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Regionale politische Kulturen von Protest und Widerstand im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Die schweizerische Eidgenossenschaft als Beispiel Author(s): Andreas Suter Source: Geschichte und Gesellschaft, 21. Jahrg., H. 2, Protest und Widerstand (Apr. - Jun., 1995), pp. 161-194 Published by: Vandenhoeck & Ruprecht (GmbH & Co. KG) Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40185742 . Accessed: 10/09/2013 15:14 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Vandenhoeck & Ruprecht (GmbH & Co. KG) is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Geschichte und Gesellschaft. http://www.jstor.org This content downloaded from 131.91.169.193 on Tue, 10 Sep 2013 15:14:32 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

Protest und Widerstand || Regionale politische Kulturen von Protest und Widerstand im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Die schweizerische Eidgenossenschaft als Beispiel

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Regionale politische Kulturen von Protest und Widerstand im Spätmittelalter und in derFrühen Neuzeit. Die schweizerische Eidgenossenschaft als BeispielAuthor(s): Andreas SuterSource: Geschichte und Gesellschaft, 21. Jahrg., H. 2, Protest und Widerstand (Apr. - Jun.,1995), pp. 161-194Published by: Vandenhoeck & Ruprecht (GmbH & Co. KG)Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40185742 .

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Regionale politische Kulturen von Protest und Widerstand im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit

Die schweizerische Eidgenossenschaft als Beispiel

von Andreas Suter

Die Frage regional unterschiedlich ausgeprägter politischer Kulturen von Protest und Widerstand ergibt sich aus der vergleichenden Betrachtungswei- se * So vermitteln zum Beispiel das Territorium der Schweizerischen Eidge- nossenschaft und die östlich der Elbe gelegenen Gebiete des Alten Reiches im Hinblick auf das politische Handeln von ländlichen Untertanen ebenso ähnli- che wie unterschiedliche Erfahrungen. Entgegen einer früher verbreiteten Vorstellung, wonach der ostelbische Raum in einem scharfen Kontrast und Gegensatz zu den westelbischen Verhältnissen und damit auch zu denjenigen in der Eidgenossenschaft ein während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit weithin ruhiges Gebiet gewesen sei, ist heute davon auszugehen, daß die ländlichen Untertanen in beiden Gebieten ein in vieler Hinsicht identi- sches Repertoire der Interessenartikulation und -durchsetzung gekannt und angewendet haben, welches hier wie dort legale und protest- bzw. gewalthafte Mittel miteinschloß.1 Dieses gemeinsame Repertoire umfaßte erstens die häufig benutzte und von den Obrigkeiten in gewissen Grenzen akzeptierte „Supplikation" um die Verbesserung der bäuerlichen Lage; zweitens den „all- täglichen" oder „verdeckten" Widerstand als ein „stilles, immer wieder repro- duziertes Handeln gegen herrschaftlich gesetzte Normen und Gebote", das in der gezielten Unterleistung herrschaftlicher Forderungen (Steuern, Arbeits- leistung) und in Sozialkriminalität (z. B. Wilddiebstahl, Waldfrevel, Schmug- gel usw.) zum Ausdruck kam.2 Drittens zählte dazu die Revolte als die öf- fentliche, kollektive und von symbolischem Protest oder Gewalt begleitete Mißachtung bzw. Verweigerung obrigkeitlicher Befehle und Leistungsforde- rungen. * Der Verfasser hatte die Gelegenheit, die Hauptlinien und wichtigsten Thesen dieses Aufsatzes

im Rahmen der von der Arbeitsgruppe der Max-Planck-Gesellschaft „Osteibische Gutsherr- schaft als sozialhistorisches Phänomen" organisierten Tagung zum Thema „Das Modell Guts- herrschaft. Vergleichende Betrachtung zur sozialen Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrar- gesellschaften" vorzutragen, die vom 11.-13. März 1993 an der Universität Potsdam stattgefun- den hat. Ich danke allen Teilnehmern für ihre Kritik, Kommentare und Anregungen und weise darauf hin, daß die Akten der Tagung 1994 in einem Beiheft der HZ publiziert werden.

1 Dies in Anlehnung an H. Wunder, Peasant Organization and Class Conflict in East and West

Germany, in: PP 78. 1978, S. 47-55, hier S. 50 ff. Dies., Bauern u. bäuerlicher Widerstand in der ostelbischen Gutsherrschaft (1650-1790), in: Sowi 12. 1983, S. 231-37, hier insbesondere S. 231 f.

2 Definition des verdeckten Widerstandes nach J. Peters, Eigensinn u. Widerstand im Alltag, in: Jb. für Wirtschaftsgeschichte 2. 1991, S. 85-103, hier S. 92.

Geschichte und Gesellschaft 21 (1995) S. 161-194 © Vandenhoeck & Ruprecht 1995 ISSN 0340-613 X

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Neben diesen Gemeinsamkeiten sind auch Unterschiede festzustellen. Ein- mal besaß das Territorium der Eidgenossenschaft mehrere Gebiete, die sich durch eine auffallige Häufung von Untertanenrevolten auszeichneten.3 Über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg läßt sich beobachten, wie die Unterta- nen dieser Gebiete bei Auseinandersetzungen mit der Herrschaft immer wie- der auf das Mittel der Revolte zurückgegriffen haben. Das Vorhandensein mehrerer revoltenintensiver Gebiete ist denn auch ein wichtiger Grund dafür, daß der historisch-geographische Raum der Eidgenossenschaft im Spätmit- telalter und in der Frühen Neuzeit die wohl größte Revoltendichte im Alten Reich aufwies.4 Dann war die Eidgenossenschaft aber auch wiederholt Schauplatz von Konflikten mit noch größerer Dimension. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf den Appenzeller Krieg (1403-1408), auf den sogenannten „Zwiebelnkrieg" von 1513 sowie auf den schweizerischen Bauernkrieg von 1653.5 Alle drei Konflikte unterscheiden sich von den Revolten neben anderen Merkmalen durch ihre, den geogra- phisch-herrschaftlichen Rahmen einer Territorialherrschaft überschreitende, größere räumliche Ausdehnung.6 In den östlich der Elbe gelegenen Gebieten des Alten Reiches fehlten dagegen vergleichbare Aufstände mit größerer geo- graphischer Ausbreitung.7 Ebenso war der Rückgriff auf das Mittel der Re- volte seltener, und folglich konnte es auch nicht zur Ausbildung revoltenin- tensiver Gebiete kommen. Deshalb hatte hier der „verdeckte" Widerstand ei- ne ungleich größere Bedeutung. Namentlich in der Zeit nach dem 30-jährigen Krieg, die eine noch stärkere persönliche Bindung der Bauern an die Gutsher- ren und den Aufbau eines stehenden Heeres brachte, wurde dieser verdeckte Widerstand neben der Flucht und neben dem rechtlichen Konfliktsaustrag vor den Gerichten übergeordneter Instanzen wie des Landesherren oder des

3 Revoltenintensive Regionen waren namentlich das im wiederholten Konflikt mit dem Abt von St. Gallen stehende Appenzell, das auf dem Herrschaftsgebiet desselben Abtes gelegene Tog- genburg, das Zürcher Amt Grüningen, das Berner Oberland, schließlich das auf dem Territori- um der Stadt Luzern gelegene Tal Entlebuch. Vgl. zum Toggenburg und Appenzell P. Blickle, Bäuerliche Rebellionen im Fürststift St. Gallen, in: ders. (Hg.), Aufruhr u. Empörung? Stu- dien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich, München 1980, S. 215-92. Vgl. zum Berner Oberland P. Bierbrauer, Freiheit u. Gemeinde im Berner Oberland 1300-1700, Bern 1991.

4 Der quantitative Hinweis zur Revoltendichte im Alten Reich nach P. Bierbrauer, Bäuerliche Revolten im Alten Reich. Ein Forschungsbericht, in: Blickle (Hg.), Aufruhr, S. 1-68, hier S. 26 f. und S. 50 f.

5 Siehe zum Verlauf dieser Konflikte mit weiterführenden Literaturangaben: Hb. der Schweizer Geschichte, Zürich 1970, Bd. 1, S. 271-80, S. 333-35 und S. 652-58. Die zeitgenössische Be- zeichnung „Zwiebelnkrieg" leitet sich aus dem Umstand ab, daß die ländlichen Untertanen im Verlauf des Konflikts die mit Zwiebeln bepflanzten Vorgärten der Stadt Luzern verheerten und zerstörten.

6 Siehe ausführlicher zur Unterscheidung von Revolten und Bauernkriegen A. Suter, Der schweizerische Bauernkrieg 1653. Ein Forschungsbericht, in: A. Tanner u. a. (Hg.), Die Bau- ern in der Geschichte der Schweiz (Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialge- schichte 10), 1992, S. 69-103, hier S. 74 ff.

7 Dies und die folgenden Ausführungen zum aktuellen Forschungsstand über den bäuerlichen Widerstand im Gebiet der ostelbischen Gutsherrschaft in Anlehnung an Peters, S. 89 f.

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Reiches das ausgezeichnete Mittel der Wahl, um sich gegen herrschaftliche Zumutungen zu wehren.8 Dieser Bedeutungsverlust des offenen Widerstan- des hatte in der Eidgenossenschaft insofern eine Parallele, als es nach 1653 zu keinen weiteren Bauernkriegen mehr kam und danach die Häufigkeit der Re- volten ebenfalls zurückging. Trotzdem blieb hier die Revolte in Fortsetzung einer früheren Praxis bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ein stets gegenwärti- ges und bei manchen Gelegenheiten immer noch in Anwendung gebrachtes politisches Mittel zur Artikulation und Durchsetzung von Interessen der ländlichen Untertanen.9 Der Vergleich der hier ganz kurz vorgestellten historisch-geographischen Räume belegt nicht nur in exemplarischer Weise das Vorhandensein regional unterschiedlich ausgeprägter politischer Kulturen von Protest und Wider- stand, sondern erlaubt auch eine genauere Beschreibung dieses historischen Sachverhaltes: Mit den festgestellten Unterschieden sind nicht absolute Ge- gensätze, sondern graduelle Differenzen und Abstufungen angesprochen. Was die Widerstands- und Konfliktkultur in den ostelbischen Gebieten des Alten Reiches und der Eidgenossenschaft voneinander unterscheidet, ist das für beide Gebiete je spezifische und charakteristische Mischungsverhältnis der von den ländlichen Untertanen verwendeten politischen Mittel der Inter- essenartikulation und -durchsetzung, welches über längere Zeiträume hin- weg Bestand hatte.10 Entscheidendes Kriterium, entlang dessen sich dieses Mischungsverhältnis bestimmen läßt, ist der Öffentlichkeits- bzw. Verdeckt- heitsgrad des politischen Handelns. Damit lassen sich die vorgestellten regio- nalen politischen Kulturen von Protest und Widerstand in der Weise charak- terisieren, daß im Fall der Eidgenossenschaft die offenen Formen, im Fall der

8 Das Mittel der Flucht aus einer persönlichen leibherrlichen Bindung sowie dasjenige der Pro-

zeßführung bei übergeordneten Instanzen waren in der Eidgenossenschaft entweder gänzlich unbekannt oder besaßen eine ungleich geringere Bedeutung. Es fehlten hier die dazu notwen-

digen Voraussetzungen in Gestalt der Gutsherrschaft bzw. eines der Reichsgerichtsbarkeit vergleichbar gut ausgebauten, den einzelnen Landesherrschaften oder eidgenössischen Orten

übergeordneten Gerichtswesens. 9 So die Einschätzung von H. C. Peyer, der für die Zeit nach 1653 bis zum Ende des 18. Jahr-

hunderts zwölf Untertanenrevolten gezählt hat. Vgl. ders., Verfassungsgeschichte der alten Schweiz, Zürich 1978, S. 134 ff.

10 Der Begriff „politische Kultur" wird in diesem Aufsatz in einem doppelten, d. h. weiteren und

engeren Sinn verwendet. Weiter gefaßt meint politische Kultur wie gerade an dieser Stelle das für einen historisch-geographischen Raum spezifische und charakteristische Mischungsver- hältnis der von den ländlichen Untertanen verwendeten politischen Mittel der Interessenarti- kulation und -durchsetzung. Im weiteren Verlauf dieses Aufsatzes (vgl. S. 164 f.) wird der Be-

griff auch noch in einem engeren Sinn verwendet. Enger gefaßt meint politische Kultur den bäuerlichen und obrigkeitlichen Diskurs über Legitimation von Herrschaft, der je nach dem historisch-geographischen Raum und den dort wirksamen kulturellen Traditionen und Über-

lieferungen unterschiedliche Ausprägungen kannte. Dieser je spezifische Legitimationsdis- kurs beeinflußte die Herrschaftsakzeptanz bzw. die Widerstandsbereitschaft der dort leben- den Untertanen und war ein zentraler Faktor, welcher die Formierung politischer Kulturen im weiteren Sinne beeinflußte.

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ostelbischen Gebiete dagegen die verdeckten Formen des Widerstandshan- delns von größerer Bedeutung waren. Dieser Aufsatz konzentriert sich auf die Frage, wie man das Entstehen und das Andauern von derartigen, regional ausdifferenzierten Widerstands- und Konfliktkulturen erklären kann. Die Antwort darauf erfolgt in vier Schritten. Erstens soll in Abgrenzung zu zeitgenössischen Erklärungen auf neuere theo- retische Perspektiven und Erklärungsansätze hingewiesen werden, welche die Untersuchung regional unterschiedlicher Ausformungen politischer Kultu- ren von Protest und Widerstand heuristisch anleiten können. Anschließend werden die erarbeiteten Erklärungsansätze am Beispiel der Eidgenossen- schaft auf ihre empirische Brauchbarkeit überprüft. Mit ihrer Hilfe soll ver- sucht werden, die wichtigsten Einflußfaktoren aufzuzeigen, welche die im Vergleich zum ostelbischen Raum des Alten Reiches auffallenden Merkmale der eidgenössischen politischen Kultur des offenen Protests und Widerstan- des zu erklären vermögen. Warum entstanden ausgerechnet hier, so soll mit- hin in einem zweiten und dritten Schritt geklärt werden, revoltenintensive Ge- biete und warum kam es hier unter Umständen zu Konflikten größerer Di- mensionen? In der Zusammenfassung soll abschließend gefragt werden, inwiefern die Erfahrungen und Ergebnisse der Beschäftigung mit der eidge- nössischen Konflikt- und Widerstandskultur für Forschungen in den ostelbi- schen Gebieten des Alten Reiches genutzt werden können. Den engeren Untersuchungsraum bildet das in den Zentralschweizer Voral- pen gelegene Tal Entlebuch, über welches die Stadt Luzern seit Beginn des 15. Jahrhunderts die Territorialherrschaft ausübte. Diese Auswahl läßt sich zum einen damit begründen, daß dieses Tal in geradezu beispielhafter Weise eines jener für die Eidgenossenschaft typischen revoltenintensiven Gebiete verkörpert. Die Entlebucher Untertanen waren im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit, nämlich in den Jahren 1382, 1421, 1434, 1478, 1629-36 und 1712, in nicht weniger als sechs größere oder kleinere Unruhen gegen ihre Herrschaft verwickelt. Zum anderen waren die Entlebucher Untertanen am Zwiebelnkrieg von 1513 und am schweizerischen Bauernkrieg von 1653 betei- ligt. Im letzteren, der aus heutiger Sicht nach 1525 den größten Aufstand länd- licher Untertanen in den Grenzen des Alten Reiches darstellte,11 hatten sie sogar die eindeutige Führungsrolle für die gesamte Bauernkriegsbewegung inne. Der gewählte Untersuchungsraum eröffnet also einen ausgezeichneten Zugang zum Verständnis dessen, was man im Vergleich zu den ostelbischen Gebieten des Reiches als die spezifischen Merkmale der offenen politischen Widerstands- und Konfliktkultur in der Eidgenossenschaft bezeichnen kann.

