den Durchbruch und die eigentliche Geburt eines der wirksamsten Heilmittel für die Menschheit.

Bactrim Tabletten 200/40mg und Bactrim forte Drapsules 800/160mg

Neisseria gonorrhoeae, Aquarell von Raoul Zingg nach einem von ihm selbst hergestellten Präparat

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des Darmkanals wie Typhus, Paratyphus, Ruhr, Salmonellosen, Cholera, bakterielle Hautinfektionen (Dermatologie, Chirurgie) oder Malaria (akuter Anfall). Ausserdem seien die Daten des Organismuseinflusses auf den Arzneistoff (Pharmakokinetik) durch entsprechende Untersuchungen mit der Kombination zu vervollständigen. Schliesslich sollten im Hinblick auf die Einfüh-rung genügend Publikationen vorbereitet werden.86

Am 30. Mai 1968 wurde festgehalten, dass die klinischen Studien von Sulfamethoxazol/Trimethoprim zur Behandlung von Atemwegs- und Lungeninfekten fortschritten. Die Kom-bination trug nunmehr den Firmenbegriff Ro 6-2580. Verglei-chende Studien zur Wirksamkeit der Sulfonamidkombination mit Antibiotika seien geplant.87 Mitte Juni 1968 stand fest, dass der Markenname von Roche für die Kombination Sulfamethoxazol/Trimethoprim «Bactrim» lauten sollte. Wer die Idee zu dieser Bezeichnung hatte, ist leider nicht mehr zu ermitteln.

Burroughs Wellcome operierte zu jenem Zeitpunkt sowohl in England wie auf dem europäischen Kontinent bereits mit ihrem Markennamen «Septrin» beziehungsweise «Eusaprim»; der Begriff «Septrin» sollte die blutvergiftende, also septische Wirkung der Keime ansprechen und war zweifellos vom Werbeeffekt her gese-hen dem Namen «Bactrim» unterlegen. Umso mehr drängte die kommerzielle Abteilung von Roche auf eine möglichst baldige Verwendung der eigenen Marke in Veröffentlichungen, doch konnte diese laut Auskunft der Rechtsabteilung zur Zeit noch nicht freigegeben werden.88 Weiterhin erfreulich lauteten die zunehmend eintreffenden Berichte über die klinischen Anwen-dungen des Medikaments, etwa von der Bernischen Heilstätte Heiligenschwendi, aus Lautergrund/Deutschland, Montevideo oder Linz.89 Besonders günstige Resultate erzielten die Ärzte in Chile beim dort noch immer verbreiteten Bauchtyphus (Typhus abdominalis). Behandelt wurden 15 Kinder zwischen eineinhalb

86 Ibid, S. 12.87 Project Group «Antibacterials», Research

Steering Committee, Dept. VI, 30.5.1968. HAR FE.0.3 - 103534 b.

88 VI/Klin. 10/68, 13.6.1968, S. 6. HAR FE.0.3 – 103534 b.

89 Ibid, S. 5-6.90 VI/Klin.14/68, 5.9.1968. HAR FE.0.3 – 103534

und 13 Jahren. Bei sämtlichen Patienten trat eine deutliche Bes-serung ein: «Dieses Resultat erscheint sehr günstig», konstatierte man in Basel erleichtert. Um fortzufahren: «Verträglichkeit war ausgezeichnet.»90

Sirup, Kinderdragées, Gelatinekapseln, Injektionen

Ende Juni 1968 hatten die Galeniker bei Roche eine Sirup-Formel ausgearbeitet, bei der das Problem des schlechten Geschmacks durch Verwendung eines Adsorbates von Tonmineralien (Ben-tonit beziehungsweise Veegum) überwunden wurde. Bevor der Sirup an die allgemeine klinische Prüfung abgegeben werden konnte, musste die Freigabe der Wirkstoffe aus dem Adsorbat im Magen-Darm-Trakt mittels Blutspiegeluntersuchung geprüft werden. Erneut wies die Forschungsleitung auf die Dringlichkeit der Beschaffung ausreichender Unterlagen über die Pharmako-

Fest steht, dass mit dem Markennamen «Bactrim» eine in allen Sprachen eingängige, geschickte Bezeichnung gefunden worden war, die für jedermann verständ-lich aussagte, wozu das Medikament dienen sollte – dem Kampf gegen krankmachende Bakterien.

Streptococcus, Aquarell von Raoul Zingg nach einem von ihm selbst hergestellten Präparat

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kinetik der Kombination Sulfamethoxazol/Trimethoprim beim Menschen hin.91

Im August 1968 lagen die Muster einer neuen pädiatrischen Form vor. Die Dragées enthielten nur ein Viertel der Wirk-stoffmenge (100 Milligramm Sulfamethoxazol, 20 Milligramm Trimethoprim) und waren entsprechend kleiner.92 Im selben Monat traf auch der positive Entscheid der britischen Zulassungs-behörde (Dunlop Committee93) für die Zulassung von Gantanol/Trimethoprim als pharmazeutische Spezialität ein. Somit konnten Burroughs Wellcome und Roche die Kombination im Oktober 1968 gemeinsam in Grossbritannien einführen.94

Roche einigte sich mit der britischen Partnerfirma, für die Kombination Sulfamethoxazol/Trimethoprim bei Publikationen die Abkürzung TMP 1 / SM 5 zu verwenden.95 Dieser Entscheid, so musste man sich in Basel mit einiger Unzufriedenheit einge-stehen, bedeutete wegen der Erstnennung von Trimethoprim

b.91 VI/Klin. 11/68, 27.6.1968. HAR FE.0.3 - 103534

b.92 VI/Gal., 7.8.1968. HAR FE.0.3 –103534 b.93 1963 nach dem Contergan-Skandal

gegründetes Committee on Safety of Drugs (CSD) unter dem Vorsitz von Sir Patrick Dunlop, 1970 Comittee on Safety on Medicines, seit 2005 Commission on Human Medicines.

94 VI/Klin. 12/68, 8.8.1968, S. 13. HAR FE.0.3 - 103534 b.

95 VI/Klein. 16/68, 3.10.1968, S. 14. HAR FE.0.3 - 103534 b.

96 1948 gegründetes Unternehmen in Waiblingen, das Verpackungsmaschinen für trockene pharmazeutische Produkte herstellte und 1970 von der Bosch-Gruppe übernommen wurde.

97 1866/67 in Detroit gegründete, ehemals grösste pharmazeutische Fabrik der USA, heute Teil der Firma Pfizer.

98 Nach dem Verpackungsunternehmen Zanasi

einen Erfolg für Wellcome. Anfang Oktober 1968 berichtete man über die Weiterarbeit an den galenischen Formen, nämlich an granulierten Gelatinesteckkapseln. Das Füllgewicht pro Kapsel betrug 520mg; sie wurden mit einer Maschine von Höfliger & Karg hergestellt.96 Das gleiche Wirkstoffgranulat unter Zusatz von Gleitmitteln und eines Milchzuckergranulats konnte auch auf der Parke-Davis-Maschine97 mit schnellster Abfüllgeschwindig-keit in Gelatinekapseln der Grösse 0 und einem Füllgewicht pro Kapsel von 565mg gewonnen werden. Beide Produktionsarten befanden sich seit Sommer 1968 in Stabilitätstesten. Im Laufe des Monats November trafen die Originalkapseln in sattgelb-dunkelgrauer Farbe ein, und man klärte die Abfüllbarkeit auf der Zanasi-Kapselabfüllmaschine98 ab.

Injektionslösungen des Heilmittels boten wegen schlechter und hinsichtlich Lösungs-pH sich widersprechender Löslich-keit gewisse Schwierigkeiten. Auch musste die Injektionsvari-

Ärztefaltblatt für Bactrim Sirup, speziell für die Pädiatrie, 1970

Maschinen zur Befüllung von Hartgelatinekapseln, Zanasi Z25R

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ante bezüglich Reizwirkung sowie Mischbarkeit mit Blut und Toxizität untersucht werden. Nach Abschluss dieser Arbeiten sollte die Forschungsabteilung entscheiden, ob Interesse an der Weiterbearbeitung dieser Lösung bestehe. Die Einnahme von Bactrim mittels Suspensionssirup und dessen Resorbierbarkeit mit Veegum-Adsorbat war noch nicht untersucht worden. Auch für die Zäpfchenform (Suppositorien) bestand Interesse, obwohl sich vorerst die rektale Absorption der Gantanol-Substanz als ungenügend erwies, was die Prüfung mit verschiedenen Zäpf-chengrundlagen erforderte.99

Therapieerfolg von 77 ProzentMitte November 1968 ergaben die Besprechungen, dass Burroughs Wellcome die Einführung von Sulfamethoxazol/Trimethoprim auf dem europäischen Kontinent raschmög-lichst vornehmen wolle. Roche dagegen verfolgte eine eher abwartende Haltung, weil sie für die Registrierung in andern Ländern mehr Unterlagen, insbesondere über die Toxizität, die blutschädigende Wirkung, den Wirkungsvergleich mit andern Antibiotika etc. für erforderlich hielt als jene, die man dem britischen Dunlop Committee vorgelegt hatte. Wegen den entschieden geäusserten Absichten von Burroughs Well-come fühlte sich Roche aber gezwungen, Bactrim wenigstens in Deutschland möglichst ohne Zeitverzug einzuführen. In Anbetracht der guten Korrelation zwischen Experiment und klinischer Wirkung und einiger Fälle, bei denen Patienten über zwei Jahre ohne bedeutsame toxische Wirkung dauerbehandelt worden waren, sah Roche schliesslich für die Vorverlegung der Einführung keine Hindernisse mehr. Alle in Vorbereitung befindlichen Arbeiten zu Ro 6-2580 sollten nun so schnell wie möglich zur Publikation gebracht werden.100

Eine gewisse Sorge hinsichtlich negativer genetischer Aus-wirkungen blieb allerdings vorderhand noch bestehen. Die For-schungsverantwortlichen verlangten Untersuchungen über die Beeinflussung der Chromosomen. Als unverzichtbar hielt man auch Forschungen an menschlichen Bindegewebszellen (Fibro-blasten). Die Komponente Trimethoprim – so wurde nämlich festgestellt – erzeugte in 15-facher therapeutischer Dosis am Tier Missbildungen.101 Dr. Staiger von den Roche-Laboratorien untersuchte zum Teil in Zusammenarbeit mit Werner Schmid vom genetischen Labor am Kinderspital Zürich, wie die einzel-nen Komponenten von Bactrim die Chromosomen ausserhalb

Fratelli S.r.L. in Sassuolo (Modena/Italien). 99 VI/Gal., 9.10.1968, S. 5. HAR FE.0.3 - 103534

b.100 VI/Klin. 18/68, 14.11.1968, S. 1. HAR FE.0.3 -

des Organismus (in vitro, d.h. im Reagenzglas) und im lebenden Organismus (in vivo) beeinflussten.102

Ende November 1968 lagen der Fachgruppe «Chemothera-pie» die Ergebnisse mit Tabletten und Drapsulen von 61 durch Roche betreute Prüfer aus 15 Ländern vor. Das Total der aus-wertbaren Fälle wies in Bezug auf die therapeutische Wirkung 834, hinsichtlich der Verträglichkeit 918 Patienten aus. Die Dosierung betrug meist zweimal eine oder zweimal zwei, aus-nahmsweise zweimal drei Drapsulen beziehungsweise Tabletten pro Tag. Die Behandlungsdauer erstreckte sich in der Regel über fünf bis zehn Tage, konnte sich aber auch auf bis zu 50 Tage ausweiten. In 642 der 834 therapeutisch auswertbaren Fälle ergab sich ein guter Erfolg oder doch zumindest ein Teilerfolg. Dies entsprach einer globalen Erfolgsquote von 77%. Zu etwa der-selben durchschnittlichen Erfolgsquote von 78% gelangte auch Burroughs Wellcome mit einer sich über 893 Patienten erstre-ckenden Datenbasis. Den Hauptanteil der behandelten Fälle stellten die Infekte der Harn- und der Atemwege dar. Ferner fanden sich, besonders bei Wellcome, eine erhebliche Zahl von Urogenitalinfektionen. Zudem waren wesentlich kleinere, nicht repräsentative Zahlen bei Infekten anderer Organe im Bereich Ohren-Nase-Hals, Scharlach, Darminfekte inklusive Typhus, Hautinfekte, eitrige Hirnhautentzündung und Gonorrhoe vertreten. Vergleichende Prüfungen gegenüber den gebräuch-lichen Antibiotika waren in mehreren Ländern im Gange. Die Nebenwirkungen präsentierten sich bei den 918 auswertbaren Fällen von Roche wie folgt: 3,38% Beschwerden im Magen-Darm-Kanal, 2,07% Hautreaktionen, 0,22% sonstige allergische Symptome, 0,98% hämatologische Reaktionen, 0,33% andere Nebenwirkungen. Bei Wellcome berichtete man von keinerlei Beschwerden hämatologischer Art, wobei dort allerdings keine regelmässigen Blutbilduntersuchungen durchgeführt worden waren; die Hautreaktionen von 1% erwiesen sich als durchwegs leichter Natur.

Angesichts des Drängens von Wellcome entschloss sich Basel, die Einführung von Bactrim in der Schweiz und in Deutschland bereits im Frühjahr 1969 vorzusehen. Immer wieder wurden die Laboratorien aufgefordert, für die noch nicht belegten zusätzli-chen Krankheitsindikationen so rasch wie möglich Unterlagen beizubringen, desgleichen ergänzende Untersuchungen über die Pharmakokinetik und den Stoffwechsel. Der vorgesehene Bactrim-Sirup auf der Basis eines Veegum-Adsorbates erforderte vorgängig eine klinische Prüfung mittels Blutspiegelkontrollen 103534 b.

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der Wirkstofffreigabe im Gastrointestinaltrakt.103 Der Suspen-sionssirup von Wellcome wurde nicht an Veegum adsorbiert, sondern frei suspendiert. Zwar war auch das Roche-Präparat von einer gewissen Bitterkeit. Doch konnte man in Basel befriedigt feststellen: «Demgegenüber sind die Septrin-Suspensionen von Burroughs Wellcome unvergleichlich bitterer.»104

Vergleichbar mit herkömmlichen AntibiotikaDie Konzernleitung war sich klar bewusst: Wenn Roche für einige wichtige Indikationen auf objektiver Grundlage fussende Belege dafür beibringen konnte, dass Bactrim in der therapeutischen Wirkung den bewährten Antibiotika wenigstens gleichwertig sei, würde dies dem Präparat ein enormes kommerzielles Potenzial verschaffen: «Weitere Vergleiche gegenüber Standard-Antibiotika sind deshalb dringend erwünscht. Sie sollten vorzugsweise als Doppelblindversuche durchgeführt werden.» Diese Versuche erwiesen sich wegen der ungleichen Dosierungsintervalle zwi-schen Prüfungs- und Standardpräparaten als äusserst anspruchs-voll. Als Vergleichspräparate kamen in erster Linie Chloramphe-nicol105 (wirksam gegen Typhus, Cholera, Harnwegsinfekte) sowie Tetracyclin106 (wirksam gegen Atemwegs- und Harnwegsinfekte) in Frage.107

Es war vorgesehen, bakteriologische Untersuchungen im Rahmen der klinischen Prüfungen noch bis zur Einführung vorzunehmen und nachher nur noch beratende Funktionen für die Kliniken und wissenschaftlichen Institute auszuüben. Die Propagierung des Disktests sollte weitgehend der erfahrungsrei-chen Firma Oxoid108 anvertraut werden, die bereits zu diesem Zeitpunkt ein Kombinationsdisk in ihr Sortiment aufnahm. Für ein eingehenderes Studium der Pharmakokinetik wurden neue Methoden ausgearbeitet. Auf dem veterinärmedizinischen Sektor wurde das Kombinationspräparat von Wellcome für die Verwen-dung bei Hunden und Katzen mit dem Ziel klinisch geprüft, die Humanspezialität für diese Kleintiere in England zu empfehlen. Publikationen dazu waren 1969 zu erwarten. Roche nahm zu diesen Prüfungen eine abwartende Haltung ein, konnte aber bei Bedarf auf den Wellcome-Untersuchungen aufbauen.109

Im Oktober 1968 gelangte das Kombinationspräparat aus Sulfamethoxazol und Trimethoprim unter den Markennamen Septrin (Wellcome) und Bactrim (Roche) gleichzeitig auf den britischen Markt.110 Die Wellcome Foundation in London grün-dete damals – was in Basel bewundernd und etwas neidisch ver-

101 VI/Med., 4.11.1968. HAR FE.0.3 - 103534 b.102 VI/Med., 18.11.1968. HAR FE.0.3 - 103534 b.103 VI/Klin. 19/68, 2.-6.12.1968, S. 1-2. HAR

FE.0.3 - 103534 b.104 VI/Gal., 11.12.1968, S. 9. HAR FE.0.3 - 103534

b.105 Breitbandantibiotikum, das erstmals 1947 aus

Streptomyces venezuelae gewonnen wurde.106 Breitbandantibiotikum, von Streptomyces

aureofaciens produziert, 1948 beschrieben, 1955 patentiert.

107 VI/Klin. 20/68, 19.12.1968, S. 1. HAR FE.0.3 - 103534 b.

108 Oxoid D.S.T. agar base, Hersteller und Vertriebsspezialist von mikrobiologischen Nährmedien und andern diagnostischen Produkten in London, heute Teil von Thermo Fisher Scientific.

109 Fortschrittsbericht der Projektgruppe «Antibakterielle Stoffe», Rapport No. 37’765, 18.12.1968, S. 1 und 2. HAR FE.0.3 - 103534 b.

110 Minutes No 4, Research Steering Committee, Department VI, 30.1.1969. HAR FE.0.3 - 103534 f.

111 London, W. R.: Cost-effectiveness and information retrieval in the industry, 23.8.1973. HAR FE.2.1 - 103531 o.

112 Auszug aus dem Roche- und Sapac-Geschäftsbericht für das Jahr 1968. In:

folgt wurde – ein Clinical Information Department (CID). Dies geschah mit der Begründung, dass das weltweite Interesse an diesem neuen antibakteriellen Kombinationspräparat so gross sei, dass die Firma die Publikationen professioneller verfolgen und begleiten wolle.111 Roche reichte die Registrierungsvorlage für Bactrim dem Deutschen Bundesgesundheitsamt Mitte Dezember 1968 ein. Dabei wurde das Indikationsspektrum auch auf leichtere und akute Infektionen ausgedehnt und die klinische Prüfung in dieser Richtung weltweit intensiviert. Die Basler hofften, für diesen erweiterten Indikationsbereich im Jahre 1969 genügend Unterlagen zur Verfügung zu haben, um dafür in den meisten Ländern eine Genehmigung zu erhalten. Verschiedene Publikati-onen über die vielen experimentellen Befunde in vitro und in vivo waren in Vorbereitung. Roche legte besonderes Gewicht auf den Einfluss von Sulfamethoxazol in der Kombination, da Wellcome – wie man am Rheinknie verdrossen feststellte – ausschliesslich denjenigen von Trimethoprim betonte.

Der Roche-Geschäftsbericht für das Jahr 1968 konnte Kun-den und Mitarbeiter erstmals über eine «neuartige Konzeption» orientieren, nämlich die «Kombination eines unserer bewährten Sulfonamide mit dem Pyrimidin-Derivat Trimethoprim». Das neue Medikament unter der Marke «Bactrim» werde der Ärzte-schaft gegenwärtig zur Verfügung gestellt. Die Indikationen hätten sich zunächst auf schwere Infektionen der Harn- und Atemwege beschränkt, bis viel versprechende Hinweise auf den therapeuti-schen Wert auch bei anderen Infektionen eingetroffen seien.112

Tatsächlich zeigte sich das Wirkungsspektrum von Bactrim in den Kliniken ähnlich breit wie zuvor in den Laborversu-chen. Bei den oberen und unteren Atemwegen heilte oder besserte das Präparat Krankheiten wie Angina, Entzün-dungen der Nasennebenhöhle, der Rachenschleimhaut, der Luftröhre oder der Lunge. Im Magen-Darm-Trakt zeigten sich vorzügliche Resultate bei Darmentzündung, Typhus und Paratyphus, im Urogenitaltrakt bei Blasen-, Nieren- und Nierenbeckentzündung sowie bei der Geschlechtskrankheit Gonorrhoe. Erfreulich präsentierte

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Fieberhafte Publikationstätigkeit im Jahre 1969

Das ganze Jahr 1969 war die Basler Forschungsabteilung stark mit der Bereitstellung von umfangreichen Unterlagen zur Ein-führung von Bactrim beschäftigt.114 Daneben liefen intensive Auswertungsarbeiten, Koordinationssitzungen, Tagungen und Kongresse. Regelmässig trafen weiterhin Berichte von Ärzten aus aller Welt über Behandlungsresultate mit Bactrim ein. Am 18. Februar 1969 orientierte Erika Böhni an einem Treffen mit den Verantwortlichen von Wellcome über die Einführungsarbeiten von Bactrim. Dabei kam es zu Spannungen über die Beurtei-lung der beiden Komponenten. In London wurde bemängelt, dass Roche in den Einführungsunterlagen für Deutschland das bakterizide Trimethoprim nur als Potentiator des Sulfonamids

Gantanol (Sulfamethoxazol) hinstelle; dabei sei doch Trimetho-prim die wichtigste Komponente der Kombination. Die Vertre-ter von Basel stellten demgegenüber klar, dass die Experimente sowie die klinischen Resultate eindeutig dafür sprächen, dass beiden Komponenten ein gleiches Gewicht zukomme. Zudem sei Trimethoprim als einzelner Wirkstoff jahrelang zu hoch dosiert angewandt worden, habe sich als toxisch erwiesen und sei darum bei der Ärzteschaft auf Ablehnung gestossen.115 In der Folge forschte Roche mit einer gewissen Hektik an den Strukturen der Metaboliten von Trimethoprim, die vertraulich schon an mehrere auswärtige Mitarbeiter herausgegeben worden waren. 116

Ein gemeinsames Symposium von Burroughs Wellcome und Roche in England vom 31. März 1969 zeigte, dass Basel bei den vorgelegten Publikationen ein Defizit aufwies; so konnte Roche nur zwei experimentelle und sechs klinische Arbeiten vorstellen, während Wellcome über zwei experimentelle und neun klinische Arbeiten verfügte.117 Überdies mussten die Roche-Vertreter zu ihrem Ärger zur Kenntnis nehmen, dass die Partnerfima nicht davor zurückschreckte, «auch die unterschiedlichen galenischen Formen zu ihren Gunsten auszuschlachten».118 Es wurde nämlich versucht, nachzuweisen, dass bei der Einnahme von Drapsulen gegenüber derjenigen von Tabletten niedrigere, etwas verspätete

Roche Nachrichten, Beilage zur Roche-Zeitung 2/1969, o. S. [4f].

