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Masarykova univerzita Filozofická fakulta Ústav germanistiky, nordistiky a nederlandistiky Magisterská diplomová práce 2013 Marie Dedíková

Raumfigurationen in Herta Mullers Werken Herztier Und Niederungen Marie Dedikova

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Raumfigurationen in Herta Mullers Werken

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  • Masarykova univerzita

    Filozofick fakulta

    stav germanistiky, nordistiky a nederlandistiky

    Magistersk diplomov prce

    2013 Marie Dedkov

  • Masarykova Univerzita

    Filozofick fakulta

    stav germanistiky, nordistiky a nederlandistiky

    Nmeck jazyk a literatura

    Bc. Marie Dedkov

    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken

    Herztier und Niederungen

    Magistersk diplomov prce

    Vedouc prce: Mgr. Ale Urvlek, Ph. D.

    2013

  • Prohlauji, e jsem diplomovou prci vypracovala

    samostatn s vyuitm uvedench pramen a literatury.

    ..

    Marie Dedkov

  • An dieser Stelle mchte ich mich beim Herrn Mgr. Ale Urvlek, Ph.D. fr seine Leitung bei der Anfertigung meiner Diplomarbeit herzlich bedanken. Auerdem danke

    ich Herrn Emann, der mich zu anregenden Gedanken ber Herta Mller sowohl im als

    auch auer seinem Seminar in Wrzburg motivierte. Zuletzt geht ein herzliches

    Dankeschn an alle vor allem an meine Familie, die mich bei der Erstellung meiner Diplomarbeit geduldig moralisch untersttzte. Vielen Dank!

  • Inhaltsverzeichnis

    1. Einleitung ..............................................................................................................5

    2. Zum Leben und Werk ............................................................................................6

    2.1 Leben ..............................................................................................................6

    2.1.1 Kindheit auf dem Lande ...........................................................................6

    2.1.2 Deutsche Minderheit in Banat ..................................................................8

    2.1.3 Studium und Leben in der Stadt................................................................9

    2.1.4 Politische Umstnde der Entstehung des Werkes Herztier ...................... 11

    2.2 Werk ............................................................................................................. 13

    2.2.1 Herztier .................................................................................................. 13

    2.2.2 Niederungen ........................................................................................... 17

    3. Vertiefende Literaturanalyse ................................................................................ 22

    3.1 Orte ............................................................................................................... 22

    3.1.1 Topologie von Subjekten und Topographie des Raumes ......................... 22

    3.2 Das Dorf als eine geschlossene Einheit .......................................................... 23

    3.2.1 Innen vs. Auen ..................................................................................... 24

    3.2.1.1 Innen ...................................................................................................... 24

    3.2.1.2 Auen .................................................................................................... 26

    3.2.3 Land Dorf Kind ................................................................................ 28

    3.2.3.1 Vom Dorf zum Kind .............................................................................. 28

    3.2.3.2 Vom Land aufs Dorf .............................................................................. 29

    3.3 Stadt als ganz andere Realitt? ...................................................................... 30

    3.3.1 Labyrinth ............................................................................................... 32

    3.3.2 Kontrast des drflichen und stdtischen Raumes .................................... 33

    3.3.2.1 Sprechen vs. Schweigen ......................................................................... 34

    3.3.2.2 Feld vs. Strae ........................................................................................ 35

    3.4 Kistenmetaphorik in Niederungen und Herztier ............................................. 36

    3.4.1 Klaustrophobische Rume ...................................................................... 36

    3.4.1.1 Die Dorfkiste.......................................................................................... 36

    3.4.1.2 Das Viereck ........................................................................................... 39

    3.4.2 Metapher des Frosches ........................................................................... 40

    3.4.2.1 Der deutsche Frosch ............................................................................... 40

    3.4.2.2 Der Frosch des Diktators ........................................................................ 42

  • 3.5 Entgrenzung und Stellung der Grenzen .......................................................... 43

    3.5.1 Entgrenzung ........................................................................................... 43

    3.5.2 Fluss und Zaun als Grenze ...................................................................... 45

    3.5.2.1 Das Flussmotiv....................................................................................... 45

    3.5.2.2 Das Zaunmotiv ....................................................................................... 46

    3.5.3 Zwischenrume ...................................................................................... 47

    3.6 Intertextualitt der Werke Herztier und Niederungen ..................................... 48

    3.7 Der Aufbau der Kindheitserinnerungen und ihre Begrndung in Herta Mllers

    Herztier ................................................................................................................... 50

    Zusammenfassung ................................................................................................... 56

    4. Literaturverzeichnis ............................................................................................. 58

    Primrliteratur ......................................................................................................... 58

    Sekundrliteratur ..................................................................................................... 58

    Internetquelle ........................................................................................................... 60

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    1. Einleitung

    Die vorliegende Arbeit beschftigt sich mit Raumfigurationen in den Werken Niederungen

    (1982) und Herztier (1994). Die Arbeit besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil fokussiert

    sich auf das Leben und Werk der Nobelpreistrgerin fr Literatur im Jahre 2009 Herta

    Mller. Herta Mllers Werk kennzeichnet sich mit autofiktionalen Merkmalen, deshalb

    wurde eine Methode der Komparation eines Buches mit ihrem Leben benutzt. Zuerst wird

    das Leben auf dem Lande beschrieben, wo sich der ganze Erzhlband Niederungen

    abspielt. Im zweiten Schritt werden politische Umstnde der Entstehung des Werkes

    Herztier und die Studienzeit der Autorin beobachtet. Des Weiteren kann man im Roman

    Herztier reale und fiktive Zeichen erblicken, die in ihrer Interpretation weiter ausgefhrt

    werden. Der zweite Teil nimmt schon beide Werke sowohl aus der rumlichen Perzeption

    als auch in dem intertextuellen Hinblick auf Kindheitserinnerungen - das Leben in der

    Stadt des Werkes Herztier und den Zeitraum der Kindheit auf dem Lande in Niederungen

    in Betracht. In gegenseitigen Beziehungen werden folgende Raummodelle untersucht: Dorf

    vs. Stadt, Kistenmethaphorik, der deutsche Frosch vs. der Frosch des Diktators,

    Entgrenzung vs. Stellung der Grenzen und Zwischenrume. In jedem Kapitel findet sich

    ein Thema, welches mit einer rumlichen Einordnung der Kontrawelten beider Werke

    korrespondiert.

    Das Ziel dieser Arbeit ist entgegengesetzte und identische Rume der Werke Niederungen

    und Herztier zu beschreiben und vergleichen. Eine Komparation muss nicht nur

    Verbindungslinien beider Bcher Niederungen und Herztier erstellen, sondern auch zwei

    unterschiedliche Kunstwelte in Herztier anfertingen. Dies fhrt uns zur Frage nach

    Begrndung der Einlegung der Kindheitserinnerungen ins Buch Herztier, die mit einer

    literarischen Schilderung des Lebens auf dem Lande in Niederungen bereinstimmen.

    Es lsst sich voraussetzen, dass die Kindheitsschilderung in Niederungen mit

    Kindheitserinnerungen in Herztier identisch ist und Erinnerungen an die Kindheit im

    Roman rein zufllig eingeschoben sind. Zuletzt kann die rumliche Einordnung zwischen

    beiden Werken einen direkten Kontrast bilden. Somit kann man solche Fragen stellen, die

    uns bestimmte Antworte darauf geben knnten: Wie unterscheiden sich beide Rume? Was

    fr ein Merkmal haben sie hnlich oder welche Grnde fhrten die Autorin zum Einschluss

    der Kindheitserinnerungen ins Buch Herztier?

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    2. Zum Leben und Werk

    Die deutsch-rumnische Schriftstellerin Herta Mller, welche die Mehrheit ihres Lebens in

    einer rumnischen Minderheit in Banat verbrachte und 2009 fr Erinnerungen an ihr Leben

    einen Nobelpreis fr Literatur bekam, schreibt viele wertvolle Werke der totalitren Zeit

    aus Rumnien. Meine Konzentration richtet sich auf zwei folgende Werke Niederungen

    (1982) und Herztier (1994).

    In diesen Werken spiegelt sich zuerst ihre Kindheit in Niederungen und spter ihre

    Studienjahren in Temeswar wider, wobei sie sich immer in ihre Erinnerungen an Kindheit

    zurckkehrt. hnliche Merkmale zwischen Niederungen und Herztier sind ziemlich

    bemerkenswert, die beschrieben und erklrt werden sollten und so der Kontext

    umliegenden Textes in Herztier sollte in Frage kommen.

    Herta Mller gilt als eine der wichtigsten Autorinnen der rumnisch-deutschen Literatur

    nach 1945 (Khlmann et al. 2010: 396) und nimmt mit ihrem Werk eine Stelle in der

    Literatur ein, die viele Kontroversen und einen Anlass zum steigenden Interesse an der

    germanischen Forschung ihrer Bcher erweckt (2010: 399).

    2.1 Leben

    Ihr Werk fokussiert sich vor allem auf das Leben in der totalitren Diktatur Rumniens

    (Khlmann et al. 2010: 399). Herta Mller geht stets von ihren Erinnerungen ans Leben in

    Rumnien aus und nutzt die Sprache als Mittel ihrer eigenartigen uerung der

    sprachlosen Umgebung der Stadt Temeswar und des Dorfes Nitzkydorf. Daher ist der

    Kontext ihrer Erlebnisse und der umliegenden Umstnde in Rumnien so wichtig.

    2.1.1 Kindheit auf dem Lande

    Herta Mller wurde im Jahre 1953 in Nitzkydorf in Rumnien als einzige Tochter von

    Katharina und Josef Mller geboren (Goethe Institut 2013) und wuchs in einfachen

    Verhltnissen in Banat auf. Ihr Vater ehemaliger SS-Soldat arbeitete als Lkw-Fahrer

    und ihre Mutter als Hausfrau. Herta Mller wurde nachhaltig von ihrer vom Schicksal

    schwer betroffenen Familie beeinflusst (Wagner 2010: 27). Ihr Grovater, der als

    wohlhabender Bauer und Kaufmann mit Verbindungen nach Wien lebte (Khlmann et al.

    2010: 396, Goethe Institut 2013), wurde in der Folge der kommunistischen bernahme in

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    Rumnien enteignet. Auch ihre Mutter wich dem Leben unter Unterdrckung nicht aus. In

    den 40er Jahren wurde sie ins russische Lager geschickt und zu Zwangsarbeiten

    gezwungen (Wagner 2010:27). Herta Mller besuchte die Grundschule in ihrem Geburtsort

    (Goethe Institut 2013), wo die Kinder nur auf Deutsch sprachen. Rumnisch stellte fr

    Kinder in Nitzkydorf nur Fremdsprache dar. Das Dorf wurde von Herta Mller als eine

    geschlossene Einheit geschildert, wo patriarchalische Muster und Traditionen gefolgt

    werden. Die dort lebenden Menschen wurden vom Nationalsozialismus stark geprgt und

    dem Diktator Ceauescu untergestellt (Kopov 2011: 14,15).

    Man sieht, dass Herta Mllers Kindheit durch die Familienlage im Bauerndorf erschwert

    wurde. Sie spricht nicht ber Heimat, sondern ber Landschaften der Heimatlosigkeit

    (Futr 2009). Aus diesem Grund versuchte sie ihre Kindheit durch Sprache zu

    rekonstruieren. Die Sprache war ein Verstndigungsmittel, welches auf dem Lande sehr oft

    fehlte. Herta Mller erlebte als Kind eine Klte der Verwandtschaftsverhltnisse und einen

    Abstand der Dorfmenschen. Ich habe nicht aufgewachsen, sondern ich wurde nur

    erzogen. Nichts durfte man, man musste alles, fgt Herta Mller hinzu (Bozzi zitiert nach

    Fribolin 2005: 60). Das Bewusstsein der Pflicht wurde oft von der Mutter durchgesetzt und

    als Kind hatte Herta nur eingeschrnkte Einwilligungen. Ihr Leben war von Geboten und

    kalten Befehlen eingeschrnkt, was auch aus Niederungen (1984) hervorgeht.