/. Zeitgenössische und neuere Erklärungsansätze. Daß das Vorhandensein re- gional unterschiedlicher politischer Kulturen bereits von Zeitgenossen wahr- genommen worden ist, läßt sich sowohl für die Eidgenossenschaft als auch für

11 Dies die Einschätzung von Bierbrauer, Revolten, S. 58.

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die ostelbischen Gebiete des Alten Reiches belegen. Die ausgeprägte Neigung der Entlebucher Untertanen zum Beispiel, ihrer Herrschaft mit offener Un- botmäßigkeit und Widerstand zu begegnen, wurde durchaus registriert, und man suchte bereits in der Zeit selber nach geeigneten Erklärungen. So bestand für den Luzerner Ratsschreiber Johann Jakob Bircher, einen Zeitgenossen der Entlebucher Revolte von 1629-36 sowie des Bauernkrieges 1653, kein Zweifel, daß die zahlreichen offenen Unruhen in diesem Tal auf nichts ande- res als auf den schlechten Charakter der dort lebenden Untertanen, auf ein „ihnen gleichsam angeborenes rebellisches Gemüet", zurückzuführen sei- en.12 Der Entlebucher Pfarrer Franz Josef Stalder wiederum, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine Abhandlung über dieses Gebiet verfaßte, bestätigte diese Ansicht. Er schrieb den Entlebuchern u. a. Charaktereigenschaften wie „Trotz", ausgeprägtes „Freiheitsgefühl" und „Stolz auf ihre Privilegien" zu.13 Im Unterschied zu Bircher, der das „rebellische Gemüet" als eine un- hinterfragbare und feststehende Tatsache vorstellte, bemühte sich Pfarrer Stalder um eine Erklärung. Im Einklang und in Übernahme zeitgenössischer Topoi, die allesamt dem Diskurszusammenhang der in dieser Zeit herrschen- den Natur- und Alpenbegeisterung entnommen waren, deutete er die behaup- teten Charaktereigenschaften als Ausdruck materieller Verhältnisse und Le- bensumstände, wie sie angeblich allein in den Alpen und Voralpen gegeben waren.14 In einem Satz: Gesunde Luft, frugale Nahrung von Milch, Butter, Käse und Fleisch, leichte und abhärtende Kleidung, die Arbeit als Hirten und Viehzüchter, die im Vergleich zum Ackerbau Zeit zur körperlichen Ertüchti- gung in Form urwüchsiger Bräuche und Sportarten wie Schwingen und Stein- stoßen ließ, prädestinierten die Entlebucher im guten Fall zu obrigkeitlich ge- schätzten Soldaten, im schlechten Fall aber eben zu „trotzigen" und „stolzen" Rebellen. Umgekehrt werden die ostelbische Untertanen in den herrschaftli- chen Quellen der Frühneuzeit in geradezu stereotyper Weise als devot, dumm, rückständig, faul heimtückisch und renitent, niemals aber als rebellisch ge-

12 Staatsarchiv Luzern, 13/3844, ohne Datum. Beschreibung der Ereignisse durch Ratsschreiber Johann Jakob Bircher.

13 F. J. Stalder, Fragmente über das Entlebuch, 2 Teile, Zürich 1787/1798, hier Teil 2, S. 8 ff. Ver- gleichbare Charakterisierungen sind auch von anderen revoltenintensiven Gebieten der Alten Eidgenossenschaft überliefert. Ulrich Bräker notierte in seiner im letzten Viertel des 18. Jahr- hunderts entstandenen Lebensgeschichte über seine Heimat Toggenburg den Satz: „Mein Va- terland ist zwar kein Schlauraffenland, kein glückliches Arabien und kein reizendes Pays de Vaud. Es ist das Tockenburg, dessen Einwohner von jeher als unruhige und ungeschliffene Leute verschrien waren." U. Bräker, Lebensgeschichte u. natürliche Abenteuer des Armen Mannes im Tockenburg, Stuttgart 1986, S. 227.

14 Vgl. zur Natur- und Alpenbegeisterung M. Weishaupt, Bauern, Hirten und „frume edle pu- ren". Bauern- und Bauernstaatsideologie in der spätmittelalterlichen Eidgenossenschaft und der nationalen Geschichtsschreibung der Schweiz, Basel 1992, S. 17 ff. G. P. Marchai, Das „Schweizeralpenland": eine imagologische Bastelei, in: ders. u. a. (Hg.), Erfundene Schweiz. Konstruktionen nationaler Identität, Zürich 1992, S. 37-49, hier S. 41. In umfassender, euro- päischen Perspektive P. Burke, Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit, München 1985, S. 22 ff.

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schildert.15 Ja Christian Garve, ein gelehrter Zeitgenosse von Pfarrer Franz Josef Stalder, unterstellte den ostelbischen Gutsuntertanen einen durch ihre materiellen Lebensverhältnisse eindeutig bestimmten „sclavischen Charak- ter" und stützte damit das weit verbreitete Vorurteil, wonach das bäuerliche Selbstbewußtsein und damit die Bereitschaft und Fähigkeit, Widerstand zu üben, in diesem Gebiet verkümmert sei.16 So sehr diese und andere frühneuzeitlichen Quellen die Existenz unterschied- licher politischer Kulturen belegen, so falsch wäre es, ihre Erklärungsweisen zu übernehmen. Das mindeste, was man gegen den Luzerner Ratsschreiber Bircher einwenden muß, ist der tautologische Charakter seiner Argumente. Von einem beobachtbaren rebellischen Verhalten auf einen unsichtbaren re- bellischen Charakter zurückzuschließen und diesen wiederum als Erklärung für eben jenes Verhalten anzubieten, welches den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildete, ist ein reiner Zirkelschluß ohne jeglichen Erklärungs- wert. Die Vorstellung eines durch die naturräumlichen und materiellen Le- bensumstände weitgehend determinierten Charakters wiederum, mit dessen Hilfe Garve und Stalder die unterschiedlichen Ausformungen politischer Kulturen zu erklären suchen, setzt auf einen psychologischen Reduktionis- mus, der tiefsitzende Vorurteile gebildeter Schichten gegenüber ländlichen Untertanen und Bauern enthüllt. Den Betreffenden wird durch eine solche Sehweise nichts weniger als der Status von autonomen Persönlichkeiten und Handlungssubjekten abgesprochen, die in aktiver und kreativer Auseinan- dersetzung mit diesen Verhältnissen Freiheitsgrade und Handlungsspielräu- me erringen, nutzen und erweitern können. Diese Kritik führt zur Frage nach befriedigenderen Erklärungsansätzen. Da- bei kann in zweifacher Hinsicht an jüngere Forschungsergebnisse angeknüpft werden. Erstens hat Jan Peters für das Gebiet der ostelbischen Gutsherrschaft die in anderen Zusammenhängen gewonnene Einsicht von James C. Scott be- stätigt, daß die in den herrschaftlichen Quellen wie gesagt regelmäßig als de- vot, dumm, heimtückisch und renitent beschriebenen bäuerlichen Haltungen und Einstellungen bei genauerem Hinsehen als Bestandteile einer virtuos ge- handhabten politischen Strategie von offener Botmäßigkeit und verdeckter Widerständigkeit gedeutet werden können, die einem präzisen Risikokalkül politischen Handelns folgte.17 Danach war es aus der Position der Schwäche, in der sich die ostelbischen Untertanen ganz besonders ausgeprägt seit dem 30jährigen Krieg gegenüber den Gutsherren bzw. gegenüber dem absolutisti- schen Staat befanden, nur folgerichtig, wenn sie die offene Konfrontation mit der Herrschaft möglichst zu vermeiden suchten. Sinnvollerweise begnügten sie sich in den meisten Fällen damit, „verdeckt" vorzugehen und ihren Herren

15 Vgl. H. Wunder, Die bäuerliche Gemeinde in Deutschland, Göttingen 1986. S. 151 f. 16 Vgl. Peters, S. 96. Zitat von Garve ebd. 17 Vgl. ebd. sowie J. C. Scott, Weapons of the Weak: Everyday Forms of Peasant Resistance,

New Haven 1985. Ders., Domination and the Arts of Resistance. Hidden Transcripts, New Haven 1990.

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oder dem Staat eben im Verborgenen, durch „heimtückisches" Schmuggeln, Stehlen und langsames Arbeiten, wenigstens einen Teil jener Vorteile abzu- trotzen, die diesen durch das Mittel der zu gefahrlich gewordenen offenen Auseinandersetzung nicht mehr abzuringen waren. Zweitens haben Winfried Schulze und Peter Bierbrauer hinsichtlich der Erforschung von Untertanen- revolten in Anlehnung an englische und französische Forschungsergebnisse davor gewarnt, die offene Revolte als eine „plötzliche Eruption", „blinde Kraft" und dergleichen mehr aufzufassen, und stattdessen betont, daß solche Konflikte im Zusammenhang mit friedlichen Mitteln der Interessendurchset- zung bzw. weniger risikoreichen Formen des verdeckten oder prozessualen Widerstandes erforscht werden müssen.18 Die in den letzten Jahren entstan- denen Fallstudien zu Untertanenrevolten haben diese Forderungen in ver- schiedener Hinsicht empirisch einzulösen versucht und tatsächlich zahlreiche Belege dafür beigebracht, daß das Überschreiten der Schwelle, an welcher der verdeckte Widerstand zu offenen und vor allem zu gewaltsamen Widerstands- formen übergeht, wiederum einen sinnvollen strategischen Entschluß spie- gelte.19 Aus diesen und anderen Ergebnissen läßt sich nun insgesamt die Vorstellung entwickeln, daß das politische und übrigens auch wirtschaftliche Handeln von Bauern und ländlichen Untertanen in der Frühen Neuzeit - genau wie dasjenige anderer und heutiger Akteure auch - als „rational" gelten kann.20 In der Tat denke ich, daß mit dieser Perspektive von rational handelnden Ak- teuren ein Ansatz gefunden ist, welcher die Ausbildung regional unterschied- licher politischer Widerstandskulturen erklären kann. Allerdings ist es unter Berücksichtigung der Schranken und Fesseln, an welche das rationale Ent- scheidungskalkül von Akteuren stets gebunden bleibt, heute vorzuziehen,

18 Vgl. W. Schulze, Bäuerlicher Widerstand u. feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit, Stutt-

gart-Bad Cannstatt 1980, S. 141 f. Bierbrauer, Revolten, S. 17. Mit den englischen bzw. franzö- sischen Forschungsergebnissen sind vorab die Warnung von E. P. Thompson vor einer „spas- modic view of populär history" sowie das Insistieren von Y.-M. Berce, wonach Unterta- nenrevolten und allgemeiner, politische Gewalt als ein „fait culturel" zu betrachten seien, angesprochen. Vgl. E. P. Thompson, The Moral Economy of the English Crowd in the

Eighteenth Century, in: PP 50. 1971, S. 76-136, hier S. 76; Y.-M. Berce, Revoltes et revolutions dans l'Europe moderne (XVIe-XVIIIe siecle), Paris 1980, S. 256.

19 Im Fall der Basler „Troublen" (1726-1740) beispielsweise war dies die doppelte Einsicht der Aufständischen, daß einerseits der Prozeß beim Reichshofrat in Wien keine Ergebnisse zeigte und daß andererseits das Reich und die verbündeten eidgenössischen Orte nicht in der Lage waren, sie mit militärischen Mitteln an der gewaltsamen Durchsetzung ihrer Interessen zu hindern und zur Rechenschaft zu ziehen. Vgl. A. Suter, „Troublen" im Fürstbistum Basel (1726-1740). Eine Fallstudie zum bäuerlichen Widerstand im 18. Jh., Göttingen 1985, S. 55.

20 Als rational handelnde Akteure werden Bauern und ländliche Untertanen in den Schlußfol-

gerungen verschiedener jüngerer Fallstudien charakterisiert. Siehe Suter, „Troublen", S. 39 f. W. Trossbach, Bauernbewegungen im Wetterau-Vogelsberg-Gebiet 1648-1806. Fallstudien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich, Darmstadt 1985, S. 499 f. E. E. Weber, Städti- sche Herrschaft u. bäuerliche Untertanen im Alltag u. Konflikt: Die Reichsstadt Rottweil u. ihre Landschaft, Rottweil 1992, S. 760. Sehr ähnlich auch Bierbrauer, Freiheit, S. 364, der von einer „Kompetenz zu zielvollem politischen Handeln" ländlicher Untertanen spricht.

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nicht mehr von „rational", sondern lediglich von „kompetent" oder „prag- matisch" handelnden politischen Akteuren zu sprechen.21 Ausgehend von ei- ner Perspektive pragmatisch und kompetent handelnder Akteure und in An- lehnung an frühere Überlegungen zu revoltenintensiven Gebieten sowie zur räumlichen Verteilung von Revolten im Alten Reich kann man vereinfachend vier Faktoren unterscheiden, die das Risiko- und Entscheidungskalkül in Konfliktsituation bestimmen und den Handlungssubjekten diese oder jene Form des Widerstandes nahelegen.22 1. Das unterschiedlich große Risiko, Opfer repressiver Gegenmaßnahmen zu werden, welches die einzelnen Formen des Widerstandes für die Beteiligten mit sich bringen. Kriterien, nach denen sich die Risikoträchtigkeit der einzel- nen Widerstandsformen bestimmen lassen, sind einmal der Öffentlichkeits- grad der Aktion, dann das Ausmaß und die Eindeutigkeit, mit der eine Wider- standsaktion herrschende Normen, Gesetze und obrigkeitliche Anordnun- gen verletzt, schließlich die Anzahl der Menschen, die zur Durchführung einer bestimmten Widerstandsform notwendig sind und also Risiken auf sich nehmen müssen. Will man einen regelhaften Zusammenhang formulieren, so kann man sagen, daß das Risiko einer Widerstandsform mit dem ihr eigen- tümlichen Grad der Öffentlichkeit, dem Ausmaß und der Eindeutigkeit der Norm- und Gesetzesverletzungen und schließlich mit der Zahl der involvier- ten Menschen zu- oder abnimmt. 2. Die Fähigkeit zum Handeln oder konkreter: die den Akteuren zur Verfü- gung stehenden Fähigkeitspotentiale und Aktionsmittel. Diese werden we- sentlich beeinflußt durch das Ausmaß der materiellen, personellen und kultu- rellen Ressourcen aller Art, welche die verschiedenen, an einem Konflikt be- teiligten Akteure auf der Grundlage im Alltag bestehender oder im Konflikt aufgebauter informeller und formeller Organisationsstrukturen mobilisieren können. Die Fähigkeit der Ressourcenmobilisierung macht in letzter Instanz die autonome Stärke einer Bewegung aus und beeinflußt ganz entscheidend ihren Grad zur Risikobereitschaft. 3. Die sich den Akteuren bietenden Gelegenheiten zum Handeln. Handlungs- gelegenheiten können als eine Folge von Umständen, Verhältnissen und Kon- stellationen definiert werden, die außerhalb des direkten Einflußbereiches und der direkten Kontrolle der Akteure stehen. Solche Gelegenheiten können plötzlich eintreten oder schon längere und gar sehr lange Zeit bestehen. Wich- tig ist, daß sie in ihren Auswirkungen einen der beiden Kontrahenten stärken bzw. schwächen und insbesondere das Risiko und die Wirkung von repressi- ven herrschaftlichen Gegenmaßnahmen verringern.

21 Vgl. zu dieser von H. A. Simon inspirierten Diskussion um die „Bounded Rationality" im Zusammenhang mit sozialen Konflikten R. Aya, Rethinking Revolutions and Collective Violence. Studies on Concept, Theory and Method, Amsterdam 1990, S. 93 ff.

22 Grundlegend R Blickle, Bäuerliche Erhebungen im spätmittelalterlichen deutschen Reich, in: ZAA 27. 1979, S. 208-31; Berce, revoltes, S. 146 f., und Aya, S. 99 f.

