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Die philosophische Bedeutung der modernen Physik Author(s): Hans Reichenbach Source: Erkenntnis, 1. Bd. (1930/1931), pp. 49-71 Published by: Springer Stable URL: http://www.jstor.org/stable/20011588 . Accessed: 16/01/2015 09:30 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Springer is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Erkenntnis. http://www.jstor.org This content downloaded from 89.206.116.130 on Fri, 16 Jan 2015 09:30:46 AM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

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Die philosophische Bedeutung der modernen PhysikAuthor(s): Hans ReichenbachSource: Erkenntnis, 1. Bd. (1930/1931), pp. 49-71Published by: SpringerStable URL: http://www.jstor.org/stable/20011588 .

Accessed: 16/01/2015 09:30

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Die philosophische Bedeutung der modernen Physik Von

Hans Reichenbach (Berlin)

I.

St?rker als je ist in unserer Zeit eine Entfremdung zwischen der

Welt der Wissenschaft und der Welt des t?glichen Lebens eingetreten. Die au?erordentliche Verfeinerung wissenschaftlicher Methoden hat

auf den Gebieten der physikalischen ebenso wie der biologischen Wissenschaften eine solche Wandlung aller Wissensbest?nde mit

sich gebracht, da? der Nichtwissenschaftier sie nicht mehr mit den

Erfahrungen des t?glichen Lebens zusammenzuschlie?en vermag; er h?rt wohl staunend von den Ergebnissen der Relativit?tstheorie

oder der Biochemie, er wagt auch nicht zu bezweifeln, was ihm

mit dem Autorit?tsanspruch fachwissenschaftlicher Wahrheit vor?

getragen wird, aber er vermag mit solchen Berichten ?ber ihm

fremde Welten nichts anzufangen, er sieht nicht, wie sie mit den

Erlebnisbest?nden zusammenh?ngen sollen, die er Welt, Umwelt,

Wirklichkeit, Leben nennt, und kann deshalb bei aller Bewunderung ein Gef?hl der Leere nicht ?berwinden, welches ihn trotz bestem

Willen zu einer inneren Anteilnahme an den G?tern der Wissen?

schaft nicht kommen l??t. Mehr als f?r den Gebildeten, der durch

reichliche Schulung nur allzu sehr daran gew?hnt ist, zwischen Geist

und Herz eine Grenze zu ziehen, gilt dies f?r die gro?en Schichten

derjenigen, denen h?here Bildung durch die Not sozialer Ver?

h?ltnisse verschlossen blieb und die in unverbildetem Instinkt sich

nicht daran gew?hnen k?nnen, ein Doppelleben zwischen der Welt

der Wissenschaft und der Welt des Tages zu f?hren.

Die geschilderte Tatsache ist nur allzu bekannt; und es sind

schon immer Bem?hungen da gewesen, jene Spannung durch be?

sondere Bildungseinrichtungen, seien es Volkshochschulen, Arbeits?

gemeinschaften oder popul?re Literatur zu ?berwinden. Wenn

Erkenntnis I. 4

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50 Hans Reichenbach

diesen Versuchen trotzdem bisher kein durchgreifender Erfolg be?

schieden war, so m?ssen tiefere Gr?nde am Werke sein. In der Tat

glauben wir, da? durch blo?e Organisation, durch den Versuch, weitere Schichten in p?dagogischen Kunstgriffen mit den Resultaten

der Wissenschaft vertraut zu machen, nichts Entscheidendes geleistet werden kann. Vielmehr scheint uns die Quelle dieser Spannung in

der Schicht der Geistigen selbst zu liegen, da es auch dieser Schicht

keineswegs gelungen ist, Fachwissenschaft und t?gliches Leben zu

innerer Einheit zu bringen. Solange sich der Gebildete mit einem

Doppelleben abfindet, solange wird der Ungebildete, der zu solcher

intellektueller Unredlichkeit nicht aufgelockert ist, die Wissenschaft

als ein totes Gut betrachten.