    Das Dorf verlie sie im Alter 14 Jahre und zog wegen des Studiums in die Stadt

    Temeswar. Sie erkennt, dass es in demselben Ma in der Stadt geschieht, was sie im Dorf

    erlebte (Dotzauer 2009). Der Eindruck aus Kindheit und Dorfleben kann durch folgenden

    Mllers Ausspruch belegt werden:

    Auch in meiner Familie war jeder eine Insel. Es waren die 50er Jahre eine

    Kindheit im Stalinismus, ein abgelegenes Dorf ohne Asphaltstrae zur Stadt

    aber kein politikfreies Gehege. [] 405 Huser hatte das Dorf, etwa 1.500

    Bewohner. Alle liefen herum mit dem Schrecken. Niemand traute sich, darber zu

    reden. Auch wenn ich als Kind die Inhalte der Angst nicht kapierte, fra sich das

    Gefhl der Angst in den Kopf. Alle in meiner Familie waren beschftigt. Meinen

    Groeltern hatte man als Ausbeuter des Volkes das Feld, den

    Kolonialwarenladen enteignet. Einer der wohlhabendsten Leute der Gegend

    hatte, ber Nacht nicht einmal mehr Geld genug, um den Friseur zu bezahlen.

    Sein Sohn war im Krieg gefallen. Seine Tochter, meine Mutter, wurde fnf Jahre

    ins Arbeitslager in die Sowjetunion deportiert, wo sie den Tod als Verhungern

    und Erfrieren sah. Mein Vater hatte den Krieg berlebt. [] Meine Mutter sttzte

    sich ins Schuften bis zur Vlligen krperlichen Erschpfung. Mein Vater in den

    Alkohol, bis die Beine einknickten und die Zunge lallte. Und ich begriff inhaltlich

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    nichts und gefhlsmig alles an diesem wortlosen, mit dem Schweigen gepaarten

    Ruin. (Goethe Institut 2013)

    2.1.2 Deutsche Minderheit in Banat

    Herta Mller stammt aus der Banater Schwaben genannten deutschen Minderheit. Die

    Minderheit der Banater Schwaben ist im 18. Jahrhundert entstanden, wobei eine Gruppe

    von Menschen der deutschen Abstammung aus dem Elsa und der Pfalz von Habsburgern

    zwecks Besiedelung (Warner 2011: 16) in Banat angesiedelt wurde. Das Gebiet wurde im

    Laufe der Geschichte an verschiedene Lnder vererbt. Aufgrund der verschiedenen

    herrschenden Mchte entstand eine stark unassimilierte Minderheit (2011: 15, 16) im

    Westen Rumniens [] liegend am Sdostrand der ungarischen Tiefebene (Wagner

    2010: 8). Nitzkydorf, woher die Autorin kommt, ist ein Dorf, das nur seine Gewohnheiten,

    Feiertagen, seine Religion und Kleidung erhlt. Mnner stellen eine wichtige Autoritt dar,

    der alles unterliegt. Um Gott zu ehren besucht die einheimische Bevlkerung jeden

    Sonntag den Gottesdienst. Die Katholische Kirche und Gott steht in der Position jedem

    Befehle zu geben, sowie Ordnung und Pflicht zu fordern. Gott schreckt die Dorfbewohner

    ab sowieso der Diktator (Warner 2011: 15).

    In Banat spielte die Landwirtschaft eine wichtige Rolle. Die Menschen waren

    ausschlielich auf eigene Krfte angewiesen und mussten ihren Haushalt mit einer

    Viehzucht und einem Pflanzenanbau besorgen. Aufgrund dieser Tatsache wurde das Banat

    als Kornkammer bezeichnet (Kopov zitiert nach Horak 2011: 14).

    Der Minderheit sollten einige Rechte zugesprochen werden und die Rumniendeutschen

    sollten ein Teil Rumniens werden. Das wurde jedoch nicht realisiert und die Deutschen in

    Rumnien waren in ihren Interessen beschrnkt (Warner 2011: 16). In Banat fehlte eine

    bestimmte Zugehrigkeit zur rumnischen Nation und entsteht eine vierprozentige

    Minoritt (Wagner 2010: 10), die sich um ihre eigenen Interessen kmmert. Die Heimat

    liegt irgendwo im fernen Deutschland und die Dorfbewohner suchen nach eigener Welt,

    die sie selbst in Rumnien gestalten und die sie an ihre Heimat erinnert.

    In den dreiiger Jahren zeigte sich, dass Rumniendeutschen auf der Seite des sich in

    Deutschland ausbreitenden Nationalsozialismus stehen. Faschistische Ideologie wurde in

    Banat weit verbreitet und propagiert. Unter der Hitler-Regierung wurden 1943 ungefhr 40

    000 Rumniendeutsche in die SS-Waffen eingereiht und spter aufgrund der

    Kollektivschuld aus der Kollaboration verdchtigt. Nach dem Kriegsende 1945 wurden

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    75 000 Rumniendeutsche aus diesem Grund zur Zwangsarbeit geschickt und nur eine

    Hlfte ist nach Rumnien zurckgekehrt. Rumnien geriet nach dem zweiten Weltkrieg

    unter sowjetischen Einfluss. Trotz der Nicolae Ceauescu-Regierung seit 1965 und dem

    strkenden Nationalismus in Rumnien entschieden sich immer mehr Banatschwaben nach

    Deutschland zu emigrieren (Warner 2011: 16, 17), auch wenn es durch

    Bestechungsmanahmen einen Pass zu erhalten kompliziert gemacht wurde (Kopov 2011:

    14). Fehlende rumnische Zugehrigkeit, Armut und Diskriminierung gaben einen Anlass

    dazu, dass die rumniendeutsche Minderheit bis heute fast verschwand. Wegen der dort

    herrschenden Verhltnisse nach 1989 bestand kein Grund in Rumnien zu bleiben (Warner

    2011: 17).

    Herta Mller beschreibt das Leben in der Banater Minderheit vor allem in ihrem Buch

    Niederungen und schildert den Alltag aus kindlicher Perspektive. Es lsst sich sagen, dass

    man das Bewusstsein der physischen Grenzen, der man durch die alltgliche Begrenzung

    der Pflichten und Ttigkeiten, der Heimatlosigkeit einer sprachlichen Minderheit, Folgen

    der hoch gestellten Autoritten und Konsequenzen der Diktatur, im Text spren kann (ye

    2007: 6). Das alles und noch mehr geht nicht nur aus der Text des Werkes Niederungen,

    sondern aus der Geschichte der deutschen Minderheit in Rumnien hervor.

    2.1.3 Studium und Leben in der Stadt

    Herta Mller verlie ihr Heimatdorf im Jahre 1973, um fr drei Jahre in Temeswar

    Rumnisch und Deutsch zu studieren (Warner 2011: 25). Nach ihren Studienjahren

    arbeitete sie von 1977 bis 1979 als bersetzerin in einer Maschinenfabrik (Kopov 2011:

    10-11). Aufgrund von zunehmender Mdigkeit nach dem Arbeitstag und fehlendem

    Anspruch auf Freizeit, begann sie in ihrem Bro ihre eigenen Texte zu schreiben. Wie die

    Autorin selbst sagt, stie sie unbeabsichtigt auf Dichtung und Schreiben (Wagner 2010:

    29). Aufgrund ihrer Weigerung mit dem Geheimdienst Securitate zusammenzuarbeiten

    wurde sie entlassen und politisch verfolgt (Kopov 2010: 10-11). Auch wenn sie zuerst

    kein festes Mitglied der literarischen und politisch engagierten Gruppe Aktionsgruppe

    Banat war, hatte sie viele Anknpfungen durch ihrem Mann Richard Wagner gehabt, der

    die Gruppe grndete, sowie durch ihren Freundeskreis, der auch von Rolf Bossert, William

    Totok und Johann Lippet bestand (ye 2007: 7-8). Das war ein hinreichender Grund dafr,

    dass sie als Verdchtigte beurteilt wurde. Es findet sich ein Stck Wahrheit in dem was

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    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken Herztier und Niederungen 10

    ihre Mutter ihr erzhlt und wie Herta Mller am Anfang des Buches Herztier (1994) Gellu

    Naum zitierte:

    Jeder hatte einen Freund in jedem Stckchen Wolke

    so ist das halt mit Freunden wo die Welt voll Schrecken ist

    Freunde kommen nicht in Frage

    Denk na serisere Dinge. (Mller 2009a: 5)

    Wenn Herta Mller schon Freunde und ihrem Mann Richard Wagner hatte, konnte sie sie

    nicht verraten und denunzieren (ye 2007: 8).

    Zu ihren engsten Freunden gehrten nicht nur Rolf Bossert, Werner Sllner, Johann

    Lippet, Richard Wagner, sondern auch die damalige Arbeitskollegin Jenny. Nachdem

    Herta Mller aus der Arbeit entlassen worden war, wurde Jenny zu ihrer Freundin, welche

    sie fast an jedem Tag sah. Nach Herta Mllers Ausreise nach Deutschland besuchte sie

    Jenny einmal in ihrer Berliner Wohnung. Jenny betrog sie jedoch als Freundin, wie Herta

    Mller in einer Schilderung auslegt:

    Als ich dann aber in unserer Berliner Kche ihren Reisepa anschaute und die

    zustzlichen Visa fr Frankreich und Griechenland sah, sagte ich ihr auf den

    Kopf zu: So einen Pa gibt es nicht umsonst, was hast du dafr getan. Ihre

    Antwort: Der Geheimdienst hat mich geschickt, und ich wollte dich unbedingt

    noch einmal sehen. Jenny hatte Krebs sie ist lange schon tot. (Goethe Institut

    2013)

    Ihre ersten Gedichte wurden in der Neuen Banater Zeitung im Jahre 1969 verffentlicht

    (Wagner 2010: 28). Sie las zusammen mit ihren Freunden in einem Sommerhaus geheim

    verbotene Weltliteratur und schrieb kurze Texte (Mller 2009a: 57). Um ihre Erinnerungen

    an die Kindheit systematisch abzubauen und totalitre berwachung und alltgliche

    Unterdrckung der Ceauescu Geheimdienst zu berleben, begann Herta Mller sich mit

    anti-totalitrer Literatur zu beschftigen (Wagner 2010: 28).

    Aus politischen Grnden emigrierte Herta Mller 1987 mit ihrem Lebensgefhrten nach

    Deutschland. Auch ihre Freunde Rolf Bossert, Werner Sllner und Johann Lippet flohen in

    den 1980er Jahren aus Rumnien nach Deutschland (Kopov 2010: 12). Selbst Herta

    Mller erzhlt, wie das Leben in Rumnien unertrglich fr sie und ihre Freunde war:

    Nachdem ein ganzer Trupp Geheimdienstler die Wohnung meines Freundes Rolf

    Bossert durchsucht hatte und mit allen seinen Manuskripten und Briefen

    abgezogen war, nahm Bossert die Schere, ging stumm ins Bad vor den Spiegeln

  • Filozofick fakulta MU Marie Dedkov

    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken Herztier und Niederungen 11

    und schnitt sich Haarbschel vom Kopf und aus dem Bart. Es war kurz von seiner

    Ausreise nach Deutschland. Diese wilde Schere im Haar, man wusste es sieben

    Wochen spter, war ein erstes Hand-an-sich-legen. Denn sieben Wochen spter

    war er seit sechs Wochen in Deutschland und strzte sich aus dem Fenster des

    bergangsheims. (Goethe Institut 2013)

    Rolf Bossert begeht Selbstmord unter sonderbaren Umstnden in seiner Wohnung nach der

    Ausreise aus Rumnien und stellte damit auch eine Frage, ob es mglich ist, dass das

    Leben dank der Kraft der Geheimdienst Securitate auer Rumnien beeinflusst wird

    (Cornis-Pope und Neubauer 2004: 237).

    2.1.4 Politische Umstnde der Entstehung des Werkes Herztier

    Rumnien hatte im Laufe der Geschichte ein bedeutendes Bedrfnis einer herrschenden

    Person zu unterliegen und von jemandem gefhrt zu werden. D. h. der Personenkult

    wurzelte sich in Rumnen gut ein und totalitre Elemente nahmen eine vordere Stelle im

    Alltagsleben des Rumniens ein. Kommunistische Tendenzen verstrkten sich schon vor

    dem ersten und zweiten Weltkrieg beziehungsweise in den dreiiger Jahren, als die

    Kommunistische Partei im Jahre 1921 gegrndet und gleich danach aufgelst wurde.