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Regionale politische Kulturen von Protest und Widerstand 169

4. Die kulturell vermittelten Grade von Herrschaftsakzeptanz und Wider- standsbereitschaft. Max Weber hat wie kein zweiter die kulturellen Funda- mente von Herrschaft betont.23 Damit eine Herrschaft auf Dauer stabil blei- ben kann, genügt die Möglichkeit der Regierenden, Macht und Gewalt auszu- üben, nicht. Notwendig ist vielmehr die freiwillige Anerkennung von Herrschaft, die der „Alltagsglaube" der regierten Akteure an die Rechtmä- ßigkeit von Herrschaft gründet. Allerdings ist dieser Glaube in den seltensten Fällen total und umfassend. Es gibt vielmehr kulturell vermittelte Grade der Herrschaftsakzeptanz und der Widerstandsbereitschaft. Denn die kulturelle Überlieferung kennt eine Vielzahl und in unterschiedlichen historisch-geo- graphischen Räumen stets variierende Anzahl konkurrierender Werte und Vorstellungen, die den alltäglichen Herrschaftsglauben der Akteure schwä- chen und die Widerstandsbereitschaft erhöhen. Folgt man diesen Überlegungen, so läßt sich von den Trägern der eidgenössi- schen politischen Kultur des offenen Protestes und Widerstands sagen, daß sie im Vergleich zu den ostelbischen Untertanen im Alten Reich über längere Zeiträume hinweg überaus große Risiken eingegangen sind. Denn tatsächlich waren Revolten und, noch ausgeprägter, Bauernkriege für die Beteiligten nach allen genannten Maßstäben extrem risikoreich. Unter Umständen droh- ten Strafen an Hab und Gut, Leib und Leben. Umgekehrt ist zu vermuten, daß die Träger dieser regionalen Kultur von manifester Widerständigkeit, bei denen es sich ja weder um todesmutige Helden noch um risikoblinde Verrück- te, sondern wie anderswo um kompetent urteilende und pragmatische Akteu- re handelte, aufgrund der in diesem geographisch-historischen Raum gegebe- nen Handlungsfähigkeiten, Handlungsgelegenheiten und kulturell vermittel- ten Graden geringerer Herrschaftsakzeptanz in besonderer Weise fähig und bereit waren, diese hohen Risiken einzugehen. Daß diese Vermutung zutrifft, möchten die folgenden Ausführungen zeigen, wobei die Darstellung der kul- turellen Faktoren angesichts ihrer Komplexität etwas mehr Raum beanspru- chen wird.

//. Das Luzerner Tal Entlebuch als revoltenintensives Gebiet: Fähigkeit zum Handeln: Betrachtet man die verschiedenen Entlebucher Revolten im Über- blick, kann man folgende Beobachtung anstellen:24 Während bei einer Viel- zahl von Untertanenrevolten in erster Linie die Dorfgemeinde als Trägerin

23 Vgl. M. Weber, Grundriß der Sozialökonomik. III. Abteilung: Wirtschaft u. Gesellschaft, Tübingen 1922, S. 28.

24 Den besten Überblick der verschiedenen Unruhen im Entlebuch im besonderen und auf der Landschaft Luzern im allgemeinen gibt immer noch P. A. v. Segesser, Rechtsgeschichte der Stadt u. Republik Luzern, 4 Bde., Luzern 1851-1858, hier Bd. 3, S. 196-334. An neueren Ar- beiten seien erwähnt: G. P. Marchai, Sempach 1386. Von den Anfangen des Territorialstaates Luzern, Basel 1986, S. 162-67; für die Vorgänge von 1382 B. Vögeli, Der Rothenburger Auf- stand von 1570, in: Jb. der Historischen Gesellschaft Luzern 10. 1992, S. 2-40. M. Merki, Un- ruhige Untertanen: Der Aufstand der Luzerner Bauern von 1712, unveröfifentl. Lizentiatsar- beit, Zürich 1989.

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170 Andreas Suter

des offenen Widerstandes auftrat, wurde diese Rolle im Entlebuch regelmäßig durch das „Land" übernommen.25 Bereits im Jahr 1385 waren es „Wir, die Landleut gemeinlichen des landes ze Entlibuch", die in ihrem doppelten Kon- flikt mit ihren österreichischen Pfandherren Peter von Torberg um das Aus- maß ihrer gewohnheitsrechtlichen Autonomie einerseits und mit dem benach- barten Land Unterwaiden um strittige Alprechte andererseits in den Quellen als handelnder Verband faßbar werden und ein Burgrecht mit der Stadt Luzern eingingen.26 Seither änderte sich an der überragenden Bedeutung des Landes Entlebuch als tragender Struktur der politischen Willensbildung und des politischen Handelns bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts und dem En- de der Alten Eidgenossenschaft nichts. Bei allen späteren Konflikten, bei- spielsweise beim Bauernkrieg 1653, bildeten wiederum das Land und seine Organe, d. h. die Tal- bzw. Landesgemeinde sowie ihre richterlichen und mili- tärischen Funktionsträger (die 40 Geschworenen der drei Gerichte, Lan- despannermeister, Landeshauptmann, Landesfendrich), die soziologisch betrachtet eine mehr oder weniger geschlossene Führungsgruppe von einhei- mischen Honoratioren bildeten, das organisatorische Rückgrat des Wider- standshandelns. So war der erste Klagekatalog an die aus ehemaligen Verbün- deten zu Territorialherren gewordenen Räte der Stadt Luzern vom 6. Februar 1653 im Namen von „Landtpannermeister, Landthauptmann, Landtvend- rich, der gemein 40 samt der ganzen gemein des Landts Entlibuoch" abgefaßt worden.27 Tatsächlich besaßen aber nicht nur das Entlebuch, sondern auch die anderen revoltenintensiven Gebiete der Eidgenossenschaft eine solche Landesverfas- sung, die sich durch das Fehlen eigentlicher Dorfgemeinschaften als einer er- gänzenden und kleinräumigeren Stufe ländlicher Vergesellschaftung aus- zeichnete. Alle diese revoltenintensiven Gebiete waren nämlich in der voralpi- nen Hügelzone gelegen, in der Bodenbeschaffenheit und Klima schon früh eine auf Viehzucht ausgerichtete Wirtschaft mit aufgelockerter Streusied- lungsweise begünstigten und in welcher sich umgekehrt eigentliche Dorfge- meinschaften mit Getreide- und Dreizelgenwirtschaft nie ausbilden konnten. An die Stelle einer Vielzahl von ländlichen Dorfgemeinden trat damit im Ent- lebuch und in den übrigen revoltenintensiven Gebieten der Eidgenossen- schaft die politische Struktur des Landes. Dies bestätigt die Feststellung, daß die Verfassungsstrukturen des „Landes" die Fähigkeiten der ländlichen Un- tertanen zum Widerstand in ganz besonderer Weise erhöhten.28

25 „Land" wird im folgenden im Sinne von O. Brunner, Land u. Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Wien 1965, S. 194 f. verwendet und beinhaltet, daß das Entlebuch ein einheitliches Landrecht, eine Landgemeinde als Rechtssubjekt und ein Landesbewußtsein besaß, wie es unter anderem in distinktiven Rechts- symbolen des Landessiegels und des Landesbanners zum Ausdruck kam. Siehe auch F. Glau- ser, Das Entlebuch im Mittelalter, in: Der Geschichtsfreund 142. 1989, S. 49-65.

26 Zitat ebd., S. 64. Siehe auch Marchai. Semoach 138& S. 162-67. 27 Staatsarchiv Luzern, 13/3573, 6. Februar 1653. 28 Dies die These und Beobachtung von Blickle, Bäuerlich Erhebungen.

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Regionale politische Kulturen von Protest und Widerstand 171

Eine Erklärung dieses Sachverhaltes kann davon ausgehen, daß das Land ge- nau wie die Dorfgemeinde für die innerhalb seiner Grenzen lebende Bevölke- rung eine ganze Reihe vitaler Funktionen, angefangen* von der Rechtspre- chung, der Regelung von Nutzungsangelegenheiten, über Fragen der Militär- organisation bis hin zu kulturellen Aufgaben, erfüllte. Die Organisation des Landes und seiner Organe bildeten demnach eine soziale Sphäre, wo sich viel- faltige Kontakte, Aktivitäten und Formen institutionalisierter Zusammenar- beit der ländlichen Bevölkerung überkreuzten und bündelten. Anders als in der Dorfgemeinde war aber der Aufgaben- und Kompetenzenbereich des Landes, in dem die Landleute mit der eingesessenen Führungs- und Honora- tiorenschicht an der Spitze die verschiedensten Angelegenheiten in weitge- hend autonomer Weise regelten, nicht nur in inhaltlicher, sondern vor allem auch in räumlicher Hinsicht sehr viel weiter gezogen. Die im Land und seinen Organen institutionalisierte Zusammenarbeit der Bevölkerung erstreckte sich über ein um ein Vielfaches größeres Gebiet und erfaßte sehr viel mehr Menschen und materielle Ressourcen als die Dorfgemeinde. Eine Vorstellung von den Größenordnungen, um die es hier geht, vermitteln bereits einfache

Bevölkerungszahlen. Im Jahr 1600 betrug die Bevölkerung des Landes Entle- buch 4450 Menschen. Mit dieser Zahl wurde sogar die Bevölkerung des tradi- tionellen politischen Widersachers der Entlebucher Untertanen übertroffen, denn im selben Zeitraum zählte man in der Stadt Luzern nur etwa 4100 Be- wohner.29 Die herausragenden Möglichkeiten der Ressourcenmobilisierung für den Wi- derstand, die den ländlichen Untertanen unter Ausnutzung der im Alltag ein-

gespielten oder gar institutionalisierten Formen der Zusammenarbeit im Rahmen des Landes gegeben waren, zeigt unter anderem eine Episode aus der

Frühphase des Bauernkrieges 1653. Sie ereignete sich im Anschluß an die Ver-

sammlung sämtlicher Entlebucher Untertanen vom 10. Februar 1653, die den

wichtigen Beschluß gefaßt hatte, das erfolglos gebliebene Vorgehen, „dass nüt böse, sonder alles bittwys" erfolge, wie ein Entlebucher die bedeutsame und bei allen Überlegungen stets mitgedachte Schwelle zwischen der legalen Sup- plikation und der illegalen und risikoreichen Revolte umschrieben hat, aufzu-

geben und stattdessen zum manifesten Widerstand überzugehen.30 Als Kon-

sequenz dieser Entscheidung inszenierte die lokale Führungsgruppe des Lan- des, die sich an die Spitze der Revolte gesetzt hatte, bereits kurze fünf Tage später eine eindrückliche Machtdemonstration, die in einem buchstäblichen Sinn die ganze männliche Bevölkerung des Tales auf die Beine zu bringen ver- mochte. An dem Quartier der hohen Luzerner Ratsdelegation, die sich zu Ver-

handlungen ins Tal begeben hatte, marschierten unter wehenden Fahnen, dumpfen Alphornstößen und schrillen Pfeifentönen nicht weniger als 1400 bewaffnete Männer in bester militärischer Ordnung vorbei, um sich anschlie-

29 Diese Zahlen nach M. Körner, Luzerner Staatsfinanzen 1415-1798, Luzern 1981, S. 408 f. 30 Staatsarchiv Luzern, 13/3570, ohne Datum, Amstatt Zolliker relatiert den Januar 1653.

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ßend zur Landgemeinde zu versammeln.31 Die Anführer der Revolte zeigten damit ihre außerordentliche militärische Kraft, die derjenigen der Stadt Lu- zern ebenbürtig war, und welche sie dank der bestehenden Organisations- strukturen des Landes rasch und reibungslos, gleichsam aus dem Stand mobi- lisieren konnten. Wenn man diesen Vorgang mit dem aus anderen Bauernauf- ständen bekannten, mühseligen, langwierigen und oft auch scheiternden Konsens- und Entscheidungsfindungsprozeß vergleicht, der zwischen einer Vielzahl von einzelnen Dorfgemeinden notwendig war, um auch nur annä- hernd vergleichbare Mobilisierungsleistungen zu erbringen, wird deutlich, in welch großem Ausmaß die Landesverfassung die Fähigkeiten zum offenen Widerstand erweiterte.32

Gelegenheiten zum Handeln: Eine zweite Regelmäßigkeit, die im Überblick der Entlebucher Unruhen auflallt, betrifft die Tatsache, daß die ländlichen Untertanen ständig von außen, d. h. von den benachbarten Länderorten und vor allem vom direkt angrenzenden Unterwaiden, Unterstützung erhielten oder mindestens eine solche Unterstützung erwarten durften. Dieser Faktor ist erstmals beim Konflikt im Jahr 1382 gegen die durch Peter von Torberg ausgeübte habsburgisch-österreichische Pfand- und Adelsherrschaft, dann 1421 bei der Entlebucher Huldigungsverweigerung gegenüber der Stadt Lu- zern, besonders deutlich aber beim sogenannten Amstaldenhandel 1478 und bei der Rebellion der Luzerner Landschaft im Rahmen des zweiten Villmer- gerkrieges (1712) nachzuweisen. Sofern die Entlebucher die eidgenössischen Länderorte Uri, Schwyz und Unterwaiden in dem sich 1478 abzeichnenden Krieg gegen Luzern unterstützen würden, versprach ihnen der Landamman vom Unterwaiden im Gegenzug, sie von der Territorialherrschaft der Stadt Luzern zu befreien und ihnen zu einer Verfassung nach dem Vorbild der Land- gemeindekantone zu verhelfen. Er wollte mit anderen Worten „helfen, dz ir fry und selber Herren werdent".33 Mit genau demselben Versprechen wurden die Entlebucher zusammen mit anderen Luzerner Untertanen 1712 dazu bewegt, im Verein mit den katholisch gebliebenen Zentralschweizer Länder- orten den Krieg gegen die reformierten Städteorte Bern und Zürich fortzuset- zen, obwohl die eigene Luzerner Obrigkeit entgegen der Absicht der verbün- deten Länderorte Uri, Schwyz und Unterwaiden bereits Friedensverhandlun- gen in Gang gebracht hatte. So stiftete ein Bote aus Obwalden die Luzerner Untertanen mit dem Argument zur Fortsetzung des Krieges bzw. zur Revolte

31 Staatsarchiv Bern, A IV 181, 6./16. Februar 1653. 32 Es sei daraufhingewiesen, daß im Rahmen einer ausfuhrlichen Diskussion der Handlungsfä-

higkeit noch andere Faktoren, wie z. B. die militärisch günstige Lage des Entlebuchs oder die durch das Milizwesen und durch den Söldnerdienst vermittelten besonderen militärischen Fähigkeitspotentiale, dargestellt werden müßten. Vgl. im übrigen als Beispiel für den mühse- ligen und langwierigen Konsensfindungsprozeß bei Revolten mit Dreizelgendorfverfassung Suter, „Troublen", S. 147 ff.

33 Zit. nach T. v. Liebenau, Der Hochverratsprozeß des Peter Amstalden, in: Geschichtsfreund 37. 1882, S. 85-192, hier S. 162.