113 «Bactrim» Roche [1969], S. 25.114 Auszug aus dem Roche- und Sapac-

Geschäftsbericht für das Jahr 1969, in: Roche Nachrichten, Beilage zur Roche-Zeitung 3/1970, o. S. [5].

115 Projektgruppe «Antibakterielle Stoffe» Nr. 2/69, 18.2.1969, S. 2. HAR FE.0.3 - 103534 f.

116 Projektgruppe «Antibakterielle Stoffe» Nr. 3/69, 25.3.1969, S. 1. HAR FE.0.3 - 103534 f.

sich die Wirkung von Bactrim auch bei bakteriellen Erkrankungen der Haut und der Weichteile, etwa bei Eiterausschlägen (Pyodermien) der Haut, bei Furunkeln, Abszessen und überhaupt bei Wundinfektionen.113

Diplococcus pneumoniae, Escherichia coli, Neisseria intracellularis, Proteus vulgaris. Aquarelle von Raoul Zingg, nach von ihm selbst hergestellten Präparaten

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und mit einer grösseren Streuung versehene Blutspiegelkonzent-rationen aufträten. Obwohl Roche den biologischen Unterschied anzweifelte, befürchtete man dennoch den Ausbau zu einem gefährlichen Marketing-Argument zugunsten von Septrin. Mit Unmut verfolgte Roche auch, dass Burroughs Wellcome mit einer zusätzlichen Form des Sirups für Erwachsene einen Wettbewerbsvorteil zu erreichen suchte, was «in Anbetracht der speziellen Konkurrenzsituation nicht zugelassen werden durfte». Darum bereitete sich Roche vor, den Sirup überall dort eben-falls einzuführen, wo die Partnerfirma dies auch tat.119 Versuche zeigten auf, dass der Sirup im Glas so gut wie in Plastik gelagert werden konnte und eine gleich gute bakterizide, wie auch die

gleiche schwache beziehungsweise fehlende fungizide Wirkung aufwies.120

1969 stellte Roche die nachfolgenden galenischen Formen für Bactrim bereit: Suspensionssirup, insbesondere für Kinder, mit 200mg Sulfamethoxazol und 40mg Trimethoprim pro 5ml; Injektionslösung mit empfohlener Dosis von 400mg Sulfame-thoxazol und 80mg Trimethoprim pro 5ml; Suppositorien zu 400mg Sulfamethoxazol und 80mg Trimethoprim; Lacktabletten (Drapsules) aus 400mg Sulfamethoxazol und 80mg Trimethop-rim.121 Aufgrund der Produktionskapazitäten und Fabrikations-möglichkeiten ging man in einigen Ländern von den Drapsule genannten, lackierten Tabletten auf die runden, zuckerglasierten Dragées als Handelsform über, etwa in der Schweiz und in den Benelux-Ländern sowie in den lateinamerikanischen Ländern, Spanien und der Türkei. Drapsules wurden hingegen für Gross-britannien, Deutschland, Frankreich, Österreich, Australien und Fernost beibehalten.122

Mit «Optimismus» und «nötiger Agressivität»Am 9. Mai 1969 fand ein von Wellcome für Ärztinnen und Ärzte organisiertes Symposium über Septrin und Bactrim statt. Für

117 Protokoll der Planungssitzung, 14.5.1969, S. 7.118 Ibid., S. 2.119 Protokoll der PA-Sitzung No. 5, 13.1.1970.

HAR FE 2.1 - 103531 o.120 Roche, Interne Mitteilung Nr. 842, 6.11.1970.

HAR FE.2.1 - 103531 o.121 VI/Klin. 2/69, 6.2.1969, S. 3. HAR FE.0.3 -

103534 f.

Werbeanzeige aus der Ärzte-zeitschrift «Image Roche» für Gantanol Roche (Wirkstoff Sulfamethoxazol). Das Bild zeigt eine Kristallisationsaufnahme einer Suspension von Proteus vulgaris in einer Lösung von Gantanol, 1969

Werbefaltblatt, 1970. Abgebildet ist das gesamte damals erhältliche Bactrim-Sortiment mit den zahlreichen unterschiedlichen Darreichungsformen, die in minutiöser Kleinarbeit von Roche entwickelt wurden

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Roche referierten Erika Böhni123 und Daniel E. Schwartz124, für Wellcome George H. Hitchings125 und S. R. Bushby126. In Basel sah man dem Zusammentreffen mit dem späteren Nobelpreisträger Hitchings und dem ebenfalls exzellenten Bakteriologen Bushby mit einem gewissen Bangen entgegen. Zwar war Wellcome zu jenem Zeitpunkt über den Stand der Basler Forschung an Meta-boliten von Trimethoprim orientiert, doch durften die laufenden Untersuchungen nicht publik gemacht werden, bis Wirkung und Patentierungsfähigkeit der neu isolierten, synthetisierten Produkte abgeklärt waren. Man einigte sich bei Roche, nur von «neuen Substanzen» zu sprechen.127 Die Graphiker hatten für Böhni zur Illustration der aus den Mäuseversuchen gewonne-nen Erkenntnisse eigens aufwendige, farbige Dias hergestellt. Die Referentin hatte gemäss eigenem Bekunden «kein bisschen Angst» und beurteilte ihre Vorredner von Wellcome als «sehr mässig, in den Dias wenig verständlich, viel zu viel für diese Ärzte». Ihren eigenen Auftritt aber befand sie als vollkommen gelungen: «Da wirkte mein Vortrag in einfachen Worten und neuen Bildern wie eine Bombe. Alle hatten Freude, auch Frauen haben mir noch in der Toilette gesagt, dass sie jedes Wort verstanden haben».128 Während Erika Böhni sich mit den Briten nach wie vor bestens verstand, ärgerte sie sich über ihre Basler Kollegen: «Überhaupt regen mich die Roche-Leute auf, immer schauen sie aufgeregt zurück, wenn einer sie etwas fragt. Sie spielen gerne Komödie, malen den Teufel an die Wand und wollen zeigen, was für tolle Disputanten sie sind. […] Wir sind viel zu schwach für Burroughs Wellcome, die sicher Roche auch aus psychologischen Gründen ausgewählt haben, weil sie nämlich mit ihnen machen können, was sie wollen. Und das ist ihnen voll und ganz gelungen.»129 Diesbezüglich sollte sich die aussergewöhnliche Mikrobiologin getäuscht haben. Die Basler liessen sich beim Bactrim-Projekt nicht über den Tisch ziehen – und Roche besteht im Gegensatz zu Burroughs Wellcome noch heute als eigenständiges Unter-nehmen.

Am 14. Mai 1969 wurde Bactrim in einer Planungssitzung mit 25 Teilnehmern am Basler Firmensitz erörtert. Die bisherigen Erfahrungen in England hätten gezeigt, dass Roche mit Bactrim ein Präparat mit grossem Potenzial entwickelt habe. Eine spezielle Herausforderung des Marketings stelle aber die Partnerschaft mit einem Konkurrenten dar: «Es gilt daher, an diese Aufgabe mit Optimismus, aber auch mit der nötigen Aggressivität her-anzugehen, ohne verfehlte Rücksichtnahme sowohl auf unseren Partner als auch auf unsere eigenen Sulfonamide.»130 Zwar müsse

122 VI/Klin. 7/69, 24.4.1969, S. 1. HAR FE.0.3 - 103534 f.

123 Böhni, E[rika]: The Chemotherapeutic Activity of Combinations of Trimethoprim and Sulphamethoxazole in Infections of Mice. The Synergy of Trimethoprim and Sulphonamides. Royal College of Physicians, London, 9.5.1969.

124 Schwartz, D[aniel] E. / Ziegler, W. H.: Assay and Pharmacokinetics of Trimethoprim in Man and Animal. Royal College of Physicians, 9.5.1969.

125 Hitchings, G[eorg] H.: Selective Inhibitors of Dihydrofolate Reductase as Chemo-therapeutic Agents. Royal College of Physicians, 9.5.1969.

126 Bushby, S. R. / Hitchings, George H.: Trimethoprim, a Sulphonamide Potentiator.

In: British Journal of Pharmacology 33 (1968), S. 72-90.

127 Projektgruppe «Antibakterielle Stoffe», Protokoll Nr. 1/69, 12.2.1969, S. 5. HAR FE.0.3 - 103534 f.

128 Böhni, Tagebuch Nr. VIII, 9.5.1969 [o. S.]. – Siehe auch Eine Frau von Format (1993),

S. 45.129 Ibid.

man davon ausgehen, dass einerseits die herkömmlichen Sulfo-namide, andererseits auch die Antibiotika von ihrem Mythos einbüssen würden. Gerade deswegen scheine aber die Marktlage für die Einführung eines neuartigen, antibakteriell wirksamen Präparats günstig. Negativ ins Gewicht falle indessen das Joint Venture mit der Firma Burroughs Wellcome, das den Briten gewisse Vorteile verschaffe. Die neue Komponente des Präparats stamme von ihnen, ein Sachverhalt, den sie zum Missfallen von Roche auch entsprechend ausnützten. Allerdings glaubte sich das Basler Unternehmen bezüglich Marketing-Organisation im Vorteil. Die «Trimethoprim-Story» von Wellcome solle nicht verheimlicht werden; im Gegenteil sei zu betonen, dass Trime-thoprim erst dank Roche in Kombination mit einem Sulfonamid zu einer brauchbaren Substanz geworden sei…131

Roche hatte sich in Sachen Bactrim bereits 1967 für die neu-artige galenische Form der Drapsulen in der Ansicht entschieden, dass diese dem modernen Antibiotika-Image näherkommen und sich grundlegend von der bei Burroughs Wellcome üblichen Tab-lettenform unterschieden. Aus produktionstechnischen Gründen konnten sich die Basler aber nicht gegen die Tablettenform durch-setzen. Die Abteilung «Spezialitätenentwicklung für Forschungs-präparate» hatte darum für die meisten Länder, in denen die Einführungsvorbereitungen noch nicht zu weit fortgeschritten waren, den Verzicht auf die Drapsule und die Einführung in Dra-géeform vorgeschlagen.132 Auch dieser Entscheid sei nun aber neu zu überprüfen, da gemäss neuesten Marktuntersuchungen immer mehr Antibiotika in Tablettenform auf den Markt kämen. Weil überdies Tablettieranlagen in allen Roche-Fabrikationsstellen vorhanden waren, entschied man, für Bactrim generell auf die Tablettenform überzugehen.133 Erika Böhni kommentierte das zähe Festhalten an der Drapsule und die darauf folgende Kapi-tulation in ihrem Tagebuch gewohnt scharfzüngig: Die Herren von Roche wüssten nicht, «wie lächerlich sie gemacht werden mit ihren Drapsulen, die von heute auf morgen verschwinden. Wir haben nichts bestimmt mit unseren Drapsulen, wir können nichts entgegnen.»134 In einer ganzen Reihe von Ländern wurde im Mai 1969 die Einführung von Bactrim bereits für das laufende Jahr geplant, so in der Schweiz, in Zypern, im Libanon, in Deutschland, in Australien, eventuell in Spanien, in Argentinien und in Brasilien sowie in einigen arabischen und fernöstlichen Ländern.

Was die Bewerbung des neuen Produktes betraf, so stellte sich die anspruchsvolle Aufgabe, die Möglichkeiten von Bac-trim in ihrer ganzen Breite aufzuzeigen. Zur Marketingstrategie

130 Protokoll der Planungssitzung, 14.5.1969, S. 1. HAR FE.0.3 - 103600

131 Ibid.132 PA-Protokoll, 29.4.1969, S. 3.133 Protokoll der Planungssitzung, 14.5.1969.

Daniel Schwartz, 1987

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hielt man den Dachslogan «Bactrim – dritte Generation in der Chemotherapie bakterieller Infektionen» für geeignet. Die erste Generation bildete demnach das Sulfamidochrysoidin (Prontosil) von 1935, die zweite das Sulfamethoxazol (Gantanol) von 1962. Jetzt ging es darum, das Neuartige an Bactrim hervorzuheben. Dazu hielt die Planungssitzung fest: «Die Trimethoprim-Story kann deshalb nicht umgangen werden. Sie muss in unserem Sinne möglichst positiv ausgewertet werden.»135 In die «vordere Linie» der Argumente gehöre als Resultat der Potenzierung der beiden Wirkstoffe die bakterientötende Wirkung des Präparates. Als Breitbandchemotherapeutikum sei daher Bactrim für schwere wie für leichtere Fälle zu empfehlen.

Einführung in Krankenhäusern, bei Ärzten und Apothekern

Weil es der Fima Burroughs Wellcome in Grossbritannien gelungen war, die Krankenhäuser durch frühzeitige Vorstösse und erweiterte klinische Prüfungen im grossen Stil weitgehend für das Septrin zu gewinnen, sollten zumindest in Deutschland und der Schweiz die bereits laufenden klinischen Studien stark erweitert werden. Auch in Argentinien, Brasilien und Spanien sowie in Fernost wollte Roche die Prüfungen an Patienten rasch vorantreiben. In der Schweiz wurden die Spitäler bis zum Bezirks-spital mit vereinfachtem Informationsmaterial und Fragebögen ausgestattet, in Deutschland die Zahl der Krankenhäuser für die erweiterten Prüfungen auf 300 ausgedehnt. 3 000 deutsche Ärzte sollten sechs Wochen vor Einführung so ausgestattet werden, dass jeder von ihnen 30 Patienten behandeln konnte. Die Apotheker erhielten, wie bei Roche üblich, je eine Originalpackung aller Dosierungen und Packungsgrössen.136

Burroughs Wellcome lieferte der Basler Produktion im Mai 1969 reibungsfrei 1 000kg Trimethoprim.137 Mehr Kopfzerbrechen bereitete der offenkundige Mangel an den notwendigen wissen-schaftlichen Veröffentlichungen. Im Frühjahr 1969 waren acht wissenschaftliche Aufsätze pendent, bei denen aber abzusehen war, dass sie erst ein Jahr später druckreif vorliegen dürften. Dies ergab die unbefriedigende Situation, dass zum Zeitpunkt der Einführung in der Schweiz keine einzige Publikation vorlag: «Eine dringende Reaktivierung dieser Arbeiten ist daher ange-zeigt.»138 Man machte sich in Basel ernsthaft Sorgen darüber, dass Burroughs Wellcome aus einem Minimum an klinischen Fällen bereits publizistisches Kapital schlug und überlegte sich, ob Roche

HAR FE.0.3 – 103600.134 Böhni, Tagebuch Nr. VIII, 9.5.1969 [o. S.].135 Ibid, S. 5136 Ibid., S. 6, 8.137 Ibid., S. 6.138 Ibid., S. 7.139 Ibid., S. 7.140 Projektgruppe «Antibakterielle Stoffe»,

Protokoll Nr. 2/69, 18.2.1969, S. 1. HAR FE.0.3 - 103534 f.

141 Böhni, Erika: Vergleichende bakteriologische Untersuchungen mit der Kombination Trimethoprim/Sulfamethoxazol in vitro

«diesbezüglich nicht auch etwas grosszügiger werden muss».139 Auf Initiative von Roche Grenzach erschienen im Rahmen der Einführungsmassnahmen denn auch neun Arbeiten in einem Sonderheft der Zeitschrift «Chemotherapie».140 In dieser an die Ärzte gerichteten Publikation zu Bactrim schrieb Erika Böhni einen Aufsatz über die Bakteriologie.141

Am Jahrestreffen der Roche Research Management Group (RRMG) in St. Moritz vom 11. bis 16. Juni 1969 konnte von einem eindrücklichen Eintritt von Bactrim/Septrin in den bri-

Ärztebroschüre «Bactrim für die Behandlung der Bronchitis», 1970

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tischen Markt berichtet werden. Gleichzeitig war man bereit, die Position von Roche in Konkurrenz zu Wellcome entschie-den zu verteidigen. Es wurde grundsätzlich beschlossen, die Sulfonamid-Forschung voranzutreiben. In Basel sollten phar-makologische, klinische und stoffwechselbedingte Studien zu Bactrim weitergeführt werden.142 Klinische Versuche an mittler-weile 2 500 Patienten hatten gute Resultate im Respirations- und Urogenitaltrakt erbracht. Nun galt es, auch die Wirkungsweise gegen schwerere Erkrankungen wie Typhus, Cholera, Knochen-marks- und Hirnhautentzündung zu erproben. Gelassen nahm das Forschungsmanagement zur Kenntnis, dass Wellcome die Kombination Trimethoprim und Sulfamethoxazol auch in der Veterinärmedizin bei Hunden und Katzen einzuführen plante,

und in vivo. In: Dokumente zu Bactrim. Chemotherapy 14, Suppl. Basel 1969.

142 Minutes of the Roche Research Management Group Meeting, June 11-16, 1969, St. Moritz/Switzerland, S. 26 f. HAR FE.0.4 - 103593 g, h.

143 RRMG 1969, Antibacterials (incl. Sulpha drugs), S. 2. HAR FE.0.4 - 103593 g, h.

144 «Bactrim» Roche. Bakterizides Breitband-Therapeuticum, o. O.[Basel], o. J. [1969]. – «Bactrim» Roche. Broad spectrum bactericide, o. O. [Basel], o. J. [1969]. Ausserdem in Dänisch, Schwedisch, Norwegisch, Finnisch,

verfolgte Roche doch im Tierbereich weit weniger Interessen. Man war sich in der Konzernführung bewusst, dass es im ersten Jahr der Einführung Länder geben werde, wo etwa gleich viele Mustertabletten wie Verkaufsware auf den Markt gelangen wür-den. Dies sei aber angesichts der speziellen Problematik einer Doppeleinführung gerechtfertigt und trotz des finanziellen Aufwandes auch vom Rentabilitätsstandpunkt her vertretbar.143 Eine attraktiv aufgemachte, illustrierte Einführungsbroschüre zu Bactrim erschien in zahlreichen Sprachen Ende 1969. Sie umfasste 84 Seiten und versprach schlagwortartig einen gezielten Vorstoss in die Infekttherapie, ein völlig neuartiges Wirkungsprinzip, eine reziproke Potenzierung und eine Breitband-Bakterizidie, also ein breites Wirkungsspektrum der Keimabtötung von grampositiven wie auch gramnegativen Bakterien.144 Die Broschüre war in fünf Kapitel unterteilt und enthielt auch eine Produkte-Information in Stichworten, die es dem eiligen Arzt ermöglichte, «nach fünf-

Werbeanzeige aus der Ärztezeitschrift «Image Roche» für Bactrim bei Urogenitalinfekten, 1970er Jahre

Ärztebroschüre «Bactrim» Roche for therapy in ear, nose and throat infections, 1974

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minütiger Lektüre das Präparat richtig anzuwenden».145 Unter Einschluss von Prospektserien und Sonderdrucken sollten den Arzt nicht weniger als 27 Bactrim-Aussendungen in den ersten zwölf Monaten nach der Einführung erreichen. Vier verschiedene Typen von Inseraten waren in den wichtigsten medizinischen Zeitschriften geplant.146 Im Rahmen der vorgesehenen Kleinsym-posien schien es vorerst allerdings nicht möglich, spezielle Filme über Bactrim herzustellen.147

Promotionstouren bis zur ErschöpfungAm 24. Juni 1969 wurde für die Supervisoren der «Basler Länder» – also jener kleineren Märkte in Europa, Afrika und Fernost, die direkt mit Produkten beliefert wurden – und die Ärztebesucher der Schweiz ein Bactrim-Kolloquium in Basel veranstaltet. Für die übrigen Ärztebesucher fanden in den folgenden Monaten Kolloquien im Ausland statt. Allein für die Schweiz wurden im ersten Jahr rund 1,85 Millionen Franken für die Einführungs-kampagne ausgegeben.

Für Erika Böhni bedeuteten diese Monate einen geistigen und körperlichen Einsatz bis hin zur Erschöpfung. Ihr oblag nämlich die Aufgabe, für Bactrim eine neue Sensibilitätsprüfung in den verschiedensten Laboratorien durchzusetzen. Dazu bedurfte es eines spezifischen Mediums, um die Wirksamkeit plastisch zu demonstrieren, galt es doch, die potenzierenden Eigenschaften des Kombinationspräparats drastisch vor Augen zu führen. Dafür kamen die bereits erwähnten Disks der Firma Oxoid wie gerufen. Auf Nährböden gelegt, machen diese die bakterientötende Wir-kung visuell sichtbar. Für einen Ärztebesucher war die Einführung einer solchen Labormethode jedoch eine allzu anspruchsvolle Aufgabe, weswegen Erika Böhni dafür hinzugezogen wurde.148 Für sie typisch erscheint ihr Kommentar zu einer dieser Veranstal-tungen, die sie in Schweden durchzuführen hatte: In Stockholm ging es am 18. Juni 1969 «besonders gut, weil viele Bakteriologen da waren und wenig Zuhörer».149 Zum 6. Internationalen Che-motherapiekongress reiste Böhni im August 1969 nach Tokio und referierte dort ebenfalls über ihre Arbeiten mit den Bactrim-Disks. Ihre vorherige Aufregung war nach eigenem Bekunden «nicht der Rede wert: Alles geht gut, mit dem Mikrofon, mit den Bildern, ich erhalte einen Applaus wie niemand. Farbig, fröhlich, klar: Das zieht immer.»

Portugiesisch, Spanisch, Ungarisch und Griechisch.

145 Protokoll der Planungssitzung, 14.5.1969, S. 8. HAR FE.0.3 - 103600

146 Schweizerische Ärztezeitung, Therapeutische Umschau, Praxis, Médecine et Hygiène, Medical Tribune, Ars Medici, Image. Siehe Protokoll der Planungssitzung, 14.5.1969, Beilage Promotogramm Bactrim Schweiz, 21.5.1969. HAR FE.0.3 - 103600.