    Bereits der Faschismus gewann am Anfang der dreiiger Jahre vor allem in Gebieten der

    deutschsprachigen Minderheit an Bedeutung und gekennzeichnete sich mit religisen

    Merkmalen. Die Neigung des Staates zur Diktatur allgemein begleiteten Zeichen des

    starken Nationalismus. Rumnien trat nach dem zweiten Weltkrieg prosowjetisch ein

    (Warner 2011: 12).

    In den sechziger Jahren wurde der Haupt des Staates Nicolae Ceausescu und seit dieser

    Zeit begann eine neue ra in Rumnien. Inzwischen wurden stark nationalistische Gesetze

    herausgegeben und natrlich gegen rumnische Minderheiten gerichtet. Jede beliebige

    Opposition wurde unterdrckt oder verfolgt. Missliebige Personen wurden zur Ausreise

    gezwungen, [] verhaftet, in psychiatrische Anstalten eingewiesen oder umgebracht.

    (Warner 2011: 13) Literatur, Kunst und Kultur unterlagen in Rumnien bis Ende der 80er

    Jahre einer strikten Kontrolle und Reglementierung durch staatliche Organe. (Wagner

    2010: 5) In der Folge der in den 80er Jahren extrem realisierten Einsparungsmanahmen

    wurde die Lebensmittel-, Energieversorgung und flieendes Wasser fr rumnische

    Bevlkerung eingeschrnkt und damit verschlechterte sich auch die wirtschaftliche Lage

    des Landes. Der Absicht dieser Strategie war Staatsschulden zu reduzieren und laut

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    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken Herztier und Niederungen 12

    Systematisierungsprogramm sollten Landwirtschaftsgebiete ausgebaut werden, aber

    stattdessen gelang es nur eine Hlfte zu renovieren, was eine Reihe von Protesten

    verursachte. Den Hhepunkt erreichten Repressalien im Jahre 1989, wobei das

    prosowjetische Ceauescu-Regime gestrzt wurde (Warner 2011: 13-15).

    Was den Zustndigkeitsbereich der Geheimdienst Securitate betrifft, bte sie genauso eine

    Ttigkeit aus, wie die Kanzlei der Staatsoberhaupt Nicolae Ceauescu forderte. Zu ihren

    Aktivitten gehrte vor allem Kontrolle der gesamten Strukturen des Staates, die

    verdchtigt oder sich gegen den Staatsapparat engagieren knnten. Der Geheimdienst

    Securitate verfolgte und verhrte alle Beteiligten am politischen Widerstand und kmmerte

    sich um eine staatliche Einordnung in der Richtung einer sozialistischen Ideologie (Warner

    2011: 13). Securitate spielt in Herztier (1994) eine wichtige Rolle in der Form der

    berwachung aller Bewegungen der Ich-Erzhlerin (ye 2007: 7-8).

    Als Protest gegen das politische System und fr Erhaltung der banatschwbischen

    Traditionen entstand die literarische Gruppe Aktionsgruppe Banat (Kopov 2010: 15). Zu

    ihren Mitgliedern gehrten Albert Bohn, Rolf Bossert, Werner Kremm, Ernest Wichner,

    Gerhard Ortinau, Anton Sterbling, William Totok, Richard Wagner und Johann Lippet. Sie

    arbeiteten spter mit der literarischen Gruppe Literaturkreis Adam Mller-Guttenbrunn

    zusammen, in der auch Herta Mller ttig war. Zur Aktionsgruppe Banat wurden

    vorwiegend deutschsprachige Literaten Studenten der Temeswarer Universitt

    angeschlossen, die aus der banatschwbischen Minderheit kamen und berregional zu

    publizieren bemhten (Warner 2011: 21-22). Nach der von der Securitate verursachten

    Auflsung der Aktionsgruppe Banat benutzten Literaten fr ihre weitgehende Kraft den

    offiziell bekannten Adam Mller-Guttenbrunn-Literaturkreis und lasen kurze literarische

    Texte dort vor (Goethe Institut 2013).

    Herta Mller benutzte ihre Sprache als Medium. Sprache ist nicht ein

    Kommunikationsmittel, sondern eine Mglichkeit, wie in sich selbst orientieren und vor

    allem durch den Erinnerungsprozess jede Situation der stark verletzenden Umgebung in

    der Totalitt beschreiben kann. Ihre Absicht zielte zum Ausdruck des Alltglichen, das

    nicht in der Diktatur geuert werden konnte (Wagner 2010: 5-6). Die Verfolgung,

    Verhre, berwachung, Publikations- und Berufsverbote realisieren sich in Sprachbildern

    (2010: 38). Ihre Sprachbilder und Metapher begleiten vor allem die ganze Struktur der

    Werke Herztier und Niederungen. In der Aktionsgruppe Banat konnte sie sich engagieren

    und literarisch entwickeln (2010: 28).

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    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken Herztier und Niederungen 13

    2.2 Werk

    Herta Mller debtierte mit den Werken Niederungen (1982) und Herztier (1994), die eine

    Aufmerksamkeit in deutschsprachigem Raum erweckten. Ihr erster Prosaband, der

    herausgegeben wurde, war Niederungen. Spter verfasste sie den Roman Herztier. Beide

    kennzeichnen sich mit biographischen Zgen und gehen vom Leben der Autorin aus.

    2.2.1 Herztier

    Das Buch Herztier (1994) wird im Jahre 1992 von Herta Mller als ihr zweiter Roman in

    Deutschland publiziert (Grn 2011) und ihren zwei toten Freunden aus der Jugend

    gewidmet (Warner 2011: 60). Die Autorin uert sich zum Werk folgend: Es ist ein sehr

    persnliches Buch. Das kann nur erkennen, wer mit mir seinerzeit zusammengelebt hat,

    und auch der erkennt nur gewisse Zge (Grn 2011). Der Roman ist als politische

    Berichtserinnerung geschrieben (Warner 2011: 61) und erinnert an Angst, Demtigung,

    Ausschluss, Angst, Bedrohung, Anpassung, Widerstand, Flucht und Exil im Ceauescu-

    Regime (Kopov 2010: 9).

    Das Buch Herztier beschreibt das alltgliche Leben der Schriftstellerin Herta Mller aus

    der Ich-Perspektive whrend des Studiums in Temeswar (Wagner 2010: 57). Whrend des

    ganzen Werkes werden nicht nur Aussagen aus alltglichen Leben der Autorin, sondern

    auch Erinnerungen an ihre Kindheit assoziativ verbunden vorgelegt (Warner 2011: 71). Sie

    erzhlt ber viele Freunde, die sie trifft und die ihr Leben umgestalteten. Zunchst wohnt

    sie in einem Studentenwohnheim in einem Zimmers mit fnf weiteren Mdchen, die so

    arm wie sie selbst sind. Dabei wird nur die Geschichte des Mdchens Lola geschildert,

    auch wenn im Zimmer noch weitere Mdchen leben (Warner 2011: 61).

    Lola kommt aus sehr armen Verhltnissen und mchte einen besseren Lebensstandard

    durch einen wohlhabenden Mann erreichen (Bozzi 2005: 80). Aus diesem Grund schlft

    sie mit Mnnern, die von der Arbeit nach Hause fahren. Fr den Beischlaf mit Mnnern

    bekommt sie geschlachtete Tiere. Lola trumt von den weien Hemden der Mnner und

    wnscht sich ein weies Hemd ihres zuknftigen Mannes zu behalten, auch wenn es

    unmglich scheint. Unversehens lsst sich die alltgliche Realitt materiellen Mangels

    einer Individualitt in der Totalitt beschreiben (Mller 2009a: 13).

    Nachlaufen und weglaufen mute Lola mit ihrem Wunsch nach weien Hemden.

    Der blieb noch im uersten Glck so arm wie die Gegend in ihrem Gesicht.

  • Filozofick fakulta MU Marie Dedkov

    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken Herztier und Niederungen 14

    Manchmal konnte Lola die laufenden Maschen nicht fangen, weil sie in der

    Sitzung war. Beim Lehrstuhl, sagte Lola, ohne zu wissen, wie gut dieses Wort ihr

    gefiel. [] Lola ging zur Straenbahn. Wenn jemand an der nchsten Haltestelle

    einstieg, schlug sie die Augen gro auf. Es stiegen um Mitternacht nur Mnner

    ein, die nach der Sptschicht aus der Waschpulverfabrik und aus dem

    Schlachthaus nach Hause fuhren. Sie steigen aus der Nacht ins Licht des Wagens,

    schreibt Lola, und ich sehe einen Mann, der so mde ist vom Tag, dass in seinen

    Kleidern nur ein Schatten steht. Und in seinem Kopf lngst keine Liebe, in seiner

    Tasche kein Geld. Nur gestohlenes Waschpulver oder die Kleinigkeiten

    geschlachteter Tiere. Rinderzungen, Schweinenieren oder die Leber eines Kalbs.

    (Mller 2009a: 17-19)

    Lola verleiht Strumpfhosen, Wimperntusche und andere Klamotten von ihren

    Nachbarinnen im Zimmer, ohne sie zu fragen (2009a: 18). Das Zimmer stellt einen

    Viereck dar (2009a: 11) und alles im Buch wird mit der Ziffer Vier verbunden. Das

    Zimmer spiegelt eine Kiste wider, woher keine Flucht mglich ist und das Sprachrohr zeigt

    eine Kontrolle und einen Diktator in der Form der Stimme. Jeden Schritt begleitet Angst

    und Lola wird von anderen als etwas Schmutziges und Niedriges spazierend durch den

    struppigen Park wahrgenommen (2009a: 26-27).

    Das Leben in der Diktatur wird im Buch mit vielen Symbolen vorgezeichnet und besitzt

    einen begrenzten Raum sowie in der Stadt als auch im Dorf. Lebensumstnde zwischen

    Menschen auf dem Lande und in der Stadt verschwinden dank der schweren industriellen

    oder landwirtschaftlichen Arbeit und bestimmen das Lebensniveau jeder Person. Arme

    Menschen arbeiten fr Geld und reiche Menschen arbeiten fr den Staat. Das impliziert,

    dass Unterschiede zwischen der armen Bevlkerung und wohlhabender Funktionrschicht

    wirklich markant sind. Wer nicht mitarbeitet, wird psychisch und physisch bestraft. Tod

    und Lebensbedrohung findet man auf jedem Schritt (Warner 2011: 62-63).

    Lola tritt in einer kommunistischen Partei ein, damit sie eine bessere Gesellschaftsstelle

    erlangt. Spter begeht sie im Schrank des Zimmers jedoch mit Zuhilfenahme einen am

    Grtel der Autorin Selbstmord. Die Autorin entnimmt geheim Lolas Tagebuch und

    versucht die Absicht Lolas Selbstmordes mit ihren neuen Freunden Edgar, Kurt und Georg

    zu untersuchen. Lola selbst ist nach dem Tod aus der Partei ausgeschlossen und Lolas Tod

    wird als Selbstmord ffentlich prsentiert (Mller 2009a: 32-33). Niemand vermisst Lola

    und es sieht so aus, als ob sie nie lebte. Nur die Autorin will teilweise wegen ihres

    schlechten Gewissens und teilweise wegen des Zweifels ihres begangenen Selbstmordes

    wissen, was wirklich geschehen ist.

  • Filozofick fakulta MU Marie Dedkov

    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken Herztier und Niederungen 15

    Im Laufe des Studiums lernt die Ich-Erzhlerin die drei gleichgesinnten Jungen Edgar,

    Kurt und Georg kennen. Sie treffen sich regelmig und ihre gegenseitige Untersttzung in

    schweren Zeiten erfllt die Anforderung einer echten Freundschaft. Alle vier lesen

    gemeinsam Bcher der Weltliteratur, fotografieren Menschen bei der Arbeit und dichten

    ihre eigenen Texte (Warner 2011: 64). In Folge dieses verdchtigten Verhaltens werden sie

    durch zahlreiche Verhre durch den Hauptmann Pjele und den Geheimdienst verfolgt.