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Regionale politische Kulturen von Protest und Widerstand 173

an, daß „man den Landleuten von Luzern an die Hand gehen, und sie frei ma- chen wolle, wie die von Obwalden seien; die Stadt Luzern müsse ein offener Flecken werden".34 Daß sich dem Widerstand der ländlichen Untertanen in der Eidgenossen- schaft durch die sehr häufige Unterstützung und zuweilen sogar Anstiftung von außen überaus vorteilhafte, ja ausgezeichnete Handlungsgelegenheiten eröffneten, ist durch eine Vielzahl von Fällen belegt worden.35 Nun ist es nichts Außergewöhnliches und eine auch aus anderen Gebieten bekannte und alte Taktik, daß Könige, Fürsten, Adlige und städtische Territorialherrschaf- ten im Falle von Spannungen und Konflikten untereinander die Untertanen des Gegners zum Widerstand und zur Rebellion anstifteten oder sie darin un- terstützten, um den Widersacher durch dieses Mittel zu schwächen.36 Aller- dings machten es die politischen Verhältnisse in der Eidgenossenschaft mög- lich, daß hier dieses Mittel für einige Orte besonders gefahrlos und entspre- chend besonders häufig angewendet werden konnte. Angesprochen ist damit der Unterschied zwischen den sogenannten Länderorten und den Städteor- ten. Während es in den letzteren einen privilegierten, durch Mauern tatsäch- lich und auch symbolisch ausgegrenzten und geschützten Rechtskreis gab, dessen Organe gegenüber einem abhängigen, politisch, sozial und wirtschaft- lich schlechter gestellten ländlichen Territorium die alleinige Souveränität und Herrschaft ausübten, kannten die Länderorte die Institution der Stadt als einen privilegierten Rechtskreis nicht. An deren Stelle trifft man hier lediglich auf die in den Quellen als „Flecken" bezeichneten Hauptorte, die offen, ohne Stadtmauern in der Landschaft standen und deren Bewohner sich in rechtli- cher Hinsicht in keiner Weise von der Landbevölkerung unterschieden.37 Zwar verfügen diese Länderorte durchaus auch über umfangreiche, abhängi- ge Untertanengebiete, aber diese lagen in erster Linie jenseits des Alpen- kamms im heutigen Tessin. Entsprechend gab es mindestens im Kerngebiet der Länderorte keine ländlichen Untertanen, sondern es waren hier vielmehr die Gesamtheit der in dem Hauptort und auf der Landschaft lebenden einge- sessenen Einwohner und ihre Organe, die Landgemeinde und der Landam- mann, welche die oberste Souveränität und Herrschaft ausübten. In Phasen von politischen Spannungen oder gar offener Konflikte mit Städte- orten zogen die Länderorte aus diesen politischen Verhältnissen durchaus Vorteile. Zwar waren ihnen die Städteorte gemessen an der Wirtschafts- und Finanzkraft, an der Zahl der Einwohner und der Größe des Territoriums überlegen. Ein ausgleichendes Gegengewicht dazu bildete aber die politische, soziale und wirtschaftliche Ungleichheit zwischen Stadt und Land und die 34 Zit. nach K. Mäder, Bauernunruhen in der Eidgenossenschaft vom 15.-17. Jh., in: W. Schulze

(Hg.), Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa, Stuttgart 1983, S. 76-88, hier S. 87.

35 Vgl. ebd. und W. Schaufelberger, Spätmittelalter, in: Hb. der Schweizer Geschichte, Zürich 1972, Bd. 1, S. 239-368, hier S. 268 ff.

36 Vgl. Berce, revoltes, S. 253. 37 Siehe das Quellenzitat oben, S. 169.

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sich daraus ergebende, latent stets vorhandene Konfliktlage zwischen ländli- chen Untertanen und Stadtbewohnern. Diese begründete eine strukturelle Schwachstelle der Städteorte, welche von den Länderorten regelmäßig ausge- nutzt wurde. Wie das Beispiel Entlebuch zeigt, wurden die ländlichen Unter- tanen der Städteorte in Zeiten erhöhter zwischeneidgenössischer Spannun- gen und offener Konflikte, die sich im 14. und 15. Jahrhundert zumeist an territorialen, vom 16. bis 18. Jahrhundert an religiösen Streitigkeiten und In- teressengegensätzen entzündeten, in ihrem Widerstand bestärkt oder sogar erst eigentlich dazu angestiftet. Die Tatsache, daß die revoltenintensiven Ge- biete der Schweiz allesamt im Einflußbereich der Länderorte lagen, ist dem- nach kein Zufall. Vielmehr bestätigt sie die Bedeutung der geschilderten Zu- sammenhänge für das Entstehen revoltenintensiver Gebiete.

Kulturell vermittelte Grade der Herrschaftsakzeptanz und Widerstandsbereit- schaft: Im Typus der traditionalen Herrschaft, mit dessen Hilfe sich auch die politischen Verhältnisse in der Eidgenossenschaft des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit in idealer Weise beschreiben lassen, beruht die kulturell vermittelte kollektive Herrschaftsakzeptanz „im Alltagsglaube[n] an die Hei- ligkeit von jeher geltender Traditionen".38 Damit ist mit etwas anderen Wor- ten gesagt, was uns in den Quellen in der geradezu formelhaften Wendung von der „natürlichen von Gott gesetzten Oberkeit" begegnet, wie sie der Rat von Luzern etwa in Mandaten, in den Eidformeln sowie im schriftlichen Verkehr immer wieder benutzte und den Untertanen nahezubringen versuchte.39 Nach dieser Formel war die Landesherrschaft der städtischen Obrigkeit über ihre ländlichen Untertanen also Ausdruck einer von Gott geschaffenen, heili- gen und seit jeher bestehenden Ordnung und Harmonie, wie sie durch die ebenfalls als ewig gedachten göttlichen Gesetze hergestellt wurden. Diese Ordnung und Harmonie regierten sowohl die Natur als auch das Zusammen- leben der Menschen, welche ähnlich der im Tierreich herrschenden Hierar- chie entsprechend dem Geburtsstand je bestimmte funktionale Aufgaben und gesellschaftliche Positionen zugewiesen bekamen. Es ist im einzelnen schwer zu beurteilen, wie weit sich die Untertanen diese Vorstellung zu eigen gemacht haben. Daß sie aber von den Regierten minde- stens in Grenzen akzeptiert wurde, belegt eine Vielzahl von Hinweisen aus dem Umfeld des Bauernkrieges 1653, in denen Untertanen selber auf diese Analogie zwischen der politischen und natürlichen Ordnung Bezug nehmen: Wie ein jedes Kind einen Vater, jeder menschliche oder tierische Körper einen Kopf, jedes „Schefflin" einen „Schaffhirdten" besitze, so müsse auch jeder

38 Weber, S. 124. 39 Aus der Fülle der Belegstellen sei stellvertretend zitiert Lucretius de Pravedan, Manifest oder

ausführlicher gründtlicher Bericht der Streitigkeiten zwischen löbl: Statt Lucern an einem und Land Entlibuch, o.O. 1653, S. 19, Bürgerbibliothek Luzern. Lucretius de Pravedan war ein Pseudonym des Luzerner Ratschreibers. Im folgenden zit. als Manifest des Luzerner Rat- schreibers 1653.

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Mensch einer Obrigkeit Untertan und gehorsam sein, welche allein die Unter- tanen vor dem „fremden schedlichen fressigen Wollf ' zu schützen vermöge.40 Auf eine breitere Akzeptanz dieser Herrschaftskonzeption verweist auch die aus anderen Gebieten überlieferte Vorstellung, daß diejenigen, die von der na- türlich-göttlichen Ordnung zum Herrschen bestimmt waren, von Geburt an besondere Auszeichnungen - zumeist ein göttliches Kreuz - am Körper tru- gen oder etwa über sakrale Heilungskräfte verfügten, die sie mit ihrem Blut an ihre ebenfalls zum Regieren ausgewählten Nachkommen weitervererbten.41 Es war zwingende Konsequenz und Absicht einer solchen Sakralisierung und Naturalisierung der städtischen Herrschaft, daß kein Mensch das Recht oder gar die Kraft hatte, an dieser Ordnung etwas zu ändern. Auflehnung und Rebellion waren nicht nur illegitim und unchristlich; sie richteten sich viel- mehr auch gegen die Allmacht Gottes bzw. die ewigen Gesetze der Natur und waren damit notwendigerweise zum Scheitern verurteilt. Deshalb führte die Rebellion die Urheber in jedem Fall „selbs zur Verdambnus",42 wie die Lu- zerner Obrigkeit 1653 betonte, oder sie war, angesichts ihres unausweichlich eintretenden Mißerfolgs, nichts weniger als ein gänzlich närrisches Unterneh- men, wie ein Luzerner Stadtbürger die Entlebucher Untertanen belehrte: Denn „welcher Gott, das wätter oder die oberkeit tadle, der sye ein Narr".43 Auf der anderen Seite gab es im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit eine gelehrte wie volkskulturelle Überlieferung von alternativen Vorstellungen, welche die stabilisierende Wirkung jener Konzeption der ständischen Herr- schaft als einer natürlichen, göttlichen und unvergänglichen Schöpfung schwächten, ja zeitweilig außer Kraft setzten und den Widerstand dagegen weniger hoffnungslos und verdammenswert erscheinen ließen.44 Sie reichten von der einfachen, durch Karnevalsbräuche und mannigfaltige Umkehrriten stets wachgehaltenen Hoffnung, daß man die scheinbar natürlichen Hierar- chien auf den Kopf stellen und die Welt in ihr Gegenteil verkehren könne, über die direkt dem Evangelium entnommene Vorstellung einer natürlichen Gleichheit aller Menschen bis hin zu den verbreiteten Konzeptionen des „Al- ten Rechtes" und der „Billigkeit", welche beide ein Widerstandsrecht der Un- tertanen begründeten. „Altes Recht" meinte, daß die schriftlich oder im Brauchtum fixierten Dorfordnungen und Landesrechte aller Art ebenfalls göttlichen Ursprungs seien und deshalb von den Obrigkeiten wie Unter-

40 Staatsarchiv Luzern, 13/3573, 6. Februar 1653. Der Vergleich von Hirte und Schafherde stammt von Basler Untertanen, zitiert nach A. Heusler, Der Bauernkrieg von 1653 in der Landschaft Basel, Basel 1854, S. 94.

41 Nach Y.-M. Berce, Le roi cache. Sauveurs et imposteurs. Mythes politiques populaires dans l'Europe moderne, Paris 1990, S. 380 ff., verfügten nicht nur der französische König, sondern nach einer regionalen Tradition auch die habsburgisch-österreichischen Herrscher über die Kraft, die Krankheit des Kropfs und die Skrofulöse zu heilen. Zudem trugen die letzteren von Geburt an ein wunderbares Kreuz am Körper.

42 Manifest des Luzerner Ratschreibers 1653, S. 11. 43 Staatsarchiv Luzern, 13/3580, 22. Februar 1653. 44 Vgl. zum folgenden Schulze, Widerstand, S. 115 ff., sowie die dort aufgeführte Literatur.

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tanen unter allen Umständen eingehalten werden mußten. War dies nicht mehr der Fall, hatten die Untertanen sowohl das Recht als auch die Pflicht zum Widerstand. „Billigkeit" beinhaltete die Vorstellung, daß ein jedes Herr- schaftsverhältnis auf Gegenseitigkeit beruhe und deshalb die Regierten wie Regierenden über die Einhaltung der fixierten alten Rechte hinaus zur Erfül- lung gewisser elementarer Leistungen verpflichte. Dazu gehörte beispielswei- se, daß jede Herrschaft ihren Untertanen im Ausgleich für deren materiellen Leistungen militärischen Schutz und Rechtssicherheit bieten mußte. Während naturrechtliche Vorstellungen im Entlebuch und auch in anderen revoltenintensiven Gebieten der Eidgenossenschaft praktisch keine Rolle spielten, waren die anderen erwähnten Legitimations- und Motivationsfigu- ren von Widerstand bei den zahlreichen Entlebucher Unruhen allgegenwär- tig. Große Bedeutung kam auch dem Rekurs auf das „Göttliche unnd natürli- che Gsatz, welches . . . das rechte Landrecht ist", zu.45 Dies konnte um so eher geschehen, als das in verschiedenen Verträgen fixierte Landrecht wie er- wähnt einen sehr weiten Kompetenzen- und Autonomiebereich absteckte und also eine sehr gute rechtliche Basis abgab, um dem Versuch einer Ausweitung des herrschaftlichen Einflusses entgegentreten zu können. Der Vorwurf wie- derum, die Obrigkeit bzw. der Feudalherr habe das Gebot der „Billigkeit" verletzt und wäre insbesondere seinen militärischen Schutzpflichten nicht nachgekommen, war bereits 1380 und erneut 1712 ein zentrales Moment der Rechtfertigung. Zuweilen kann man auch beobachten, daß der Widerstand durch die Utopie motiviert war, die gesellschaftlichen Rollen vertauschen und die Hierarchien umstürzen zu können. So formulierten Rothenburger Unter- tanen im Aufstand 1570 die Absicht, sie wollten in die Stadt Luzern ziehen und „in die beltzröck" - dieses Kleidungsstück war ein wichtiges äußeres Unterscheidungs- und Erkennungsmerkmal der Ratsherren - „schlüffen".46 Und im Bauernkrieg von 1653 mußte sich der Luzerner Schultheiss Dulliker sagen lassen, daß „die Entlibuocher hievor Muos habindt ässen müessen, jetz- under muessint sie zue Lucern . . . Muos ässen".47 Entscheidend für das Entstehen revoltenintensiver Gebiete war weiterhin, daß die Widerstandsbereitschaft der ländlichen Untertanen durch ein kultu- relles Moment gefördert wurde, welches man mit dem Begriff des Geschichts- bewußtseins umschreiben kann.48 Mit diesem Begriff sind vage, ungenaue und bruchstückhafte kollektive Erinnerungen und Vorstellungen von vergan- genen historischen Prozessen gemeint, die aber bei all ihrer Unscharfe und Lückenhaftigkeit im Umfeld einer traditional legitimierten Herrschaft eine

45 Staatsarchiv Luzern, 13/3601, 12. März 1653. 46 Zitiert nach Vögeli, S. 28. 47 Staatsarchiv Bern, A IV 181, 9./19. Februar 1653. 48 Vgl. zum Begriff des Geschichtsbewußtseins H. Patze (Hg.), Geschichtsschreibung u. Ge-

schichtsbewußtsein im späten Mittelalter, Sigmaringen 1987, und darin insbesondere G. P. Marchai, Die Antwort der Bauern. Elemente u. Schichtungen des eidgenössischen Ge- schichtsbewußtseins am Ausgang des Mittelalters, S. 757-90.

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ausgesprochen kritische, ja subversive Kraft entfalteten. Konkret zu fassen ist dieses Geschichtsbewußtsein in Gestalt einer unter den Entlebucher Unterta- nen verbreiteten Einsicht und Erfahrung, die sich aus der Existenz der be- nachbarten Länderorte herleitete: Danach wußte man ganz genau, daß es nicht eine einzige göttliche und natürliche Ordnung gab, die stets nur länd- liche Untertanen und städtische Herren kennen mußte. Vielmehr zeigten die im Kernbereich der Länderorte gegebenen Verfassungsverhältnisse, daß die historische Entwicklung verschiedene Formen der politisch-sozialen Organi- sation ermöglichte, darunter auch die eines souveränen, von städtischer Herr- schaft freien Landes. Vor dem Hintergrund dieser Einsicht wurden alle Versu- che der Luzerner Obrigkeit, ihre Herrschaft als die einzige und ewige, natür- lich-göttliche Ordnung darzustellen und damit zu stabilisieren, ständig unterlaufen und kritisiert. Tatsächlich zogen die Entlebucher Untertanen bei verschiedenen Gelegenheiten den Vergleich mit den politischen Verhältnissen in den Länderorten und leiteten daraus die Begründung ab, daß bei ihnen eine ähnliche politische Ordnung einzurichten sei. Im Jahr 1478 beispielsweise, als es im Zusammenhang mit der Frage, ob die Obrigkeit von Luzern bei Ab- schluß von Bündnissen mit anderen eidgenössischen Orten oder ausländi- schen Mächten wie in den Länderorten die Einwilligung des Landes Entle- buch und der anderen Luzerner Untertanen einzuholen habe, zu einer gegen die Herrschaft von Luzern gerichteten Verschwörung kam, bildete die Erfah- rung alternativer Verfassungsverhältnisse ein zentrales Motiv und eine wichti- ge Rechtfertigung. Der Anführer Peter Amstalden stellte nämlich dem Luzer- ner Vogt die herausfordernd kritische Frage, „wz der mer were und wie es zu- gieng, dz allweg die in lendern me wiseten waz man dete, den die empter, denen seit man nit."49 Desgleichen beantwortete ein Anführer der Entlebucher Un- tertanen im Bauernkrieg 1653 die Weigerung der eidgenössischen Vermittler aus den Länderorten, ihnen das Recht, Landsgemeinden mit Einwirkungs- möglichkeiten auf die obrigkeitliche Gesetzgebung zu gewähren, mit der fol- genden, entwaffnenden Feststellung: „Warum dürfen dann Eure Leute Ge- meinden halten und wir nicht?"50 Ein zweites Element dieses Geschichtsbewußtseins, das den Versuch der Lu- zerner Obrigkeit, ihre Herrschaft als ewige, göttlich-natürliche Ordnung dar- zustellen, radikal in Frage stellte, ergab sich aus der durch alte Dokumente und Urkunden überlieferten Gewißheit der Entlebucher, daß sie nicht seit je- her, sondern erst seit Beginn des 15. Jahrhunderts und zwar auf der Grundlage eines Geld- und Pfandgeschäftes zwischen Luzern und Herzog Friedrich von Habsburg-Österreich zu Untertanen der sich in diesem Zeitraum formieren- den Stadtluzerner Territorialherrschaft geworden waren. Dieser Pfandver- trag von 1405 legalisierte und legitimierte nachträglich die im Sempacher

49 Zit. nach T. v. Liebenau, Der Hochverrathsprocess des Peter Amstalden, in: Geschichts- freund 37. 1882, S. 87-192, hier S. 133.