Wir sehen deshalb die eigentliche Wurzel dieser kulturellen

Spannung darin, da? es innerhalb der Schicht der Geistigen nicht

gelungen ist, wissenschaftliche Entdeckungen mit der Welt des

t?glichen Lebens zu einem einheitlichen Weltbild zusammenzuf?gen. Die entscheidende Schuld hieran aber tr?gt die Philosophie. Denn

anstatt die Resultate der Fachwissenschaft zu verarbeiten und um?

zusetzen in eine neue Art, die Wirklichkeit zu sehen, hat die Philo?

sophie die Grenzen zwischen Wissenschaft und Tageswelt nur um so

sch?rfer aufgerichtet. Sie hat nicht gemerkt, da? sich in der Fach?

wissenschaft nur eine stetige Abwandlung jener Grundbegriffe voll?

zogen hat, die wir im t?glichen Leben genau so anwenden, und hat

anstatt dessen eine Zweiwelten-Theorie begr?ndet. Da sie nicht

imstande war, fachwissenschaftliche Erkenntnis philosophisch zu

deuten, hat sie in blinder Beschr?nkung die naive Erkenntnisform

der Tageswelt zu Denknotwendigkeiten, zu apriorischen Kategorien

gestempelt; sie mu?te deshalb der Wissenschaft ein Sonderdasein

einr?umen, in dem man sich um Denknotwendigkeiten nicht zu

k?mmern braucht, das eine Art Sportplatz f?r Gehirnturnen be?

deutet, und da? deshalb bei aller oft betonten Bewunderung f?r die

Kunst solchen Geistesturnens von der Wahrheit im philosophischen Sinn durch eine un?bersteigbare Scheidewand abgetrennt ist. Wenn

die Philosophen Entdeckungen wie die relativistische Zeitlehre, die

nicht-euklidischen Raumformen, die quantenmechanische Begren?

zung des Kausalit?tsgedankens Arbeitshypothesen oder begriffliche Fiktionen genannt haben, so haben sie eben damit diesen Grenzstrich

gezogen. Hier liegt deshalb die Quelle jener ungl?cklichen Spaltung, und der wissenschaftlich Ungeschulte wird sie bei aller Tapferkeit seines Lernbed?rfnisses nicht ?berbr?cken, wenn nicht von Seiten

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Die philosophische Bedeutung der modernen Physik ?I

der Philosophie her zuvor der Weg zur Einheit aufgezeigt worden

ist. Wir sehen deshalb die Arbeit neuer Naturphilosophie nicht nur

unter dem Gesichtspunkt ihrer fachwissenschaftlichen Bedeutung, als einer Kl?rung naturwissenschaftlicher Grundbegriffe, wir sehen

sie vielmehr zugleich auch unter dem sozialen Gesichtspunkt, da?

Kl?rung der Grundbegriffe zugleich Umdeutung ?berkommener

philosophischer Vorstellungen darstellt, und da? nur die Aufzeigung der Kontinuit?t zwischen Tageswelt und Welt der Fachwissenschaft

jene Eingliederung wissenschaftlichen Kulturgutes zu vollziehen

vermag, unter deren Unvollziehbarkeit wir gegenw?rtig noch leiden

m?ssen. Es geht nicht an, den Raum der Physiker, oder ihre Sub?

stanz, oder ihre Gesetzlichkeit, etwas f?r sich Bestehendes, etwas

Fiktives zu nennen, das von dem grunds?tzlich verschieden ist, was der Mensch des t?glichen Lebens mit denselben Worten be?

zeichnet. Nur allzu deutlich stellt sich heraus, da? eine Philosophie, die dies behauptet, nichts anderes bedeutet als dogmatisches Fest?

halten an dem Raum, der Substanz, dem Gesetzesbegriff, den die

Physik vor 300 Jahren geschaffen hat, und der nun einmal vor der

F?lle und Tiefe heutigen Wissens nicht mehr zu halten ist. Erst

wenn diese Einsicht Allgemeingut der F?hrenden geworden ist, wenn die F?hrenden ihre Philosophie nicht mehr aus den philo?

sophischen Systemen der Vergangenheit, sondern aus den natur?

wissenschaftlichen Theorien der Gegenwart konstruieren, erst dann

wird die k?nstliche Grenze zwischen Wissenschaft und Person, zwischen der Welt der Formeln und der Welt der Erlebnisse, ver?

schwinden, und man wird begreifen, da? jene Formeln nichts sind

als eine Deutung von Erlebnissen, eine Deutung, zu der den Wissen?

schaftler derselbe Weg gef?hrt hat, den jeder von uns im t?glichen Leben auf Schritt und Tritt geht.