    Auch wenn sie nur gute Freunden sind, wird ihre freundschaftliche Anknpfung

    unterdrckt (Mller 2009a: 58). Jeder bekommt eine Arbeit in einer anderen Stadt. Alle

    vier fhlen eine tiefe Einsamkeit wegen der Trennung. Mit steigender Gewalt des

    Geheimdienstes werden Familienmitglieder dieser jungen Menschen untersucht und

    Georg, Edgar und Ich-Erzhlerin wird gekndigt. Nur Kurt behlt seine Arbeit (Warner

    2011: 64). Die Freunde informieren sich gegenseitig per Post und bleiben im Kontakt

    zusammen.

    Bei einem Verhr der Erzhlerin erreicht die Unmenschlichkeit einen Hhepunkt, sodass

    sie nackt vor dem Hauptmann Pjele steht (2011: 65). Man wundert sich nicht, wenn sie

    schon Selbstmordgedanken hat und einen Selbstmord begehen will (Mller 2009a: 110-

    111). Einen Weg aus der Ausweglosigkeit bietet nur Selbstmord oder Flucht, welche

    meistens tdlich endet (Warner 2011: 63). Jeder hofft, dass man den Diktator berlebt

    (Mller 2009a: 70), auch wenn Menschen bald an Krankheiten sterben. Krankheiten

    fressen Menschen von innen, weil sie nicht im Ceauescu-Regime sprechen oder denken

    knnen, ohne dass sie sich gegenseitig betrgen (Warner 2011: 63).

    Nachdem Tereza der Erzhlerin in der Fabrik geholfen und einen Raum in ihrem Bro

    gemacht hatte, wird sie ihre Freundin. Tereza redet viel, ohne zu denken (Mller 2009a:

    116-117), trotzdem gewinnt sie ihr Herz und die Erzhlerin glaubt, dass sie Tereza glauben

    kann. Tereza kommt aus reichen Sozialverhltnissen wegen ihren Vaters, der als

    Staatsfunktionr arbeitet, deshalb auch Herta mit Misstrauen bewahrt und vorsichtig zu

    sein versucht (Warner 2011: 68).

    Als Georg von unbekannten Mnnern zusammengeschlagen wird und den Kriminalfall

    nicht auf dem Polizeiamt melden kann, obwohl er sehr schwer verletzt ist und im

    Krankenhaus bleiben muss, beantragt er als erster die Ausreise. Nach der Erhaltung des

    Passes emigriert er nach Deutschland. Nach ein paar Tagen bekommen seine Freunde

    jedoch eine Nachricht, dass er aus dem Fenster in Frankfurt strzte. Danach reisen auch

    andere aus dem Land ab. Dieser Versuch der Flucht gelingt nur Edgar und der Ich-

  • Filozofick fakulta MU Marie Dedkov

    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken Herztier und Niederungen 16

    Erzhlerin. Kurt wird erhngt in seiner Wohnung gefunden (2011: 65). Unter zweifelhaften

    Bedingungen des Todes verliert die Haupt-Protagonistin des Romans zwei Freunde (2011:

    61).

    Die Todesdrohungen gehen in einem anderen Land weiter, auch wenn der Geheimdienst

    dort keinen Einfluss auf ihr Leben haben sollte (2011: 65). Eines Tages kommt zur

    Erzhlerin Tereza zu Besuch, die sie doch verrt. Die Ich-Erzhlerin findet einen zweiten

    Schlssel ihrer Wohnung bei Tereza und erfhrt, dass sie in die Partei eintrat und vom

    Hauptmann Pjele zu ihr geschickt wurde (2011: 68).

    Herta Mller beschreibt alles um die totalitre Realitt in diesem Roman von der Objekten,

    Pflanzen und Tieren. Sie schildert jede Situation malerisch. In ihrem Schreiben realisiert

    sich ihre Sehnsucht nach Befreiung, nach Existenz in der Prsenz, nach Sprechen, nach

    uerung der eigenen Meinung, auch wenn es unmglich scheint, nach einem Ausweg aus

    dem Labyrinth und nach einer besseren Situation im Land. Das alles liegt den Roman

    Herztier vor. Das Wort Herztier soll eine Chiffre bedeuten, die auf Empfindsamkeit,

    Strke und Lebenslust des Individuums verweist, welche, wie der Roman zeigt, im

    totalitren System verletzt und zerstrt werden kann (2011: 72).

    Im Buch erscheinen auch Kindheitserinnerungen, die assoziativ miteinander verbunden

    sind. Sie spiegeln die Umgebung der Familie und Beteiligung der deutschen Minderheit

    am diktatorischen System wider. Die Banatschwbische Minderheit steht damit im

    Hintergrund (2011: 71). Kindheitsassoziationen, die im Buch erscheinen, geben uns einen

    Eindruck, dass die Banatschwbische Minderheit kein Interesse daran hatte, sich am Leben

    auerhalb der Grenze des Banats zu beteiligen. Die Kapiteln aus der Kindheit werden

    unverbunden ohne reale Zeit- und Raumangaben im Buch geschildert und ihre Funktion

    bleibt damit vordergrndig unklar. Erfahrungen der Autorin aus der Kindheit

    demonstrieren ihre Beziehung zum Leben auf dem Lande im Kreis der Familie. Schutz und

    Sicherheit gewhrt ihre Familie dabei auf keinen Fall (2011: 71-72). Ihre Schilderungen

    aus der Kindheit wirken stattdessen mit schockierendem Eindruck, trotzdem sollten sie das

    Kind beruhigen und zum Schlaf fhren (Mller 2009a: 40). Exemplarisch in der

    Erzhlung: ihr Vater als ehemaliger SS-Soldat, der Friedhfe macht (2009a: 21) und ihre

    Mutter, die sie mit Grtel zum Stuhl bindet, damit sie ihre Ngel schneiden konnte

    (Warner 2011: 71).

    Ein Kind lsst sich die Ngel nicht scheiden. Das tut weh, sagt das Kind. Die

    Mutter bindet das Kind mit den Grteln ihrer Kleider an den Stuhl. Das Kind hat

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    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken Herztier und Niederungen 17

    trbe Augen und schreit. Die Nagelschere fllt der Mutter oft aus der Hand. Fr

    jeden Finger fllt die Schere auf den Boden, denkt sich das Kind. Auf einen der

    Grtel, auf den grasgrnen, tropft Blut. Das Kind wei: Wenn man blutet, dann

    stirbt man. Die Augen des Kindes sind nass und sehen die Mutter verschwimmen.

    Die Mutter liebt das Kind. Sie liebt es wie eine Sucht und kann sich nicht halten,

    weil ihr Verstand genauso an die angebunden ist, wie das Kind an den Stuhl. Das

    Kind wei: Die Mutter muss in ihrer angebundenen Liebe die Hnde

    zerschneiden. Sie muss die abgeschnittenen Finger in die Tasche ihres Hauskleids

    stecken und in den Hof gehen, als wren die Finger zum Wegwerfen. Sie muss im

    Hof, wo sie keiner mehr sieht, die Finger des Kindes essen. (Mller 2009a: 14-15)

    Unangenehme Schilderungen begleiten sowohl die Zeit des Studiums als auch die Kindheit

    durch das ganze Buch. Ihre Kindheit war offensichtlich nicht leicht, was ihr vorheriges

    Werk Niederungen, das nur ihre Kindheit schildert, bereits deutlich darstellt. Welche

    gemeinsamen Merkmale haben diese beiden Werken zusammen? Es ist wahrscheinlich,

    dass Niederungen als Grundlage fr das folgende Werk Herztier genommen wurde, was

    aus vielen Bemerkungen der Autorin in Verbindung mit diesem Werk hervorgeht.

    2.2.2 Niederungen

    Im Jahre 1982 erschien Herta Mllers Erstlingswerk Niederungen in zensierter Form im

    Kriterion Verlag Bukurest (Goethe Institut 2013). In West-Berlin wurde das Buch zwei

    Jahre spter in unzensierter Form publiziert (ye 2007: 9) und hatte groen Erfolg in

    deutschsprachigen Lndern (Wagner 2010: 61). Ihr Talent die Dorfrealitt und persnliche

    Erinnerungen mithilfe der Bilderdarstellung aus der Perspektive eines Kindes, eines

    Mitglieds der banatschwbischen Minderheit, zu beschreiben wurde im Ausland hoch

    gewrdigt (ye 2007: 9-10).

    Schon in 1984 wurde Frau Mller mit dem Aspekte-Literaturpreis fr das beste

    deutschsprachige Debt des Jahres ausgezeichnet, woraufhin sie zur Preisverleihung und

    zu verschiedenen Lesungen nach Deutschland eingeladen wurde (Goethe Institut 2013).

    Herta Mller erhielt fr ihr Debtband Niederungen zwei Literaturpreise: Den Debtpreis

    des rumnischen Schriftstellerverbands sowie den Literaturpreis des Kommunistischen

    Jungendbundes Rumnien (Wagner 2010: 30).

    Der erste Impuls des Schreibbedarfs erschien bei Herta Mller in der Zeit, in der sie

    wahrnahm, dass ihre Arbeit in der Fabrik einen Sinn entbehrt, sie nicht mehr schweigen

    kann und die totalitre Realitt in die Sprache bringen muss (ye 2007: 8):

  • Filozofick fakulta MU Marie Dedkov

    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken Herztier und Niederungen 18

    Ich hatte mich nicht mehr im Griff, musste mich meines Vorhandenseins auf der

    Welt vergewissern. Ich fing an, mein bisheriges Leben aufzuschreiben woher ich

    komme, dieses dreihundertjhrige starre Dorf, diese Bauern mit ihrem Schweigen,

    dieser Vater mit seinem LKW auf den holprigen Straen, sein Suff und seine Nazi-

    Lieder mit den Kameraden. Diese Mutter, hart und verstrt, wie vom Leben

    beleidigt, immer in den randlosen Maisfeldern. Und ich in dieser Fabrik,

    Maschinen, gro wie ein Zimmer, llachen berall, wie ein Spiegel, der einen

    senkrecht in die Erde rutschen lsst. (Goethe Institut 2013)

    Das prosaische Werk Niederungen umfasst 16 Erzhlungen (Wagner 2010: 45). Bevor sie

    ihren Text in schriftlicher Form zum Druck anbot, hatte sie fr ihre literarischen Auftritte

    den knstlerisch bekannten Adam-Mller-Gutenberg Literaturkreis benutzt, wo sie ihre

    Kurzgeschichte aus Niederungen gelesen hatte (Goethe Institut 2013). Nach der

    Publikation des Werkes und der Lesung des Ausschnittes Schwbisches Bad im Jahre 1981

    (Goethe Institut 2013) hob sich eine Welle von Protesten aus der Seite der Banater

    Schwaben. In der Neuen Banater Zeitung verstrkte sich Kritik an dem Prosatext Herta

    Mllers sehr schnell, was zahlreiche Leserbriefe belegen (Wagner 2010: 30, 61). Herta

    Mller wurde als Nestbeschmutzerin bezeichnet (2010: 61) und aus der deutschen

    Minoritt in Rumnien ausgeschlossen.

    Sie ffnete eines der kontroversesten Themen der rumnischen Minderheiten, was ein

    Tabu der damaligen Zeiten war. Ihre Hauptthemen sind: Banater Schwaben und das

    schwbisches Dorf (2010: 62). Sie thematisiert in ihren Kurzgeschichten sowohl

    sowjetische Deportation der Dorfangehrigen, als auch die Mitgliedschaft vieler

    Rumniendeutschen in der SS. Es wurde allgemein verboten, ber diese Themen innerhalb

    der rumniendeutschen Gemeinschaft zu sprechen (Goethe Institut 2013). Nach ihren

    Worten geht es um kein Schreiben auerhalb der politischen und sozialen Realitt

    (Kopov 2011: 13), trotzdem zeichnet sich das Werk durch fiktiven Merkmale aus

    (Stringham 2011: 8). Ihr Ziel war jedoch nicht die banatschwbische Minderheit zu

    verletzen, sondern nur auf lang dauernde Probleme einer rumnischen Minoritt wie

    kulturelle Isolation, staatliche Unterdrckung in der Diktatur und verschlechterte

    konomische und soziale Bedingungen hinweisen (Wagner 2010: 62-63).