50 Zit. nach T. v. Liebenau, Der Schriftführer der Entlibucher im großen schweizerischen Bau- ernkriege 1653, in: Katholische Schweizerblätter, Luzern 1885, S. 1-19, hier S. 6.

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Krieg 1386 gegen Herzog Leopold errungene Macht der Stadt Luzern über ehemals habsburgisch-österreichische Territorien. Derselbe Vertrag beendete aber zugleich ein im Land Entlebuch bestehendes Machtvakuum, das eben- falls eine Folge des Sempacher Krieges war und das es den Entlebuchern unter Führung einer einheimischen Oberschicht für zwei Jahrzehnte erlaubt hatte, ihre Verhältnisse nach dem Vorbild der bereits im 13. und 14. Jahrhundert souverän gewordenen Länderorte Uri, Schyz und Unterwaiden in praktisch vollkommener Unabhängigkeit von Einflüssen fremder Ordnungsmächte zu gestalten.51 Bezeichnenderweise versuchte die Luzerner Obrigkeit, diesen doppelten Bruch in der Geschichte der Talschaft Entlebuch, d. h. zum einen den kriegs- und eroberungsbedingten Wechsel von der habsburgisch-österrei- chischen Herrschaft zur Territorialherrschaft der Stadt Luzern und zum an- deren das jähe Ende der Entwicklung hin zur vollständigen Eigenständigkeit, zu kitten. Sie erfand eine neue Geschichtskonstruktion, welche diesen histori- schen Wechsel- und Zufallen eine höhere Weihe zu verleihen suchte und damit das herrschaftsstabilisierende Bild der ewigen, göttlich-natürlichen Herr- schaftsordnung retten konnte. Im Horizont dieser Konstruktion verwandel- ten sich die historischen Brüche in einen Akt göttlicher Vorsehung. Die durch das Pfandgeschäft von 1405 möglich gewordene Einbindung des Entlebuchs in den Luzerner Territorial- und Untertanenverband wurde jetzt „als sondere Gnad und Schickung Gottes" gedeutet. Dieser habe sich der „Gn. Herren von Lucern [als] Mittel" bedient, um die Entlebucher „ab dem schweren und uner- träglichen Last und Joch der Tyrannen" in Gestalt der habsburgisch-österrei- chischen Pfandherren zu befreien.52 Die angeblich „Befreiten" allerdings zo- gen aus ihrem Wissen um diese historischen Brüche gänzlich andere Konse- quenzen. Bei verschiedenen Gelegenheiten leiteten sie daraus die Vorstellung ab, daß man sich aus der Territorialherrschaft der Stadt Luzern auch wieder los- und freikaufen könne. Denn nach ihrer Überzeugung beruhte die Legali- tät und Legitimität der Luzerner Landesherrschaft eben weder auf langer ge- schichtlicher Dauer noch auf göttlicher Vorsehung, sondern schlicht und ein- fach auf einem zeitlich bis auf den Tag genau datierbaren, profanen Pfand- und Geldgeschäft. Den Gedanken, sich durch die Rückzahlung der Pfand- summe aus der Herrschaft der Stadt Luzern zu lösen, findet man während der Unruhen 1478, 1629-36 und wiederum 1653 formuliert. Und er war um so na- heliegender und stärker, als die Entlebucher in ihrer Landestruhe die beglau- bigte Abschrift einer Urkunde aus dem Jahr 1358 besaßen, in denen ihnen Herzog Rudolf von Habsburg das Privileg verliehen hatte, sie „fürbas in frömbde hende nicht bringen noch versetzen wellen".53 Dieses Dokument nährte beständig große Zweifel, ob beim späteren Pfandgeschäft von 1405 al- les mit rechten Dingen zugegangen sei, und warf die aus der Sicht der Entlebu-

51 Vgl. Segesser, Bd. 1, S. 586 ff. 52 Manifest des Luzerner Ratschreibers 1653, S. 18. 53 Zit. nach Segesser, Bd. 1, S. 576.

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eher nie befriedigend beantwortete Frage auf, „wans und wies das Land Entli- buch an die Statt Lucern kommen"?54 Wichtig ist der Hinweis, daß ähnliche Belege für die geradezu subversive Kraft, welche dieses Geschichtsbewußtsein als bruchstückhafte Erinnerung und Einsicht in die historische Gewachsenheit, Vielgestaltigkeit von Herr- schaftsverhältnissen in einem Umfeld traditional legitimierter Herrschaft ent- falten konnte, sich auch bei Revolten im Alten Reich finden lassen.55 Zu be- tonen ist allerdings, daß solche Vorstellungen und Erinnerungen auf dem eid- genössischen Territorium im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit in Wechselwirkung mit den realen historischen Vorgängen und Prozessen, die sich hier im 13., 14. und frühen 15. Jahrhundert vollzogen hatten, besonders stark verbreitet waren. Angesprochen ist damit die bekannte Tatsache, daß die Frühphase des Staatsbildungsprozesses in der Eidgenossenschaft ein äu- ßerst komplizierter und teilweise sehr konfliktgeladener Vorgang war, der we- der stetig noch geradlinig verlief. Im Unterschied zu anderen Gebieten ver- dichtete hier nicht eine mächtige und dominante Adelsdynastie ältere feudale Herrschaftsrechte langsam und kontinuierlich zu einer zentralisierten Terri- torialherrschaft. Vielmehr konkurrierten auf engstem Raum viele »Mitspie- ler' um territoriale Macht und Einfluß. Neben rivalisierende Adelsherrschaf- ten traten städtische Bürgerschaften und die schon früh als „Länder" poli- tisch organisierten Bewohner der Zentralschweizer Alpentäler von Uri, Schwyz und Unterwaiden. Sie alle lieferten sich in immer neuen Koalitionen einen mit wirtschaftlichen und militärischen Mitteln geführten, langandau- ernden Verdrängungskampf. Sieger blieben schließlich die Städte- und Län- derorte. Der Adel bzw. die Adelsherrschaften wurden bis auf einzelne Aus- nahmen verdrängt. Ebenfalls auf die Verliererseite geriet aber der Großteil der ländlichen Bevölkerung, der der Schritt zur Eigenständigkeit und Souveräni- tät nach dem Vorbild der Bevölkerung der Länderorte nicht gelang. Vielmehr kam sie in die Untertänigkeit der Städte- und Länderorte, die in der Nachfol- ge des verdrängten Feudaladels und in Übernahme seiner Feudalrechte zu den neuen „Königen, Fürsten und Grafen" der Eidgenossenschaft geworden waren.56 Das Schicksal des Tales Entlebuch, dessen bruchstückhafte Erinnerung durch die Nachfahren wie gezeigt ein wichtiges Element ihres Geschichtsbe- wußtseins darstellte, ist in diesen Zusammenhang zu stellen. Es war kein Ein-

54 Manifest des Luzerner Ratschreibers 1653, S. 16. 55 Hinzuweisen ist auf die außerordentlich stark zum Widerstand mobilisierende Kraft und

Wirkung, welche von der Existenz und Verbreitung alter Rechtsdokumente, die von ganz an- deren, längst vergangenen Herrschaftsverhältnissen zeugten, auf ländliche Untertanen aus-

gingen. Belege dafür, allerdings mit aus meiner heutigen Sicht ungenauen Interpretation im Sinne von „traditionaler Motivation" bzw. „traditionaler Legitimation" zum Widerstand, bei Schulze, Widerstand, S. 120 ff., und Suter, Troublen, S. 44 ff.

56 Dieser Vergleich von P. Blickle, Friede u. Verfassung, in: Historischer Verein der fünf Orte

(Hg.), Innerschweiz u. frühe Eidgenossenschaft. Jubiläumsschrift 700 Jahre Eidgenossen- schaft, 2 Bde., Ölten 1990, Bd. 1, S. 13-202, hier S. 155 f.

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zelfall, sondern spielte sich in ähnlicher Weise auch in anderen revolteninten- siven Gebieten der Eidgenossenschaft ab und hinterließ hier und dort in schriftlichen Quellen wie anderen Erinnerungsmedien seine Spuren.57 Auch das zweite Element, das zum Kristallisationspunkt des Geschichtsbewußt- seins wurde, ist vor dem Hintergrund der beschriebenen Eigenschaften des frühen Staatsbildungsprozesses in der Eidgenossenschaft zu sehen. Denn so zahlreich und gegensätzlich die Konkurrenten in diesem Raum waren und so konfliktträchtig und kompliziert sich der Vorgang selber gestaltete, so ver- schieden und vielfaltig waren auch seine Ergebnisse. Man findet im 15. Jahr- hundert in engster Nachbarschaft und ungeordneter Gemengelage höchst un- terschiedlich verfaßte Territorialherrschaften bzw. eidgenössische Orte vor, angefangen von den erwähnten Länder- und Städteorten mit und ohne Zunft- verfassungen über Gebiete, die beide Organisationsformen kombinierten, bis hin zu einigen wenigen, übriggebliebenen adligen bzw. geistlichen Lan- desfürstentümern. Sie erinnerten alle zusammen ständig an die Vergangen- heit und an die - besonders für die Verlierer - provozierende Tatsache anderer, vorteilhafter Entwicklungsmöglichkeiten. Es wird noch deutlicher werden, daß diese Ergebnisse des frühen Staatsbildungsprozesses das Ge- schichtsbewußtsein und die Widerstandsbereitschaft der ländlichen Unter- tanen in der Eidgenossenschaft in noch ganz anderer Weise formten und stärkten.

///. Konflikte größerer Dimension: Der Bauernkrieg 1653 als Beispiel. Im Un- terschied zu den bisher diskutierten Beispielen beschreiben zeitgenössische Quellen den Konflikt von 1653 wie bereits denjenigen von 1513 nicht mehr als „Revolte" oder mit verwandten Begriffen, sondern als „Purenkrieg". Zuwei- len nennen die Quellen das Ereignis von 1653 aber auch „Generalmachina- tion" und „Generalaufstand", ja erstaunlicherweise sogar eine „Revolution mehrteils eidtgenössischer Unterthanen".58 Schon diese, vor dem Hinter- grund des bekannten Wort- und Diskursfeldes, mit dem in der Frühen Neu- zeit über den Sachverhalt eines offenen Konflikts zwischen den Regierenden und Regierten gesprochen wurde, als vielfaltig und originell zu charakterisie- rende Quellensprache, verweist auf die im Vergleich zu den zahlreichen Unter- tanenrevolten größere Dimension dieses Aufstandes.59 Tatsächlich eskalierte der politische Prozeß, der im Januar 1653 mit einer bloßen Bitte der Entlebu- cher Untertanen um geeignete Maßnahmen in einer wirtschaftlichen Notlage einen harmlosen Anfang genommen hatte und nach dem abschlägigen Be-

57 Besonders frappant sind die Parallelen in der historischen Entwicklung zwischen dem Entle- buch und dem Toggenburg. Vgl. P. Blickle, Landschaften im Alten Reich, München 1973, S. 77.

58 Staatsarchiv Luzern, 13/3639, 19. April 1653, Schreiben von Schwyz an Luzern. Staatsarchiv Luzern, 13/3639, 19. April 1653, Schreiben von Zürich an Luzern.

59 Vgl. für eine ausführliche Diskussion dieses Wort- und Diskursfeldes Suter, Bauernkrieg 1653, S. 70 ff.

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scheid der Luzerner Obrigkeit zur offenen Revolte der ganzen Talschaft wur- de, in ungeahnter Weise. In einer ersten Eskalationsphase griff der Konflikt rasch auf die übrigen ländlichen Untertanen der Stadt Luzern über, die sich im Bund von Wolhusen vom 26. Februar 1653 zu einer geschlossenen Auf- standsbewegung gegen die Territorialherrschaft der Stadt Luzern formierten. Im nächsten Stadium beteiligten sich auch Untertanen der Städte Bern, Solo- thurn und Basel, die am 14. Mai 1653 in Huttwil zusammen mit den Luzerner Aufständischen ein formelles, auf Dauer angelegtes Bündnis gegen die Terri- torialherrschaften der eidgenössischen Städteorte beschworen. Schließlich mündete die Auseinandersetzung in eine militärische Konfrontation zwi- schen obrigkeitlichen Truppen auf der einen und den verbündeten Unterta- nenmilizen auf der anderen Seite und wurden so zum „Purenkrieg". Die Dynamik dieses Konflikts kann nicht mehr auf die bisher vorgestellten Einflußfaktoren, die das Vorhandensein revoltenintensiver Gebiete erklären, zurückgeführt werden. Vielmehr müssen neue Dimensionen von Handlungs- fähigkeiten und -gelegenheiten sowie andere Schichten des eidgenössischen Geschichtsbewußtseins ins Blickfeld gerückt werden. Von zentraler Bedeu-

tung ist schließlich ein gänzlich neuer Faktor, der sich aber der vorgeschlage- nen heuristischen Perspektive zwanglos einfügt: Wichtige Führer des Bauern-

krieges 1653 waren bereits an der früheren Entlebucher Revolte von 1629-36

beteiligt gewesen und hatten als kompetente politische Akteure die gemach- ten Erfahrungen lernend verarbeitet. In diesem Sinn besteht zwischen dem Vorhandensein von revoltenintensiven Regionen und dem Entstehen von Konflikten größerer Dimensionen ein innerer Zusammenhang. Denn im Ge-

gensatz zu einer früheren These bildeten strategische Lernprozesse in diesem Zeitraum wohl eher die Ausnahme und waren an die Bedingung persönlicher Erfahrungen der beteiligten Akteure mit früheren Revolten gebunden, wie sie in revoltenintensiven Gebieten tatsächlich häufiger gegeben waren.60 Der

persönliche Erlebnis- und Erfahrungszusammenhang ist deshalb so wichtig, weil es Gesellschaften mit einer überwiegend mündlichen Überlieferung und

Informationsvermittlung nicht möglich war, über große räumliche oder zeitli-

60 P. Blickle, Die Revolution von 1525. München 1975, S. 133, rechnet mit verbreiteten strategi- schen Lernprozessen in der Form, daß die Erfahrung, mit Revolten Erfolg zu haben, weitere Aufstände provoziert, ja geradezu zur Bildung revoltenintensiver Gebiete bzw. von Gebieten mit einer „Tradition" von Revolten gefuhrt habe. Allerdings sind derartige Vorgänge von Blickle selber oder von der späteren Literatur mit einer bezeichnenden Ausnahme nicht empi- risch belegt worden und können zum Beispiel auch nicht für das Entlebuch belegt werden. Ähnlich, wie das W. Trossbach, Soziale Bewegung u. politische Erfahrung. Bäuerlicher Pro- teste in hessischen Territorien 1648-1806, Weingarten 1987, S. 179 ff., für Hessen feststellt, fin- det man in den Quellen zum Bauernkrieg 1653 nur ganz vereinzelte Belege dafür, daß man sich an solche Revolten zurückerinnerte, die nicht im engeren persönlichen Erlebniszeitraum der beteiligten Akteure lagen. Und in den wenigen Fällen, in denen das geschah, erinnerte man sich im Sinn des „Geschichtsbewußtseins" in überaus vager, lückenhafter und teilweise

sogar sinnverzerrter Weise. Die besagte Ausnahme entstand ebenfalls im Kontext eines revol- tenintensiven Gebietes und persönlicher Erfahrung mit früheren Revolten. Vgl. Bierbrauer, Freiheit, S. 170ff.