147 Ibid., S. 9.148 Eine Frau von Format (1993), S. 45.149 Böhni, Tagebuch Nr. IX, 18.6.1969 [o. S.].150 Ibid, 14.8.1969.151 VI/Klin. 2/69, 6.2.1969, S. 3. HAR FE.0.3 -

103534 f.152 Eine Frau von Format (1993), S. 45. – Siehe

dazu Mayekawa, Seiro: Masterpieces of the

Das Vortragsprogramm wurde ergänzt durch Präsentationen von klinischen Prüfungsergebnissen, die von den lokalen Studienlei-tern bestritten wurden.151 Mit Freude erinnerte sich Erika Böhni später an freundliche Kontakte mit der japanischen Bevölkerung und über ihren Besuch im Nationalmuseum für westliche Kunst: «Dort habe ich den schönsten Segantini meines Lebens gesehen. Der ist in keinem Katalog zu finden, aber ich sehe ihn noch vor mir, der war einfach wundervoll.»152

Böhni erhielt nach ihrem Vortrag «die höchsten Kom-plimente» und erwiderte darauf, ganz Roche-Frau: «Für eine rechte Firma mache ich auch etwas Rechtes.»150

Weitere Reisen führten Erika Böhni in die Niederlande, nach Italien, Griechenland, im Herbst 1969 aber auch nach Südafrika. Der dortige Niederlassungsleiter hatte die vier-zehntägige Tour entlang der Ostküste generalstabsmässig

Erika Böhni während ihres Besuchs in Japan, 1969

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Erika Böhni verfasste eine Orientierung in der «Schweizerischen Medizinischen Wochenschrift», worin sie die antibakteriellen Eigenschaften herkömmlicher Antibiotika mit jenen von Bactrim verglich. Auf Nährböden wie im Tierexperiment an Mäusen und Ratten zeigte sie auf, wie der Hemm- beziehungsweise Abtö-tungseffekt von Bactrim bei vier bakteriellen Krankheitserregern den Antibiotika Oxytetrazyklin und Chloramphenicol überlegen war.154

Im Rahmen der weltweiten Einführungsvorbereitungen wurden die klinischen Prüfungen intensiv vorangetrieben, um die nötigen Unterlagen für die Registrierung in den einzelnen Ländern bereitzustellen. Die Mitarbeiter verfassten Berichte über zahlreiche experimentelle und klinische Studien und hiel-ten Vorträge an Tagungen, Symposien und Kongressen. In den Roche-Labors kombinierten die Forscher weitere Sulfonamide mit Potentiatoren, allerdings mit eher bescheidenem Erfolg.155 Während die klinischen Prüfungen in Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich und in der Schweiz auf breitester Basis liefen, war die Zahl der Prüfungsstellen in verschiedenen anderen Ländern, speziell in Australien, Neuseeland, Fernost, der Niederlande oder Skandinavien noch unbefriedigend. Deshalb unternahm man dort verstärkte Anstrengungen, «nicht zuletzt auch, um zu verhindern, dass Burroughs Wellcome in diesen Gebieten einen Vorsprung gewinnt».156 Wegen der Konkurrenz-situation wurde eine möglichst breite Streuung des Präparates im Sinne einer Voreinführungskampagne angestrebt, wobei Roche auch in Kauf nahm, dass mancherorts die Prüfung nicht nach den von der Firma sonst geforderten strengen Kriterien durchgeführt wurde.157

Weitere Einführungsmassnahmen

Im Jahr 1970 wurde Bactrim mit Patentnummer 1’103’931 in Deutschland zugelassen, und etwas später auch in Spanien. Am 2. Juni 1970 erfolgte die Patentierung auf Antrag von Emanuel Grunberg158, des bedeutenden Tuberkuloseforschers und Chef der chemotherapeutischen Abteilung von Roche Nutley, mit aus-führlicher Beschreibung durch das United States Patent Office als Nr. 3’515’783.159 Die Aufsichtsbehörde FDA interessierte sich vor allem für die Auswirkung bei Schwangerschaften, was man in der Folge mittels zahlreicher Experimente und Studien untersuchte. Bislang bestanden nämlich keine Studien an Schwangeren und an Frauen, die eine Schwangerschaft beabsichtigten.160

Ernst Wiesmann161, ordentlicher Professor für Mikrobiologie in Zürich und einer der wichtigsten Bakteriologen der Schweiz, konnte dank Bactrim für eine Zusammenarbeit gewonnen werden, «nachdem diesbezügliche Versuche jahrelang keinen Erfolg gezeigt haben». Dieser «Meinungsmacher» erschien als so wichtig, dass man ihn für seine Stellungnahmen zu Bactrim mit 1 200 Franken entschädigte und ihm ein Jahr lang das Monats-gehalt für eine Laborantin in gleicher Höhe bezahlte.162

Am Jahrestreffen der Roche Research Management Group (RRMG) vom Juni 1970 in Princeton/New Jersey konnte von der weltweiten Markterschliessung und von der Erprobung zweier neuer galenischer Formen berichtet werden, einerseits ein Kinder-sirup und Suspensionen für Erwachsene, sowie andererseits die intramuskuläre Injektion.163 Am Treffen von 1971 im englischen Broadway wurde angesichts des sich abzeichnenden Markterfolgs erneut die Notwendigkeit betont, die Position im Sulfonamid-bereich gegenüber Burroughs Wellcome zu konsolidieren und zu verbreitern. Die Trimethoprim-Forschung von Roche in Nutley hatte stark dazu beigetragen, dass man der Partnerfirma selbstbewusst entgegentreten konnte. Ein Workshop in Basel vom 3./4. Mai 1971, an dem die drei Roche-Forschungszentren vertreten waren, befasste sich mit den klinischen Fortschritten und beriet die weitere Koordination.164 Anlässlich eines Treffens mit C. Madden von Wellcome vom 28. Juli 1971 in Basel in Bezug auf die Zukunft der Bactrim/Septrin-Zusammenarbeit gaben sich die Mitarbeiter von Roche betont zurückhaltend, während der Engländer erstaunlich offen über den Erfahrungsmangel von Wellcome im Sulfonamidbereich berichtete; Madden räumte ein, dass die Marktstellung von Septrin ausserhalb Grossbritanniens unbefriedigend sei und dass personelle Wechsel bevorstünden.

vorbereitet und verlangte von Böhni, dass sie «länger und lauter» rede. In der Erinnerung meinte sie: «Jede Minute war ausgebucht, vom Aufstehen bis spät nach Mitternacht: Apéros, Vorträge, Diskussionen mit Bakteriologen und Klinikern. [...] Am zehnten Tag sind wir dann endgültig zusammengeklappt. Wir konnten einfach nicht mehr.»153

National Museum of Western Art Tokyo. Tokio 1983.

153 Eine Frau von Format (1993), S. 46.154 Böhni, Erika: Über antibakterielle

Eigenschaften der Kombination Trimethoprim/Sulfamethoxazol im Vergleich mit Antibiotika. In: Schweizerische Medizinische Wochenschrift 99 (1969),

S. 1505-1510.155 Fortschrittsbericht Nr. 2 der Projektgruppe

«Antibakterielle Stoffe», 14.10.1969, S. 3 f. HAR FE.0.3 – 103534 f.

156 VI/Klin. 2/69, 6.2.1969, S. 3. HAR FE.0.3 - 103534 f.

157 Ibid.158 Obituaries, Emanuel Grunberg, Bacteriologist,

72. In: The New York Times, 29.1.1995.159 United States Patent Office, 3’515’783,

2.6.1970. HAR FE.2.1 - 103531 o.160 Bactrim-Meeting with FDA, 17.4.1972. HAR

FE.2.1 - 103531 o.161 Fey, Hans: Zum Hinschied von Prof. Dr. Ernst

Wiesmann. In: Schweizerische Gesellschaft für Mikrobiologie, Info 25 (1989), S. 62-64.

162 Abt. PA/5, 17.2.1970, S. 3. HAR FE.2.1 - 103531 o.

163 RRMG, Sitzung vom 12.6.1970, Princeton/New Jersey, HAR FE.04 - 103593 f.

164 Minutes of the Roche Reserach Management

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136 137

Basel zweifelte, ob Wellcome die Zusammenarbeit fortsetzen würde, wenn London auf Dauer die zweite Geige würde spielen müssen.165

Firmenintern wurde eine «Projektgruppe Bactrim» gebildet, um in Doppelblindstudien aufzuzeigen, dass das neue Medi-kament effektiver war als vergleichbare Komponenten und ein breites Anwendungsspektrum umfasste.166 Zu ihrer Freude erfuhr Erika Böhni 1971, dass ihr Roche einen Erfinderanteil an Bac-trim zugestand. Im selben Jahr wurde sie als einzige Frau zur Prokuristin befördert.167 Auch die Mitarbeiter von Roche waren mächtig stolz auf das neue Heilmittel. Im Rahmen eines Porträts des Penicillin-Pioniers Alexander Fleming stellten die «Roche-Nachrichten» 1971 selbstbewusst fest:

Erfüllte Erwartungen «in jeder Hinsicht»Im Jahr 1970 erreichte Bactrim 57 Millionen Franken Umsatz, 1971 bereits mehr als das Doppelte, nämlich 118 Millionen. 1972 übertraf Bactrim mit 161 Millionen Franken Umsatz erstmals den 5-Prozent-Anteil des Gesamtkonzerns.169 Ganz zweifellos hatte die Gruppe der Antiinfektiva dank dem erfreulichen Erfolg des neuen Produkts erheblich an Bedeutung gewonnen, auch wenn Bactrim die früheren Chemotherapeutika in den Schatten stellte und zurückdrängte. Anfang der 1970er Jahre zeichnete sich ab, dass das Medikament in zahlreichen Ländern in die vordere Reihe der pharmazeutischen Spezialitäten rückte.170 Mit Befriedigung kommentierte man in Basel die Einführung in immer neuen Staa-

ten: «Diese Spezialität erfüllt die in sie gesetzten Erwartungen in jeder Hinsicht.»171 Der 7. Internationale Kongress für Che-motherapie in Prag im August 1971 zeigte, dass sich auch die osteuropäischen Mediziner lebhaft für Bactrim interessierten.172 Überhaupt vermochte sich das Medikament rasch als globales Mittel der Wahl zu etablieren.

Am Treffen des Forschungsmanagements vom Juni 1972 in Territet bei Montreux hofften die Vertreter von Roche Nut-ley auf eine gute künftige Marktsituation auch für die USA. Zuhanden der amerikanischen Behörden waren zahlreiche Unterlagen bereitzustellen, da man die europäischen Daten in den Vereinigten Staaten nicht verwenden konnte. In Nutley wurde eine neue Synthese von Trimethoprim entdeckt und als Ro 20-5662 intensiv erforscht. Es ging dem Konzern darum, gegenüber Wellcome marktmässig die Führung zu bewahren, und darum dachte man in Basel bereits an mögliche Nachfolger von Bactrim. Ein Nachfolgeprodukt sollte helfen, auf Dauer die Unabhängigkeit von Burroughs Wellcome zu erlangen.174 Man studierte weiterhin den Metabolismus von Trimethoprim und synthetisierte die von dieser Gruppe isolierten vier Hauptme-taboliten in genügender Menge für eine genauere chemothera-peutische und toxikologische Prüfung. Doch alle vier Produkte unterlagen als Potentiatoren dem Trimethoprim. Ein einziges isomeres Nebenprodukt erwies sich vorerst als gut verträglicher, hoffnungsvoller Potentiator. Dennoch wurde weiter hartnäckig versucht, mit zielgerichteten chemischen Arbeitsprogrammen neue Potentiatoren für weitere Kombinationen zu finden.175 Auch gewisse veterinärmedizinische Abklärungen wurden nicht ver-nachlässigt, seien es Injektionslösungen, Tabletten, Pulver zur oralen Anwendung oder Zusätze zu Medizinalfutter.176

Roche Grenzach (Deutschland) erforschte die Bactrim-Injek-tionslösung und entsprechende Therapieergebnisse sowie die Ver-

«In der Geschichte der antibakteriell wirkenden Substan-zen hat Roche in Zusammenarbeit mit dem englischen Pharmaunternehmen Wellcome Foundation den vorläufig letzten Markstein gesetzt, und zwar mit ‚Bactrim’, einem bakterientötenden Chemotherapeutikum mit breiter Wirkung. Es wird erfolgreich eingesetzt bei Infektionen der Haut, der Atemwege, der Nieren und der ablei-tenden Harnwege, der weiblichen und der männlichen Genitalorgane und des Magen-Darm-Traktes.»168

Die Basler Roche-Zentrale meinte zu den Verkäufen des neuen Antiinfektivums: «Bactrim wurde von der Ärzteschaft sofort aufgenommen und hat sich inzwischen zu einem Standardpräparat entwickelt, obwohl die Einführungs-phase noch nicht in allen Ländern abgeschlossen ist.»173

Group Meeting, June 10-15, 1971, Broadway/GB, S. 39. HAR FE.0.4 - 103593 i.

165 Confidential Note to Dr. Herrero and Dr. Feinstein, 3.8.1971. HAR FE.2.1 - 103531 o.

166 Ro 6-2580 Bactrim Project Group, Report for 1971 RRMG Meeting. HAR FE.0.4 - 103593 i.

167 Böhni, Tagebuch Nr. IX, 26.7. und 22.12.1971 [o. S.].

168 Roche-Nachrichten, Beilage zur Roche-Zeitung 1/1971, S. 27.

169 Interne Mitteilung Nr. 135, 16.4.1973, Konzern-Übersicht, Pharma-Verkaufsergebnisse 1967-1972, S. 23, 26. HAR FR.2.3.5 - 101304.

170 Auszug aus dem Roche- und Sapac-Geschäftsbericht für das Jahr 1970. In: Roche Nachrichten, Beilage zur Roche-Zeitung 3/1971, S. 4.

171 Auszug aus dem Roche- und Sapac-Geschäftsbericht für das Jahr 1971. In: Roche Nachrichten, Beilage zur Roche-Zeitung 2/1972, S. 4.

172 The Wellcome Foundation Ltd to F. Hoffmann-La Roche, 20.10.1971. HAR FE.2.1 - 103531 o.

173 Auszug aus dem Roche- und Sapac-Geschäftsbericht für das Jahr 1972. In: Roche Nachrichten, Beilage zur Roche-Zeitung 2/1972, S. 4.

174 Minutes of the Roche Research Management Group Meeting, June 15-20, 1972, Territet/Montreux, S. 20 f. HAR FE.0.4 - 103593 k.

175 Rapport No. 37’766, 14.10.1969, S. 2. HAR FE.0.3 - 103534 f.

176 Übersicht über die veterinärmedizinische Prüfung von Ro 6-2577, Stichtag 1.3.1972.

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träglichkeit bei 668 Patienten. Die Erfolgsquote von 86% wurde als «recht zufriedenstellend» beurteilt, ebenso die allgemeine und die lokale Verträglichkeit. Man beabsichtigte 1973 die baldige Einfüh-rung der intramuskulären Gabe auch für die Schweiz.177 Meldun-gen über Schwierigkeiten ging man bei Roche unverzüglich nach. Als die Städtischen Krankenanstalten Düsseldorf von Trübungen beziehungsweise Ausfällungen in der Bactrim-Ampullenlösung berichteten, wurde die Mischung in Basel sofort nachvollzogen und der Grund im aussergewöhnlich hohen Säuregrad des ver-wendeten Wassers gefunden; auch ein Manipulationsfehler konnte nicht völlig ausgeschlossen werden.178 Zudem wurden die stetig zunehmenden Studien zahlreicher Universitätskliniken – etwa zu den Nebenwirkungen179 – aufmerksam verfolgt.

1973 entwickelte Roche das Kao-Bactrim mit Kaolin in Sirupform für Kinder wie auch für Erwachsene gegen die Ruhr (Dysenterie). Dieses Medikament gegen Durchfall eignete sich vor allem für südliche und tropische Länder, während an einer Einführung in Europa weniger Interesse bestand.180 Wellcome arbeitete derweil an dispersiblen Tabletten mit Primojel, ein nicht patentfähiges Produkt, das aber dennoch als Geschäftsgeheimnis deklariert wurde.181

Nummer drei hinter Valium und LibriumDas jährliche Roche-Symposion im Oberharzer Kurort Hahnen-klee befasste sich 1973 mit der Bakteriologie, Pharmakologie und klinischen Anwendung von Bactrim.182 Auch die regelmässigen Bactrim-Treffen zwischen den Partnerfirmen wurden Mitte der 1970er Jahre fortgesetzt. Man beschloss für die Einführung in Indien eine enge Kooperation, beriet über den Preisdruck durch die US-Regierung und empörte sich über die Behörden in Nor-wegen, die glaubten, Bactrim/Septrin sei ein Medikament zweiter Wahl.183 Die Zusammenarbeit mit Wellcome bot aber immer wieder gewisse Reibungsflächen. Die Generaldirektion von Roche überlegte im Frühjahr 1974, wie eine Senkung des Lieferprei-ses von Trimethoprim von Wellcome um 34% erreicht werden könne; man war der Meinung, dass auch Nutley für ihre Produk-tion nur diesen Preis bezahlen sollte. Zudem war abgesprochen, dass Burroughs Wellcome Septrin in Pakistan einführen solle, während Roche den iranischen Markt mit Bactrim versorgen wollte. Weil Wellcome aber entgegen den Abmachungen doch nach Iran vorstiess, wollte man für Pakistan eine Entschädigung einfordern. Roche London hatte eine wasserlösliche Bactrim-Tab-

HAR FE.2.1 - 103531 o.177 Rapport Nr. 54 338, 23.3.1973. HAR FE.2.1 -

103531 o.178 Stellungnahme zur Vorlage bei der Behörde,

19.3.1973. HAR FE.2.1 - 103531 o.179 Gressner, Ilka: Nebenwirkungen von Bactrim.

München 1974.180 K. Münzel (Roche) an A. Axon (Wellcome),

2.8.1973. HAR FE.2.1 - 103531 o.181 M. P. Jackson (Wellcome) an A. Degen

(Roche), 21.8.1973. HAR FE.2.1 - 103531 o.182 Knothe, H[ans] / Marget, W[alter] / Seydel

J[oachim] (ed.): Round-Table-Gespräch über Bakteriologie, Pharmakologie und klinische Anwendung von Bactrim Roche. Basel 1973.

183 Aktennotiz von J. Morgan über Besprechung mit C. Madden (Wellcome), Basel,

lette entwickelt und wollte diese rasch einführen, «um gegenüber Burroughs Wellcome einen Vorsprung zu haben». Man gedachte damit wegen der Diskussionen um Indien und Pakistan allerdings noch zwei Monate zuzuwarten – vor allem wegen Indien, wo Wellcome zur Einführung bereit war, während Roche Bombay die Bewilligung zur Einführung noch nicht erhalten hatte.184 Mitte 1975 ging bei Burroughs Wellcome das Gerücht um, dass Roche in England ein Verfahren zur eigenständigen Herstellung von Trimethoprim vorantreibe. Überhaupt neige Roche zu der Auffassung, sie sei seit Februar 1975 frei, die Substanz selber zu produzieren. Aus Basel kam indessen beruhigender Bescheid: Wellcome brauche sich solange keine Sorgen zu machen, als die Preise für Trimethoprim vernünftig seien.185

1974 konnte Roche bekannt geben, dass Bactrim ausserhalb der USA ein so grosser Erfolg sei, dass es unter den Roche-Produkten mittlerweile hinter Valium und Librium die dritte

Hahnenklee-Symposium 1973, Titelseite des Tagungsberichts. Die von Roche organisierten, jährlich stattfindenden Symposien im Kurort Hahnenklee galten ab 1973 spezifisch Themen zur Infektiologie. Das erste Symposium im Jahre 1973 befasste sich allgemein mit Bactrim. Die nachfolgenden Symposien konzentrierten sich auf eine jeweilige Indikation des Medikaments, beispielsweise im Folgejahr den Infektionen der Atmungsorgane

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9./10.1.1974. HAR FE.2.1 - 103531 o.184 Auszug aus GD-Protokoll No 13 vom 22.-

28.4.1974. HAR FE.2.1 - 103531 o.185 Aktennotiz von M. Mathez, 27.6.1975. HAR

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Stelle einnehme. Die Einführung in den US-Markt werde das Verkaufsvolumen noch steigern; in den Vereinigten Staaten war das dort 1973 eingeführte Medikament nämlich erst gegen Harnwegsinfekte zugelassen. Ein breiteres Anwendungsspektrum erschien daher als sehr wünschenswert.186 Am Meeting des Roche-Managements 1975 im englischen Great Fosters wurde über die neuesten klinischen Bactrim-Studien berichtet, so etwa über die Testberichte von Tabletten und pädiatrischen Suspensionen gegen verschiedene Infektionen. Ermutigende Resultate zeigten die Therapien bei Bakterienruhr oder bei Infektionen mit dem Pilz Pneumocystis carinii, der damals als möglicher Erreger von Lungenentzündung beurteilt wurde. Studien über Behandlungen von Mittelohrentzündungen sahen ebenfalls vielversprechend aus, ebenso Untersuchungen über Hirnhautentzündungen oder über Krankheitserreger wie Staphylokokken, Streptokokken, Escherichia coli und Klebsiella. Untersuchungen über Infektionen der Harnwege mit 10 oder 28 Tagen Behandlung zeigten mit Bactrim-Gaben bessere Resultate als mit anderen Produkten. Erfolge bei chronischen Prostata-Entzündungen waren ebenso offensichtlich wie bei Gonorrhoe. Auch die Injektionslösungen, die bei schweren Infektionen zur Anwendung kommen sollten, wurden ständig weiterentwickelt.187 So befand sich die Bactrim-Ampullenlösung für intramuskuläre Verabreichung seit Anfang 1975 in intensiver klinischer Prüfung. Es handelte sich dabei um 3ml-Ampullen mit 800mg Sulfamethoxazol und 160mg Tri-methoprim in einer 52-prozentigen Glycofurol-Lösung – eine Kombination mit Verdoppelung der Wirkstoffe, die später in Tablettenform als «Bactrim forte» auf den Markt kommen sollte. Die Therapieresultate und die allgemeine Verträglichkeit waren bei 138 Patienten aus acht Ländern «recht zufriedenstellend».188 Der Kao-Bactrim-Sirup sowie ein Bactrim Balsamico befanden sich ebenfalls in Prüfung; diesbezüglich zog es Basel vor, mit Wellcome keine Informationen auszutauschen.189

Der 9. Internationale Kongress für Chemotherapie in London vereinigte vom 13. bis 18. Juli 1975 2 000 Spezialisten mit fast tausend Referaten. Immerhin 60 davon betrafen wissenschaft-liche Erfahrungen mit Roche-Präparaten, über 30 handelten von Bactrim, so dass man in Basel zufrieden konstatierte, dass Roche ihren Ruf als Chemotherapeutica-Firma stärken konnte.190 Währenddessen blieb die Zusammenarbeit auf dem Gebiet von Bactrim und möglichen Nachfolgepräparaten zwischen Roche und Wellcome eng. Beide Unternehmen erforschten etwa eine weitere Trimethoprim/Sulfonamidkombination, nämlich Trime-

FE.2.1 - 103531 o.186 Minutes of the Roche Reserach Management

Group Meeting, July 22-26, 1974, Interlaken, S. 20 f. HAR FE.0.4 - 103593 l.