    In dem Prosastck Niederungen wird eine Chronik der traumatischen Kindheit der Ich-

    Erzhlerin im isolierten Region Banat nach dem zweiten Weltkrieg geschildert (Stringham

    2011: 10). Das Kind blickt von unten auf die Welt und muss nach den Prinzipien der

    inneren Welt, nach alten Ritualen der Familie wie Essen, Schlachten und Trauerfeiern

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    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken Herztier und Niederungen 19

    leben (Wagner 2010: 45). Moralvorstellungen und Normen werden dem Kind am jeden

    Tag wiederholt (2010: 29). Rahmenbedingungen der kindlichen Erlebniswelt realisieren

    sich in Verboten und Geboten der Erwachsenen, die Begriffe wie Angst oder Tod

    implizieren (2010: 45).

    Im Hintergrund des Dorfes und der Familie steht eine existenzielle Bedrohung am Leben

    und das Kind muss sich mit dem alltglichen Tten von Tieren auseinandersetzen, was in

    seiner Vorstellungen mit seinem eigenen Tod gleichsetzt (2010: 34). Dabei erscheint die

    Brutalitt der Familienmitglieder, die Haustiere kaltbltig zu schlachten und danach zu

    essen, um ihre eigene materielle Grundversorgung sicherzustellen. Der Grovater erlaubt

    dem Kind nur mit wehrlosen Tieren zu spielen. Die Kinder knnen Katzenjunge in

    Kleider schnren oder Schmetterlinge auf Nadeln spieen. Alle Tiere richten Schaden an,

    sagt Grovater, nur Schwalben sollten am Leben bleiben, weil die ntzliche Tiere seien.

    Mit Futritten werden Hunde gettet, die dann tagelang auf den Straen stinken, Katzen

    ertrnkt und Spatzennester zerstrt. Das Kind reagiert mit Schmerz und will sich den

    getteten Tieren nicht nhren (Warner 2011: 30, 35). Das Schlachten von Tieren formt sich

    in Kindheitsvorstellungen zur persnlichen Bedrohung (2011: 30):

    Ich will mich von der Schuld los beten. Ich wei, dass Vater dem Kalb das Bein

    gebrochen hat. Im Dorf darf man keine Klber schlachten []. [] Vater nagelte

    das groe rotgefleckte Fell zum Trocknen an die Scheunenwand. Dort stand die

    Mittagssonne. Ich hatte nach ein paar Wochen ein Kalbfell vor dem Bett liegen.

    Jeden Abend trug ich den Bettvorleger hinaus, weil ich nachts alle seine Haare

    sprte im Hals. Ich trumte, dass ich das Fell mit Messer und Gabel essen mute,

    dass ich a und erbrach und weiteressen mute und noch mehr Haare erbrach,

    und Onkel sagte, du musst alles essen, oder du musst sterben []Die Kuh muhte

    tagelang ins leere Stroh. Sie rhrte das Futter nicht an. Sie schlrfte tagelang

    blo Wasser, blo kalte Wasser und senkte beim Saufen den Kopf bis zu den

    Ohrenspitzen in den Eimer. Mutter brachte jeden Mittag warme, kuhwarme Milch

    in die Kche. Ich fragte sie, ob auch sie traurig wre, wenn man mich ihr

    wegnehmen, mich schlachten wrde. Ich fiel an die Kastentr, ich hatte eine blaue

    Beule auf dem Stern, ich hatte eine geschwollene Oberlippe und einen violetten

    Fleck auf dem Arm []. (Mller 2010: 61-65)

    Die Anpassung der Dorfgemeinschaft an drflichen Regeln ermglicht einem Individuum

    keinen Raum zum individuellen Lebensausdruck und so hat das Einzelwesen keinen

    Anspruch auf Selbst-Realisation und Freiheit (Warner 2011: 34). So eine Beschreibung der

    Realitt entspricht gerade einem Leben in der Diktatur. Zeichen der Totalitt zeigen sich

  • Filozofick fakulta MU Marie Dedkov

    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken Herztier und Niederungen 20

    schon in der Erziehung des Kindes, die voll von Verboten und Geboten ist und in der

    Anpassung der vorherrschenden Verhltnisse an die Vorstellungen des Diktators.

    Die Anspielung an den deutschen Nationalsozialismus findet man nicht nur im Dorf,

    sondern auch in den einzelnen Haushalten der Bewohner. Sein Vater ehemaliger SS-

    Soldat kommt spt am jeden Abend betrunken nach Hause, wobei er sich aggressiv und

    gefhllos gegenber der Mutter des Kindes verhlt. Die Abende sind oft mit bedrckender

    Atmosphre erfllt und die Kommunikation zwischen den Eltern beschrnkt sich auf das

    Ntigste (Warner 2011: 31-32). Das Familienleben des Kindes wird lieblos geschildert,

    wobei die Mutter fr ihre irrtmlich geschlossene Ehe und fr ihr Leiden allgemein das

    Kind indirekt verantwortlich macht (Mller 2010: 19-20) und das Kind zudem

    Schuldgefhle fr Taten des Vaters hat (Warner 2011: 34).

    Die Selbstdarstellung der Frauen in der Dorfgemeinschaft wird skeptisch betrachtet und es

    wird immer Mittterschaft seitens der Frauen vermutet (Bozzi 2005: 83). Soziale Rollen

    sind im Dorf strikt verteilt. Frauen stehen auf Sauberkeit und Flei im Haushalt, arbeiten

    viel, damit sie den Mann zufrieden stellen. Die Mutter des Kindes ist von morgens bis

    abends an die husliche Ttigkeit gewhnlich gebunden. Im Gegensatz dazu reden alle

    Mnner gedankenlos aus dem Wirtshaus, reden mit sich selbst und abends besuchen

    Kneipe. Patriarchale Machtverhltnisse werden auf dem Lande durchgesetzt und wer sich

    nicht an das Dorfleben anpasst, wird als Fremdling betrachtet und aus der Gemeinschaft

    ausgeschlossen. Pflichten, wie sich um den Haushalt zu kmmern oder die Kirche zu

    besuchen, gehren zum Grundstein der banatschwbischen Gemeinschaft (Warner 2011:

    32-33).

    Der Diktator spielt hier die Rolle totalitrer und sozialer Kontrolle einer geschlossenen

    kulturellen Einheit, die zudem der tradierten drflichen Widerspiegelung des Verbots

    spontaner Gefhlsuerung und des Erlebens unterliegt.

    Die Spuren des Todes trifft man berall (Bozzi 2005: 81-82). Man kann auer ihm

    zwischendurch nur Gefhle wie Ekel, Angst und Gleichgltigkeit finden, die im Dorf

    berdauern (Warner 2011: 34-36).

    Jeder Leser der Erzhlung fhlt sich bei der Lektre an seine eigene Kindheit erinnert und

    kann sich so leicht mit dem Kind identifizieren. Routineschilderungen in der Form von

    Bildern aus dem Leben des Kindes erzwingen fr den Leser den Eindruck, selbst zum Kind

    zu werden (2011: 34) und somit unmittelbar von der Leere dieser Existenz des Lebens im

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    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken Herztier und Niederungen 21

    Banat eingehllt zu werden (Jens 1988: 36-37). Assoziativ verbundene Stze und einfache

    Wrter schaffen eine passende Stimmung der authentischen Welt dank kindlicher

    Bildbeschreibungen. Auch wenn einzelne Passagen im Buch emotionsneutral und

    naturalistisch geschildert werden, evozieren sie eine negative Wirkung (Warner 2011: 34).

    Geschlachtete Tiere, die alltglich gettet werden oder beklommene Vorstellungen des

    Kindes vor dem Einschlafen gestalten eine bedrckte Atmosphre.

    Herta Mller beschftigt sich in beiden Werken mit gleichen Begriffen wie assoziative

    Strukturen, Erinnerungen an Kindheit, Beschreibung der Realitt mithilfe von Tieren,

    Pflanzen und anderer Objekten, biographische Merkmale, Unterschiede zwischen Dorf-

    und Stadtleben, zwischen Innen und Auen usw. Zusammenfassend lsst sich bemerken,

    dass Herta Mller sehr bildliche Darstellung der Diktatur in Rumnien schildert. Zwischen

    Niederungen (1982) und Herztier (1994) gibt es eine sichtliche Verbindungslinie, welche

    die Erinnerungen an Herta Mllers Kindheit in Bchern vertreten wird. Wie entstanden die

    Erinnerungen an die Kindheit im Roman Herztier und wie sind sie im Kontext eingesetzt?

    Was fr ein Unterschied kann der Leser beim Lesen wahrnehmen, wenn er beide Werke

    liest und versucht sie zu vergleichen? Gibt es Unterschied zwischen Beschreibung der

    Dorfrealitt im Werk Niederungen und im Buch Herztier?

    Das soll die Motivation und das Ziel meiner Arbeit sein: Kindererinnerungen aufgrund der

    rumlichen Einordnung zu beschreiben, Kindererinnerungen zu begrnden, den Kontext

    im Buch Herztier zu beleuchten, allgemein Verbindungslinien zwischen Niederungen und

    Herztier finden und vor allem im Hinblick auf die unterschiedlichen Raumfigurationen

    beide Werke vergleichen.

  • Filozofick fakulta MU Marie Dedkov

    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken Herztier und Niederungen 22

    3. Vertiefende Literaturanalyse

    Seit zweitem Teil dieser Arbeit mchte ich Beschreibungen ber spezifischen

    Raumwahrnehmungen vorlegen. Das verbindende Element, das in beiden Werken auf dem

    ersten Blick erscheint, ist der Raum. Die Raumfiguration zwischen innen und auen, in der

    Kiste, im Labyrinth oder auerhalb der innerlichen Konstruktionen befinden sich in

    unterschiedlicher Form sowohl in Niederungen (1982) als auch in Herztier (1994). Den

    Raum knnen wir als eine Ganzheit, seine einzelnen Elemente oder nach seiner Stellung in

    gesellschaftlichen Strukturen analysieren.

    3.1 Orte

    Den grundlegenden Schauplatz der Handlung stellen zwei unterschiedliche Orte vor: In

    Niederungen (1982) spielt die Hauptrolle der Mikrokosmos des banatschwbischen Dorfes,

    whrend der Roman Herztier (1994) sich in der Stadt unter der Herrschaft Ceausescus

    totalitren Regimes abspielt. Die ganze Geschichte Herztier wird jedoch so strukturiert,

    dass auch einzelne vergangene Erinnerungen aus dem Lande darin einkomponiert sind

    (Warner 2011: 72-73).

    3.1.1 Topologie1 von Subjekten und Topographie

    2 des Raumes

    Nach Lotman wird der Raum als ein organisiertes Element eines Textes, um das herum

    sich auch die nichtrumlichen Charakteristiken ordnen (Lotman 1972: 316) definiert und

    stellt ein Modell der Struktur des Raumes der ganzen Welt (1972: 316) vor.

    In konkreten geographischen Raumrelationen treten einzelne Objekte in Texten auf, die

    eine Welt in physischer Form einnehmen (Dnne: 6). In Mllers Werken wird ein

    1 Topologie bezeichnet einen abstrakten Raum, der eine Konstitution von Raum aus Lagerelationen

    zwischen Krpern annimmt. Topologische Anstze erffnen die besondere Chance, das Denken in Lagerelationen zum Ausgangspunkt der Frage nach der Geschichtlichkeit von Raum berhaupt zu machen;

    es wird sich aber zeigen, dass topologische Anstze ebenso dafr verwendet werden knnen, um Geschichten

    im Raum zu beschreiben (Dnne: 6).

    2 Topographie bezeichnet eine fiktive, materiell gegebenen Rume der geographischen, aber auch der

    sozialen Umwelt (Johannsen 2008: 22). Topographie stellt jedoch nicht nur einen physischen Raum einer Geschichte vor, sondern der topographische Raum in bestimmter Weise ist ein produzierter Raum, der seine eigene Geschichte hat (Dnne: 6).