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ehe Distanzen hinweg historisches Wissen präzise genug weiterzugeben und zu speichern, so daß situationsgerechte kollektive Lernprozesse hätten in Gang kommen können.61

Der Bauernkrieg als Lernprozeß: Für das Verständnis dieses Prozesses ist es wichtig, den Bauernkrieg 1653 nicht als isoliertes Ereignis zu betrachten.62 Im Erfahrungs- und Erlebnishorizont der angegriffenen Obrigkeiten wie der bäuerlichen Akteure wurde er vielmehr im Kontext unmittelbar vorangegan- gener Versuche gesehen, die Lage der Untertanen zu verbessern. Entspre- chend reagierten beispielsweise Herrschaftsbeamte des Berner Oberlandes in einer noch sehr frühen und noch allein auf das benachbarte Entlebuch be- schränkten Phase des Konflikts auf Nachrichten von der bereits erwähnten Machtdemonstration der Entlebucher gegenüber der hohen Luzerner Rats- delegation mit überaus großer Gelassenheit. Es handle sich hier nur um eine weitere lokale Erhebung, die in eine Reihe mit früheren, vergleichsweise klei- neren Revolten zu stellen sei, wie sie im Vorfeld des Bauernkrieges verschie- dentlich aufgetreten waren; was Bern im Thuner Handel 1641 und Zürich im Wädenswiler Aufstand 1646 erlebt hätte, müsse nun eben auch die Luzerner Obrigkeit über sich ergehen lassen: „Die Herren [= Herrschaftsbeamte des Berner Oberlandes, der Verf.] belanget, haben sy allen Bericht gewüsst, wie die Gesandten empfangen worden im Entlibuch; lächlen derzu und reden: es sye zuerst an ihnen gsin, darnach an die Zürcher kommen, jetzt an Luzern; muss also umgan."63 Diese Gelassenheit sollte aber bald Erstaunen und nackter Angst Platz machen. Die „Herren" hatten die Lernfähigkeit der Bau- ern unterschätzt. Die Geschichte immer wieder neuer, auf das Gebiet bloß ei- ner Territorialherrschaft beschränkter Revolten wiederholte sich diesmal nicht. Denn auch bei den bäuerlichen Akteuren blieb die Erinnerung an ihre früheren Beschwerden und Klagen wach, wie sie im näheren zeitlichen Vor- feld des Bauernkrieges über den gewöhnlichen Beschwerdegang oder durch das Mittel eigentlicher Erhebungen vor die Obrigkeit gebracht worden waren. Der Bundesbrief der zehn Luzerner Ämter in Wolhusen vom 26. Februar 1653 beispielsweise kleidete diese Erfahrungen in folgende Worte: Wegen der „neu- en Aufsätze, Beschwerden und ungebührlichen Strafen . . . wir uns oft und vielmal bei unseren gnädigen Herren und Oberen der Stadt Luzern beklagten und beklagen wollten. Wir konnten aber nicht nur nicht erhalten, daß man uns zu unserem Rechte verhelfen wolle, sondern sobald man kam und sich be- klagte, wurde man mit scharfen Worten und Zwingen, auch oft mit trotzigen

61 Vgl. zur Unzuverlässigkeit der mündlichen Überlieferung G. P. Marchai, Das Meisterli von Emmenbrücke oder: Vom Aussagewert mündlicher Überlieferung. Eine Fallstudie zum Pro- blem Wilhelm Teil, in: Schweizerische Zs. für Geschichte (SZG) 34. 1984, S. 521-39.

62 Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich um gekürzte und überarbeitete Überlegun- gen, wie ich sie erstmals in Suter, Bauernkrieg 1653, S. 70 ff., vorgestellt habe.

63 Zit. nach T. v. Liebenau, Der Luzernische Bauernkrieg vom Jahr 1653, in: Jb. für schweizeri- sche Geschichte 18-20. 1893-1895, hier 19. 1894, S. 107.

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Reden und Schandworten abgeputzt. Hat man sich damit abweisen lassen, so ist es nutz gewesen; wo nicht, und hat man weiter angehalten, so ist mit Kopf- abhauen oder sonst mit Strafen gedroht worden, daß hiemit männiglich sich nit dawider lehnen oder auslassen durfte."64 Die Untertanen ließen es jedoch nicht beim bloßen Erinnern bewenden; sie hatten aus ihren früheren, erfolglosen Versuchen Konsequenzen gezogen. Diese bestanden allgemein gesagt darin, daß man beim neuen Versuch von 1653 entschlossen war, die Ziele hartnäckiger und mit effizienteren Mitteln zu verfolgen. Sie wollten jetzt „mit geeigneten Mitteln widerstreben und ernst- lich daran sein . . ., daß uns unsere alten Rechte laut Brief und Siegel erfolgen, was das Göttliche Recht sein wird", wie der Luzerner Bundesbrief ausführt, um dann konkreter zu werden: „Und weil uns wohl bewußt ist, daß sie uns solches nicht leicht gestatten und geben werden, so haben die ... Ämter gut, nützlich und recht befunden, daß sie sich, der Ursache halb, mit einander ver- binden und einen Eid zusammen schwören sollen, dieweil, wenn früher ein Amt allein unsere Obrigkeit gebeten und angehalten hat, solche ihre neuen Aufsätze ihm gnädiglich abzunehmen, dasselbe, wie obgemeldet, viel und oft- mal abgedroht und abgewiesen wurde. Da nun alle zehn Ämter desto eher und beherzter fürderhin vor ihre Obrigkeit kommen dürfen, wenn sie Ursach ha- ben, vor derselben zu klagen, und sie zu bitten, daß sie uns bei unsern Freihei- ten, Briefen und Siegeln verbleiben lassen solle, so wollen wir fortan in Ewig- keit zusammenhalten mit Leib und Ehre, Gut und Blut, und, so weit unser Vermögen sein wird, ein Amt gegen das andere leisten und thun."65 Die Erfahrung früherer Erfolglosigkeit und die daraus gewonnene Einsicht, daß man allein durch ein gemeinsames Vorgehen, durch den Aufbau einer die vereinzelten lokalen Kräfte koordinierenden und organisierenden bäuerli- chen Handlungseinheit, Aussichten habe, die Politik der Obrigkeiten ent- scheidend zu beeinflussen, war nun nicht allein für den Luzerner Bauern- bund, sondern auch für den noch umfassenderen Bund der Luzerner, Berner, Basler und Solothurner Untertanen gegen die städtischen Landesherrschaf- ten von zentraler Bedeutung. So verweist der Text des Huttwiler Bundesbrie- fes vom 14. Mai 1653 nicht nur auf die Mißerfolge der Luzerner, sondern aus- drücklich auch auf die der Berner Bauern: Vor allem habe die Berner Obrig- keit das „vor Jaren im Dunner krieg old gspan" [Thurner Handel 1641] gegebene Versprechen, „dz sy unsere beschwärden auch nach lassen sollen und abthun . . .schlechtlich gehalten".66 Wie der Luzerner Bund, jedoch auf einer höheren Ebene, wollte der Huttwiler Bund durch den Aufbau einer die landesherrschaftlichen Grenzen übersteigenden Organisation der Unter- tanen eine politische wie militärische Gegenmacht zu der Organisation der re-

64 Zit. nach ebd., S. 192 ff. 65 Zit. nach ebd. 66 Huttwiler Bundesbnef vom 14./4. Mai 1653, abgedruckt in: Amtliche Sammlung der alteren

Eidgenössischen Abschiede, Bd. 6/1, Frauenfeld 1867, Nr. 94, S. 163 ff. Zit. als Eidgenössische Abschiede.

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gierenden Eliten im Rahmen der gesamteidgössischen Tagsatzungen bilden und durch dieses Mittel den erkannten Schwächen und erlebten Mißerfolgen bäuerlicher Politik in Zukunft vorbeugen. Die originelle, die bescheidenen Ziele typischer Revolten transzendierende Zielsetzung des Bauernbundes, durch die gegenseitige Unterstützungspflicht lokale Streitigkeiten zwischen einem Bundesgenossen und der betreffenden Obrigkeit zur Sache aller ländli- cher Untertanen der Eidgenossenschaft zu machen und damit den Konflikt automatisch über die territorialherrschaftlichen Grenzen hinweg gleichsam von unter her zu »nationalisieren', sollte die Erfolgschancen der bäuerlichen Politik verbessern.

Fähigkeiten zum Handeln: Die geschilderten Lernprozesse waren zweifellos von zentraler Bedeutung für den Willen und die Fähigkeit der Untertanen, den territorialherrschaftlich begrenzten Aktions- und vor allem Organisa- tionsrahmen früherer Untertanenrevolten zu überwinden. Mit Blick auf die vielfaltigen Schwierigkeiten, die den Bauern und ländlichen Untertanen aus der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Segmentierung vormoderner Gesellschaften in kleinräumige, horizontal viel schwächer als heute integrier- te Lebens- und Wirtschaftsräume für den Aufbau übergreifender politischer Handlungsorganisationen erwuchsen und solche nur selten gelingen ließen, erscheint der geschilderte Aufbau eines Bauernbundes in weiten Teilen des eidgenössischen Territoriums erstaunlich und erklärungsbedürftig.67 Dies gilt um so mehr, als tiefe konfessionelle Gräben zwischen protestantischen und katholischen Gebieten zu überwinden waren. Ein wichtiges Erklärungsmoment liegt in der spezifischen Wirtschaftsweise der beiden Kernzonen des Bauernkrieges von 1653, die über die konfessionel- len und herrschaftlichen Grenzen hinweg enge wirtschaftliche Verbindungen entstehen ließ und damit ein Gegengewicht zur gesellschaftlichen Segmentie- rung bildete. Das luzernische Entlebuch und das bernische Emmental, die zusammen das Rückgrat des Huttwiler Bauernbundes vom 14. Mai 1653 bil- deten, waren Bestandteil einer als protoagrarkapitalistisch zu beschreibenden Zone, die in einem weiten Bogen die Hügelregionen vom Greyerzerland im Westen bis hinab zu der appenzellisch-toggenburgischen Landschaft im Osten der heutigen Schweiz umfaßte.68 Im Gegensatz zu den inneralpinen Autarkiezonen und den Dreizelgenwirtschaftsgebieten des Mittellandes, die Ausprägungen einer stärker subsistenzorientierten Familienökonomie dar- stellten, wurde in diesem seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert irreführen- derweise als archaisches „Hirtenland" idealisierten Gebiet eine vergleichswei-

67 Vgl. für eine ausführlichere Diskussion dieser Schwierigkeiten Schulze. Widerstand. S. 115 ff. 68 Vgl. ausführlicher zum Begriff und den Merkmalen dieser protoagrarkapitalistischen Wirt-

schaftszone R. Braun, Das ausgehende Ancien Regime in: der Schweiz, Göttingen 1984, S. 58-83. Spezieller für die Verhältnisse im Entlebuch und im Emmental: F. Glauser, Handel mit Entlebucher Käse u. Butter vom 16. bis zum 19. Jh., in: SZG 21. 1971, S. 1-63; R. Ramsey- er, Das altbernische Küherwesen. Sprache u. Dichtung, Bern 1961.

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se moderne Landwirtschaft betrieben, die auf der Grundlage von Vieh-, Butter- und später vor allem Käseexport die Vorteile der Spezialisierung und interregionalen Arbeitsteilung nutzte. Besonders eng waren gerade auch die Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem Entlebuch und dem Emmental: Seit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert stellten Entlebucher Produzenten nach dem Vorbild der Greyerzer erhebliche Mengen eines harten, transport- und lagerungsfahigen Käses her, der von Zwischenhändlern ins Emmental nach Langnau gebracht und von dort unter dem auf den fremden Märkten besser eingeführten Namen „Emmentaler Käse" exportiert wurde. Allgemein kann festgestellt werden, daß wesentliche Prozesse der sogenannten Agrarre- volution des 19. Jahrhunderts im „Hirtenland" bereits im 16. Jahrhundert und noch früher verwirklicht worden waren. Die protoagrarkapitalistische Wirtschaftsweise vergrößerte die politische Handlungsfähigkeit der ländlichen Untertanen in den Hauptzentren des Bau- ernkrieges in verschiedener Hinsicht. Von größerer Bedeutung war, daß die über die terriorialherrschaftlichen und konfessionellen Grenzen hinweg- schreitenden Marktbeziehungen im Bauernkrieg auch für den Austausch po- litischer Informationen und als Anknüpfungspunkte politischer Zusammen- arbeit genutzt werden konnten. Gerade die Obrigkeiten wußten von diesen Zusammenhängen. Nach der militärischen Niederschlagung des Aufstandes unterbrach die Berner Regierung sofort den Handelsverkehr zwischen dem Entlebuch und dem Emmental. Sie begründete diese Maßnahme ausdrück- lich damit, daß die aus den Handels- und Marktbeziehungen sich ergebenden Kontakte künftig verhindert und das Entstehen weiterer, grenzüberschreiten- der politischer Aktivitäten und Konflikte bereits im Ansatz unterbunden wer- den sollten: Die Unterbrechung des Handels sei „allein zu abschneidung be- sorgender schedlicher communication und weiterer böser Anstifung besche- chen".69

Gelegenheiten zum Handeln: Neben den durch die protoagrarkapitalistische Wirtschaftsweise vermittelten Handlungsfähigkeiten ergaben sich im Bau- ernkrieg 1653 besondere Gelegenheiten zum Handeln, welche es den ländli- chen Untertanen leichter machten, aus den dargestellten Lernprozessen prak- tische Konsequenzen in Gestalt einer weit gespannten Widerstandsorganisa- tion zu ziehen. Erstens war die herrschaftliche Gegenseite in einem der beiden Hauptzentren des Bauernkrieges durch einen innerstädtischen Konflikt stark geschwächt. Es kam in der Stadt Luzern schon 1651 und erneut 1653 zu Aus- einandersetzungen zwischen dem hochprivilegierten städtischen Patriziat einerseits und den übrigen Stadtbürgern und Hintersassen andererseits, die von der politischen Macht, den einträglichen städtischen Ämtern und Vogt- eistellen sowie von den reichlich fließenden französischen und spanischen Pensionsgeldern ausgeschlossen waren.70 Ein zweites Moment herrschaftli-