Es soll deshalb an dieser Stelle der Versuch gemacht werden, unter Verzicht auf entsprechende ?berlegungen f?r die Biologie, in gro?en Z?gen darzulegen, wie das physikalische Weltbild der

Gegenwart zu begreifen ist, und wie es sich mit Begriffen der Tages? welt zusammenschlie?t, wenn man die Anspr?che der Apriorit?ts

philosophie fallen l??t.

II.

Zun?chst: da? ein Unterschied zwischen Weltbild der Wissen?

schaft und Weltbild des t?glichen Lebens besteht, soll von uns nicht

bestritten werden. Im Gegenteil wollen wir hier einmal in aller

Sch?rfe diesen Unterschied herausstellen.

4*

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52 Hans Reichenbach

Die Welt des Tages ist eine Welt greifbarer und sichtbarer

Dinge um uns herum, die aus massiver Substanz gebildet sind und

einige einfache und zuverl?ssige Gesetzm??igkeiten in sich tragen. Wir k?nnen aus Holz, Eisen, Steinen, Ger?te oder Maschinen bauen,

in denen wir jene Gesetzm??igkeit verwerten. Wir wissen, da? die

Substanz fest, fl?ssig oder gasf?rmig sein kann, da? es W?rme und

K?lte gibt, da? es Licht, Farbe und Schall gibt, von welchen Dingen allen uns unsere Sinne lebendige Kunde vermitteln. Es gibt f?r

dieses Weltbild auch so etwas wie Elektrizit?t, die man zwar nicht

sehen kann, mit der man aber so viel zu tun hat, da? man ihren

abstrakteren Charakter ganz vergessen hat; man kann sie ja in

Maschinen erzeugen, durch Dr?hte schicken und mit ihr z. B. das

Zimmer erleuchten. Auch gibt es f?r dieses Weltbild eine einfache

Kosmologie. Es gibt den Himmel ?ber uns, an dem die Gestirne

ihre Bahn ziehen, und das ganze Weltall ist in Raum und Zeit ein?

gebettet, deren Grundeigenschaften uns in selbstverst?ndlicher

Sicherheit vertraut sind; haben wir doch alle schon in der Schule als

Geometrie und Mechanik jene einfachen Gesetze gelernt, deren

Inbegriff uns die menschliche Weisheit von Raum und Zeit zu er?

sch?pfen scheint.

Versetzen wir uns von diesem naiven Standpunkt in das Welt?

bild der Wissenschaft, so ist mit einem Schlage alles ins Unkennt?

liche verzaubert. Die gleichm??ig erf?llte Substanz des naiven Welt?

bildes gibt es dort nicht; er gibt vielmehr im Grunde nichts als kleine

K?rnchen, die in heftiger Bewegung durcheinander schwirren. Das

ruhige klare Wasser im See entspricht nach der Auffassung des

Wissenschaftlers vielmehr einem M?ckenschwarm, in dem alles

durcheinander wirbelt; eine Oberfl?che hat es nicht, sondern nur

eine unscharfe Grenze, aus der heraus st?ndig Wasserteilchen in die

Luft schie?en und durch welche umgekehrt andere Wasserteilchen

aus der Luft eintreten. Auch der eiserne Br?ckenpfeiler, der dort

aus dem Wasser emporragt und als das Symbol von Ruhe und

tragender Kraft gilt, enth?llt sich sch?rferem Zusehen als ein zittern?

des Gebilde, dessen Teilchen wie die feinen ?stchen einer Rispe durcheinander zittern, ja, dabei nicht einmal durch Verbindungen

gehalten sind, sondern sich allein durch gegenseitige Anziehungs? kraft aus der Entfernung festhalten. Wenn eine Eisenbahn ?ber

die Br?cke f?hrt, so darf man sich nicht vorstellen, da? ihre R?der

die Schienen ber?hren; vielmehr kommen dann lediglich zwei solche

Zitterrispensysteme in ihrer Oberfl?che so nahe, da? absto?ende

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Die philosophische Bedeutung der modernen Physik 53