187 Memo for the RRMG-Meeting 1975, 22nd May, 1975, HAR FE.0.4 - 103593 m.

188 Havas, L.: Interner Forschungsbericht, 26.8.1975. HAR DE.2.1 - 103531 t,u.

189 Schrank, J: Roche-Wellcome-Meeting, London (17.-18.12.75), 13.1.1976. HAR DE.2.1 - 103531 t,u.

190 Ruf als Chemotherapeutikafirma gestärkt.In: Roche Nachrichten, Ausgabe Oktober,

thoprim/Sulfadiazin. Man suchte laufend neue Potentiatoren und tauschte zur Auswahl der geeignetsten Arzneimittel-Kandidaten wissenschaftliche Unterlagen aus.191 So informierten sich die Teilnehmer des gemeinsamen Treffens bei Burroughs Wellcome in Beckenham, North Carolina, vom 17. bis 19. Dezember über neueste Tierexperimente und über die Fortschritte der Forschung zur Kombination Trimethoprim/Sulfadiazin, wobei eine Zusam-menarbeit beschlossen wurde. Dieses enge Zusammengehen sollte auch auf neue Potentiatoren ausgedehnt werden.192

Gefahr im Anzug: Trimethoprim als Einzelpäparat

Für Beunruhigung sorgte Anfang 1976 in Basel, dass Trimetho-prim von einer finnischen Firma kommerzialisiert wurde und ausserdem von Konkurrenzfirmen Bestrebungen im Gang waren, Trimethoprim als Einzelpräparat zu verwenden. Diese Einfüh-

4/1975, S. 1.191 Zusammenarbeit mit Wellcome auf

dem Gebiet von Bactrim und möglichen Nachfolgepräparaten, Interne Mitteilung, 10.11.1975. HAR FE.2.1 - 103531 q,r.

192 M. Fernex und H. Neumann: Zusammenarbeit mit Wellcome auf dem Gebiet von Bactrim und möglichen Nachfolgepräparaten, Interne Mitteilung, 10.11.1975. HAR DE.2.1 - 103531

Aquarell für eine Bactrim-Werbeanzeige des Basler Graphikers und Karikaturisten Christoph Gloor, 1970er Jahre

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rung als Einzelspezialität bedeutete ganz zweifellos eine Gefahr für Bactrim/Septrin, und zwar für die Verkäufe wie auch für die Kombination als Ganzes. Man wollte sich bei Roche sorgfältig auf geeignete Gegenmassnahmen vorbereiten und erwog sogar, Tri-methoprim vorsorglich als Einzelsubstanz für ganz beschränkte Indikationen in den USA anzumelden. Doch kam man zu dem Schluss, dass alles unternommen werden müsse, um eine Ein-führung von Trimethoprim als Einzelsubstanz um jeden Preis zu verhindern.193

Ausgehend von Literaturstudien stand es um die klinischen Ergebnisse für Trimethoprim nicht sehr gut.194 Erika Böhni schrieb ihre Gedanken darüber in gewohnter Prägnanz nie-der («Bitte nicht abgeben an Wellcome»). Sie sah den mög-lichen Grund der Propagierung einer alleinigen Anwendung von Trimethoprim im Ablauf der Patente. Alles sei schon mal dagewesen: Man habe vor 20 Jahren das Trimethoprim in den USA und später auch in der Schweiz allein abgegeben; dies mit gewissen chemotherapeutischen Erfolgen, aber auch mit schwe-ren Nebenwirkungen. Blutschäden und sogar Todesfälle seien damals aufgetreten, und genau darum wurde ein Sulfonamid beigegeben. Erst die Kombination erlaubte es, solche Neben-wirkungen ohne Beeinträchtigung der chemotherapeutischen Aktivitäten zu reduzieren. Der Effekt – argumentierte Böhni – wurde mit der Kombination sogar noch verstärkt und die Resistenzentwicklung erfolge langsamer. Gerade darum wurde das Trimethoprim in den USA nur in Kombination zugelassen. Roche habe zahllose chemotherapeutische Versuche mit über-zeugenden Resultaten durchgeführt, und zwar experimentell wie klinisch. Die Bactrim-Pionierin kam in ihrem Bericht über den drohenden Alleingang von Trimethoprim zum Schluss: «Wir zerstören damit selbst (wenn auch nur Wellcome) unser ganzes, gemeinsam während zwölf Jahren mühsam entwickel-tes Konzept und damit auch alle zukünftigen hoffnungsvollen Kombinationen dieser Art.»195

Tatsächlich gelang es in der Folge aber nicht, das «Trimetho-prim Mono» (Infectotrimet) als Einzelsubstanz zu verhindern; es gab sogar Forscher, die dem Trimethoprim als Einzelsubstanz eine bessere Verträglichkeit zuschrieben, da das Medikament ohne Sulfonamid auskomme.196

Auch an anderen Kombinationen wurde weiterhin geforscht, wobei Roche zum Schluss kam, dass Sulfamoxol in seinen anti-bakteriellen Qualitäten dem gebräuchlichen Sulfamethoxazol vielfach unterlegen war, auch in Kombination mit Trimetho-

prim.197 Stets auf der Suche nach einem Nachfolgeprodukt, kom-binierte man Trimethoprim und Sulfadiazin im Verhältnis eins zu drei (Ro 12-2510). Untersucht wurden bei dieser Kombination die Aktivität in vitro und in vivo, die pharmakologischen und pharmakokinetischen Eigenschaften, die Nebenwirkungen, die Toxikologie beim Tier und schliesslich die klinische Anwendung. Es ergab sich eine erstaunlich günstige Diffusion von Sulfodiazin ins Bronchialgewebe, ins Bronchialsekret und in den Speichel, was eine gute chemotherapeutische Wirkung bei Luftwegsinfektionen versprach.198

Am 10. Internationalen Kongress für Chemotherapie vom 18. bis zum 23. September 1977 trafen sich in Zürich gegen 3 000 Wissenschaftler; es wurden über 60 Referate zu Roche-Produkten gehalten, darunter viele wiederum über Bactrim.199 1981 publi-zierten John Marks, Arzt und Leiter von Roche London, sowie der Basler Mikrobiologe und Roche-Forscher Pierre Reusser eine umfassende Monografie zu Bactrim.200 Aufgrund des neuesten Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigten sie darin das Konzept des Heilmittels, die wissenschaftliche Grundlage, den klinischen Einsatz, die Nebenwirkungen sowie spezifische Produkte-Informationen auf. Hatte die Literaturliste bei der Einführungsbroschüre von 1969 lediglich 51 Titel umfasst201, waren es jetzt 941202.

Den Rekordumsatz erreichte Bactrim mit 441 Millionen Fran-ken im Jahre 1985, 16 Jahre nach der Einführung und genau im Jahr des Patentablaufs von Valium, dem damals meistverkauften Medikament von Roche. Zum Erfolg von Bactrim trug zweifellos auch der gehäufte Einsatz des Medikaments gegen bakterielle Infektionen bei, welche als Folge der Immunschwäche AIDS auftraten. Cotrimoxazol (unter anderen Bactrim) wird von der Weltgesundheitsorganisation WHO nach wie vor als einfache, gut verträgliche und kostengünstige Vorbeugung gegen Nebeninfek-tionen bei HIV-Patienten im Erwachsenen- und Kindesalter in Drittweltländern empfohlen.203 Diese pragmatische Massnahme des UNO-Aidsprogramms kommt mit Kosten von acht Dollar pro Kopf und Behandlungszyklus aus. Demgegenüber kostete im Jahr 2000 eine klassische antivirale Kombinationstherapie im Westen rund 15 000 Dollar pro Monat. Die von der WHO geför-derte Massnahme wurde allerdings teilweise als diskriminierend beurteilt und stiess deswegen auf scharfe Kritik.204

Die Verkaufszahlen von Bactrim waren trotz kleinem Ein-bruch 1978 kontinuierlich angestiegen und hatten 1981 die 400-Millionen-Grenze überschritten. Angesichts der auslaufen-

t,u.193 Notiz Trimethoprim als Einzelspezialität,

8.1.1976. HAR FE.2.1 - 103531 p.194 Havas, L.: Die Wirksamkeit und

Verträglichkeit von Trimethoprim als Einzelpräparat (präliminärer Bericht), 17.2.1976. HAR DE.2.1 - 103531 t,u.

195 Böhni, Erika: Einige Gedanken über die Gefahr der alleinigen Anwendung von TM, Mskr., 19.2.1976, S. 4. HAR DE.2.1 - 103531 t,u.

196 Lacey, R. W. / Lord, V. L. / Gunasekara, H. K. / Leibermann, P. J. / Luxton, D. E.: Comparison of trimethoprim alone with trimethoprim sulphamethoxazole in the treatment of respiratory and urinary infections with particular reference to selection of trimethoprim resistance. In: Lancet 1, Nr. 8181, juin 1980, S. 1270-1273. – Brumfitt, W. / Hamilton-Miller, J. M. / Havard, C. W. / Transley, H.: Trimethoprim alone compared to cotrimoxazole in lower respiratory infections: pharmacokinetics and clinical effectiveness. In: Scandinavian Journal of Infectious

Diseases 17, Nr. 1 (1985), S. 99-105.197 Böhni, Erika: Hemmende und abtötende

Wirkung zweier Trimethoprim-Sulfonamid-Kombinationen, Mskr., 26.11.1975. HAR DE.2.1 – 103531 t,u.

198 Kombination Trimethoprim + Sulfadiazin (1 + 3), Ro 12-2510, Beschreibung für die Klinik. HAR FE.2.1 - 103531 s.

199 Sechzig Referate über Roche-Chemotherapeutika. In: Roche Nachrichten, Ausgabe Dezember, 5/1977, S. 14.

200 Marks, John / Reusser, Pierre: ‚Bactrim’ Roche. A Broad-spectrum Antibacterial Agent With Maintained High Bacterial Sensitivity. 1. Aufl. Basel 1981. 2. Aufl. Basel 1983.

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202 Marks, John / Reusser, Pierre: ‚Bactrim’ Roche (1983), S. 121-165.

203 http://www.roche.com/de/corporate_responsibility/patients/access_to_healthcare/developing_countries/who_essential_medicines.htm

204 Alles für die Nationale Sicherheit. Afrikas Aids-Katastrophe: USA finanzieren neue Menschversuche. In: Die Wochenzeitung,

Pierre Reusser am Arbeitsplatz Bau 74, um 1985

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den Patente nach 1989 und zunehmender Nachahmerpräparate fiel der Umsatz von Bactrim seit 2008 unter 100 Millionen Fran-ken.205 Mit gefährlichen Fälschungen mussten sich Roche und Wellcome seit 1982 in Deutschland und im Libanon befassen.206 1988 verfasste George L Drusano, Pharmakologe am Albany Medical College in New York, das Buch «Bactrim today».207 Mit zahlreichen eindrücklichen Graphiken zeigte er kurz vor Ablauf des Patentschutzes den therapeutischen Erfolg von Bactrim noch einmal auf. Keine trockenen wissenschaftlichen Therapiestatisti-ken und schon gar nicht kommerzielle Umsatzkurven können uns aber aufzeigen, welche Wirkung Bactrim bei den vielen hundert Millionen behandelter Patientinnen und Patienten verschie-densten Alters hatte. Jeder individuelle Behandlungserfolg bei Säuglingen, Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und Senioren ist für die Kranken wie auch für ihre Angehörigen eine enorme Erleichterung, geschehe es in der indischen Grosstadt, mitten im afrikanischen Regenwald oder auf einer abgelegenen kanadischen Farm. Speziell für die Entwicklungsländer bedeutete Bactrim einen bedeutenden Behandlungsfortschritt bei oft lebensgefähr-lichen Krankheiten.

Ablauf des Patentschutzes

Nach Ablauf des Patentschutzes verschärfte sich erwartungsge-mäss der Wettbewerb. Es wurden zahlreiche Nachahmerprodukte auf den Markt gebracht, die bis zu 50% billiger verkauft wurden. Für 20 Tabletten des Generikums «Goprim» etwa bezahlte man 1994 unter 11 Franken, anstatt über 20 Franken, wie für das Origi-nalpräparat.208 Mitte der 1990er Jahre ging eine Bactrim-Packung in der Schweiz für 15 Franken an die Apotheker und wurde für 20 Franken verkauft. In Frankreich kostete die gleiche Packung 22 Francs, war also fast viermal billiger. Gewiss konnte Roche mit der unterschiedlichen Währungsentwicklung argumentie-ren, doch war immerhin zu bedenken, dass das Produkt bei der Einführung in beiden Ländern noch gleich teuer gewesen war.209 Als das Bundesamt für Sozialversicherungen für kassenpflichtige Medikamente den Preis festsetzte, wurde Bactrim nach dem Jahr 2000 bedeutend billiger.210 Der Preis ist heute in allen Märkten etwa halb so hoch wie für die günstigsten klassischen Antibiotika. Die Tablette zu 480mg Cotrimoxazol (400mg Sulfamethoxazol + 80mg Trimethoprim) wird beispielsweise in Indien für 42 Cents angeboten, in Thailand für knapp einen Dollar. Aber der Ver-kaufspreis ist oftmals sogar noch tiefer; Angebote für 14 Cents pro Tablette sind keine Seltenheit. Staatliche Gesundheitsorgani-sationen und Hilfswerke kaufen jedoch direkt bei den Herstellern ein und erzielen damit grosse Rabatte.

Am 27. Februar 1994 erhob die englische «Sunday Times» in fetten Lettern schwere Vorwürfe gegen Bactrim/Septrin. Seit 1969 seien in Grossbritannen wegen dieses Medikaments 113 offizi-elle Todesfälle aufgetreten, und die Dunkelziffer sei gewiss noch wesentlich höher. Roche bestritt die offizielle Zahl der Todesfälle nicht, wohl aber die angebliche Dunkelziffer, weil Grossbritannien

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Bactrim Umsätze

Die WHO beziffert deswegen die Kosten für eine Tages-dosis Cotrimoxazol auf weniger als 10 Cents, womit das Produkt für eine enorm grosse Zahl von Menschen erschwinglich ist. Aufgrund des breiten Wirkungsspekt-rums und des günstigen Preises wurde Cotrimoxazol so zu einem der meistverwendeten Antiinfektiva weltweit.

24.2.2000, S. 1.205 Bactrim-Umsätze 1969-2010. HAR FR.2.3.5 -

107395.206 Falsch und tödlich. Gefälschte Medikamente

und Flugzeugersatzteile gefährden Menschenleben. In: Cash, 29.4.1994.

207 Drusano, G[eorge] L. e.a.: Bactrim today.

München, Bern 1988. 208 Warum billige Produkte, wenn’s auch teure

gibt? In: Cash, 20.8.1993.209 Medikamentenpreise. Apotheker hat den

Wettbewerb erfunden. In: Facts, 18.7.1996, S. 30.210 1000 Medikamente werden massiv billiger. In:

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über ein vorzügliches Meldesystem bezüglich Nebenwirkungen von pharmazeutischen Produkten verfüge. Auch stellte man die tragischerweise Verstorbenen in Beziehung zu den fünf Millionen allein in Grossbritannien geheilten Patienten.211 Neben solchen negativen Schlagzeilen sollten die guten nicht vergessen gehen: Angesichts der Tsunami-Flutkatastrophe Ende 2004 in acht asiati-schen Ländern spendete Roche der schweizerischen «Glückskette» zur dringend benötigten medikamentösen Versorgung von 80 000 Überlebenden 220 000 Packungen Bactrim und Rocephin im Wert von einer Million Franken.212

Gewiss, die Euphorie der siebziger und frühen achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, wonach das Problem sämtlicher Infektio-nen mit Impfungen und Medikamenten gelöst werden könne, ist mittlerweile verflogen. Speziell bei bakteriellen Infektionen ist vermehrt mit beunruhigenden Resistenzentwicklungen und reduzierter Immunabwehr zu rechnen. Die grenzenlose Mobi-lität und der Tourismus, aber auch Naturkatastrophen, Krieg, Hunger und Armut erzeugen als unerwünschte Nebenwirkung die Verschleppung bekannter und die Bildung neuer Mikroor-ganismen und somit die Entstehung neuer Krankheiten. Das Medikament Bactrim stösst da ebenfalls an seine Grenzen. Fast 25% der Escherichia-Coli Bakterien, die Harnwegsinfekte verur-sachen, reagieren nicht mehr auf das Heilmittel.213

Trotz solch nachdenklicher Ausblicke bleibt die Geschichte von Bactrim die Geschichte eines Medikaments mit eindrucks-vollem bakterientötendem Effekt, beispielhafter therapeutischer Wirkung, noch immer geringer Resistenz und guter Verträglich-keit. Viele hundert Millionen Menschen auf allen Kontinenten verdanken Cotrimoxazol ihr Leben. Bactrim steht heute nicht mehr konkurrenzlos da, sondern teilt sich den Markt mit vielen Generika, die teilweise zu ausgesprochen tiefen Preisen verfüg-bar sind. Die Stärke der Marke «Bactrim» zeigt sich in einem Satz des Infektiologen Professor Terapong Tantawichien vom Chulalongkom University Hospital in Bangkok: «Wir therapie-ren hier viele Patienten mit Nachahmerprodukten von Bactrim. Sollte aber meine Mutter an einem Infekt der Atemwege oder des Unterleibes leiden, würde ich sie mit Bactrim behandeln.»214

Dank der Hartnäckigkeit der beteiligten Wissenschaftlerin-nen und Wissenschaftler bei Roche und Burroughs Wellcome ist es gelungen, mit Cotrimoxazol ein aussergewöhnliches Medikament zu schaffen, ohne das eine effektive und kosten-günstige Behandlung bakterieller Infektionen in den meisten Ländern der Welt heute nicht möglich wäre. Durch die grossen

wissenschaftlichen und finanziellen Anstrengungen, welche die beiden Firmen unternommen haben, stehen der Welt zudem verschiedenste galenische Formen für alle Altersgruppen und Krankheitsfälle sowie gesicherte Daten zu dem Produkt zur Verfügung. All dies ist nach dem Patentablauf Allgemeingut geworden und wurde damit für die kostenlose Nutzung frei verfügbar.

Cash, 14.6.1996, S. 1.211 Medikamente sind (fast) nie harmlos.

Englische Sonntagszeitung klagt Bactrim an. In: Tages-Anzeiger, 2.3.1994, S. 68.

212 Flutwelle. Der grosse Sammeltag: Nach der Spenden-Gala waren es über 100 Millionen! In: Blick, 8.1.2005, S. 8.

213 Ärzte verordnen häufig falsche Antibiotika. In: SonntagsZeitung, 20.9.2009, S. 71.

214 Prof. Dr. Terapong Tantawichien, Head of Infectious Disease Unit, Chulalongkorn University Hospital and Medical School, Interview vom 21.7.2011.

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Rocephin

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das als Beta-Lactamdihydrothiazin-Ringsystem bezeichnet wird. Da die so genannte Seitenkette am Grundgerüst des Moleküls gleich aussieht wie diejenige von Penicillin N, liegt folgender Schluss nahe: Die wertvolle Widerstandsfähigkeit von Cepha-losporin C gegen den bakteriellen Abwehrstoff Penicillinase ist nicht auf die Seitenkette, sondern auf das erwähnte Ringsystem zurückzuführen. Unverzüglich machen sich Wissenschafter daran, den Cephalosporin-Grundkörper herzustellen. Dieser soll experimentell bearbeitet, das heisst chemisch modifiziert werden, um Cephalosporine zu synthetisieren, die Infektionskrankheiten wirkungsvoller bekämpfen sollen, als je zuvor.

Damit fiel der Startschuss zur weltweiten Cephalosporin-Forschung, die in den sechziger, siebziger und bis ca. Mitte der achtziger Jahre die Ausrichtung der meisten forschenden Phar-mafirmen entscheidend mitprägte. Das Cephalosporin-Gerüst erwies sich als äusserst interessantes Substrat für die erwähnten chemischen Modifikationen: Unzählige wirksame und untoxische Cephalosporine wurden entdeckt.

Antibakterielle WirkungDer Begriff «Antibiotikum» ist auf das Lateinische «Anti» (gegen) und das Griechische «Bios» (Leben) zurückzuführen. Als Antibiotika werden alle chemischen Substanzen bezeichnet, die die Entwicklung der Mikroorganismen «in vitro» (in der Labor-Anordnung) und «in vivo» (im Organismus) hemmen;

Entdeckung der Cephalosporine

Im Jahre 1945 untersucht Giuseppe Brotzu in Sardinien eine Wasserprobe aus der unmittelbaren Umgebung der Stelle, an der die Kloake ins Meer fliesst. Er vermutet, dass die zu be-obachtende Selbstreinigung des Meerwassers teilweise dadurch zustande kommt, dass sich Mikroorganismen mit Hilfe selbst entwickelter Abwehrstoffe gegenseitig bekämpfen und vernich-ten. Aus der Wasserprobe isoliert er einen Pilz mit dem Namen Cephalosporium acremonium und entdeckt, dass dieser antibio-tisch wirksame Stoffwechselprodukte bildet und ausscheidet, die gegen eine ganze Reihe von Krankheitserregern wirksam sind. Brotzu legt grössere Kulturen des Pilzes an und versucht, ausreichende Mengen dieser antibiotischen Abwehrstoffe zu gewinnen: Er will mit ihnen klinische Versuche durchführen und ihre Struktur aufklären. Der erste Teil dieses Vorhabens gelingt: Brotzu spritzt diese konzentrierten Stoffe Patienten mit verschiedenen Infektionen. Die Heilerfolge sind gut: Das erste Heilmittel einer Gruppe von Antibiotika, die später nach ihrem Erzeugerpilz mit dem Sammelbegriff «Cephalosporine» bezeichnet werden, ist entdeckt.