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    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken Herztier und Niederungen 23

    stillgestellter Raum (Johannsen 2008: 174) ohne innere Zusammenhnge festgesetzt, der

    alles Sichtbares unterm Unsichtbaren verbirgt (Warner 2011: 86-87). Die von Objekten

    zusammengesetzte Raumkonstruktion gibt der Welt eine Gestalt von Relationen, in denen

    einzelne Pflanzen und Gegenstnde an Bedeutung gewinnen und so entsteht eine

    geographisch stabile Einheit im Raum. Falls Objekte keinen Raum besetzen, kann es nicht

    zur Bindung von Heterotopien3 kommen und es wird keinen Anlass zur Entstehung von

    Assoziationsrumen gegeben. Im Vordergrund Mllers Literaturkunst steht ein Bedarf

    nach eigener Eingliederung in die Welt, die der Leser selbst beim Lesen schpft. Die

    Assoziationskraft, die im Kontakt mit Objekten hervorgerufen wird, wird von Herta Mller

    die sog. erfundene Wahrnehmung4 genannt. Mit jedem Gegenstand und mit jedem Wort in

    Verbindung mit anderen Wrtern entstehen neue Sprachbilder im Kopf des Lesers, die sich

    ein ganzes Bild einfllen. Ein Gegenstand kann in verschiedenen Situationen oder

    unterschiedliche Konnotationen assoziieren, d. h. Objekte sind stark polysemisch und

    nehmen ein Eigenleben an (Johannsen 2008: 188-189). Ein Objekt kann in derselben Form

    mit gleichen Assoziationen sowohl in Niederungen (1982) als auch in Herztier (1994)

    auftauchen und Verbindung zwischen beiden literarischen Welten knpfen. In abstrakten

    Raumrelationen findet man einzelne Krper (Dnne: 6), die sich in der Gemengelage

    von Beziehungen befinden, wobei sie einen Raum bestimmen (Foucalt 1993: 38). Dieses

    Geflecht von Beziehungen zu beschreiben und seine einzelnen Bestandteile zu analysieren

    wird zur ersten Anforderung zum Verstndnis eines Raumes (Johannsen 2008: 181).

    3.2 Das Dorf als eine geschlossene Einheit

    Das fiktive Dorf lsst sich aus verschiedenen Perspektiven der rumlichen Einordnung

    begreifen. Nach Michel Foucault kann man aufgrund des horizontalen Ordnungsraums

    zwischen inneren und ueren Strukturen unterscheiden (Dnn: 14). Das Dorf in

    Niederungen (1982) und Herztier (1994) tritt als eine geschlossene Gemeinschaft auf und

    3 Heterotopien sind wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet

    sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatschlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen

    Pltze innerhalb der Kultur gleichzeitig reprsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaen Orte

    auerhalb aller Orte, wiewohl sie tatschlich geortet werden knnen (Foucault 2003: 552).

    4 Die erfundene Wahrnehmung wird erstens als eine Willkr jeder Perzeption, als gestaltergnzende

    Wahrnehmung, die zur prinzipiellen Tuschung ber die Welt fhrt und zweitens die wahrgenommene Welt als nur eine von vielen mglichen [...] kontingente[n] Weltversion[en] definiert (Mller und Arnold 2002: 27).

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    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken Herztier und Niederungen 24

    was auen steht, wird als fremd wahrgenommen. Demgegenber zeigt der vertikale

    Ordnungsraum eine Stellung hierarchisierter Einordnung (Dnn: 14) zwischen Kind, Dorf

    und Staat, bzw. Stadt, woran man sieht, dass eine gleiche Hierarchie der gesellschaftlichen

    Verhltnisse vom Land aufs Dorf und vom Dorf aufs Kind in Mllers Kunstwelt

    bergenommen wird.

    3.2.1 Innen vs. Auen

    Das Dorf in Niederungen (1982) stellt einen abgeschlossenen Mikrokosmos von

    Ereignissen in der Mitte einer ueren Welt (Stringham 2011: 6). Alles, was eindringen

    will, wird abgelehnt und alles, was drinnen lebt, wird bewahrt. Es lsst sich sehen, dass das

    Dorf mit imaginr gestalteten geographischen Grenzen ausgestattet ist. Zum Bewahren

    dieser inneren Welt kommt es durch den funktionalen Ablauf eines seit langer Zeit

    unverndert gebliebenen Alltags (Warner 2011: 37) und repetierte Traditionen der

    dortigen Menschen. Die Gesellschaft auerhalb des Dorfes bedroht das Leben von

    Landleuten (2011: 29), die im Einklang mit verinnerlichten Verhaltensregeln leben. Alle

    Personen, die fremd sind oder sich nur dem Leben in der Dorfgemeinschaft nicht

    anpassten, werden ausgeschlossen und zum Leben im Alleinsein verurteilt (2011: 33, 34,

    37).

    3.2.1.1 Innen

    Drfliche Identitt ist auf deutsche Identitt der Vergangenheit gegrndet, die nur ihr

    eigenes Wertesystem anerkennt. Wer auerhalb Norm steht, wird dem Anpassungsdruck

    gestellt oder ausgeschlossen (2011: 74). Dieser Mechanismus ist wie selbstverstndlich

    eingestellt. Dadurch werden die Traditionen der Bewohner von allen Generationen

    beibehalten. Die Angst vor Vernderung der schon 300 Jahren berdauernden Dorfwelt

    steigert sich mit jedem ueren Eingriff (Grn 2010: 54). Wenn ein Leser moralische

    Anlsse der Protagonisten zu bewerten versucht, stellt man fest, dass das Wertesystem von

    den Drflern keinesfalls hinterfragt wird (Warner 2011: 74). Z. B. Die Fragen des Kindes

    nach Grnden von ausgebten Taten der Familienmitglieder in Niederungen sind verboten

    und werden oft krperlich bestraft. Das verursacht, dass nicht nur das Dorf abgeschlossen

    ist, sondern auch das Kind sich in seine eigene Welt einsperrt und diese in sich selbst

    gestaltet. Dem Kind bleibt mit seinen ngsten [...] oft allein und muss sie verborgen

    halten, es darf die Gesetzmssigkeiten des buerlichen Alltags nicht hiterfragen (2011:

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    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken Herztier und Niederungen 25

    35). Dumme Fragen des Kindes werden mit Schlagen bestraft (Mller 2010: 58-62). Das

    Innen entsteht im Kind im Gegensatz zum Auen des Dorfes. In unserem Beispiel kann

    das Kind aus Niederungen zumindest auf der Toilette im Hof weinen und einen Fluss der

    Gefhle teilweise befreien, aber Lola muss stark auftreten, obwohl sie ebenso wie Kind

    dem Auerseitertum zuneigt und aus dem Viereck ausgemerzt ist. Whrend Lola ihre

    innerlichen Vorgnge ins Tagebuch einschreibt, gestaltet das Kind eigene Freirume beim

    Trumen. Kindliche Phantasien des alltglichen Charakters projizieren sich in

    schrecklichen Trumen des Kindes, die nachfolgend als Alptrume beim Schlaf auftreten

    und den Unterschied zwischen Wirklichkeit und einen Traum verwischen (Warner 2011:

    28). Angst bedroht das Kind von auen nach innen. Es gibt kein Unterschied zwischen den

    Trumen des Kindes und der Realitt des Dorfes so gleich wie zwischen den von der Ich-

    Erzhlerin gelesenen Passagen aus Lolas Tagebuch und der abspielenden Realitt im

    Viereck. Beide Protagonistinnen in den Werken Herztier und Niederungen zeigen

    verinnerlichte Welt, die im Kontrast zur ueren Realitt der Stadt und des Dorfes auftritt,

    wie folgende Beispiele wie die Kindheitserinnerung der Nebengeschichte in Herztier, die

    Schilderung aus der Kindheit in Niederungen und Lolas Ansichten an Drre in Herztier

    belegen:

    Wenn das Lied zu Ende ist, glaubt sie, das Kind liegt tief im Schlaf. Sie sagt: Ruh

    dein Herztier aus, du hast heute so viel gespielt. (Mller 2009a: 40)

    Ich darf auch heute nicht dabeisein, wenn die Kuh kalbt. Ich sehe immer nur das

    fertige Kalb neben ihr auf dem Stoh. Es ist gebrechlich und zittert mit den Beinen.

    (Mller 2010: 46)

    Lola sagte, Flhe sogar auf den Rinden der Bume. Jemand sagte, es sind keine

    Flhe, Luse sind das, Blattluse. Lola schreibt in ihr Heft: Blattflhe sind noch

    schlimmer. Jemand sagte, die gehen nicht an Menschen, weil Menschen keine

    Bltter haben. Lola schreibt, die gehen an alles , wenn die Sonne brennt, sogar an

    den Wind. Und Bltter haben wir alle. Bltter fallen ab, wenn man nicht mehr

    wchst, weil die Kindheit vorbei ist. Und Bltter kommen wieder, wenn man

    schrumpelt, weil Liebe vorbei ist. (Mller 2009a: 13-14)

    Das ordnende Prinzip des Dorfes kann man im Deutschtum erblicken (Grn 2010: 52): Das

    beinhaltet die Tugend wie Flei, Ordnungsliebe, Sparsamkeit, Sauberkeit und Disziplin.

    Das hochgewertete Arbeitsethos verspricht moralische Reinlichkeit der sogenannten

    deutschen Heimat, die so eine Minderheit mit seiner Verbundenheit und Geschlossenheit

    gewhrt (Grn 2010: 53). Mit einem Mann, der Mitglied der Dorfgemeinschaft ist,

    verheiratet zu sein, heit eine tradierte Normalitt zu erhalten und diese Beziehung zur

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    Minderheit verstrken. Beziehungen sind funktionalisiert und Ntzlichkeit ist gefordert

    (Haupt-Cucuiu 1995: 90-91). Liebe oder Freundschaft gelten als unbekannte Begriffe, die

    in Verbindung mit Freizgigkeit und Anlssen der Freiheit nicht begriffen werden knnen.

    Jede Tat hat ihre eigene Funktion. Das Schlachten von Tieren z. B. dient zur Besorgung

    mit Lebensmitteln, jedoch knnen auch unntze Tiere gettet und wilde Pflanzen

    vernichtet werden. Das alles schtzt das ganze Dorf vor dem Eindringen von ueren

    Zustnden. An dem Bewahren der drflichen Werte wird von Herta Mller kritisiert, das

    starre Realitt von Drflern der Anpassung trotzt und individuelle innerliche Vorgnge und

    Wnsche verhindert (Mller und Arnold 2002: 46). Starke Entindividualisierung fhrt zur

    Anpassung der Bewohner gegen einen inneren Wiederstand, der nie wegen der Bedrfnisse

    der Dorfgemeinschaft realisiert wurde. ber submissen Intentionen stehen patriarchaisches

    Prinzip und Kirche im Zentrum, die diktieren, was richtig oder falsch, ntzlich oder

    unntzlich ist (2002: 46). Die oben stehende Kontrolle ermglicht der deutschen

    Minderheit eine eigene Autonomie (Haupt-Cucuiu 1995: 91), die die ethnozentrischen

    Tendenzen verstrkt (Grn 2010: 51).