69 Staatsarchiv Luzern, 13/3745, 15./5. Oktober 1653. 70 Vgl. K. Messmer u. P. Hoppe, Luzerner Partriziat, Luzern 1976.

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eher Schwäche ist auf den Gegensatz zwischen den katholischen und den re- formierten Orten der Eidgenossenschaft zurückzuführen. Anders als die auf- ständischen Untertanen, die sich nach Überwindung anfanglicher Schwierig- keiten zu einer von den unterschiedlichen religiösen Überzeugungen kaum mehr getrübten Zusammenarbeit fanden, war das religiös geprägte Mißtrau- en auf der herrschaftlichen Gegenseite während der ganzen Dauer des Kon- fliktes stark spürbar. Daran scheiterte mehrfach die Koordination zwischen den katholischen Orten mit Luzern an der Spitze und den von Zürich ange- führten reformierten Orten. Besondere Handlungsgelegenheiten ergaben sich schließlich im Zusammenhang mit den Konfliktursachen. Zwar kann der Bauernkrieg 1653 ähnlich wie die früher betrachteten Revolten als Antwort der Untertanen auf eine Vielzahl belastender Maßnahmen der einzelnen Obrigkeiten interpretiert werden, hinter denen das Ziel stand, ihre zentrale Herrschaft auf Kosten der wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkei- ten wie der politisch-rechtlichen Autonomie der ländlichen Untertanen zu in- tensivieren. Darüber hinaus sind aber noch Ursachen anderer Natur auszu- machen. Diese betrafen nicht nur, wie die angesprochenen staatlichen Zentralisie- rungsbestrebungen, das Gebiet einer städtischen Territorialherrschaft. Viel- mehr ist der Bauernkrieg auch im Zusammenhang mit einer umfassenden Agrarkrise zu sehen, die im wesentlichen durch einen externen ökonomischen Schock verursacht wurde.71 Nach Beendigung des 30jährigen Krieges folgte auf die ausgeprägte, mehr als zwei Jahrzehnte dauernde Export- und Preis- konjunktur für agrarische Produkte, die dieser gewaltige Konflikt in der kriegsverschonten Schweizerischen Eidgenossenschaft ausgelöst hatte, eine ebenso ausgeprägte Depression. Die plötzlich ausbleibende ausländische Nachfrage führte zu einem anhaltenden Preiszusammenbruch: In den Jahren 1641-1648 fielen die Erlöse der Bauern vielerorts auf ein Drittel, ja auf ein Viertel der Konjunkturjahre. Die anschließende Erholung blieb bis zum Aus- bruch des Bauernkrieges bescheiden und trieb manche bäuerlichen Betriebe in Wechselwirkung mit verschärfenden Faktoren in eine eigentliche Verschul- dungs- und Liquiditätskrise. Diese in vielen Teilen der Eidgenossenschaft spürbaren Auswirkungen sind ein wesentlicher Grund für die weite Verbrei- tung der Unzufriedenheit bzw. der latenten Bereitschaft zum Widerstand. Brach der Widerstand an einem Ort einmal offen aus, fand sich deshalb auch über die territorialen Grenzen hinweg die Bereitschaft, sich den zunächst lo- kalen Aktionen anzuschließen und aus deren Erfahrungen zu lernen.

Kulturell vermittelte Grade der Herrschaftsakzeptanz und Widerstandsbereit- schaft: Die eskalierende Dynamik des Bauernkrieges war von immer wieder wechselnden Argumentations- und Legitimationsfiguren begleitet, in deren Horizont die Aufständischen die politische Lage deuteten, die Ziele der Bewe-

71 Vgl. F. Bürki, Berns Wirtschaftslage im Dreißigjährigen Krieg, Diss. Bern 1937.

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gung und die Mittel zu deren Durchsetzung entwarfen und rechtfertigten. Während in der Frühphase der Auseinandersetzung die legale Bitte und Sup- plikation der Entlebucher um wirtschaftliche Hilfe in der bedrängten Ver- schuldungs- und Liquiditätskrise noch mit dem bloßen Verweis auf die wirt- schaftliche Not begründet wurde, trat im Stadium der Revolte in allen betrof- fenen Gebieten die altrechtliche Legitimation der Ziele und Mittel in den Vordergrund. Im weiteren Verlauf radikalisierten sich jedoch diese Ziele in Wechselwirkung mit dem wachsenden Vertrauen in die eigenen Handlungsfä- higkeiten, dem Erkennen neuer Handlungsgelegenheiten und der Einsicht der bäuerlichen Führungsgruppe, daß im Fall einer Aufgabe mit schwersten obrigkeitlichen Repressionen zu rechnen sein würde. In der Folge schwor der erwähnte Huttwiler Bund vom Mai 1653 die aufständischen Untertanen nicht nur auf äußerst weitreichende politische Zielsetzungen ein, sondern er stellte in Gestalt einer gegenseitigen militärischen Unterstützungspflicht gegen die Städteorte auch die notwendigen Machtmittel bereit. Damit war eine Situati- ton entstanden, die reelle Erfolgsaussichten für eine radikale Umgestaltung der Verfassungs- und Machtverhältnisse in der Eidgenossenschaft enthielt. Auch die Obrigkeiten sahen die Gefahr, daß die untertänigen Bauern hier tat- sächlich zu Teilhabern der souveränen Gewalt und also „Herren" werden könnten, wie die Luzerner Obrigkeit zu Recht befürchtete und was dem Zür- cher Rat eben die Feststellung einer „durchgehenden Revolution mehrteils eidtenössischer Untertanen" nahelegte.72 Mit der Radikalisierung der Ziele erwies sich die altrechtliche Legitimation des Widerstandes zunehmend als Hemmnis für das bäuerliche Widerstand- handeln. Nichts machte diesen Umstand deutlicher als der Verweis auf eben das „Alte Recht", mit dem die angegriffenen Obrigkeiten zentrale politische Forderungen der Aufständischen zurückzuweisen begannen. In dieser Situa- tion bedeutete es einen kaum zu unterschätzenden Vorteil für die Akteure des

Bauernkrieges, daß sie ihren Widerstand jetzt in die Kontinuität der eidge- nössischen Gründungs- und Befreiungsgeschichte stellen konnten, die ihre weitreichenden politischen Ziele und vor allem die dazu notwendigen kriege- rischen Mittel sehr viel besser rechtfertigte. Schließlich lag die wichtigste Leh- re dieser Geschichte mit ihrem Helden Wilhelm Teil und den Elementen des

Apfel- und Tellenschusses, des Gesslerattentates, der Beschwörung des ersten Bundes durch die drei Eidgenossen auf der Rütliwiese, dem Bruch adliger Burgen und der Vertreibung des Adels gerade darin, daß die physische Vertrei-

bung oder gar Vernichtung der etablierten Obrigkeiten eine unter Umständen durchaus gerechtfertigte politische Option sein konnte, die in der Alten Eid-

genossenschaft schon einmal erfolgreich gewesen war. Es kann hier nicht im einzelnen gezeigt werden, wie diese Überlieferung ent- standen ist und wie sie bei den ländlichen Untertanen bis hin zum Bauern- krieg fortlebte. Einige knappe Hinweise müssen genügen. Wir begegnen ihr

72 Staatsarchiv Luzern, 13/3639, 19. April 1653.

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erstmals in Chroniken, allen voran im Weißen Buch von Samen aus dem Jahr 1477, im etwas früher zu datierenden Tellenlied und im Altdorfer Teilenspiel aus dem frühen 16. Jahrhundert.73 Konfrontiert man die an diesen Stellen er- zählte Geschichte der Eidgenossenschaft mit der Entwicklung, wie sie aus den Quellen der Zeit selber, also dem 13. und 14. Jahrhundert, rekonstruiert wer- den kann, wird deutlich, daß es sich dabei um eine weitere und jüngere Schicht des Geschichtsbewußtseins handelte. Tatsächlich war die eidgenössische Gründungs- und Befreiungsgeschichte ein „höchst eigenartiges Gemisch von Dichtung und Wahrheit", das in dem „Bestreben" niedergeschrieben worden war, „die bruchstückhafte Kenntnis, die man von der eigenen Vergangenheit hatte, möglichst einleuchtend und wirkungsvoll zu gestalten".74 Die Wir- kung, die erzielt werden sollte, richtete sich in erster Linie gegen mächtige Kri- tiker im „Ausland", d. h. im Alten Reich, die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts besonders heftige, ideologisch-politische Angriffe gegen die Eidgenossenschaft führten. Untersucht man diese Angriffe genauer, wird deutlich, daß jüngere wie ältere Schichten des Geschichtsbewußtseins im Zusammenhang mit dem frühen Staatsbildungsprozeß in diesem Raum entstanden sind. Als Beleg dafür kann etwa ein Manifest des deutschen Kaisers Maximilian I. vom 22. April 1499 an- geführt werden, das den erfolgten Aufbau städtischer und ländlicher Territo- rialherrschaften unter weitgehender Verdrängung des Adels sowie die höchst aktuelle Weigerung der eidgenössischen Orte, sich in das von Maximilian I. reformierte und von adligen Landesfürsten politisch dominierte Reich wieder verstärkt ein- und unterzuordnen, mit kräftigsten Worten verdammt. Histori- sche Entwicklung und aktueller Zustand der Eidgenossenschaft werden hier als Pervetierung der natürlich-göttlichen Ständeordnung, als eine ruchlose und gottlose Rebellion von „bösen, groben, schnöden gepurslüten" ohne „adelich gebluet . . . wider ir erst eid und alt harkommen, wider ir recht natür- lich herren und landfürsten . . . wider Got, er und recht und alle billichkeit" bezeichnet75 - ein wohl gezielter Vorwurf, der die eidgenössischen Obrigkei- ten und mit ihr die Eidgenossenschaft als Ganzes an einer eigentlichen Schwachstelle traf. Als unabhängiger Bund von faktisch souveränen Städte- und Länderorten ohne Landesfürsten und unter Führung einer überwiegend nichtadeligen Elite hatte die Eidgenossenschaft mindestens mit Blick auf ihre Beziehungen zum Reich wirklich mit der ständisch-monarchischen Ordnung gebrochen. Allein, die Gründungs- und Befreiungsgeschichte der Eidgenossenschaft hat für diesen Bruch eine höchst sinnreiche Erklärung gefunden und damit dem daraus abgeleiteten ideologisch-politischen Vorwurf der Gottlosigkeit mit ei-

73 Die nachstehenden Ausführungen stützen sich auf den grundlegenden Aufsatz von Marchai, Antwort. Daneben H. C. Peyer, Die Entstehung der Eidgenossenschaft, in: Hb. der Schwei- zer Geschichte, Bd. 1, Zürich 1972, S. 182 ff.

74 Peyer, ebd., S. 197. 75 Zit. nach Marchai, Antwort, S. 757.

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ner ideologisch ebenso stimmigen Antwort die Grundlage entzogen. Das Konstruktionsprinzip dieser Geschichtsdarstellung fußt auf der christlichen Vorstellung der ungerechten, tyrannischen Herrschaft, der man in einer ge- lehrten Form in den Werken von Augustinus, Thomas von Aquin, Johannes von Salisbury und anderen Kirchentheoretikern von der Spätantike bis in die Frühe Neuzeit begegnet.76 Sie findet sich aber auch in einer populären Form in chronikalischen Berichten über Tyrannenmorde und in der symbolischen Praxis der Urheber solcher Morde selber, wofür es vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit hinein Beispiele gibt.77 Zentral war hier wie dort der Gedan- ke, daß es gerechtfertigt sei und geradezu göttlichem Willen entspreche, ge- genüber einem Tyrannen oder einer tyrannischen Herrschaft Gewalt anzu- wenden und sich seiner bzw. ihrer durch einen Tyrannenmord oder Krieg zu entledigen. Bei den Vertretern des Adels, gegen die die eidgenössischen Städte- und Län- derorte im Rahmen des frühen Staatsbildungsprozesses wiederholt erfolg- reich Krieg geführt und die sie als Mitkonkurrenten um territorialen Einfluß schließlich aus dem Feld geschlagen hatten, handelte es sich demnach schlicht um „Tyrannen". Dies war die Botschaft, die die eidgenössischen Befreiungs- und Gründungsgeschichte jedem, der sie hören wollte, in höchst eingängigen Bildern verkündete. Mit ihr ließen sich in Einklang mit einem voraufkläreri- schen Weltbild und mit altrechtlichen Vorstellungen kriegerische Auseinan- dersetzungen mit an sich rechtmäßigen Repräsentanten der ständischen Ord- nung durchaus legitimieren. Ob die Botschaft Kaiser Maximilians I. gehört wurde, entzieht sich unserer sicheren Kenntnis. Daß sie aber noch Jahrzehnte und Jahrhunderte später von den ländlichen Untertanen gehört worden war, die sie dann gegen die eigenen Obrigkeiten richteten, läßt sich vom letzten Drittel des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts anhand zahlreicher Revol- ten belegen und insbesondere durch den Bauernkrieg 1653 sehr breit abstüt- zen. Tatsächlich wurde mit zunehmender Dauer und Zuspitzung des Kon- flikts von 1653 die altrechtliche Rechtfertigung des Widerstandes durch das Deutungsschema und die Argumentationsfigur der zu „Tyrannen" geworde- nen städtischen Vögte und einer „tyrannisch" sich gebärdenden Herrschaft der städtischen Obrigkeiten ergänzt und ersetzt. Folgerichtig konstruierten die Aufständischen ein Bild der städtischen Obrigkeiten, welches dem Modell der tyrannischen Herrschaft nachempfunden war. Geschichten über Land-

vögte mit den altbekannten Erzählmotiven wie die Schändung von Frauen

76 Siehe den Artikel „Tyrannis, Despotie", in: GGr. Bd. 6, S. 651-706, hier S. 661 ff. 77 Soweit ich sehe, wurde die symbolische Praxis des Tyrannenmordes bisher allein anhand fran-

zösischer Fälle genauer untersucht. Vgl. O. Ranum, The French Ritual of Tyrannicide in the Late Sixteenth Century, in: Sixteenth Century Journal 11. 1980, S. 63-82. R. Jacob, Le meur- tre du seigneur dans la societe feodale. La memoire, le rite, la fonction, in: Annales ESC 45, 2. 1990, S. 247-63. Beispiele gibt es aber auch in der Schweiz. Die Ermordung von Haupt- mann Ledergerw, Herrschaftsbeamter des Abtes von St. Gallen im Obertoggenburg im Jahr 1621, ist Gegenstand einer laufenden Dissertation von B. Z'Graggen bei R. Braun, Universi- tät Zürich.

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und die Verhängung willkürlicher Strafen wurden verbreitet. Ja, heute sei es tatsächlich noch viel schlimmer als damals; die Untertanen müßten jetzt unter der Willkürherrschaft der Städte leiden, wie „bi Wilhelm Dällen Zeiten nit ge- schehn".78 Ausgehend von der Situationsdeutung, die Herrschaft der städtischen Obrig- keiten sei genauso tyrannisch wie früher die des Adels, lag es nahe, auch das überlieferte politische und militärische Vorgehen der alten Eidgenossen zum legitimierenden Vorbild zu nehmen. So ahmten die Bauernbünde von 1653 nach dem Selbstverständnis der Aufständischen nur die früheren Bünde der alten Eidgenossen nach, und wie damals der Habsburger Adel sollte jetzt die etablierte, als tyrannisch empfundene Herrschaft der städtischen Obrigkeiten mit kriegerischen Mitteln beseitigt werden.79 Schließlich, als der Krieg verlo- ren und der Aufstand in blutigster Repression erstickt worden war, kam es im Entlebuch zum teilweise erfolgreichen Attentat dreier Bauern und „Teilen" auf eine Luzerner Ratsdelegation, das bis in Einzelheiten die sagenhafte Er- mordung des Vogtes Gessler durch Wilhelm Teil nachahmte.80 Was uns heu- te als heimtückischer und brutaler Mord erscheint, stellte jedoch nach dem Bewußtsein der Täter und der anderen ländlichen Untertanen etwas ganz an- deres dar. An dem auf das Attentat folgenden Tag besuchten die drei Teilen unter demonstrativer Zurschaustellung ihrer Tatwaffen und im Beisein vieler Zeugen und Nachbarn in ihrem Dorf die heilige Messe und brachten damit symbolhaft zum Ausdruck, daß sie sich ganz und gar nicht außerhalb der christlichen Glaubens- und Rechtsgemeinschaft gestellt hatten. Ihre Tat war ihnen und den anderen ländlichen Untertanen im Gegenteil heilig: Sie war die Vollstreckung des Gottesurteils, wie es alle Tyrannen verdientermaßen trifft.