Beim zweiten Teil seines Vorhabens scheitert Brotzu. Er ist mit seinen beschränkten Möglichkeiten nicht in der Lage, den antibiotisch aktiven Stoff in genügend reiner Form zu isolieren, um strukturelle Studien unternehmen zu können. 1948 kommt er jedoch mit englischen Penicillin-Forschern aus Oxford in Kontakt, welche die Aufgabe der Produktion, der Isolierung und der Strukturaufklärung des antibiotischen Prinzips von Cepha-losporium acremonium mit Begeisterung in Angriff nehmen. Im Jahre 1954 isolieren zwei dieser Forscher (E. P. Abraham und G. G. F. Newton) aus dem Pilz zwei Komponenten: Das Penicillin N (mit dem chemischen Grundgerüst des Penicillins) und das Cephalosporin C. Dieses Cephalosporin C erweist sich als eine Substanz mit ausserordentlich interessanten Eigenschaften: Im Gegensatz zu Penicillin N ist Cephalosporin C säurebeständig und widerstandsfähig gegen das Enzym Penicillinase, einem von bestimmten Bakterien gebildeten Abwehrstoff, der Penicillin auf-spaltet und somit inaktiviert. Diese Penicillinase-Resistenz führt dazu, dass mehr und mehr Patienten mit Infektionskrankheiten auf die Behandlung mit Penicillin nicht mehr oder nur noch ungenügend ansprechen. Bestimmte Bakterien sind also gegen das klassische Antibiotikum resistent geworden. Röntgenstruktur-analysen ergeben, dass Cephalosporin C ein Grundgerüst besitzt,

Giuseppe Brotzu

Cephalosporium acremonium

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riostatische Wirkung) notwendig ist, am Infektionsherd nicht erreicht werden kann.

Neben der natürlichen und gut bekannten Resistenz spielt die erworbene Resistenz eine viel wichtigere Rolle. Die erworbene Resistenz basiert auf Chromosomen-Mutation oder auf Über-tragung von genetischem Material.

Die durch Mutation erworbene Resistenz kommt selten vor und gewinnt nur unter Selektionsdruck, das heisst bei sehr langer Anwendung des die Resistenz verursachenden Antibiotikums, an klinischer Bedeutung. Durch Antibiotika-Wechsel und/oder Antibiotika-Kombination lässt sich diese Resistenzentwicklung verhindern.

Die durch Übertragung erworbene Resistenz erklärt gute 90% der in der Klinik relevanten Antibiotika-Resistenzen. Verschiedene komplexe Mechanismen kommen für die Übertragung von gene-tischem Material in Frage, das die Resistenzeigenschaften enthält.

Cephalosporin-ForschungWie erwähnt, startete in den frühen sechziger Jahren die weltweite und zunehmend rasante Entwicklung neuer Cephalosporine. Die chemische Modifikation der verschiedenen Seitenketten der 7-Cephalosporansäure sollte Wirkung und Verträglichkeit optimieren. Der prognostizierte Markt war riesig und prägte die Motivation der involvierten Forschergruppen.

Bei Roche war der Ausgangspunkt für das Cephalosporin-Programm im Jahre 1969 die Erkenntnis, dass die Firma mit den Sulfonamiden und Bactrim zwar eine starke Stellung bei den Allgemeinpraktikern hatte, aber im Spitalmarkt kaum präsent war. So wurde in den chemischen und medizinischen Abteilungen beschlossen, ein Syntheseprogramm für semisyn-thetische Penicilline und später zusätzlich auch für Cephalospo-rine aufzubauen. Zu dem Zeitpunkt waren also bereits etliche Konkurrenzfirmen auf diesem Gebiet erfolgreich tätig und der Zugang für neue Firmen wurde durch die vorhandenen Patente, die zum Teil sehr breit abgefasst waren, erheblich erschwert. Auch waren die Forschungs gruppen bei Roche kleiner als bei der Konkurrenz.

Die Synthese und die Entwicklung von Rocephin basiert auf einem ungewöhnlich grossen Engagement und Teamwork von Chemikern, Pharmakologen, Mikrobiologen, Toxikologen, Gale-nikern, Pharmakokinetikern, Verfahrenstechnikern, Klinikern und Marketingspezialisten.

als gleichwertiger Begriff kommt heute vielmals die Bezeichnung Antiinfektiva zum Einsatz, da die erwähnte Übersetzung des Begriffs Antibiotika («gegen Leben») beim Laien falsche Asso-ziationen hervorrufen könnte.

Die verschiedenen Antibiotika unterscheiden sich in vielen Kriterien, wobei für Anwender und Patienten der Wirkungs-mechanismus und insbesondere das Wirkungsspektrum im Vordergrund stehen – und natürlich auch die möglichen Neben-wirkungen. Weitere Unterschiede betreffen Ursprung, chemische Zusammensetzung sowie die Art der Resistenzentwicklung.

Die Cephalosporine und die Penicilline bilden die «Antibio-tika-Familie» der Beta-Lactam-Antibiotika. Diese Substanzen haben den Beta-Lactam-Ring gemeinsam; bei den Cephalospo-rinen ist an diesen Beta-Lactam-Ring ein Dihydrothiazin-Ring (ergibt die 7-Amino-Cephalosporansäure) und bei den Peni-cillinen ein Thiazolidin-Ring angehängt (ergibt die 6-Amino-

Penicillansäure).Neben dieser Strukturverwandtschaft besit-

zen die Beta-Lactam-Antibiotika denselben Wir-kungsmechanismus: Die bakterizide Wirkung auf empfindliche Keime – das heisst diese Bak-terien werden abgetötet – kommt durch Hem-mung der Zellwandsynthese zustande. Wichtigs-ter Angriffspunkt ist das Murein-Gerüst, eine Eiweiss-Zucker-Verbindung (Peptidoglycan); das Murein sorgt für chemische Widerstands-kraft und Festigkeit der Bakterien. Sowohl

die Cephalosporine als auch die Penicilline verbinden sich mit Enzymen, die am Aufbau des Murein-Skeletts beteiligt sind. Die ungenügend synthetisierte Zellwand vermag das Bakterium nicht vor den Kräften des osmotischen Druckes zu schützen, es platzt und geht zugrunde. Die Beta-Lactam-Antibiotika können also nur Bakterien angreifen, die sich im Wachstumsstadium befinden, sich also vermehren; ruhende Bakterien werden nicht abgetötet.

AntibiotikaresistenzDie Resistenz der Bakterien gegen Antibiotika ist bis heute ein Problem von grösster Aktualität; es betrifft mittlerweile praktisch alle Substanzen und alle Erreger.

Für die klinische Anwendung bedeutet Resistenz, dass die minimale Konzentration des Antibiotikums, die zur Zerstörung (bakterizide Wirkung) oder zur Wachstumshemmung (bakte-

Beta-Lactam

Amino-Cephalosporansäure

Amino-Penicillansäure

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an ein möglichst breites antibakterielles Wirkungsspektrum gestellten Ansprüche nicht einmal annähernd. Der entscheidende Beitrag auf biologischer Seite bestand darin, dass – entgegen den Usanzen – in die antibakterielle Charakterisierung der Testsub-stanzen auch ein pharmakokinetisches Screening eingebaut wurde. Das war nicht «branchenüblich» und rational kaum zu begründen, zumal es in Fachkreisen als unwahrscheinlich galt, dass ein Penicillin oder ein Cephalosporin im Organismus eine lange Verweildauer habe könnte.

Das Vorgehen war stufenweise: Peter Angehrn identifizierte im In-vitro- und In-vivo-Screening unter mehreren hundert Testpräparaten einige Dutzend Substanzen, die aktivitätsmässig genügend interessant ausschauten, um sie pharmakokinetisch zu prüfen. Dies geschah dann bei Peter Probst an Ratte und Kanin-chen in relativ aufwändigen Untersuchungen. Natürlich war ein gutes pharmakokinetisches Verhalten keine Vorbedingung für die Entwicklung einer Substanz: Verschiedene Testsubstanzen wurden

In den ersten Jahren waren der Chemiker Roland Reiner, der Mik-robiologe Peter Angehrn und der Biologe Peter Probst zusammen mit ihren Mitarbeitern die wichtigsten treibenden Kräfte. Peter Angehrn erinnert sich in einem Brief, datiert vom 1. November 2010: «Es ist in der Regel das faszinierende Zusammenwirken von verschiedenen Faktoren und Personen zur richtigen Zeit am richtigen Ort, was zu erfolgreichen Entdeckungen führt. Ausserdem braucht es eine gehörige Portion Glück. So war es auch bei Rocephin.»

Als Roland Reiner 1969 auftragsgemäss begann, sich mit Cephalosporinen auseinanderzusetzen, stand er vor einem ele-mentaren Problem: Den chemischen Grundkörper, die erwähnte 7-Cephalosporansäure, gab es bei keinem einzigen Feinchemika-lien-Händler zu kaufen. So musste Reiner diese Grundsubstanz aus einem sich bereits im Handel befindenden Cephalosporin isolieren, indem er die Seitenkette des betreffenden Moleküls abspaltete. Die Sache hatte allerdings einen nicht unbeträcht-lichen Haken: Das Antibiotikum, das Reiner für seine Arbeit gleich hundertgrammweise benötigte und sich von der Apotheke beschaffen musste, war teuer. Jede Bestellung kostete Tausende von Franken. Reiner erinnerte sich:

Wie bereits erwähnt, bildete auch die komplizierte Patentlage grosse Schwierigkeiten. Praktisch jede Pharmafirma war auf dem Gebiet der Cephalosporine tätig: Es gab schon eine ganze Menge eingeführter Produkte, und die meisten der in Frage kommenden chemischen Verbindungen waren von den führenden Firmen mit Patenten geschützt worden.

Die ersten Verbindungen, die Roland Reiner zusammen mit seinem Cheflaboranten Urs Weiss synthetisierte, erfüllten die

«Ich musste jedes Mal zittern, bis ich wieder eine Bewilligung erhielt. Da die Aussichten höchst unge-wiss waren, kamen der Forschungsleitung mit der Zeit verständlicherweise Bedenken. Ich musste manchmal meine ganze Überredungskunst aufbieten. Die war glücklicherweise nicht gering, denn ich war überzeugt, eine gute Substanz finden zu können.»

v.l.n.r.: P. Probst, M. Fernex, U. Weiss, R. Reiner, P. Angehrn, A. Furlenmeier, R. P. Hug

Roland Reiner

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Vier Wochen später hatten sie es geschafft: Am 26. Januar 1978 sammelten sich am Boden eines Laborgefässes 3,5 Gramm eines beigen, grobkörnigen Pulvers: Rocephin war geboren!

Ro 13-9904 war die allererste Testsubstanz, die bei Roche innerhalb der Reihe der sogenannten Cephalosporine der dritten Generation synthetisiert wurde, nachdem Hoechst-Roussel den Reigen in dieser Substanzklasse mit Cefotaxim eröffnet und 1977 diese epochemachende Erfindung in einer Publikation offen gelegt hatte. Peter Angehrn und sein Team stellten eine ausgesprochen hohe und breite antibakterielle Aktivität von Ro 13-9904 fest; in den drei zusammen mit Peter Probst durchgeführten Tiermodel-len (Maus, Ratte, Kaninchen) zeigten sich unerwartet ausgeprägte Wirkungen gegen die verschiedenen experimentellen Infektionen, und zwar eindeutig stärker, als dies die Resistenzprüfungen auf den Nährböden erklären konnten. Also lag die Vermutung nahe, dass die seit Jahren gesuchte, lange Verweildauer im Organismus gefunden war. Verschiedene pharmakokinetische Untersuchun-gen – insbesondere am Kaninchen – bestätigten die ungewöhnlich lange Persistenz von Ro 13-9904. Mehrere Stunden nach der Injektion gewonnene Blutproben zeigten weiterhin ausgeprägte Bakterizidie (bakterientötende Eigenschaften) auf den Nährbö-den, und zwar mit grosser Wahrscheinlichkeit bedingt durch die unveränderte Substanz, wie dies verschiedene Testanordnungen vermuten liessen.

Bereits knapp fünf Monate nach Beginn ihrer Untersuchungen fassten Peter Angehrn und Peter Probst ihre Beobachtungen in einem internen Forschungsbericht, datiert vom 19. Juni 1978, zusammen:

aufgrund ihrer ausgezeichneten antibakteriellen Eigenschaften trotz uninteressantem pharmakokinetischen Profil weiterbearbei-tet. Aber letztlich zeigten diese im Vergleich zu Konkurrenzprä-paraten Schwächen und wurden wieder aufgegeben.

Während dieser Jahre – 1969 bis 1977 – gab es in der Firma Roche wiederholt intern und extern abgestützte Meinungen und Ratschläge, das ehrgeizige Vorhaben, nämlich ein neues innovatives Cephalosporin zu synthetisieren, abzubrechen. Ent-scheidend war, dass die Forschungsleitung den Forschungs- und Entwicklungsteams Vertrauen entgegenbrachte und diese auch in kritischen, das heisst nahezu frustrierenden Situationen zum Weitermachen motivierte; es herrschte ein erfreulich kreatives Arbeitsklima. Die teils vernichtenden Beurteilungen von inter-nen und externen Expertengremien wurden nicht übergewichtet, denn sowohl die Forscher als auch ihre Vorgesetzten glaubten an ihre Chance.

Zwischen 1969 und 1977 wurden bei Roche über 400 Cephalo-sporin-Derivate synthetisiert und auch weiter untersucht, natür-lich nicht alle im selben Ausmass. Keine Verbindung wies jedoch überzeugende Qualitäten auf allen drei anvisierten Eigenschaften auf – nämlich ein breites antibakterielles Spektrum, Resistenz gegen die damals bekannten Beta-Lactamasen (von gewissen Bak-terien produzierte Enzyme, die die Ringstruktur der Beta-Lactam-Antibiotka aufspalten) sowie eine möglichst lange Verweildauer im Patienten.

Rocephin wird entdecktIn den letzten Tagen des Jahres 1977 fanden Roland Reiner und Urs Weiss einen noch verunreinigten Wirkstoff, der im August 1980 von der Weltgesundheitsorganisation den Namen Ceft-riaxon erhielt. Er bekam die interne Bezeichnung Ro 13-9904. Roland Reiner erinnert sich:

«Um das Produkt in der notwendigen Reinheit zu erhalten, mussten wir es unbedingt in kristalliner Form herstellen. Nun kristallisieren aber Cephalosporine äusserst ungern. Mein Cheflaborant und ich schlugen uns tagelang mit die-sem Problem herum.»

«Die Ergebnisse zeigen, dass sich Ro 13-9904 in vitro und in vivo durch eine hervorragende Wirksamkeit auszeichnet. Es übertrifft die übrigen Substanzen bei der Mehrzahl der geprüften Bakterienstämme deutlich an Aktivität, wobei die gute Wirkung gegen die gefürchteten, besonders wi-derstandsfähigen Stämme von Pseudomonas aeruginosa besonders ins Gewicht fällt. Im Plasma des Kaninchens er-reicht Ro 13-9904 nach intramuskulärer Injektion eine hohe und lang andauernde antibakterielle Aktivität… Gestützt

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Rocephin wird eingeführt

Im Juli 1978 gab die Forschungsleitung grünes Licht für die Wei-terentwicklung von Ro 13-9904. In den Laboratorien der Chemi-ker Andreas Furlenmeier und Rudolf Hug wurde in kürzester Zeit und unter Mobilisierung aller Kräfte eine Synthese in Kilomengen des neuen Cephalosporins ausgearbeitet und umgesetzt.

Die Toxikologie am Tier führte man an Ratte und Hund durch. Die Befunde am Hund waren beunruhigend: Der Toxi-kologe Karl Schärer stellte fest, dass die Verabreichung von Ro 13-9904 zur Bildung von zentimetergrossen Gallensteinen führte. Der Substanz schien kein Erfolg beschieden zu sein. Dies war vielleicht der kritischste Punkt während der Entwicklungsphase. Niemand hätte Schärer einen Vorwurf machen können, wenn er zu diesem Zeitpunkt das toxikologische Risiko als zu gross für Untersuchungen am Menschen eingestuft hätte. Doch er

auf die vorliegenden günstigen Befunde schlagen wir vor, die Vorbereitungen für die orientierende klinische Prüfung von Ro 13-9904 einzuleiten, und diese im Hinblick auf die rasche Entwicklung im Cephalosporin-Sektor zügig voran-zutreiben.»

Peter Angehrn und Peter Probst fassten ihre Beobachtungen in einem internen Forschungs-bericht zusammen

Karl Schärer

Andreas Furlenmeier

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Ro 13-9904 konnte schon am 27. Mai 1982 in der Schweiz unter dem Markennamen Rocephin eingeführt werden

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und alle anderen involvierten Forscher wollten weitermachen. Karl Schärer führte mit einem ausgeklügelten Dosierungsschema eine zusätzliche Prüfung am Affen durch. Er wollte beweisen, dass das Gallenstein-Problem in erster Linie spezifisch beim Hund auftritt, was ihm auch gelang. Allerdings wurden auch am Menschen später Ausfällungen mit Rocephin beobachtet, jedoch erwiesen sich diese glücklicherweise in den allermeisten Fällen als harmlos.

Da im Verlauf der Vorbereitung auf die klinische Prüfung keinerlei weitere toxikologische oder sonstige Hindernisse auf-traten und auch die Substanzherstellung im Kilomassstab gut voran kam, wurden im Mai 1979 die ersten Untersuchungen am Menschen eingeleitet. Anfänglich war es durchaus unsicher, ob und wie sich die günstige Pharmakokinetik am Tier auf den Menschen übertragen liess. Die gefundene Plasma-Halbwertszeit von 6 bis 8 Stunden und der Ausscheidungsmodus via Leber und Nieren waren optimal, und erstere ermöglichte es, dass Roce-

phin im Unterschied zu allen anderen Beta-Lactam-Antibiotika dem Patienten nur einmal pro Tag intravenös appliziert werden musste.

Die Leitung der klinischen Prüfung lag in den erfahrenen Händen von Michel Fernex, der vom Potential von Ro 13-9904 von Anfang an überzeugt gewesen war. Zusammen mit seinem Assistenten, Ladislaus Havas, brachte er das Präparat mit unglaub-licher Dynamik in einer Rekordzeit von nur drei Jahren durch die klinische Entwicklung. So konnte Ro 13-9904 schon am 27. Mai 1982 in der Schweiz unter dem Markennamen Rocephin eingeführt werden. Sein Werdegang von der erstmaligen Synthese im Labor bis zur Marktreife hatte also nicht einmal fünf Jahre gedauert.

Der Grossteil der Ärzteschaft bekundete Skepsis gegenüber den neuen Cephalosporinen. So schrieb der Autor dieses Kapitels (Urs B. Schaad) im Jahre 1983 in einer Fortbildungsreihe für Kinderärztinnen und Kinderärzte:

Auch die Marketing-Abteilung von Roche stand der Einfüh-rung von Rocephin eher negativ gegenüber. Da war einmal die

«Die Diskussion der Stellung der Cephalosporine in der Kinderheilkunde stellt eine schwierige und heikle Aufgabe dar. Die grosse Anzahl der zurzeit erhältlichen Cepha-losporin-Antibiotika, die unzähligen wissenschaftlichen Publikationen, die persönlichen Erfahrungen und die Flut von Werbeargumenten erschweren die fundierte, objektive und emotionslose Beurteilung dieser Medikamente für den pädiatrischen Alltag in Praxis und Klinik.» Und weiter: «Die Resultate zweier kürzlich (1981) in der Schweiz durchge-führten Umfragen ergaben, dass die Indikationen zur Ce-phalosporin-Anwendung von der Mehrzahl der befragten Ärzte mit Zurückhaltung gestellt werden. Rund drei Viertel betrachten die Cephalosporine als Reserve-Antibiotika, wel-che weitgehend der Klinik vorbehalten sein sollten.»

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schwierige Patentlage, die bedingte, dass Roche anderen Firmen weiterhin beträchtliche Royalties zu bezahlen hatte. Auch galt die technische Synthese im grossen Massstab immer noch als teuer. Zudem schien dem Marketing die «Einmal-pro-Tag-Verabrei-chung» kein grosser Vorteil zu sein. Diese Vorbehalte führten dazu, dass bei einem erreichbaren Marktanteil von 2 – 4% drei Jahre nach der Einführung lediglich ein Umsatz von 40 bis 60 Millionen Franken prognostiziert wurde. Die Entscheidungsgre-mien von Roche teilten diese Ansichten des Marketings nicht, sondern folgten den Argumenten der Rocephin-Teams.

Grosse Verdienste am Erfolg von Rocephin kommen auch dem Pharmakokinetiker Klaus Stoeckel und den amerikanischen Kollegen in Nutley zu. Stoeckel lieferte in Publikationen und vielen Vorträgen fachlich kompetent und sehr einprägsam die wissenschaftliche Basis für das einzigartige pharmakokinetische Verhalten von Rocephin und vermochte so, die Vorbehalte der Ärzteschaft abzubauen. Zusammen mit Klaus Stoeckel bestimmte und publizierte ich die pharmakokinetischen Resultate von Rocephin bei Säuglingen und Neugeborenen. Die günstigen pharmakokinetischen Eigenschaften von Rocephin – vor allem eine unüblich lange Eliminations-Halbwertszeit von sechs bis sieben Stunden – wurden auch in diesen Altersgruppen bestätigt.

Die Roche-Mitarbeiter in Nutley unter der Leitung von Roy Cleeland leisteten grosse Arbeit bei der Vorbereitung der nordamerikanischen Infektiologen auf die später so erfolg-reiche Einführung von Rocephin. Ich prüfte während meines Forschungsaufenthaltes in Dallas (USA) als Erster Rocephin im Kaninchen-Meningitis-Modell und konnte eine ausgezeich-nete Wirksamkeit sowohl gegen Escherichia coli als auch gegen B-Streptokokken nachweisen.

Die Resultate der in vielen Ländern durchgeführten klini-schen Studien bestätigten, dass sich Rocephin hervorragend als Medikament gegen zahlreiche bakteriell bedingte Infektions-krankheiten eignet. Die wichtigsten der geprüften Indikationen waren Sepsis (Blutvergiftung) und Meningitis (Hirnhautent-zündung), Infektionen des Skeletts und der Weichteile inklusive Wundinfektionen sowie Infektionen der Luftwege, der Nieren und der Harnwege inklusive Geschlechtskrankheiten. Eine wesentliche Indikation war auch die perioperative Prophylaxe.

Roy Cleeland

Klaus Stoeckel

Innerhalb weniger Jahre avancierte das innovative, hoch potente und nur einmal täglich zu verabreichende Rocephin weltweit zur Nummer 1 unter den injizierbaren Antibiotika. Dieses einmalige Medikament brachte Roche ein grosses und nachhaltiges Renommee und sorgte zudem bis zum Ablauf der Patente für Umsätze in Milliardenhöhe.