Kr?fte die Teilchen auseinander treiben. In dieser Welt der Zitter?

rispen und M?ckenschw?rme gibt es auch kein Licht, keine Farbe, keinen Schall ; auch das sind wieder nur Zittererscheinungen anderer

Art, die sich allein durch ihre Zitterfrequenz unterscheiden. Was

wir sonst Licht nennen, ist n?mlich nichts als Elektrizit?t. Auch

ist der Unterschied von Energie und Masse zweifelhaft geworden, beides ist im Grunde dasselbe, und da im Grunde die Masse wieder

nichts anderes ist als Elektrizit?t, so besteht ?berhaupt die ganze Welt aus Elektrizit?t. Die Gesetze dieser elektrischen Zitterwelt

sind von denen der groben Dinge des t?glichen Lebens vollst?ndig

verschieden; diese enth?llen sich als Durchschnittsgesetze einer

im Grunde wesentlich komplizierteren Welt, die nur durch die gro?e Zahl der beteiligten Einzelteilchen einen so einfachen Charakter

annehmen. Und endlich sind auch die Gesetze von Raum und Zeit, die allgemeinsten Gesetze also, die diese Welt regieren, wesentlich

anders, als wir sie in der Schule gelernt haben; der Raum ist krumm, die Winkelsumme im Dreieck von zwei Rechten verschieden, die

gerade Linie l?uft schlie?lich in sich selbst zur?ck, und die Zeit um?

schlie?t eine eigenartige Unbestimmtheit, sowie man sie zu messen

versucht.

Das sind wirklich verschiedene Weltbilder, und man mu? zu?

geben, da? es eine weitgehende Zumutung an den Nichtwissen

schaftler bedeutet, das alles zu glauben. Wie kommt die Wissen?

schaft dazu, Dingen, die sich dem Erlebnis des t?glichen Daseins

in so einfacher klarer Gestalt zeigen, eine derart absurd scheinende

Umdeutung zu geben? Ist es nicht blo?e Spekulationssucht, phan? tasievolle Freude an zweckloser Komplikation, die den Wissen?

schaftler in solche Gedankensch?pfungen hineintreibt ? Woher

nimmt die Wissenschaft das Recht zu solcher Entfernung von der

unmittelbaren Anschauung der Welt? Kann man wirklich noch von

Kontinuit?t sprechen, wenn die Wissenschaft sich in solche Ab?

straktionen versteigt, die nur gerade die ganze Autorit?t der Fach?

wissenschaft davor zu sch?tzen vermag, da? man sie nicht ?ffent?

lich unsinnig, absurd, l?cherlich nennt?

Wenn wir jetzt versuchen wollen, all dieser Gegens?tzlichkeit zum Trotz zu beweisen, da? es die gleiche Denkweise ist, die den

Menschen des t?glichen Lebens zu dem ersten Weltbild, den der

Wissenschaft zu dem zweiten Weltbild gef?hrt hat, dann werden

wir uns zun?chst die Frage vorlegen m?sssen, wodurch der Wissen?

schaftler eigentlich zu seinem Weltbild gekommen ist. Dabei m?ssen

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wir vier Quellen aufz?hlen, aus denen das Wissen moderner Natur?

wissenschaft geflossen ist.

Als erste Quelle ist zu nennen die Versch?rfung der Beobach?

tungsmittel im Vergleich zur Kraft der einfachen Sinneswahrnehmung. Das Mikroskop hat uns Einblicke in die Struktur des Kleinen ver?

schafft, wo das blo?e Auge gleichf?rmige strukturlose Substanz ver?

mutete. Das Fernrohr hat uns die Gestalt ferner Weltk?rper ent?

h?llt, die dem Auge nur als Punkte erschienen. Die moderne Me??

technik vermag die Milliontel eines Millimeters oder Tausendstel

einer Sekunde noch zu unterscheiden, und der billionste Teil des

elektrischen Stroms, der durch eine Gl?hlampe flie?t, ist f?r ein

modernes Galvanometer noch bequem nachweisbar. Man darf sich

nicht wundern, wenn die derart versch?rften Beobachtungen anderes

lehren als die grobe Kunst der Sinnesorgane allein.