IV. Zusammenfassung und Ausblick auf die politische Kultur des verdeckten Wi- derstandes in den ostelbischen Gebieten des Alten Reiches. Als Ergebnis der Be- schäftigung mit der im Vergleich zum ostelbischen Raum des Alten Reiches erkennbar werdenden regionalen politischen Kultur des offenen Protestes und Widerstandes in der Eidgenossenschaft des Spätmittelalters und der Frü- hen Neuzeit möchte ich abschließend vier Punkte herausgreifen: 1. Die politische Kultur des offenen Protests und des Widerstandes muß im Zusammenhang mit der überaus großen Fragilität der obrigkeitlichen Macht und Herrschaft erklärt werden, wie sie in diesem historisch-geographischen Raum über sehr lange Zeit hinweg gegeben war. Diese Brüchigkeit war das Resultat verschiedener Verhältnisse und Strukturen politischer, rechtlicher, wirtschaftlicher und kultureller Natur. Gemeint sind damit die weiträumigen,

78 Staatsarchiv Luzern, 13/3832, 11. März 1653. 79 So der erste Artikel des Huttwiler Bundesbriefes vom 14./4. Mai, in: Eidgenössische Abschie-

de, S. 163. 80 Vgl. die ausführliche Schilderung des Attentates in A. Suter, Krise u. Krisenbewältigung im

Ancien Regime: Der „Grosse schweizerische Bauernkrieg 1653", in: Die Orientierung 99. 1991, S. 19-28, hier S. 23 f.

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politischen Organisationsstrukturen des „Landes", wie sie in den revoltenin- tensiven ländlichen Untertanengebieten bestanden. Hinzuweisen ist zweitens auf das Vorhandensein einer Vielzahl unterschiedlich verfaßter eidgenössi- scher Orte, die angesichts der zwischen ihnen bestehenden territorialen und religiösen Interessengegensätze vom 15. bis 18. Jahrhundert in einem latenten und zuweilen offen ausbrechenden Spannungs- und Konfliktverhältnis zu- einander standen. Wichtig war, drittens, die in den voralpinen und zugleich revoltenintensiven Gebieten sich schon früh ausbildende proto- agrarkapitalistische Wirtschaftsweise und schließlich die in diesem Raum in Wechselwirkung mit der frühen Staatsbildung entstandene kulturelle Über- lieferung des „Geschichtsbewußtseins".81 Die dargestellten Verhältnisse ka- men in der konkreten Konfliktsituation jeweils als besondere Handlungsfä- higkeiten, als günstige Handlungsgelegenheiten und endlich als ein kulturell vermittelter höherer Grad der Widerstandsbereitschaft der ländlichen Unter- tanen zum Ausdruck. Die Vermittlung zwischen der Ebene der Strukturen und Verhältnisse einerseits und derjenigen des Handelns andererseits erfolgte dabei über das Risikokalkül der beteiligten Akteure. 2. Die in diesem Kontext sich ausbildende politische Kultur des offenen Pro- testes und Widerstandes darf jedoch nicht nur als bloßes Resultat der anhal- tenden Fragilität der obrigkeitlichen Macht und Herrschaft betrachtet wer- den. Vielmehr besaß diese politische Kultur Nah- und Fernwirkungen, die ih- rerseits als ein strukturbildender Faktor gedeutet werden müssen. Diese Wirkungen stellten einen eigenständigen und verstärkenden gesellschaftli- chen Faktor dar, der die strukturelle Fragilität der Macht- und Herrschafts- verhältnisse in der Eidgenossenschaft erhöhte bzw. aufrechterhielt. Ursache und Wirkung lassen sich nur im konkreten Beispiel und in der spezifisch histo- rischen Zeitfolge bestimmen. Zu fassen sind solche Zeitfolgen direkter Nah- und Fernwirkungen in Gestalt politischer, wirtschaftlicher und rechtlicher Konzessionen, welche die ländlichen Untertanen ihren Obrigkeiten durch offenen Protest und Widerstand abzuringen wußten und die im weiteren Ver- lauf wiederum ihre Stellung und ihre Fähigkeit zum Widerstand erhöhten. Als ein Beispiel unter vielen anderen kann das Entlebucher Landrecht von

81 Das Vorhandensein starker kommunaler Kräfte im Sinne von „Ländern" und Städten, wel- che dann den frühen Staatsbildungsprozeß und damit das Geschichtsbewußtsein entschei- dend prägten, verweist auf eine ganze Reihe anderer struktureller Bedingungen und Verhält- nisse, die noch früher, d. h. bereits im Früh- und Hochmittelalter wirksam geworden sind. Die

wichtigsten Stichworte dazu sind die schwache Feudalisierung dieses Raumes aufgrund der in den Alpen natürlich gegebenen kärglichen Böden und die ursprüngliche Randlage. Da- nach, als die Randlage durch die Eröffnung des Gotthardpasses aufgehoben und dieser Raum für die Italienpolitik der deutschen Kaiser politisch-strategisch wichtiger geworden war, ver- hinderten die Kaiser durch eine rechtliche Privilegierung und Förderung der Städte und Län- der, daß sich hier eine den Gotthardpaß beherrschende feudale Dynastie entwickeln konnte. Vgl. dazu G. P. Marchai, Die Ursprünge der Unabhängigkeit (401-1394), in: Geschichte der Schweiz u. der Schweizer, Basel 1986, S. 109-214, sowie H. C. Peyer, Der Einfluß der Alpen auf die Strategie im Früh- u. Hochmittelalter, in: Revue Internationale d'Histoire Militaire 65. 1988, S. 57-75.

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1405 aufgeführt werden. Wenn die Stadt Luzern in diesem Landrecht den Ent- lebuchern sehr weitgehende Autonomie zugestehen mußte, dann nicht zuletzt deshalb, weil die dortige Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt aufgrund ihres früheren Widerstandes gegen das benachbarte Land Unterwaiden, gegen ih- ren adligen Pfandherren von Torberg und in der Schlacht bei Sempach gegen ihren Habsburger Landesherren bereits eine große Eigenständigkeit erreicht hatte. Als die Stadt Luzern dann im Jahr 1405 die Rechtsnachfolge der Habs- burger antrat und das Herrschaftsverhältnis zum Entlebuch im Rahmen des erwähnten Landrechtes neu gestaltete, war diese frühere Entwicklung nicht mehr vollständig rückgängig zu machen. Indirekte Wirkungen der politi- schen Kultur des offenen Protests und Widerstandes sind darin zu sehen, daß die eidgenössischen Obrigkeiten diesen Faktor in ihrem Verhältnis zu den ländlichen Untertanen in Rechnung stellten und ihre Politik entsprechend ausgestalteten. So setzten beispielsweise die Städteorte ihre im Vorfeld des Bauernkrieges 1653 gemachten Anstrengungen, das Steuersystem zum Zweck der Finanzierung stehender Truppen und eines effizienteren Verwaltungsap- parates zu modernisieren und auszubauen, später nicht mehr fort. Dies ge- schah nicht zuletzt aus Furcht vor weiteren Konflikten, die um so größer war, als derartige Aufstände angesichts der ohnehin fragilen Macht- und Herr- schaftsstellung dieser Obrigkeiten sich durchaus zur existentiellen Bedro- hung auswachsen konnten, wie der Bauernkrieg 1653 deutlich gezeigt hatte. Sehr klar sprach Abraham Stanyan, der mehrere Jahre als englischer Gesand- ter in der Schweiz residiert hatte, diese Zusammenhänge in seinem 1714 in London erschienenen Bericht über die Eidgenossenschaft an. Er führte dort nämlich aus, daß das politische System der Städteorte mit einer auf der Spitze stehenden Pyramide zu vergleichen sei, die bei der kleinsten inneren oder äu- ßeren Erschütterung umzukippen drohe. Dieser Umstand war für Stanyan denn auch der eigentliche Grund dafür, daß die städtischen Obrigkeiten ge- zwungen seien, die Untertanen allgemein mit „Milde" zu regieren und insbe- sondere auf die Modernisierung des Steuersystems zu verzichten: Mit Rück- sicht auf „den Frieden und die Sicherheit dieser Cantone" würden die Obrig- keiten „ihren Untertanen praktisch keine Steuern auferlegen. . . . Auf diese Weise müssen sie keine Aufstände befürchten, die von dieser großen Quelle populärer Unzufriedenheit herrühren."82 Man kann also insgesamt feststel- len, daß die politische Kultur des offenen Protests und Widerstandes in der Eidgenossenschaft gewichtige direkte und indirekte Wirkungen zeitigte; ins- besondere war sie ein wichtiger Grund dafür, daß es hier im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts nicht zur Stärkung und Zentralisierung der staatlichen Macht im Sinne des Absolutismus kam. 3. Als eigenständiger Faktor der eidgenössischen Macht- und Herrschafts- strukturen muß die politische Kultur des offenen Protestes und Widerstandes auch deshalb betrachtet werden, weil dieser Widerstand als ein eminent kultu-

82 A. Stanyan, An Account of Switzerland, London 1714, S. 111.

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rell vermitteltes Phänomen in einem doppelten Sinne seine Autonomie gegen- über seinem strukturellen Kontext und den gesellschaftlichen Verhältnissen bewahrte. Einerseits konnte der manifeste Widerstand selbstreferentielle Kräfte entfalten, indem er kollektive Erfahrungen und unter Umständen kol- lektive Lernprozesse ermöglichte, welche das spätere Widerstandshandeln beeinflußten. Andererseits beansprucht die Sphäre der Kultur gegenüber dem strukturell-gesellschaftlichen Kontext selber einen autonomen Status; sie übersetzt diesen Kontext bzw. die historischen Prozesse nicht allein im Sinne kollektiver Mentalitäten langer Dauer oder starrer Weltsichten, sondern ver- arbeitet und tradiert Welterfahrung unter Umständen auch in sehr viel kreati- veren und komplexeren Formen. Beispiel dafür ist das Geschichtsbewußsein der Entlebucher Untertanen einschließlich der eidgenössischen Teilen- und Befreiungsgeschichte, welche die Erinnerung an alternative Möglichkeiten, ja sogar an die - zwar zweifellos überschätzte - Gestaltbarkeit historischer Pro- zesse wachhielten und in einem traditional legitimierten herrschaftlichen Um- feld eine sehr starke, kritische und zum offenen Widerstand motivierende und diesen legitimierende Kraft entfaltete. 4. Der Vergleich mit den ostelbischen Gebieten des Alten Reiches hat gehol- fen, spezifische Merkmale der politischen Kultur in der Eidgenossenschaft deutlicher zu erkennen und zu erklären. Umgekehrt können die in diesem hi-

storisch-geographischen Raum gewonnenen Einsichten und Erkenntnisse m. E. in dreifacher Hinsicht für die Untersuchung der politischen Entwick-

lungen und der Herausbildung einer politischen Kultur des verdeckten Wi- derstandes in den ostelbischen Gebieten des Alten Reiches fruchtbar gemacht werden. Einmal darf erwartet werden, daß die theoretische Perspektive von

pragmatischen und kompetent ihre Risiken abwägenden politischen Akteu- ren, welche ihre heuristische Kraft an einer Vielzahl von politischen Handlungs- und Konfliktsituationen in der Eidgenossenschaft des Spätmitte- lalters und der Frühen Neuzeit bewiesen hat, auch für die Untersuchung der ostelbischen politischen Kultur des verdeckten Widerstandes genutzt werden kann. Dann werfen die beträchtlichen politischen Nah- und Fernwirkungen des offenen Widerstandes in der Eidgenossenschaft die wichtige Frage auf, wie man die Folgen und den Stellenwert des verdeckten Widerstandes genauer einzuschätzen hat. Zeigte letzterer nicht geringere politische Folgewirkungen und ist deshalb das weitgehende Fehlen des offenen Widerstandes nicht ein Grund dafür, daß die für die ländlichen Untertanen ausgesprochen nachteili-

ge Gutsherrschaft und der Absolutismus sich hier durchsetzen und über lange Zeiträume hinweg aufrechterhalten werden konnten? Der wichtigste Er-

kenntnisgewinn, den man aus dem Beispiel der Eidgenossenschaft ziehen kann, besteht aber in der Einsicht in die starke und zugleich autonome, aus dem gesellschaftlich-strukturellen Kontext nicht mehr eindeutig und restlos abzuleitende Wirkungsmacht der Kultur und der kulturellen Überlieferung, welche diese bei der Herausbildung eines spezifischen Repertoires politischer Verhaltensweisen entfaltete. In Erweiterung früherer Erklärungsweisen, wel-

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ehe die dominierende politische Praxis des verdeckten Widerstandes der ostelbischen Untertanen in erster Linie auf die übermächtige Stabilität der re- alen Macht- und Herrschaftsverhältnisse zurückführten, wie sie durch die Gutsherrschaft und den Absolutismus tagtäglich hergestellt wurden, wäre deshalb zu untersuchen, ob nicht auch hier die kulturell vermittelten Erfah- rungen von Herrschaft, die Welt- und Geschichtsbilder, Vergangenheitsvor- stellungen und ähnliches mehr eine vergleichbar wichtige Rolle wie in der Eid- genossenschaft gespielt haben. Tatsächlich hat Jan Peters unlängst eine sol- che Möglichkeit angedeutet und die leider nicht mehr weiter vertiefte Frage aufgeworfen, ob die politische Kultur des verdeckten Widerstandes der ostel- bischen Gutsuntertanen, abgesehen von den gerade im Vergleich zur Eidge- nossenschaft überaus stabilen Macht- und Herrschaftsstrukturen, nicht auch mit Hilfe spezifischer „kultureller Standards" zu erklären wären. Dabei sei die Wirkung dieser „kultureller Standards" so zu verstehen, daß sie den „kri- tischen Punkt", an dem die passive Hinnahme in verdeckten Widerstand über- ging, höher setzten und - wie man ergänzen könnte - wiederum jene Schwelle, an der der verdeckte in den manifesten Widerstand hätte übergehen können, zu einem häufig unüberwindbaren Hindernis werden ließen.83 Die hier vor- gestellten Ergebnisse zeigen, daß man tatsächlich mit der Wirkungsmacht derartiger „kultureller Standards" oder anders gesagt: kulturell vermittelter Grade der .Herrschaftsakzeptanz und der Widerstandsbereitschaft rechnen darf und muß, deren Untersuchung lohnt. Wenn ein französischer Historiker gesagt hat, daß die Bauern und ländlichen Untertanen in seinem Land im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit deshalb nie revolutionär handel- ten, weil sie unbeirrt an die Heiligkeit und Unantastbarkeit ihrer Könige glaubten, und wenn umgekehrt die eidgenössischen Untertanen zuweilen des- halb revolutionär handelten, weil sie an die Geschichte des Wilhelm Teil und an die Heiligkeit seines und ihres Kampfes gegen die Tyrannei glaubten, so ist mit Blick auf die ostelbischen Gutsuntertanen zu fragen, was sie von der Übermächtigkeit der Herrschaft, unter der sie lebten, überzeugte und um so fester daran glauben ließ, daß man dieser Herrschaft vorteilhaft nur mit dem weniger riskanten, wahrscheinlich aber zugleich wirkungsloseren Mittel des verdeckten Widerstandes begegnen dürfe.84

Dr. Andreas Suter, Sonneggsteig 5, CH-8006 Zürich

83 Vgl. Peters, S. 91. 84 Vgl. Neveux, Die ideologische Dimension der Französischen Bauernaufstände im 17. Jh., in:

HZ 238. 1984, S. 265-85, hier S. 265 ff.

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