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Struktur von Rocephin

Rocephin ist, wie bereits dargestellt, ein semisynthetisches Cephalosporin, das im Rahmen des Cephalosporin-Programms

bei Roche entdeckt wurde: In den Jahren 1969 bis 1978 wurde nach einem innovativen Prä-parat gesucht, das ein breites Wirkungsspek-trum, Resistenz gegen die damals bekannten Beta-Lactamasen (von gewissen Bakterien produzierte Stoffe, die die Ringstruktur der Beta-Lactam-Antibiotika aufspalten) und eine lange Eliminations-Halbwertszeit im Patienten aufweisen sollte.

Die an der 7-Amino-Cephaloransäure hän-gende Seitenkette am rechten Teil der Struktur unterscheidet sich grundsätzlich von jener

anderer Cephalosporine und ist für die meisten der ausserge-wöhnlichen antibakteriellen und pharmakokinetischen Eigen-schaften von Rocephin verantwortlich (Rocephin – C18 H16 N8 Na2 O7S3).

Antibakterielle WirksamkeitDie antibakteriellen Eigenschaften von Rocephin beinhalten ein breites Spektrum und eine gute Beta-Lactamase-Stabilität.

Das eindrückliche gramnegative Sprektrum umfasst ins-besondere die Enterobakterien (Escherichia coli, Klebsiella sp., Enterobacter sp., Serratia sp., Bartonella sp., Citrobacter sp., Pro-teus, Salmonella, Shigella, partiell auch Pseudomonas aeruginosa und Acinetobacter sp.), die verschiedenen Haemophilus-Keime (Beta-Lactamase-negative und – positive Stämme), sowie die Neisseria-Keime (Neisseria meningitidis und Neisseria gonorrhoea).

Von den grampositiven Krankheitserregern sind vor allem Streptococcus pneumoniae, Streptococcus pyogenes und Streptococ-cus agalactiae sowie – etwas weniger ausgeprägt – Staphylococcus aureus gegen Rocephin empfindlich.

Die Wirksamkeit von Rocephin ist gegen Anaerobier limi-tiert und gegen Mycoplasmen, Ureaplasmen und Mycobakterien inexistent. Die Stabilität von Rocephin gegen Beta-Lactamasen umfasste zum Zeitpunkt der Einführung die meisten dieser

Besondere Aspekte von Rocephin damals bekannten Enzyme, die Cephalosporine zu inaktivieren vermögen.

Diese breite und potente antibakterielle Wirksamkeit bein-haltet für die klinische Anwendung von Rocephin die beiden folgenden wichtigen Vorteile:

1 Rocephin eignet sich zur Behandlung schwerster invasiver Infektionskrankheiten wie zum Beispiel Meningitis (Hirnhautent-zündung) und Sepsis (Blutvergiftung), oder akuter Infektionen im Bereich praktisch aller Organsysteme.

«Few diseases have been affected more by the advent of antimicrobial therapy than bacterial meningitis.»Quagliarello VJ, Scheld WM, N Engl. J Med 1997 336:708

Septisches Neugeborenes Septisches Kleinkind

Septischer Schock mit Multiorgan-versagen

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Rocephin

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Dank der antibiotischen Behandlung verbesserte sich die Prognose der gefürchteten eitrigen Hirnhautentzündung entscheidend. Die eitrige Meningitis wurde zur wichtigsten Indikation für den Einsatz von Rocephin, und dies weltweit und seit drei Jahrzehnten.

Die wichtigsten bakteriellen Meningitis-Erreger im Kindes- und Erwachsenenalter sind Meningokokken, Pneumokokken und Haemophilus influenzae; H. influenzae Typ b ist dank der im Säuglingsalter eingesetzten aktiven Schutzimpfung praktisch verschwunden, noch nicht aber in vielen Entwicklungsländern, die sich diese Impfung nicht leisten können. Trotz aller Fortschritte – insbesondere der verbesserten Frühdiagnostik, der spezialisierten Intensivbetreuung und der wirksamen Antibiotika – bleibt die Prognose der eitrigen Meningitis ernst: Je nach Patientenalter, Art des Erregers und Beginn sowie Qualität der Betreuung und Behandlung beträgt die Sterblichkeit 3 bis 30% und die Defekt-heilung (Residuen) 10 bis 50%.

Gram-negative Diplokokken im Liquor-Ausstrich (Meningokokken)

Gram-positive Diplokokken im Liquor-Ausstrich (Pneumokokken)

Gram-negative pleomorphe Bakterien im Liquor-Ausstrich (Haemophilus influenzae)

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2 Auch für den sogenannten «blinden» Therapiebeginn – das heisst bei noch unbekanntem Erreger beziehungsweise auch bei Verdacht auf eine schwere invasive Infektion – besitzt Rocephin die notwendigen antibakteriellen Eigenschaften.

Bereits wenige Jahre nach der Einführung von Rocephin wur-den sogenannte Extended-Spektrum Beta-Lactamasen (ESBL) gefunden, also von verschiedenen Enterobacteriaceae (insbe-sondere Klebsiella sp. und Serratia sp.) produzierte Enzyme, die alle damals bekannten Beta-Lactam-Antibiotika zu inaktivieren vermochten. Nach Einzelberichten folgten rasch auch Spital-ausbrüche, zunächst in Frankreich und in den USA, später auch in vielen anderen Ländern. Auch der ab ca. 1985 eingeführten neuen Klasse der Beta-Lactam-Antibiotika, den Carbapenemen, erging es nicht besser: Einige Darmbakterien konnten genetisches Material aufnehmen und weitergeben, das die Produktion von Carbapenemasen (also Beta-Lactamasen, die Carbapaneme zu hydrolisieren vermögen) ermöglicht. Diese Resistenzentwicklun-gen führten zudem zum Auftreten von sogenannten Extensively Drug-Resistant (XDR) Bakterien, die zum ersten Mal im Jahre 2008 in Indien (New Dehli) entdeckt wurden, und die auch gegen praktisch alle anderen Antibiotika-Klassen unempfindlich sind.

Leider wurden solche multiresistente Enterobakterien in viele andere Länder mit entsprechenden klinischen Konsequenzen ein-geschleppt, glücklicherweise in der Regel als isolierte Fälle bezie-hungsweise lediglich als Kleinstausbrüche. Diese ausserordentlich beunruhigenden und bedrohlichen, weltweiten Resistenzentwick-lungen führten zu einer länderübergreifenden, epidemiologischen

Schwere Retardation and Hydroecephalus nach Neugeborenen-Meningitis

Ausgeprägte spastische Cerebralparese nach Pneumokokken-Meningitis

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Erfassung und zu harmonisierten Empfehlungen hinsichtlich deren Diagnostik, Prävention und Betreuung.

PharmakokinetikDie hohe Affinität von Rocephin (Ceftriaxon) zu Serumalbumin erklärt seine besondere Verteilungs– und Eliminationskinetik. Diese Eiweissbindung ist im Vergleich zu den anderen Cepha-losporinen einerseits ausgeprägter und andererseits konzentra-tionsabhängig.

Die ausserordentlich lange Eliminations-Halbwertszeit beruht auf fehlender tubulärer Sekretion und relativ geringer glome-rulärer Filtration, wobei insbesondere letztere durch die hohe Serumalbumin-Bindung begründet ist. Die quantitativ bedeu-tende biliäre Elimination (ca. zu einem Drittel) von Rocephin bewirkt, dass dessen Eliminationsgeschwindigkeit weniger von

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Cefmenoxim (Plasma) Cefoperazon (Serum) Cefotaxim (Serum) Cefsulodin (Plasma) Ceftazidim (Serum) Ceftizoxim (Serum) Ceftriaxon (Plasma) Latamoxef (Serum)

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 Stunden

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Konzentration

der Nierenfunktion abhängig ist, und somit Dosierungsanpas-sungen nur bei schwerer Niereninsuffizienz notwendig sind. Auch für die von Rocephin in Körperflüssigkeiten und Geweben erreichten hohen und lange persistierenden Konzentrationen spielt die hohe und konzentrationsabhängige Eiweissbindung eine wichtige Rolle.

Die Tatsache, dass der ungebundene (freie) Anteil von Rocephin antibakteriell wirksam ist, impliziert «hohe» Verab-reichungsdosen, was bei der grossen therapeutischen Breite einen Vorteil bedeutet.

Rocephin wird nicht metabolisiert, so dass kinetische Arz-neimittel-Wechselwirkungen im Sinne von kompetitiver Eli-minationshemmung oder Enzyminduktion nicht zu befürchten sind. Auch eine kompetitive Hemmung der tubulären Sekretion kommt nicht vor, im Gegensatz zu vielen anderen Beta-Lactam-Antibiotika. Die hochgradige Affinität von Rocephin zu Serum-albumin birgt das Potential der gegenseitigen Verdrängung von

Cephalosporin Ausschei- «Recovery» im Urin «Recovery» Metabolit(en) dungsweg in der Galle

1. Generation Cefazoin Renal 70-≈100% in 24 Std. – – Cefalotin Renal 60–70% in 6 Std. – Desacetylcefalotin (35%) Cefapirin Renal 70% in 6 Std. – Desacetylcefapirin

2. Generation Cefamandol Renal 65–85% in 8 Std. – – Cefonicid Renal 99% in 24 Std. – – Cefonicid Renal 79% in 12 Std. – – Ceforanid Renal 60–64% in 24 Std. – – Cefoxitin Renal 85% in 6 Std. – – Cefuroxim Renal 89% in 8 Std. – –

3. Generation Cefmenoxim Renal 81–88% in 24 Std. – – Cefoperazon Renal, biliär 20–30% in 24 Std. 70–80% <1% metabolisiert Cefotaxim Renal ≈60% in 6 Std. – Desacetylcefotaxim (15–25%) UP1 und UP2 (20–25%) Cefsulodin Renal 50–60% in 24 Std. – – Ceftazidim Renal 92% ind 24 Std. – – Ceftizoxim Renal ≈100% in 24 Std. – – Ceftriaxon Renal, biliär 33–67% 33–67% Nach biliärer Exkretion durch

Darmflora inaktivierter Metabolit Latamoxef Renal 60–90% in 24 Std. – –

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ebenfalls stark eiweissgebundenen Stoffwechselprodukten oder Medikamenten, was in sehr seltenen Situationen zu berücksichti-gen ist (zum Beispiel die Verdrängung von Bilirubin bei Ikterus, besonders im Neugeborenenalter).

Aus diesen aussergewöhnlichen pharmakokinetischen Aspek-ten resultieren die folgenden, weiteren vier wichtigen Vorteile.

3 Dank der langen Eliminations-Halbwertszeit kann Roce-phin einmal täglich dosiert werden und erlaubt dadurch, dass die parenterale antibiotische Therapie frühzeitig oder gar von Anfang an ambulant durchgeführt werden kann, was sich sowohl für den Patienten und sein Umfeld als auch auf die entstehenden Kosten günstig auswirkt. Die intramuskuläre Verabreichung ist eine wertvolle Variante, nicht nur in der ambulanten Patien-ten-Betreuung, sondern auch für hospitalisierte Patienten, bei denen der intravenöse Zugang schwierig ist, zum Beispiel bei Kleinkindern, adipösen Patienten und Senioren. Die pharmako-kinetischen Eigenschaften sind nach der intramuskulären Gabe durchaus mit der Verteilungs- und Eliminationskinetik nach intravenöser Gabe vergleichbar und die lokale Verträglichkeit ist gut. Aufgrund der raschen und vollständigen systemischen Verfügbarkeit von Rocephin sind Konzentrationen im Plasma zwei Stunden nach intramuskulärer Gabe gleich hoch wie nach intravenöser Verabreichung.

4 Die lange Verweildauer hoher Konzentrationen am Ort des Infektes erklärt das sehr gute klinische Ansprechen auch von Infektionskrankheiten auf den Wirkstoff, bedingt durch in vitro nur mässig empfindliche Bakterien.

5 Dank fehlender Metabolisierung von Rocephin im Orga-nismus bleibt die gesamte verabreichte Dosis bis zur Ausscheidung antibakteriell aktiv.

6 Die über Nieren (Urin) und Leber (Galle) stattfindende Ausscheidung von Rocephin – wobei ein Organ den Ausfall des anderen übernehmen kann – bedeutet, dass die Dosierung ledig-lich bei massiv eingeschränkter Nieren- und/oder Leberfunktion anzupassen ist.

Toxizität und Nebenwirkungen

Rocephin wurde ausgedehnten toxischen Prüfungen an Nagern, Kaninchen, Hunden und Affen unterzogen. Die Substanz erwies sich bezüglich akuter und subakuter Toxizität, Fötotoxizität, Mutagenizität und lokaler Toleranz als sicher.

Rocephin ist intravenös sehr gut verträglich und nur sehr selten klagen die Patienten über einen temporären Schmerz kurz nach der Injektion. Für die intramuskuläre Applikation bewährt sich die Auflösung in einer 1%igen Lidocain-Lösung. Somit darf die lokale Verträglichkeit als problemlos bezeichnet werden.

Die systemische Verträglichkeit entspricht den guten Resul-taten mit andern Beta-Lactam-Antibiotika; hinzu kommen die bereits aufgeführten Vorteile der praktisch fehlenden Wirkung auf die Nierenfunktion und die extrem seltenen Interaktionen mit anderen Arzneimitteln sowie auch mit Alkohol. Schwere Nebenwirkungen sind ausserordentlich selten und beinhalten neben Anaphylaxie potentielle Konkrementbildung in Gallenblase oder Nieren (Calcium-Salze), Hämolyse (arzneimittelinduzierte, immunologisch vermittelte Zerstörung der roten Blutkörperchen) sowie Verdrängung von Bilirubin von der Albuminbindung, mit potentieller Relevanz bei Ikterus (Gelbsucht), besonders im Neu-geborenenalter.

Tabelle 1

Die sieben wichtigsten Vorteile von Rocephin

1 Behandlung von schwersten invasiven Infektionskrankheiten(z.B. Hirnhautentzündung, Blutvergiftung)

2 Geeignet für «blinden» Therapiebeginn

3 Dosierung 1x täglich, intravenös oder intramuskulär, erlaubt frühzeitige ambulante Behandlung bzw. ambulante parenterale Antibiotika-Therapie von Anfang an

4 Gutes Ansprechen auch von Infektionen bedingt durch in vitro nur mässig empfindliche Bakterien

5 Gesamte Dosis bleibt im Organismus antibakteriell aktiv

6 Gemischte Ausscheidung über Nieren (Urin) und Leber (Galle)

7 Weitgehend fehlende Toxizität und gute Verträglichkeit

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7 Fehlende Toxizität und die sehr guten lokalen und syste-mischen Verträglichkeiten bilden einen weiteren wichtigen Vorteil von Rocephin.

Die in Tabelle 1 aufgeführten, insgesamt sieben wichtigen Vorteile von Rocephin implizieren einen nachhaltigen Nutzen in Bezug auf Klinik und Ökonomie.

Klinische AnwendungDie beiden antibakteriell begründeten Vorteile – Eignung zur Behandlung schwerster Infektionskrankheiten und Einsatz als blinder Behandlungsbeginn –, zusammen mit den pharmakokine-tisch erklärten Eigenschaften der hohen klinischen Wirksamkeit auch gegen in vitro nur mässig empfindliche Bakterien sowie fehlende Metabolisierung und die hohe Sicherheit, erklären das unvergleichlich breite Indikationsspektrum von Rocephin.

Die wichtigsten Indikationen für Rocephin sind die schweren, auch als invasiv bezeichneten Infektionskrankheiten, die in der Mehrzahl der Fälle über den Blutweg (hämatogen) entstehen, das heisst die Bakterien erreichen die Infektionsherde mit dem Blut. Dazu gehören neben der eigentlichen Sepsis (Blutvergiftung) die meisten Formen der Hirnhautentzündung (Meningitis) sowie ein Teil der Infektionen der Lungen, des Skeletts, des Abdomens und anderer Organe. Auch zahlreiche nichthämatogen bedingte bakterielle Infektionen im Bereich des Abdomens, der Nieren und Harnwege, des Skeletts, der Weichteile und der Haut sowie

Infiltrat (bakterielle Pneumonie) rechter Unterlappen

Periphere Facialisparese bei Lyme Borreliose

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der unteren und oberen Luftwege inklusive Hals-Nasen-Ohren-Bereich (HNO) können mit Rocephin geheilt werden. Spezielle Erwähnung verdienen die perioperative Infektionsprophylaxe und Behandlung, Infektionen bei eingeschränkter Immunabwehr, sowie die Neuroborreliose (Lyme Krankheit) und ausgewählte Formen der Mittelohrenentzündung.

Dieses ausserordentlich breite und kaum je von einem ande-ren Antibiotikum nur annähernd erreichte Anwendungsspektrum beruht also auf breiter therapeutischer Wirksamkeit und grosser Sicherheit. Für Patienten, Ärztinnen und Ärzte sowie Pflege-fachpersonen bedeutet dies einen nachhaltigen medizinischen Nutzen, der bis heute andauert.

Ökonomische AspekteFür die Einsparungen – in der Klinik (an Pflege und Überwa-chung, an notwendigem Material und an Pflegeaufwand), im Labor (Kontrollbestimmungen vor allem der Nieren- und Leberfunktionen) sowie für weniger Spitaltage und geringere Medikamentenkosten – sind hauptsächlich die drei vorgängig genannten Vorteile (1) einmal tägliche Dosierung, (5) fehlende Metabolisierung und (6) gemischte Ausscheidung durch Niere (Urin) und Leber (Galle) verantwortlich. Dieser nachhaltige ökonomische Nutzen von Rocephin auf die Gesundheitskosten wird nachfolgend anhand einiger kurz nach der Einführung von Rocephin publizierten Beispiele detaillierter dargestellt.

In den Jahren 1979 bis 1981 wurden am Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV) 132 schwere, häufig bakteriämi-sche, durch gramnegative Darmbakterien verursachte Infektionen bei 127 erwachsenen Patienten mit Rocephin behandelt; davon waren 80 Infektionen vorgängig mit anderen Antibiotika ohne Erfolg therapiert worden. Bei 65 Episoden wurde Rocephin 2x täglich und bei 67 Episoden 1x täglich verabreicht; die hohe Heilungsrate von insgesamt 86% und die sehr gute Verträg-lichkeit waren in beiden Gruppen gleich. Eine detaillierte und umfassende Kostenberechnung zeigte beachtliche Einsparungen mit Rocephin. Im Vergleich zur 4x täglich zu verabreichenden Standard-Antibiotika-Therapie ergab die 1x täglich verabreichte Rocephin-Therapie hinsichtlich Pflegeaufwand und Material (Nadel, Spritze, sterile Flüssigkeiten zur Auflösung und intra-venösen Verabreichung der Antibiotika) eingesparte Kosten von 31,38 Franken pro Tag. Somit wurden bei jedem Patienten mit der damals üblichen Hospitalisationsdauer von 21 Tagen

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658,98 Franken eingespart. Die eigentlichen Medikamenten-kosten für Rocephin waren mit denen der damals verwendeten Standard-Antibiotika vergleichbar. 25 dieser Patienten konnten ambulant betreut werden; damals wurden der Personaleinsatz und das Verbrauchsmaterial für die einmalige Rocephin-Gabe zu Hause mit 40 Franken berechnet. Im Jahre 1981 betrugen am CHUV die Durchschnittskosten pro stationärem Patiententag 460 Franken, so dass die ambulante Behandlung für jeden Patienten eine tägliche Einsparung von 420 Franken bedeutete. Heute liegen diese Kosten in der Schweiz um 3 bis 4 Mal höher und entspre-chend natürlich auch die Einsparung.

Im Jahre 1986 wurden aus Newark (Saint Michael’s Medical Center, Newark, NJ, USA) die Resultate von 38 mit Rocephin behandelten Patienten mit schweren systemischen Infektionen (davon 20x Osteomyelitis und 4x Cellulitis) vorgestellt, wobei das klinische Ansprechen, die bakteriologische Eradikation, die Ausheilung und die Verträglichkeit sehr gut waren. Die wich-tigste und relevanteste Kosteneinsparung war die Verkürzung der Hospitalisationsdauer um 60%. Schon damals wurden an diesem Krankenhaus die Kosten der meisten Patienten gemäss DRG (Diagnosis-Related Groups, Medicare) abgerechnet.

Ebenfalls im Jahre 1986 fasste Russel Steele (Arkansas) die relevanten Vorteile der Rocephin-Therapie bei pädiatrischen Pati-enten hinsichtlich klinischer Anwendung und Kosteneinsparung zusammen. Für die Klinik stellte er die hohe und breite antibak-terielle Aktivität, die Resistenz gegenüber den Beta-Lactamasen, die gute Penetration in den Liquor cerebrospinalis sowie die weitgehend fehlende Toxizität in den Vordergrund. In Bezug auf die ökonomischen Vorteile diskutierte Steele im Detail die Einsparungen bei den Medikamenten-Kosten (insgesamt notwen-dige Menge), bei der Verabreichung (Material, Pflegeaufwand) und beim Monitoring (Bestimmung von Medikamentenspiegeln). Relevante ökonomische Vorteile wurden sowohl für die stationäre als auch für die ambulante Behandlung berechnet.

In den Jahren 1984/1985 wurde am Saint Vincent Medical Center in Toledo (Ohio, USA) die Machbarkeit eines frühen Wechsels von stationärer zu ambulanter Betreuung bei 98 erwach-senen Patienten mit schweren bakteriellen Infektionskrankheiten (24x Skelett, 22x Haut/Weichteile, 17x Abdomen, 16x Lunge, 12x Gefässe, 4x Nieren, 1x Meningitis, 1x Endometritis) untersucht. Das klinische und bakteriologische Ansprechen auf die intrave-nöse Gabe von zwei Gramm Rocephin einmal täglich war bei insgesamt 96% sehr gut (82 Patienten geheilt, 13 Patienten gebes-

sert). Die Verträglichkeit erwies sich als gut, bloss 13 Patienten litten unter Nebenwirkungen (8x Durchfall, 4x Hautausschlag, 1x Bauchkrämpfe). Gemäss den klar definierten Kriterien im Sinne einer genügenden Besserung erfolgte der individuelle Wechsel von stationärer zu ambulanter Betreuung. Bei einer durchschnitt-lichen Behandlungsdauer von 20 Tagen ergaben sich für die 98 Patienten insgesamt 1956 Therapietage, davon 924 (47,2%) nach der Spitalentlassung. Daraus ergab sich eine Einsparung von nahezu einer halben Million US-Dollar.