    3.2.1.2 Auen

    Was drinnen ist, muss gleich und entindividualisiert werden und was drauen steht, kann

    nicht eindringen. Diese Regel gilt natrlich auch in umgekehrter Richtung. Fremde

    Einflsse von Auen werden nicht akzeptierbar. Dieser Merkmal lsst sich das Fremde

    nennen (2010: 57-58). Was das Dorf in Werken betrifft, wird alles Fremdes in der

    Dorfgemeinschaft kontrolliert, bzw. dem dortigen Leben angepasst oder ausgegrenzt

    (2010: 60-61). Die Zugehrigkeit zu so einer Minoritt in Niederungen (1982) berechtigt

    Drfler sich von den Fremden distanzieren, vor auer Welt zu frchten, und dabei nur fr

    sich selbst leben. In den Befrchtungen des Kindes wird es klar deutlich, wie nur die

    Prsenz von Fremdlingen im Dorf Alptrume beim Kind hervorruft (Warner 2011: 33, 34,

    37):

    Frher gab es viele Schlangen im Dorf. Sie krochen vom Wald durch den Fluss in

    die Felder, von den Feldern in die Grten in die Hfe, von den Hfen in die

    Huser. [] Sie riss das Kind hoch, sie schluchzte und schrie, und whrend sie

    taumelte im Gras, kroch die Schlange lang und faul aus dem Korb ins Gras, und

    in einigen Sekunden wurde das Haar grau auf dem Kopf der Frau. [] Das Haar

    der Frau blieb grau, und die Leute aus dem Dorf hatten endlich den Beweis, dass

    sie eine Hexe war. [] Sie gingen ihr aus dem Weg und beschimpften sie, weil sie

    ihr Haar anders kmmte, weil sie ihr Kopftuch anders band, weil sie ihre Fenster

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    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken Herztier und Niederungen 27

    und Tren anders anstrich als die Leute im Dorf []. Und nachdem ihr Mann im

    Frhjahr bleich und durchsichtig geworden war, lag er eines Morgens steif und

    kalt im Bett. Sie musste ihn hinterm Friedhof im Schilf begraben, wo beim Gehen

    das Wasser gluckste. (Mller 2010: 41-42)

    In der Welt der Erwachsenen verursacht das fremde Element unangenehme Gefhle und

    Anforderung an einen gesellschaftlichen Ausschluss aus der Gemeinschaft. Demgegenber

    so eine Isolierung wirkt auf Erscheinung der ngste ein, die in der Folge der errichteten

    Grenzen zwischen Auen und Innen stehen. Das Innenleben des Kindes wird von

    Auenwelt bedroht nicht nur dank den ethischen und moralischen Normen der Familie,

    sondern auch wegen der Anwesenheit der Anknpfung mit ueren Verhltnissen. Es

    kommt zur Bedrohung der individuellen Identitt und im Prosastck meldet sich Kritik an

    der Normalitt der gegebenen drflichen Starre vom im Dorf anerkannten Verhalten zu

    Wort (Warner 2011: 33, 34, 37).

    Dies verknpft sich mit Auerseitertum, das an manchen Stellen in Herztier (1994) und

    Niederungen (1982) erscheint. An dieser Stelle lsst sich ein Beispiel der Ich-Erzhlerin in

    Herztier und des Kindes in Niederungen eingeben. Weil den beiden ein Wertesystem

    diktiert wird, stehen beide auerhalb der normierten Realitt und werden von hher

    gestellten Autoritten krperlich und psychisch bestraft. Schon einige Personen knnen

    durch ihren stummen Protest gegen den Normenkodex ausgeschlossen werden, weil sie fr

    andere eine Bedrohung sind. Nicht nur uerung eigener Identitt kann ein Problem sein,

    sondern auch das Fremde wie andere Religion, Nation, Fortschritt oder weibliches

    Geschlecht stellt eine Gefhrdung der dorfgemeinschaftlichen Identitt dar. Ethnisch

    andere wie Rumnen, Zigeuner und Juden werden im Prinzip der Exklusion im Dorf

    unterworfen (Grn 2010: 61). Lola in Herztier ist ein Mdchen mit rumnischen Wurzeln,

    das im Studentenheim mit anderen fnf Mdchen lebt. Im Viereck gibt es kein Platz fr

    so ein Weib, das sich andersartig verhlt und sich im Tausch fr Lebensmittel prostituiert.

    Dadurch befindet sich hier der Fall Lolas Selbstmordes als Ausgrenzung aus dem

    Viereck im Kontrast zu Passagen des vom Autorin erinnernden Dorf, das als Muster der

    ordentlich ausgebte Totalitt im Rahmen der allgemeinen Ordnung zu Wort meldet. Die

    ursprngliche Ordnung wird zugunsten des Normalen wieder hergestellt und das Fremde

    ausgemerzt (2010: 63).

    Die erhngte Lola wurde zwei Tage spter am Nachmittag um vier Uhr in der

    groen Aula aus der Partei ausgeschlossen und von der Hochschule

    exmatrikuliert. Hunderte waren dabei. (Mller 2009a: 32)

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    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken Herztier und Niederungen 28

    Als die Mutter das Kind mit den Grteln ihrer Kleider an den Stuhl bindet, steht

    vor dem Fenster das Teufelskind. Es hat an jeder Hand zwei Daumen

    nebeneinander. [] In der Schule kann das Teufelskind nicht sch\on schreiben.

    Der Lehrer schneidet ihm die ueren Daumen ab und steckt sie in ein

    Einweckglas mit Spiritus. [] Alle Kinder im Dorf sind kleiner als die Kinder im

    Nachbardorf. Deshalb sagt der Lehrer: Die Daumen gehren auf den Friedhof.

    Das Teufelskind mu mit dem Lehrer nach der Schule auf den Friedhof gehen und

    seine Daumen begraben. (Mller 2009a: 126-127)

    Herta Mller wollte auf Tendenz der Totalitt zur Ausnutzung und Ausgrenzung von

    Individualitten und auf bereichernden Aspekt des Ganzen vom fremden Element

    aufmerksam machen (Grn 2010: 63).

    3.2.3 Land Dorf Kind

    3.2.3.1 Vom Dorf zum Kind

    Das Denken des Kindes stellt keinen Anspruch auf uerung eigener Ansichten, jede

    beliebige Individualitt oder jeder Ausdruck eigener Gefhlen wird verhindert (Warner

    2011: 37). Sprachlose und starre Umgebung im Familienkreis soll dem Kind einen Schutz

    vor freizgigem Handeln gegen das werdende Regime und Dorfgemeinschaft fr

    zuknftiges Leben gewhren (Warner 2011: 29, 31; Bozzi 2005: 81). Im Dorf gibt es kein

    Platz fr Toleranz, Phantasien oder Freizgigkeit. Nicht nur im Sprechen, sondern auch in

    Bewegungsmglichkeiten und im Schweigen ist das Kind beschrnkt (Warner 2011: 31):

    Mutter schneidet mir die Ngel so kurz, da mir die Fingerspitzen wehtun. Ich

    fhle mit den frischgeschnittenen Fingerngeln, da ich nicht richtig gehen kann.

    Ich gehe immerzu auf den Hnden. Ich fhle auch, da ich mit diesen kurzen

    Ngeln nicht richtig reden und nicht richtig denken kann. Und der Tag ist nichts

    als eine riesengroe Anstrengung. (Mller 2010: 46-47)

    Denselben Eindruck zeigt sich in dem folgenden Absatz der Kindheitserinnerung in

    Herztier:

    Ein Kind lt sich die Ngel nicht schneiden. Das tut weh, sagt das Kind. Die

    Mutter bindet das Kind mit den Grteln an den Stuhl. Das Kind hat trbe Augen

    und schreit. Die Nagelschere fllt der Mutter oft aus der Hand. Fr jeden Finger

    fllt die Schere auf den Boden, denkt sich das Kind. Auf einen der Grtel, auf den

    grasgrnen, tropft Blut. Das Kind wei: Wenn man blutet, dann stirbt man. [...]

    Wenn man die Ngel nicht schneidet, werden die Finger zu Schaufeln. Nur die

    Toten drfen sie tragen. (Mller 2009a: 14, 17)

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    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken Herztier und Niederungen 29

    Dem Normenkodex im Dorf werden Bedrfnisse der Individuen untergeordnet, die wegen

    langfristiger Nicht-Bercksichtigung des eigenen Leidens der vorherigen Generationen

    nicht berwunden werden und damit Familienmitglieder nicht in Lage sind, dieselbe

    Wiederholung des Leidens an seinen Kindern zu bemerken oder adquat zu reagieren (Eke

    1991: 56). So eine Dorfgemeinschaft fungiert nur als eine Funktionseinheit, die den

    Familien ihr eigenes Leben einordnet, ohne zu beobachten, dass es totalitre

    Machtstrukturen behalten hilft und ins Privatleben der Einzelnen eingreift. Verbote und

    Gebote von Familienmitgliedern ausgesprochen, begleiten die alltglichen Taten des

    Kindes auf jedem Schritt. Die Verbote erscheinen als Form der Bedrohung des Lebens, die

    sich in den wiederholenden Phrasen zur Einhaltung der Norm darstellen (Haupt-Cucuiu

    1995: 90). Ihre Ablehnung wird krperlich oder psychisch bestraft. Das Kind versucht den

    Norm wiederholt zu wiederstehen, was im Dorf fr Auerseitertum gehalten wird. Denn

    spontane Gefhlsuerung und jede Art vom individuellen Erleben ist verboten. Die

    fehlende Identitt des Einzelnen im Kollektiv zeigt sich im Buch Niederungen (1982)

    dadurch, das konkrete Namen fr Personen nicht genannt werden (Grn 2010: 56-57). Das

    Kind redet mit Pflanzen, weil es keine intime Bindung zu seinen Eltern haben kann.

    In Niederungen entsteht somit ein dauerhafter Konflikt zwischen dem einzelnen und der

    Gemeinschaft, zwischen Anpassung und Abgrenzung (Warner 2011: 77). Das beeinflusst,

    wie die Erziehung beim Kind bestehend aus den Verboten und den Geboten realisiert wird,

    die auch bei Erwachsenen eine Rolle in der Vergangenheit spielten und von der staatlichen

    Macht auf Eltern des Kindes bertragen werden. Die strenge Erziehung soll das Kind fr

    das Leben in der Stadt vorbereiten, d.h. der ideologische bergang zwischen dem Staat,

    der Dorfgemeinschaft und dem Kind wird gut gesichert, damit es zur gengenden

    Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen des Landes in der Zukunft kommt. Das

    Dorf ermglicht jedoch keine umgekehrte Hierarchie der gesellschaftlichen Verhltnisse.

    3.2.3.2 Vom Land aufs Dorf

    Eine bereinstimmung zwischen den Normen des Dorfes und des Landes wird durch

    folgende Werte vermittelt:

    - Unterordnung und Anpassung

    - Zurckstellen und Unterdrcken der persnlichen Belange, Regungen, Bedrfnisse

    - Unkritisches Eintreten fr das Wohl der Gemeinschaft, fr die Festigung ihres

    Wertesystems. (Haupt-Cucuiu 1995: 91)

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    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken Herztier und Niederungen 30

    Es scheint, dass viele Staatsfunktionre diesen Normenkodex sehr gut kannten und aus

    diesem Grund die Deutschen in Ruhe gelassen haben (1995: 91). Es wird klargemacht,

    dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass jemand aus der Dorfgemeinschaft nicht den

    Normen des Staates angepasst sein wird, weil die Normen identisch mit den Werten des

    totalitren Regimes sind. Verdchtiges Verhalten in den Stdten wurde durch den

    Geheimdienst strikt geahndet. Auch die Ich-Erzhlerin steht im Kontrast zu erwhnten

    Normen des Dorfes, die das ganze Buch Herztier (1994) in der Form der

    Kindheitserinnerungen begleiten und bricht die Regel damit, dass sie mit dem

    Geheimdienst mitzuarbeiten weigert und mit Freunden regelmig trifft. Freundschaft steht

    gegen totalitre Prinzipien wegen ihrer Spontaneitt und Freiwilligkeit, die keine

    Begrndung fr Entstehung braucht (Warner 2011: 82-83). Sie steht entgegen der

    Unterordnung, die die erste Anforderung nicht nur des Dorfes, sondern auch des Staates

    ist.

    Die Nhe des beengten, kontrollierten Lebensgefhls im diktatorischen Staat zu dem im

    Dorf der Minderheit schlgt sich deutlich in der Verwandtschaft der Raumfiguren nieder.

    (Johannsen 2008: 168) Raumfiguren wie das Viereck, die Kistenmetaphorik, Dorf

    oder Stadt rufen zur Komparation hervor. Dabei die fragmentierten

    Kindheitserinnerungen der Ich-Erzhlerin, die sich an Niederungen (1994) erinnern, zeigen

    eine Engfhrung von der Dorfkindheit und dem Leben in der Stadt. Diese Verbindung hebt

    die strukturelle Verwandtschaft der Gewalterfahrungen und der permanenten Kontrolle in

    der drflichen Gemeinschaft der Anderen (2008: 169) hervor.