Die zweite Quelle unseres Wissens ist das Experiment. Die

Naturwissenschaft beschr?nkt sich nicht darauf, die Natur zu beob?

achten wie sie gerade ist; vielmehr versucht sie, die Natur durch

k?nstlichen Eingriff, also durch das Experiment, in ganz neue Be?

dingungen zu versetzen. So werden Eisenst?be gezerrt und verbogen, damit man ihre Festigkeit kennen lernt. Der elektrische Strom

wird durch Wasser geschickt und enth?llt auf diese Weise die Be?

standteile jener f?r das naive Auge einheitlichen Substanz. Man

schickt die Elektrizit?t auch durch luftleere Glasr?hren und ent?

deckt auf diesem Wege ihre eigene Natur. Man setzt eine Pflanze

in einen Boden, dem ein bestimmtes N?hrsalz entzogen ist, und

beobachtet, was dann aus der Pflanze wird. So wird durch absichtliche

Ver?nderungen der Naturbedingungen unser Wissen von den Dingen au?erordentlich vermehrt; erf?hrt man doch dabei vieles, was uns

beim blo?en Abwarten niemals zur Beobachtung kommen w?rde.

Die dritte Quelle ist die zahlenm??ige Beschreibung beobachteter

Zusammenh?nge. Da? ein Gas, wenn man es in einen kleineren

Raum bringen will, daf?r entsprechend zusammengedr?ckt werden

mu?, lehrt schon das t?gliche Leben; der Wissenschaftler aber er?

forscht das zahlenm??ige Gesetz f?r den Zusammenhang von Volumen

und Druck. Hat er dieses Gesetz gefunden, so nimmt er noch die

Temperatur als weitere Ver?nderliche hinzu und bezieht sie in ein

allgemeineres Gesetz ein. So hat der Astronom die Bewegung der

Himmelsk?rper in zahlenm??ige, also mathematische Formen ge?

bracht. So wird etwa an den Verst?rkerr?hren, die man beim Rund?

funkempfang benutzt, die Abh?ngigkeit von elektrischem Strom und

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elektrischer Spannung zahlenm??ig studiert. In solcher quantita? tiven Erfassung der Naturzusammenh?nge liegt nicht nur eine ganz au?erordentliche Versch?rfung unseres Wissens; es werden vielmehr

damit zugleich auch neue Zusammenh?nge aufgedeckt, an die man

sonst nicht denken w?rde. Man erinnere sich etwa, da? die Ein*

f?hrung der Atomtheorie in der modernen Chemie wesentlich auf

quantitativer Erfassung der Verbindungsgewichte beruht.

Die vierte Quelle endlich ist die gedankliche Durchdringung der

Tatsachen, wie sie in der modernen Naturwissenschaft weitgehend

gegl?ckt ist. Wir begn?gen uns nicht mit der Aufz?hlung vieler

einzelner Gesetzlichkeiten; wir machen vielmehr den Versuch, die

Vielheit zu verringern und mit m?glichst wenig Voraussetzungen einen m?glichst weiten Umfang von Tatsachen zu erfassen. Dieser

Proze? ist ganz eigentlich das, was wir Erkl?rung nennen; erkl?ren,

begreifen hei?t im Grunde nichts anderes als Zusammenfassen unter

ein einheitliches Gesetz. Als Musterbeispiel d?rfen wir das Newton

sche Gravitationsgesetz nennen, welches die Gesetze eines Koperni?

kus, eines Galilei, eines Kepler in einer einzigen Formel ver?

einigt. Gerade dieser Teil des wissenschaftlichen Arbeitsprozesses ist

nicht m?glich ohne den von uns beschriebenen Proze? der quanti? tativen Erfassung; andererseits ist der Proze? der gedanklichen

Durchdringung gerade der interessanteste Teil der Forschung, weil

er erst zu dem Zusammenhang f?hrt, den wir ein Weltbild nennen.