Das breite und ausgeprägte antibakterielle Spektrum, die einmaligen aussergewöhnlichen pharmakokinetischen Eigenschaften und das vorteilhafte Nebenwirkungsprofil erklären die beachtlichen Vorteile von Rocephin mit einem nachhaltigen Nutzen in Bezug auf Klinik und Ökonomie. Rocephin erlaubt eine Vereinfachung der erfolgreichen Be-handlung von Infektionskrankheiten sowie eine Entlastung der Gesundheitskosten, Vorteile, die sowohl den Industrie-nationen als auch den Entwicklungsländern zugute kom-men, und dies auch noch nach Ablauf der Patentfrist.

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Ablauf der Patente

In den Jahren 1997 bis 2005 sah sich das Unternehmen mit dem weltweiten Ablauf der Patentrechte von Rocephin konfrontiert. Als das weltweit am häufigsten eingesetzte injizierbare Antibio-tikum war Rocephin für Roche zum umsatzstärksten Produkt geworden. Die Herstellung von Ceftriaxon als Generikum war somit ein ausserordentlich attraktives Unterfangen und die ent-sprechenden Angebote schossen dann auch wie Pilze aus dem Boden. Bereits Ende 1999 wurden 2012 verschiedene Ceftriaxon-Generika gezählt, hergestellt in 38 verschiedenen Ländern, am häufigsten in Asien, gefolgt von Süd-/Mittelamerika und Ost-europa.

Der Ablaufprozess der Patente hatte 1997/1998 in Südamerika und Asien begonnen, erreichte dann 1999/2000 Europa und fand seinen Abschluss 2005/2006 in Nordamerika (USA, Kanada).

Eine spezielle Expertengruppe (Post-Patent-Strategy Task Force) bei Roche analysierte die Situation und entwickelte Strate-gien, um den Anteil im Ceftriaxon-Weltmarkt möglichst hoch zu behalten. Mit dem Auftauchen der Generika war für das attraktive Antibiotikum Ceftriaxon eine durch tiefere Preise und fehlende ärztliche Beratung – im Sinne einer Indikationsbeschränkung – bedingte Marktausweitung zu erwarten. Die Post-Patent-Strategy Task Force behandelte die Themen Verkaufszahlen, Preise, Herstellung und Vertrieb, sowie auch die für Originalpräparate üblichen, jedoch für Generika fehlenden Kosten in Bezug auf Forschung und wissenschaftliche Information.

Die weltweite Expansion des Marktes nach Ablauf der Patent-rechte wurde auf etwa 300 Tonnen Ceftriaxon für das Jahr 2010 geschätzt, was im Vergleich zum Jahre 1997 (150 Tonnen) eine Verdoppelung bedeutete: Als wichtigste treibende Kräfte wurden die bereits erwähnten Aspekte Preiszerfall (geschätzter Rückgang 60 bis 70%) und Indikationserweiterung (fehlende ärztliche Beratung) erkannt. Hinzu kam noch der Druck, den die für die Gesundheitskosten Verantwortlichen im Hinblick auf die vermehrte Anwendung dieses einmaligen und nun billigen Medikamentes ausübten. Als mögliche «kontrollierende» Aspekte dieser Markt-Expansion wurden restriktive Empfehlungen von Fachgremien genannt. Auch eine durch engagierte Promotion von neu registrierten Antibiotika bedingte Verlagerung von

Bedeutung von Rocephin heute Rocephin zu diesen neu entwickelten Medikamenten wurde in Betracht gezogen.

In Bezug auf Herstellung und Vertrieb der Ceftriaxon-Generika musste die Task Force grosse Unklarheiten hinsicht-lich der Zuständigkeiten für die Produktion des Rohmaterials beziehungsweise für die Konfektionierung und Auslieferung der injizierbaren Ampullen feststellen. Zudem wurde klar, dass sich diese unzähligen Lieferanten weder an Preislisten noch an Rabattvorgaben hielten: Die Spitäler wurden als Hauptabnehmer mit allen denkbaren Marketing-Tricks angegangen.

Auf Empfehlung der Post-Patent Strategy Task Force ent-wickelte Roche einen standardisierten Analyse-Prozess zur objektiven Überprüfung der Ceftriaxon-Generika hinsichtlich Herstellung und Konfektionierung. Unterschiedliche Qualitäten wurden untersucht: Das Aussehen beziehungsweise die Reinheit des Ceftriaxon-Pulvers (insbesondere keine Klumpen oder Kör-ner), die Farbe (idealerweise gebrochenes Weiss), die Reinheit der zur Injektion hergestellten Lösung (klar und ohne Partikel) sowie mehrere chemische Prüfungen (Reinheit der Rohsubstanz, Trü-bung der Lösung, Qualität des Wassers, Fehlen von Lösungsmit-teln). Über 20 Generika aus acht verschiedenen Ländern wurden so analysiert und mit dem Originalpräparat Rocephin verglichen. Die Resultate ergaben keine bedeutenden Abweichungen zwi-schen diesen Generika und Rocephin, sodass juristische Schritte zur Eindämmung der Generika-Proliferation nicht in Frage kamen. Die bei Roche untersuchten Ceftriaxon-Generika waren alle als in den entsprechenden Ländern zugelassene Medikamente beschafft worden; auf die Analyse von Nachahmerpräparaten aus dubiosen Quellen wurde bewusst verzichtet.

In Ergänzung zu diesem standardisierten Analyseprozess im Roche-Mutterhaus in Basel wurden von Roche-Niederlassungen in mehreren Ländern, allen voran in China, auch die Verpa-ckungen der Generika mit denjenigen von Rocephin verglichen. Sowohl die Kartonschachteln, die Qualität von Karton und Beschriftung als auch die Stechampullen, die Qualität von Glas, Verschluss und Beschriftung widerspiegelten in vielen Fällen die bei den Generika angewandten Sparmassnahmen und zeigten somit im Vergleich zum Originalpräparat teils markante Mängel.

In Konkurrenz mit den GenerikaWährend der letzten Jahre des 20. Jahrhunderts verlor Roche also zunehmend die Kontrolle über eines der grössten Produkte der

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Pharmageschichte. Zu diesem Zeitpunkt machte Rocephin über 10% des Roche-Umsatzes aus. Mit sehr viel Einsatz und Sorgfalt sammelte die bereits erwähnte Post-Patent Strategy Task Force alle erdenklichen Daten und Tatsachen hinsichtlich der Generika und listete diese in einer zentralen Datensammlung. Ende 1999 befanden sich dort Angaben zu 132 Generika aus Asien, 95 aus Lateinamerika und 30 aus Osteuropa.

Für eine möglichst starke Position im Wettbewerb mit den Generika in den verschiedenen Ländern erstellte die Task Force umfassende SWOT-Analysen (Strenghts, Weaknesses, Opportunities, Threats) aus Sicht von Rocephin und aus Sicht der Generika. Diese theoretischen Überlegungen galt es dann für die einzelnen Ländervertretungen individuell zu gewichten und daraus die angepasste Strategie zu bestimmen. Aus diesen SWOT-Analysen sind nachfolgend die wichtigsten Überlegungen zusammengefasst.

Stärken (Strengths)Für Rocephin und die Generika stehen die im Kapitel «Besondere Aspekte von Rocephin» beschriebenen Vorteile im Vordergrund, basierend auf dem breiten und ausgeprägten antibakteriellen Spektrum, der einmaligen Pharmakokinetik und dem vorteil-haften Nebenwirkungsprofil; natürlich waren diese Aspekte zum damaligen Zeitpunkt für das Originalpräparat «bewiesen» und für die Generika «zu erwarten». Die Hauptunterschiede: Für Roce-phin höchste Qualität und Professionalität in allen Belangen: Herstellung, Vertrieb, Information und Betreuung, sowie das Renommee und der Support bei den Ärzten, basierend auf den seit mehr als 20 Jahren publizierten Leistungen in Forschung und Klinik; die Hauptstärke der Generika war und ist natürlich der tiefe Preis.

Schwächen (Weaknesses) Aus beider Sicht sind die fehlende Möglichkeit einer Umstellung von parenteraler auf orale Behandlung, die nicht optimale anti-bakterielle Aktivität gegen Anaerobier und Staphylokokken sowie die Resistenzentwicklung zu nennen; auch die vor allem auf Spi-täler beschränkte Anwendung, das heisst der weitgehend fehlende Markt in der Arztpraxis, betrifft beide, Rocephin und Generikum. Nach Ablauf der Patente werden mit Rocephin weniger neue Studien durchgeführt und bedeutende Neuerungen sind kaum zu

erwarten; Probleme für die Generika sind limitierte Ressourcen für Promotion und Betreuung sowie mögliche Engpässe bei der Herstellung.

Chancen (Opportunities)Für Rocephin gilt es insbesondere, in die Stärken zu investie-ren: Qualität, Professionalität, Vertrauen und Support. Neben der Pflege der Hauptindikationen sind Innovationen wichtig, vor allem im ambulanten Bereich im Sinne einer Förderung der ambulanten parenteralen Antibiotika-Therapie. Essentiell für das Originalpräparat ist die Sicherung der Unterstützung durch die führenden Experten in Medizin und Mikrobiologie. Die Chancen der Generika werden durch die Preispolitik auf der Ebene der Spitäler und der allgemeinen Gesundheitskosten bestimmt.

Bedrohungen (Threats)Für Rocephin und die Generika stellen die zunehmende Resis-tenzentwicklung beziehungsweise die dadurch begründeten restriktiveren Anwendungsempfehlungen auf der einen Seite, und die erfolgreiche Einführung neuer Substanzen mit daraus resultierender Einbusse (schwindendes Interesse, rückläufiger Marktanteil) auf der anderen Seite relevante Bedrohungen dar. Die zunehmende Bedeutung der Medizinalkosten «bedroht» das «teurere» Originalpräparat, der weitgehende Mangel an Vertrauen und Innovation das Generikum.

Aus diesen SWOT-Analysen für Rocephin und die Generika entwickelte die Task Force die sogenannte 4-P-Strategie basie-rend auf Produkt, Positionierung, Promotion und Preis. Zu

Tabelle 2

Die 4-P-Strategie

1 Das Produkt Wirksamkeit und Sicherheit, Produktion und Auslieferung

2 Die Positionierung Innovationen: Konfektionierungen, Indikationen

3 Die Promotion Medizinisch-wissenschaftliche Information und Betreuung der Anwender

4 Der Preis Angepasste Preisgestaltung

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diesen 4 Themen wurden die für das Originalpräparat relevanten Vorteile aufgelistet. Die verschiedenen Roche-Vertretungen hat-ten die Aufgabe, die für ihre Region zutreffende Priorisierung vorzunehmen (Tabelle 2).

Das Produkt (Product)Hier stehen die seit der Einführung im Jahre 1982 gemachten guten Erfahrungen betreffend Wirksamkeit und Sicherheit von Rocephin im Vordergrund. Wichtig sind der reibungslose Ablauf von der Produktion bis zur Auslieferung, das Angebot der im Vergleich zu den Generika unterschiedlichen und anwen-dungsfreundlicheren Konfektionierung (Ampullen zu 250 mg, 500 mg, 1 g und 2 g), der Auflösemittel (für intravenöse und intramuskuläre Verabreichung) sowie der Einzel- und Gross-verpackungen.

Die Positionierung (Position)Für die Spitäler als «Grossabnehmer» ist der Preisunterschied zwischen Original und Generikum wichtiger als für den ambu-lanten Bereich mit den entsprechenden Konsequenzen für die Preisgestaltung. Zur Stärkung der Positionierung eignen sich die genannten Innovationen, insbesondere im Bereich der ambu-lanten parenteralen Antibiotika-Therapie, also die Möglichkeit der intramuskulären Verabreichung, sowie neue Indikationen wie komplizierte Mittelohrinfektionen, und eine prolongierte Behandlungsdauer bei Skelettinfektionen.

Die Promotion (Promotion)Die oben genannte Priorisierung der Positionierung bestimmt weitgehend die Promotionsanstrengungen. Mit der Konkurren-zierung zwischen Originalpräparat und Generikum verliert der ärztlich-wissenschaftliche Aspekt stark an Bedeutung gegenüber dem preisdominierten Einfluss der Administration. Neben der Aufrechterhaltung der Information für alle muss eine gewisse Konzentration der medizinischen Betreuung, inklusive Unter-stützung von Forschung und Lehre, auf die loyalen beziehungs-weise neuen Abnehmer des Rocephins stattfinden, wobei diese Veränderungen transparent und offen kommuniziert werden sollen. Eine Neu-Instruktion und Umschulung der Ärztebesu-cher ist unumgänglich.

Der Preis (Price)

Für die Festsetzung der Preise und Rabatte gelten zunächst zwei wichtige Vorgaben: Die Kunden empfinden gegenüber einem bewährten Originalmedikament Präferenz, aber nicht Loyali-tät, und zum Zeitpunkt des Patentablaufs sollte keine generelle Preissenkung stattfinden, da eine solche Unverständnis und Ver-trauensverlust hervorruft. Diese beiden Grundlagen, zusammen mit den regionalen Besonderheiten, bestimmen die Preispolitik. Den speziellen Konfektionierungen, der intramuskulären Ver-abreichung beziehungsweise den kleineren Dosierungen für die pädiatrischen Patienten ist besondere Beachtung zu schenken; solange diese nur als Rocephin erhältlich sind, kann dadurch der Entscheid des Abnehmers stark beeinflusst werden.

Die Erfahrung lehrt, dass mit dem Verschwinden der nicht überlebensfähigen Generika-Hersteller – in der Regel nach weni-gen Jahren – die «rasante» Talfahrt der Preise stoppt und sie sich in eine «moderate» Bergfahrt umwandelt.

Ambulante parenterale Antibiotika-TherapieWährend der letzten zwei bis drei Jahrzehnte breitete sich die OPAT (Outpatient Parenteral Antibiotic Therapy, Ambulante Parenterale Antibiotika Therapie) ausgehend von den USA über alle Erdteile aus und stellt heute weltweit eine wichtige Stütze der Patientenversorgung dar.

Die treibenden Kräfte für die OPAT sind die Vermeidung der mit einer Betreuung im Spital einhergehenden Bürden: Kosten, nosokomiale Infektionen – also im Krankenhaus erworbene Infektionen – sowie die psychische Belastung bedingt durch die Trennung von Familie und vertrauter Umgebung. Die eingespar-ten Kosten betreffen vorwiegend Personal und Infrastruktur. Das Fehlen der Familie und des Zuhauses macht vor allem Kindern und Senioren zu schaffen; diese Einbussen an Lebensqualität sind objektiv messbar.

Die nosokomialen Infektionen stellen weltweit eine bedeu-tende und leider weiterhin zunehmende Problematik dar. Die Häufigkeit nimmt zu und der durch antibiotikaresistente Bak-terien verursachte Anteil steigt: In den USA stecken sich jedes Jahr über zwei Millionen hospitalisierte Patienten mit resisten-ten Keimen an und ca. 100 000 von ihnen sterben daran. Diese hochgefährlichen und oft hoch ansteckenden Problembakterien stammen einerseits aus dem Spital, insbesondere aus Nassberei-

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chen wie Duschen, Wasserhähnen, Wasserabläufen sowie aus Belüftungs- und Klimaanlagen, und andererseits von kolonisier-ten Menschen, vor allem von Mitpatienten, seltener von Personal oder Besuchern. Die an sich definierten Hygienemassnahmen im Krankenhaus – im Vordergrund stehen die strikte Hände-desinfektion, die baulichen Massnahmen sowie bei Bedarf die Isolation beziehungsweise die Dekontamination der Keimträ-ger – werden vernachlässigt, da sowohl an Personal- als auch an Investitionskosten gespart werden muss. Neben der eigentlichen Hygiene sollen in Zukunft auch zwei weitere Entwicklungen den Kampf gegen die nosokomialen Infektionen unterstützen: Der rasche und sichere Nachweis der Bakterien (Schnelldiagnostik) und Schutzimpfungen gegen resistente Keime wie Pseudomonas aeruginosa, Clostridium difficile und Staphylococcus aureus.

Die wichtigsten Voraussetzungen für die ambulante parente-rale Antibiotika-Therapie (OPAT) sind Wirksamkeit, Sicherheit und Compliance, wissenschaftlich adäquat untersucht an den in Frage kommenden Indikationen und Patientengruppen. Die Patienten können im Spitalambulatorium, in der Arztpraxis oder auch zu Hause das Antibiotikum intravenös oder intramuskulär

Der «Transnet-Phelophepa-Gesundheitszug» in Südafrika

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erhalten. Die Betreuung ist entweder ausschliesslich ambulant oder zunächst stationär bis zur erwünschten Besserung. Die wichtigsten mittels OPAT erfolgreich behandelbaren Infektionen betreffen Skelett, Haut und Weichteile, Harnwege, untere und obere Luftwege, aber auch unklares Fieber und invasive Infekti-onen wie Meningitis, Sepsis und Endokarditis.

Ein bewährter, spezieller Anwendungsort der OPAT ist der «Transnet-Phelophepa-Gesundheitszug» in Südafrika; dieser rund 350 Meter lange Zug bietet seit 1993 in verschiedenen abge-legenen, ländlichen Orten der dortigen Bevölkerung medizinische Grundversorgung an.

Für alle relevanten Aspekte einer ambulanten parenteralen Antibiotika-Therapie – Wirksamkeit, Sicherheit und Compli-ance – sind die entsprechenden Qualitäten des Antibiotikums entscheidend: potentes, breites, antibakterielles Spektrum, güns-tiges Nebenwirkungsprofil und die 1x tägliche Anwendung, int-

Roche ist externer Hauptsponsor des Transnet-Phelophepa-Zuges und unterstützt dieses Projekt seit 1994

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ravenös oder intramuskulär. Somit stellt Rocephin (Ceftriaxon) ein für die OPAT hervorragend geeignetes Antibiotikum sowohl für erwachsene als auch für pädiatrische Patienten dar. In den meisten Publikationen über OPAT ist Rocephin (Ceftriaxon) das am häufigsten eingesetzte Antibiotikum, gefolgt von Teicoplanin.

Sowohl der Ort und die Art der Durchführung der Antibioti-kagaben, als auch die in Frage kommenden Infektionskrankhei-ten variieren je nach Land beziehungsweise Kontinent. In den USA zum Beispiel werden die Antibiotikagaben in der Regel zu Hause und als Kurzinfusion verabreicht; in den meisten Ländern Europas geschieht dies im Spitalambulatorium und ebenfalls intravenös, mit Ausnahme von Italien, wo die intramuskuläre Verabreichung bevorzugt wird. In peripheren Medizinaleinrich-tungen in vielen Entwicklungsländern wird ebenfalls in der Regel die intramuskuläre Anwendung bevorzugt.

Für die Akzeptanz und die Verbreitung – also den Erfolg – der ambulanten parenteralen Antibiotika-Therapie in einem gegebenen Umfeld muss diese Methode im Interesse aller Betei-ligten liegen: Patient, Arzt, Administration und Kostenträger. Ein professionelles und nachhaltiges Engagement der beteiligten Fachkräfte – Ärzte, Pflege, Logistik – ist eine unabdingbare Vor-aussetzung, denn die Ansprüche sind hoch und dürfen nicht unterschätzt werden.

Aktuelle PositionAuch 30 Jahre nach der Einführung nehmen das Rocephin und die Ceftriaxon-Generika weltweit eine wichtige Stellung bei der erfolgreichen Therapie der Infektionskrankheiten ein. Die wiederholt beschriebenen Vorteile – basierend auf den vorteil-haften antibakteriellen, pharmakokinetischen und toxikologi-schen Eigenschaften – bedeuten auch weiterhin eine vereinfachte Behandlung und somit einen nachhaltigen Nutzen für Klinik und Ökonomie.

Die mit dem Ablauf der Patentrechte beziehungsweise mit dem Auftauchen der Generika beschriebene Problematik im Sinne der «4-P-Themen» (Produkt, Positionierung, Promotion, Preis), die ebenfalls im Detail dargestellte Resistenz-Entwicklung und die engagierte Promotion neuer Antibiotika durch die Konkurrenz konzentrierten sich vor allem auf die Industriestaaten. Auch die wiederholt geäusserten Bedenken hinsichtlich der Sicherheit im Neugeborenen- und im Seniorenalter fand vorwiegend in Europa und Nordamerika Beachtung. Die Grundlagen für die Zurückhal-

tung einer Anwendung von Ceftriaxon im Neugeborenenalter, insbesondere bei unreifen Frühgeborenen, sind das Potential der Verdrängung von Bilirubin von der Albuminbindung mit der theoretischen Gefahr eines Kernikterus, sowie die durch insge-samt neun publizierte Fallberichte untermauerte Gefahr einer potentiell lethalen Bildung von Ceftriaxon-Calcium-Komplexen in Nieren und/oder Lungen bei der gleichzeitigen intravenösen Verabreichung von Ceftriaxon und Calcium. Bei geriatrischen Patienten wird vor den extrem seltenen Nebenwirkungen der ceftriaxoninduzierten hämolytischen Anämie und den Konkre-mentbildungen in Gallenwegen/Gallenblase gewarnt, und als the-oretische, allerdings nie publizierte Gefahr, die Konkrementbil-dung in Nieren und Lungen erwähnt. Neugeborene und Senioren haben einige Gemeinsamkeiten betreffend der Vulnerabilität des Wasser-Elektrolyt-Haushaltes und der Gewebe: Am Lebensanfang steht die Unreife, am Lebensende die Alterung.

Aus den Verkaufszahlen von Roche geht hervor, dass sich die Verkäufe von Rocephin auf der Liste der umsatzträchtigs-ten Produkte von Rang 1 (1 290 Mio Franken) im Jahre 1998 auf Rang 20 (311 Mio Franken) im Jahre 2010 reduzierten. Am gesamten Umsatz war das Produkt 1998 mit 10% beteiligt, doch fiel dieser Anteil bis 2010 auf unter 1%. Die stärksten Rückgänge fanden mit dem Ablauf der Patente in Europa 1999/2000 und in Nordamerika 2005/2006 statt.

Jahr 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010

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Im Jahre 2010 verteilten sich die Anteile der Rocephin-Verkäufe wie folgt: Asien 30,8%, Japan 20,6%, Westeuropa 18,3%, Latein-amerika 15,8%, sogenannte CEMAI-Länder (Central and Eastern Europe, Middle East, Africa and Indian Subcontinent) 13,5%, Nordamerika 0,5% und übrige Länder 0,5%. Die Länderliste führten China mit 22,9% und Japan mit 20,6% an, gefolgt von Italien (12,2%), Mexico (6,8%) und Brasilien (3,3%), sowie wei-teren 72 Ländern auf allen Kontinenten.