    3.3 Stadt als ganz andere Realitt?

    Alle Bereiche unterstehen der Staatsfhrung an der Spitze mit Diktator in der Stadt

    (Warner 2011: 75), der scheinbar krank ist und von dem erwartet wird, dass er bald stirbt.

    Diese scheinbare Krankheit dient als Mittel der Hoffnung auf bessere Zukunft der

    Bevlkerung. Die fiktive Krankheit des Diktators soll jedoch auf Bevlkerung bertragen

    und damit kann die totalitre Macht verstrkt werden. Einzelpersonen werden bespitzelt

    und verfolgt (2011: 76) und psychische Lage geht in die physische Lage der Bevlkerung

    in die Richtung von innen nach auen ber. Aus diesem Grund wird das Krankwerden eine

    Folge der kranken Misshandlung von Einzelnen. Dabei werden Positionen in Institutionen

    von Funktionren besetzt, was eine berwachung gibt (2011: 75). Im Buch Herztier

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    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken Herztier und Niederungen 31

    (1994) ist die korrumpierte und bedrohende Umgebung in die Objekte, Gebude und

    Pflanzen umgewandelt, die dem Staat unterliegen (Johannsen 2008: 175).

    Sie waren in der Angst zu Hause. Die Fabrik, die Bodega, Lden und

    Wohnviertel, die Bahnhofshallen und Zugfahrten mit Weizen-, Sonneblumen- und

    maisfeldern paten auf. Die Straenbahnen, Krankenhuser, Friedhfe. Die

    Wnde und Decken und der offene Himmel. (Mller 2009a: 39)

    Dieser Punkt der realisierten Kontrolle kann uns zum Beispiel Lolas Leben zeigen. Lola als

    nicht-sozialisierte Person wurde dem Ausschluss, der Vernichtung und der Bedrohung des

    Indentittsverschwundes ausgesetzt. Man erkennt jedoch, dass die Figur der Lola

    eigentlich dem Leser den Eindruck vermittelt, dass sie nie existierte. Wie ist es dazu

    gekommen, dass die Person, die vorher reale Existenz im Buch einnahm, eigentlich

    verschwindet? In welcher Form wurde so eine Figur im Buch eingerumt? Es scheint, als

    ob Lola als Erinnerung aus ihrem Tagebuch ebenso wie nur Erinnerung an die Kindheit der

    Erzhlerin auf dem Lande auftrte. Dementsprechend werden beide Existenzen verglichen,

    weil die Autorin beide Realitten durch den Erinnerungsprozess aus dem Gedchtnis

    lschen wollte. Nach Herta Mllers Worten geht es um Kindheitserinnerung, die sie aus

    der Vergangenheit entfernen wollte: Das Erleben ist die Last, und danach die

    Erinnerung. (Mller c2009: 16) Nach dieser Raumdekonstruktion wird jedoch auch Lola

    der Kunstwelt entrissen. Nicht nur durch die Komparation desselben

    Verinnerungsprozesses, sondern auch durch einen Eingriff der staatlichen Macht wird Lola

    zum Selbstmord und damit zur eigenen Selbstverweigerung gezwungen. Von Anfang an

    glauben alle im Viereck, dass Viereck fr mehr als vier Mdchen zu eng ist. Es wird

    deswegen angenommen, dass Lola Schuld dafr trgt und deshalb verleugnet sie eigene

    Existenz:

    Was ich lerne, ist der Drre egal, schreibt Lola in ihr Heft. [...] Etwas werden in

    der Stadt, schreibt Lola, und nach vier Jahren zurckkehren ins Dorf. (Mller

    2009a: 9) Die erhngte Lola wurde zwei Tage spter am Nachmittag um vier Uhr

    in der groen Aula aus der Partei ausgeschlossen und von der Hochschule

    exmatrikuliert. Hunderte waren dabei. [...] Alle klatschten. [] Lolas Bild hing

    zwei Wochen im Glaskasten. Aber nach zwei Tagen war Lolas Heft aus meinem

    verschlossenen Koffer verschwunden. (Mller 2009a: 32-33)

    Der Eindruck der Personverschwindung verstrkt sich in der Parteiversammlung, wovon

    Lola nach ihrem Tod ausgeschlossen ist. Es sieht so aus, als ob Lola im Kind der Dorfwelt

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    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken Herztier und Niederungen 32

    anwesend wre, weil beide hnliche Bedrfnisse und Erfahrungen haben. Lola verspricht

    sich selbst ein besseres Leben und das Kind wnscht sich auch eine bessere Zukunft:

    In vier Jahren kommt er mit mir, denn so einer wei, da er im Dorf ein Herr ist.

    Da der Frisr zu ihm nach Hause kommt und die Schuhe auszieht vor der Tr.

    Nie wieder Schafe, schreibt Lola, nie wieder Melonen, nur Maulbeerbume, denn

    Bltter haben wir alle. (Mller 2009a: 11)

    Lola sehnt nach einem Mann, der finanziell gut gestellt ist. Lola ist arm und mchte

    aus der Armut gelangen. Demgegenber das Kind mchte von der Familie aus dem

    Dorf fliehen:

    Denn der Vater steckt sein schlechtes Gewissen in die dmmsten Pflanzen und

    hackt sie ab. Kurz davor hat das Kind sich gewnscht, da die dmmsten Pflanzen

    vor der Hacke fliehen und den Sommer berleben. Doch sie knnen nicht fliehen,

    weil sie erst im Herbst weie Federn bekommen. Erst dann lernen sie fliegen.

    (Mller 2009a: 21)

    Die Erinnerungen an die Kindheit knnen indirekte Schilderungen aus dem Leben einer

    Figur des Romans Herztier sein. Dabei ist es nicht zu erkennen, um welche Person es sich

    konkret handelt, die Anspielung auf das Prosastck Niederungen ist jedoch offensichtlich.

    3.3.1 Labyrinth

    Indem der Staat ber so eine Kraft disponiert, benutzte Herta Mller in Herztier (1994)

    zahlreiche Metaphern im Text und es scheint, als ob die ganze Welt sich im Labyrinth

    befindet. Diesen Standpunkt untersttzen folgende Grnde:

    - Benutzung von Kistenmehaphorik an mehreren Stellen im Roman

    - nur wenige Auswege aus dem ganzen Raum

    - Begrenzung des Raumes

    - im Zentrum steht ein herrschender Merkmal in der Form des Geheimdienstes

    - der Raum wird mit einem Gefngnis bzw. einer Dahlie assoziiert

    - Kontrolle von persnlichen Gedanken.

    Das Labyrinth in Herztier besteht, wie schon oben im Kapitel 3.3 erwhnt, aus

    korrumpierten Pflanzen, Menschen und Objekten. ber allen Substanzen der Welt steht

    der Hauptmann Pjele. Der Fluss steht wie eine Grenze zwischen Leben und Tod. Die

    Staatsgrenze teilt das Land in Innen und Auen nichts kann hinaus, nichts hinein.

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    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken Herztier und Niederungen 33

    Die Autorin erwhnt im Buch den Begriff Dahlie: Wie soll ich in Worten erklren, dass

    in einer Dahlie ein Verhr sitzt, wenn man vom Verhr kommt, oder eine Zelle, wenn ein

    Mensch, den man mag, im Gefngnis ist. (Mller und Arnold 2002: 15) Man kann leicht

    erkennen, dass die Dahlie ein Gefngnis, ein Verhr eine Metapher fr die im Zentrum

    des Labyrinths stehende Kontrolle darstellt. Einen Ausweg aus so einem Labyrinth kann es

    nur in drei Varianten geben: Ausreise, Flucht oder Selbstmord. In vier Symbolen werden

    vier Todesarten veranschaulicht, die im Buch Herztier auftreten: Grtel, Fenster, Nuss und

    Strick (Mller 2009a: 7). Der Grtel stellt Lolas Selbstmord dar, weil sie sich angeblich am

    Grtel im Schrank des Zimmers erhngt hat. Das Symbol des Fensters verweist auf den

    Sturz aus dem Fenster, wenn Georg unter sonderbaren Umstnden einen Selbstmord

    begang. Tereza hat die Ich-Erzhlerin verraten und ist an Krebs gestorben. Der Nuss im

    Kopf ist die Bezeichnung fr den Krebs. Kurt hat sich in seiner Wohnung vor der Ausreise

    erhngt, so vertritt der Strick ein Symbol fr eine andere Art des vom Staat ausgefhrten

    Todes. Keine von ihnen gewhrt eine befriedigende Lsung der unangenehmen Situation.

    3.3.2 Kontrast des drflichen und stdtischen Raumes

    Whrend Individuen und ihre Meinungen in der Dorfgemeinde im Werk Niederungen

    (1982) nicht gefragt werden, sprt man in der Stadt eine dauerhafte Nachfragung der

    Umgebung. In der Stadt nimmt man eine strkere Intensitt des Terrors im Roman Herztier

    (1994) wahr. Wer sich der Situation nicht fgt, wird nicht nur einfach wie im Dorf

    ausgeschlossen, sondern gert in die Hnde des Geheimdienstes, denen man nur kaum

    entkommen kann (Bozzi 2005: 48). Auf dem Lande nehmen die Drfler kaum den langen

    Arm der Diktatur wahr (Haupt-Cucuiu 1995: 91). In der Stadt ist der Tod eine alltgliche

    Bedrohung fr Verdchtigte in jeder Form. Demgegenber kommt der Tod auf dem Lande

    nur als natrliche Erscheinung vor, die zum Leben gehrt. Was Tieren und Pflanzen

    betrifft, ihnen wird das Leben nur aus Notwendigkeit genommen. Den Tod findet man im

    Verstndnis der Dorfgemeinschaft als Teilaspekt des Lebens:

    Ich hatte nach ein paar Wochen ein Kalbfell vor dem Bett liegen. [] Das Kalb

    keuchte und rannte in seiner Todesangst mit dem Kopf in einen Baum. Es floss

    Blut aus seinen Nstern. Ich hatte Blut auf den Zehen, auf den schnen

    Sommerschuhen, auf dem Kleid, als das Kalb zusammenbrach. (Mller 2010: 64)

    Wenn ich den Khlschrank ffnete, lagen ganz hinten im Fach eine Zunge oder

    eine Niere. Vom Frost wurde die Zunge trocken, die Niere platzte braun auf. [...]

    Ich sah Lola die armgebliebene Gegend im Gesicht an. Ob sie die Zungen und

  • Filozofick fakulta MU Marie Dedkov

    Raumfigurationen in Herta Mllers Werken Herztier und Niederungen 34

    Nieren a oder wegwarf, sah ich nicht. [] Nur gestohlenes Waschpulver oder

    die Kleinigkeiten geschlachteter Tiere. Rinderzungen, Schweinenieren oder die

    Leber eines Kalbes. (Mller 2009a: 23, 19)

    Whrend die Menschen den Bedrfnissen der Stadt unterworfen werden, weil sie eine

    Ernhrung fr Bevlkerung gewhrleisten, werden Tieren im Dorf den Menschen und den

    Bedrfnissen des Dorfes unterstellt. Pflanzen in der Stadt stehen ber den Menschen und

    kontrollieren sie. Demgegenber werden Pflanzen im Dorf als Freunde des Kindes, oder

    als ein unterwrfiger wilder Teil der Natur wahrgenommen, die vom Feld mit Hacken

    entfernt werden. Verglichen mit Tieren gibt es hier ein identisches Prinzip der

    Unterordnung. Die Natur dient zur Ausbeutung auf dem Lande, aber in der Stadt beutet die

    Natur einen Menschen aus. In der Stadt kann man eine Abwesenheit, d. h. eine Ferne von

    Pflanzen spren, die im Schweigen leben und damit eine Spannungsverhltnis zwischen

    einem Subjekt und einem Objekt gestalten. Aber im Dorf findet man ihre Nhe, wo sie

    eine Individualisierung des Kindes ermglichen. Die einzige Mglichkeit zur

    Individualisierung in der Stadt gewhrt das Schweigen bzw. die Dahlie, in der nicht nur

    Gefngnis steht, sondern auch eine stabile innere Einstellung, die nach ihren Kerben jede

    Einzelperson einen spezifischen Charakter gibt, wobei jeder etwas Spezifisches eignet und

    das ermglicht, dass jeder Tag anders ist.