In China findet zur Zeit eine im Rahmen der vorgängig beschriebenen 4-P-Strategie (Produkt, Positionierung, Promo-tion, Preis) gesteuerte, interessante Entwicklung statt, um das Originalpräparat Rocephin gegenüber den über 100 (!) Konkur-renz-Generika zu behaupten. Eine im Jahre 2011 realisierte Preis-reduktion von minus 30% soll durch eine Umsatzsteigerung von durchschnittlich je 15% in den Jahren 2011 bis 2013 profitmässig aufgefangen werden. Die auf Seite 181 aufgelisteten Überlegungen zu den 4-P’s werden angepasst gewichtet und angegangen: Die guten Erfahrungen mit dem Produkt, die bewährte Positionierung

Tabelle 3

Verkäufe (in Mio CHF und in Mio Einheiten) und Preisentwicklung 2000 – 2010 für Rocephin und Ceftriaxon-Generika zusammen (MIDAS™ Services, IMS Health)

Ceftriaxon Asia Western CEMAI* Latin North Japan Total(Rocephin and Pacific Europe (excl. Amerika AmericaGenerics) Russia) Ceftriaxon Rocephin

Mio CHF 2000 209 383 61 39 491 44 1227 1048 (85%) 2010 335 308 159 107 85 81 1075 230(21%) Veränderung +126 -75 +98 +68 -406 +37 -152 -818

+60% -20% +161% +174% -83% +84% -12% -78%

Mio Einheiten 2000 30.5 28.4 38.0 3.6 17.5 4.1 122 61 (50%)(Standard 2010 102.5 41.1 168.9 19.9 26.5 11.0 370 31 (8.4%)Units) Veränderung +72 +12 +130.9 +16.3 +9.0 +6.9 +248 -30

+236% +45% +344% +453% +51% +168% +203% -49%

CHF pro 2000 6.85 13.49 1.61 10.83 28.06 10.73 10.05 17.18 (171%)Einheit 2010 3.27 7.49 0.94 5.38 3.21 7.36 2.91 7.42 (255%) Veränderung -3.58 -6.00 -0.67 -5.45 -24.85 -3.37 -7.14 -9.76

-52% -44% -42% -50% -89% -31% -71% -57%

*CEMAI, Central and Eastern Europe, Middle East, Africa and Indian Subcontinent

von Rocephin in der stationären und ambulanten Anwendung, die eigentliche Promotion bei den Anwendern im Sinne ärztlich-wissenschaftlicher Betreuung sowie die eben erwähnte Preisge-staltung in Form einer sofort wirksamen Reduktion von -30%.

Die von der Firma IMS Health (International Market Ser-vice, USA) zusammengestellten internationalen Verkaufsdaten (MIDAS™ Services, Multinational Integrated Data Analysis Services) der letzten 10 Jahre (2000 – 2010) zeigen die von der Firma Roche (Post Patent Strategy Task Force) antizipierten Ent-wicklungen. Die Angaben in Tabelle 3 betreffen einerseits den Gesamtumsatz für das Antibiotikum Ceftriaxon, also die Verkäufe des Originalpräparats Rocephin und der zahlreichen Generika zusammen, und andererseits die Zahlen für Rocephin. Der Anteil von Rocephin betrug in den Jahren 2000 und 2001 noch ca. 85%, in den Jahren 2002 bis 2004 ca. 75% und im Jahre 2005 noch ca. 60%; mit dem Ablauf der Patentrechte in Nordamerika 2005/2006 gingen dann die Rocephin-Anteile am finanziellen Gesamtumsatz nochmals deutlich zurück auf 30% bis 35% in den Jahren 2006 bis 2009; im Jahre 2010 machte Rocephin noch 21% aus.

Bei Betrachtung der totalen Verkaufssummen (also für Ori-ginalpräparate und Generika zusammen) ergeben sich keine beeindruckenden Veränderungen: je etwa 1 300 Mio Franken in den Jahren 2000 bis 2002, ca. 1 400 Mio Franken in den Jahren 2003 bis 2005, und schliesslich ein Einpendeln auf je ca. 1 000 Mio Franken in den Jahren 2006 bis 2010. Nur bei gleichzeiti-ger Berücksichtigung der total verkauften Einheiten (Standard Units) widerspiegeln sich Marktausweitung und Preiszerfall : Die Verkäufe nahmen um mehr als das Doppelte (plus 203%) zu, nämlich von 122 Millionen Einheiten im Jahr 2000 auf 370 Millionen Einheiten im Jahre 2010, was einer grob berechneten Preisreduktion von 10,05 Franken auf 2,91 Franken pro Einheit entspricht, also einem Preiszerfall von nahezu drei Viertel (minus 71%).

Die entsprechenden Angaben für das Originalpräparat Roce-phin zeigen für die Jahre 2000 bis 2010 (Tabelle 3) einen Rück-gang des finanziellen Umsatzes von minus 78%, eine Halbierung der verkauften Einheiten (minus 49%) und eine Preisanpassung von auf weniger als die Hälfte (minus 57%).

Auch die Aufteilung dieser MIDAS-Daten auf die 6 Verkaufs-regionen zeigt interessante Aspekte. In Tabelle 3 finden sich die Veränderungen in den 10 Jahren zwischen 2000 und 2010 für totale Verkäufe in Millionen Franken, für verkaufte Einheiten in Millionen und für den daraus berechneten Preiszerfall.

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Wie bereits erwähnt, zeigen die totalen Verkaufssummen wenig Veränderungen: von 1 227 Millionen Franken im Jahre 2000 auf 1 075 Millionen Franken im Jahre 2010. Für die einzelnen Regionen sieht dies allerdings sehr unterschiedlich aus: deutli-che Einbrüche in Nordamerika (-83%) und Westeuropa (-20%), eindrückliche Zunahmen in den übrigen Regionen, angeführt in absoluten Zahlen (+126 Mio Franken) von «Asia Pacific» (Südost-asien, China, Australien, Neuseeland) und einer entsprechenden prozentualen Zunahme von Lateinamerika (+174%) und den CEMAI-Ländern (+161%).

Die anhand der total verkauften Ceftriaxon-Einheiten doku-mentierte, substantielle Marktausweitung auf mehr als das Doppelte – als Konsequenz der Proliferation der Generika – konzentriert sie sich vor allem auf Lateinamerika (+453%), die CEMAI-Länder (+344%) und «Asia Pacific» (+236%).

Der Preiszerfall von nahezu drei Viertel (-71%) ist mit minus 89% noch ausgeprägter in Nordamerika und beträgt in den übrigen Regionen um die minus 50%, mit Ausnahme von Japan mit ledig-lich minus 31%, dies allerdings bei relativ sehr kleinen Umsätzen.

Indikationsspektrum heuteAn den im Unterkapitel «Klinische Anwendung» (Seite 174) auf-gelisteten Indikationen für Rocephin beziehungsweise Ceftriaxon hat sich in den letzten drei Jahrzehnten grundsätzlich wenig ver-ändert, natürlich mit gewissen Unterschieden zwischen «reichen» Industrie- und «armen» Entwicklungsregionen.

Parallel zur vorgängig analysierten Marktausweitung, die sich insbesondere auf die CEMAI-Länder, Lateinamerika und Südostasien/Pazifik konzentriert, wird in diesen Regionen Cef-triaxon nach wie vor sehr häufig als empirische (das heisst erste Wahl bei Diagnosestellung) beziehungsweise blinde (fehlender Erregernachweis), antibiotische Therapie für verschiedenste schwere Infektionskrankheiten eingesetzt, namentlich auch bei Meningitis (Hirnhautentzündung), Sepsis (Blutvergiftung), und bei Lokalisation im Bereich von Lungen, Skelett und Abdomen sowie bei Patienten mit geschwächter Immunabwehr. Die Indust- rieländer in Westeuropa und Nordamerika mit nur geringer Marktausweitung setzen Ceftriaxon zurückhaltender, das heisst gezielter ein. Zwei der wichtigsten Gründe dafür wurden wie-derholt genannt: Resistenz-Entwicklung und Promotion neuer Substanzen; beide haben in diesen Ländern grosses Gewicht. Die im Detail abgehandelte ambulante parenterale Antibiotika-

Therapie (OPAT, Outpatient Parenteral Antibiotic Therapy) mit Ceftriaxon (Seite 183) ist global von grosser Bedeutung.

In den letzten Jahren (2008 bis 2011) publizierte Studien über Erfahrungen mit Ceftriaxon bestätigen diese Aussagen. Die grossen Vorteile von Ceftriaxon bei der Behandlung der akuten bakteriellen Meningitis im Kindesalter sind offensichtlich, beson-ders auch in Gebieten mit einfachster medizinischer Infrastruktur und im Hinblick auf eine von 10 auf 5 Tage verkürzte Therapie-dauer. In der pädiatrischen Infektiologie in Entwicklungsländern nimmt Ceftriaxon eine sehr breite und wichtige Stellung ein, unter anderem bei bakteriellen Darminfektionen, unklarem Fie-ber bei Neutropenie sowie bei schwerer akuter Unterernährung. In den letzten Jahren publizierte Resultate mit Ceftriaxon im Erwachsenenalter bestätigen die guten Erfahrungen als Thera-pie bei Lungenentzündungen, intraabdominellen Infektionen, Geschlechtskrankheiten und febrilen Neutropenien, sowie als perioperative Infektionsprophylaxe bei verschiedenen Eingriffen. Insbesondere konnte eine Reduktion sowohl von Wundinfekti-onen als auch von nosokomial (im Krankenhaus) erworbenen Urin- und Lungenentzündungen nachgewiesen werden. Eine interessante Studie aus zehn Universitätsspitälern in Korea bestä-tigte die praktischen Vorteile der antibiotischen Behandlung mit Ceftriaxon im Sinne einer korrekten Indikationsstellung und guten Compliance.

Anzahl behandelter PatientenSeit der Einführung im Jahre 1982 wurden bis Ende Januar 2012 weltweit 141,7 Millionen Patienten mit Rocephin behandelt.

In der Annahme einer mittleren Tagesdosis von einmal 1,5g Ceftriaxon pro Tag – die Tagesdosen betragen je nach Körpergewicht des Patienten und Schwere der Krankheit zwi-schen wenigen 100mg bis in der Regel maximal 4g – sowie einer durchschnittlichen Behandlungsdauer von zehn Tagen – weiter Bereich von Einmaldosis über 1, 3, 7, 10, 21 Tage und länger, je nach Indikation – und in Berücksichtigung der von der Firma IMS Health zusammengestellten internationalen Verkaufsdaten (MIDAS™ Services, vgl. auch Tabelle 3) ergibt die Hochrechnung folgende Zahlen: Während der 17 Jahre von 1982 bis 1999 wurden weltweit ca. 165 Millionen Patienten mit Ceftriaxon therapiert, davon ca. 121 Millionen (73,3%) mit Rocephin. Während der folgenden 12 Jahre zwischen 2000 und 2011 waren es total ca. 215 Millionen Patienten, ca. 20 Millionen (9,3%) davon mit Rocephin.

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Somit profitierten zwischen 1982 und 2011 weltweit ca. 380 Mil-lionen Patienten jeglichen Alters, also von Frühgeborenen über Kinder und Erwachsenen bis hin zu Senioren, von einer Behand-lung mit Ceftriaxon, davon erhielten wie erwähnt ca.141 Mio (37,1%) das Original Rocephin. Diese eindrücklichen Zahlen werden in den nächsten Jahren weiterhin anwachsen, denn die Erfolgsgeschichte von Rocephin und den Ceftriaxon-Generika geht weiter.

Beispiel BrasilienBrasilien, das grösste und zurzeit vielversprechendste Land in Südamerika, ist für Roche von grosser Bedeutung. Auch hinsicht-lich Rocephin war und bleibt Brasilien eine wichtige Region. Ende August 2011 erhielt ich die Gelegenheit, in den beiden Städten Rio de Janeiro und Sao Paulo die aktuelle Position von Rocephin zu analysieren. Beide sind Millionenstädte – in Rio leben etwa sechs

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Millionen und in Sao Paulo etwa zwölf Millionen Menschen. In Rio de Janeiro dominieren ein blaues Meer, schöne Strände und Berge sowie eine sympathische Lebensfreude, in Sao Paulo hinge-gen ein gigantisches Hochhausmeer, pulsierendes Geschäftsleben und tolerante Multinationalität. Die umfassende und ausgezeich-nete Organisation der zahlreichen Besuche verschiedener Spitäler und Institute sowie die kundige Führung hatte Roche Brasilien übernommen.

Land und Leute. Der französische Anthropologe Michel Maffe-soli (geboren 1944 in der kleinen Ortschaft Graissessac in den Cevennen, Département Hérault) schrieb vor einigen Jahren: Brasilien verkörpert das Emotionale und Gefühlsbetonte wie wenige andere Kulturen, eine Vorstellungswelt, in der die Gefühle als Widerstand gegen die Schwierigkeiten herangezogen werden. Das Positive, die Motivation und das Lächeln dominieren, die Probleme können noch so gross sein – Brasilien ist ein echtes, ausgeglichenes, stolzes Land der Zukunft. Das demokratische politische System funktioniert, die Wirtschaft boomt, die Wäh-rung ist stabil, das Umweltbewusstsein macht Fortschritte.

Medikamente. In Brasilien herrscht ein ausserordentlich raues Klima im Handel mit den Arzneimitteln, sowohl zwischen priva-tem und öffentlichem Markt, als auch zwischen Originalsubstanz und Generika. Die Verkäufe für Privatpatienten, die vorwiegend

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in Privatspitälern betreut werden, machen lediglich um die 10% der totalen, mit Medikamenten erzielten Umsätze aus. Diese 10% bedeuten allerdings deutlich höhere Profite als die Verkäufe für die «staatlich» versicherten Patienten. Der öffentliche Markt betrifft insbesondere die öffentlichen Spitäler und wird vom Staat sehr streng kontrolliert.

Jedes neue Medikament wird zuerst im Privatmarkt einge-führt; die Registrierung für den allgemeinen Gebrauch ist aufwän-dig, langwierig und bedeutet eine Preisreduktion von mindestens 40%. Zudem ist eine Voraussage hinsichtlich Akzeptanz und Stellung in den öffentlichen Spitälern in der Regel sehr unsicher, so dass längst nicht alle primär für den Privatmarkt registrierten Arzneimittel sich dieser Hürde stellen. Für die meisten allgemein zugelassenen Medikamente verlangt der Staat seit einigen Jahren, dass die Produktion in Brasilien erfolgt. Dazu dient der soge-nannte «Technology Transfer» im Rahmen der «Private Public Partnership». Somit wird gewährleistet, dass Herstellung und Überwachung qualitativ gleichwertig sind wie im Herkunftsland; diese Verlagerung wird mit einer Verlängerung der Patentdauer von bis zu fünf Jahren belohnt.

Etliche der oft sehr zahlreichen bis unzähligen Generika sind in Brasilien mangelhaft, trotz der staatlichen Kontrollbemü-hungen. Dies betrifft insbesondere auch die pharmakologisch aktiven Anteile («Active Product Ingredients», API), also die Wirksamkeit. Viele dieser aktiven Rohsubstanzen stammen aus dubiosen Quellen in Asien, vor allem aus Indien und China. Die

Produktionswerk von Roche Brasilien in Jacarepaguá (Rio de Janeiro)

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möglichen Nachteile für den Patienten sind somit bedeutsam, manchmal lebensbedrohlich, da das unbewusst unterdosiert eingesetzte Generikum nicht wirkt.

In den meisten öffentlichen Spitälern entscheidet einzig und allein der Preis die Wahl einer Substanz, so dass für staatlich versicherte Patienten praktisch ausschliesslich Generika eingesetzt werden, was natürlich auch für Ceftriaxon gilt.

Die Privatkliniken bieten den Patienten nicht selten alle Annehmlichkeiten eines Hotels der Luxusklasse, während in den öffentlichen Krankenhäusern teilweise bedenkliche Zustände herrschen

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Krankenhäuser. Zwischen den privaten und öffentlichen Spitä-lern bestehen in Brasilien gewaltige Unterschiede, sowohl was Bausubstanz und Platzverhältnisse, als auch was Organisation und Administration anbelangt. Die Privatkliniken bieten den Patienten nicht selten alle Annehmlichkeiten eines Hotels der Luxusklasse, während in den öffentlichen Krankenhäusern teil-weise bedenkliche Zustände herrschen. Auch die Ausbildung, das Erscheinungsbild und die Motivation des administrativen Personals – und somit alle Abläufe – sind im Privatspital merk-lich und spürbar besser als im Staatsspital. Die Pflegenden und insbesondere auch die Ärztinnen und Ärzte leisten hingegen in allen Spitälern eine sehr gute und hoch engagierte Arbeit.

Rocephin. Im Jahre 2011 erreichten in Brasilien alle Cephalospo-rine zusammen einen Jahresumsatz von knapp 400 Mio. BRL (Brasilianische Reals), was etwa 1% des gesamten Arzneimittel-geschäftes ausmachte. Was bereits erwähnt wurde, gilt auch für die Cephalosporine: ca. 90% des Handels betreffen die staatlich versicherten Patienten. Somit dominieren die Generika über die Originalsubstanzen in einem vergleichbaren Ausmass (ca. 90%).

Der Anteil des Originalpräparates «Rocefin» am brasiliani-schen Umsatz mit Ceftriaxon betrug im Jahre 2011 noch ca. 10% (Rang 4) der Verkäufe in Brasilianischen Reals, und ca. 20% (Rang 3) der verkauften Einheiten. Diese «Diskrepanz» bei den prozentualen Anteilen wird natürlich nicht durch billigere Einheitspreise für «Rocefin» erklärt, sondern dadurch, dass das

Rocefin i.m. 500mg/1g

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Originalpräparat im Gegensatz zu den meisten der insgesamt 15 Generika auch in Kleinpackungen angeboten wird, sowohl was die Anzahl als auch die Stärke der Dosen für pädiatrische Patienten anbelangt.

Stellung in der Klinik. Das Original «Rocefin», beziehungsweise die Ceftriaxon-Generika nehmen in Brasilien auch fast drei Jahrzehnte nach der Einführung im Jahre 1985 eine beachtlich hohe Stellung ein, im öffentlichen wie im privaten Spital. Zudem wird dieses Antibiotikum bei schweren invasiven bakteriellen Infektionen als erste Wahl eingesetzt, insbesondere bei Verdacht auf beziehungsweise Diagnose von Hirnhautentzündung, Blut-vergiftung und Lungenentzündung, aber auch bei noch unklaren Krankheitsbildern, allein oder kombiniert mit anderen Antibio-tika. In diesem Zusammenhang verdienen zwei von verschiedenen brasilianischen Infektiologen gemachte Aussagen Erwähnung:– Das vor allem bei jungen Ärztinnen und Ärzten zirkulierende

«geflügelte Wort»: «Pelo sim, pelo nâo – Rocefin», was soviel bedeutet wie «Im Zweifelsfall – Rocephin»!

– In der grossen Antibiotika-Familie nehme das «Rocefin» (Ceftriaxon) die Position eines reifen jungen Erwachsenen ein! Auch in der ambulanten parenteralen Antibiotika-Therapie

wird «Rocefin» (Ceftriaxon) sehr häufig eingesetzt, intravenös wie auch intramuskulär.

Von allen befragten Infektiologen, Internisten und Pädiatern wurden die Wirksamkeit von «Rocefin» (Ceftriaxon) als sehr zuverlässig, die Sicherheit als sehr hoch, und die Anwendung als sehr einfach bezeichnet.

Weltweit weisen Rocephin und die Ceftriaxon-Generika auch 30 Jahre nach der Einführung beachtliche und nach-haltige medizinische und wirtschaftliche Vorteile bei der erfolgreichen Behandlung verschiedenster Infektionskrank-heiten auf, und dies sowohl bei pädiatrischen als auch bei erwachsenen Patienten.

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Dank

Den nachfolgend erwähnten Personen gebührt grosser Dank für ihre wichtigen Beiträge bei der Erstellung dieses Kapitels: Alexander Lukas Bieri, Curator The Roche Historical Collection and Archive, Basel; Bruno Halm, Historisches Archiv Roche, Basel; Jan P. Timmermans, International Portfolio Business Manager Roche, Basel; Peter Angehrn, pensionierter Mikrobio-loge Roche, Basel; Peter J. Probst, pensionierter Medical Manager Roche, Basel; Maria Cristina Santos, Special Projects Manager, Produtos Roche, Sao Paulo, Brazil.

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Biographien

Dr. rer. nat. Sabine Päuser (geb. 1967) in Berlin, arbeitet als wissen-schaftliche Redakteurin und Wissenschaftsjournalistin bei Roche in Basel. Nach einem Chemiestudium und einer Promotion auf biophysikalischem Gebiet an der Humboldt Universität zu Berlin im Jahre 1993 arbeitete sie mehrere Jahre in der Krebsforschung im Universitätsklinikum Benjamin Franklin der Freien Uni-versität Berlin. Bevor sie zu Roche kam, war sie vier Jahre als Chefredakteurin der medizinisch-diagnostischen Fachzeitschrift mta Spektrum in Frankfurt am Main tätig.

Prof. Christoph Mörgeli (geb. 1960) ist Dozent für Geschichte der Medizin am Medizinhistorischen Institut und Museum der Universität Zürch. Nach dem Studium der Geschichte, der politischen Wissenschaft und der Deutschen Sprache promo-vierte er 1986 über den Zürcher Arzt und Politiker Johannes Hegetschweiler zum Dr. phil. I. Im Jahre 2001 wurde er zum Titularprofessor der Universität Zürich ernannt. Christoph Mör-geli verfasste zahlreiche Publikationen zur medizinihistorischen Museologie, zu Zürichs Medizingeschichte sowie zur Rolle der Ärzte im Rahmen von Politik und Gesellschaft.

Prof. Urs B. Schaad (geb. 1945) schloss im Jahr 1971 sein Medi-zinstudium an der Universität Bern ab und spezialisierte sich daraufhin auf Pädiatrie und Infektiologie. Ab 1981 baute er die Abteilung für Pädiatrische Infektionskrankheiten an der Uni-versitäts-Kinderklinik, Inselspital Bern, auf. Von 1993 bis 2010 wirkte Urs B. Schaad als Direktor und Professor für Pädiatrie am Universitäts-Kinderspital beider Basel. Seit seiner Emeritierung hält er diverse Verpflichtungen in Forschung und Lehre an der Universität Basel, zudem berät er pharmazeutische Unterneh-men in Zürich, Basel und Genf. Urs B. Schaad ist Mitglied und Mitgründer verschiedener bedeutender Institutionen auf dem Gebiet der Infektiologie und hat zahlreiche Fachpublikationen veröffentlicht.

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