Fassen wir diese ?bersicht ?ber die Quellen wissenschaftlicher

Forschung zusammen, so k?nnen wir sie auf die Formel bringen, da? der Wissenschaftler viel mehr von der Welt wissen

und viel genauer begreifen will als der naive Verstand.

Kein Wunder, da? er zu anderen Resultaten kommt. Vor allem

haben denn auch die beiden ersten Quellen gro?e Unterschiede er?

geben zwischen dem Wissen des t?glichen Lebens und dem feineren

Befund der Natur. Aber ebenso haben die beiden letzten Quellen Einblicke in die Natur gelehrt, wie sie das kurzatmige Denken des

t?glichen Lebens niemals zu enth?llen vermochte. Und diese Diskre?

panz gilt nicht nur f?r die Wissenschaft der letzten Jahrhunderte, wo sie zwar auch schon auftritt; sie gilt in ?berraschender Sch?rfe

in unserer Generation von neuem, wo wir den ?bergang einer klas?

sischen Physik zu einer Quantenphysik erleben.

Als Ergebnis dieser Umstellung d?rfen wir formulieren: wir

wissen heute, da? die Welt im kleinen und im gro?en wesentlich anders aussieht als in den mittleren Gr??en

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56 Hans Reichenbach

bereichen, die unserer Wahrnehmung direkt zug?nglich sind. F?r das Gro?e hat dies vor allem die Einst einsehe Relativi?

t?tstheorie gelehrt, als sie den Nachweis erbrachte, da? der Welt?

raum von nichteuklidischer Struktur ist, da? die Gleichzeitigkeit f?r kosmische Dimensionen einer Willk?r unterliegt,da? also Ma??

st?be und Uhren irdischer Herkunft bei Ausf?hrung derselben

Me?operationen, wie sie uns auf der Erde gel?ufig sind, im Himmels?

raum zu wesentlich anderen raumzeitlichen Ma?beziehungen f?hren

w?rden. F?r die Welt des Kleinen wurde das genannte Resultat

vor allem durch die Quantentheorie begr?ndet, welche gezeigt hat, da? das Geschehen im kleinen jene Stetigkeit verliert, die wir

makroskopisch beobachten, und da? sogar die strenge gesetzm??ige

Bindung, wie wir sie als Kausalprinzip f?r die Welt der mittleren

Dimensionen kennen gelernt haben, im kleinen nicht mehr besteht.

Solche Wandlungen w?ren verh?ltnism??ig harmlos, wenn sie

nichts anderes bedeuten w?rden als eine inhaltliche Neuausf?llung von Vorstellungen, wie wir sie uns schon sonst vom Gro?en oder

vom Kleinen gemacht haben. Da? der Weltraum im gro?en nicht

mit kompakter Materie ausgef?llt ist, wie unsere Umwelt, da? die

Materie im kleinen aus getrennten K?rnchen besteht und der konti?

nuierliche Charakter der makroskopischen K?rper nur vorget?uscht ist ? das alles w?re noch verh?ltnism??ig leicht zu verwinden.

Ist doch auch jeder Bericht eines Weltreisenden ?ber Menschen und

Dinge ferner L?nder mit solchen Seltsamkeiten inhaltlicher Art er?

f?llt; man wird sie glauben m?ssen, wenn sie glaubw?rdig begr?ndet werden k?nnen. Aber viel schwerer ist es uns zu glauben, wenn der

Reisende von einer Verletzung derjenigen Sitten und Gebr?uche

berichtet, die unserer Umwelt als unantastbare Grundlagen mensch?

licher Weltordnung erscheinen; und w?re nicht der Bericht ?ber die

fernen L?nder durch soviele Zeugen immer wieder erh?rtet worden, es g?be sicherlich noch unter uns manchen Prediger, der gewisse

Tatsachen ?ber sexuelle Br?uche bei Naturv?lkern oder ?ber ihre

Eigentumsverh?ltnisse f?r unm?glich erkl?ren w?rde. Es ist eben

mit den Entdeckungen der modernen Physik nicht nur die neue

inhaltliche Ausf?llung eines bestehenden begrifflichen Rahmens voll?

zogen worden, sondern es ist dieser begriffliche Rahmen selbst zur

Diskussion gestellt und umgearbeitet worden. Auch unsere Be?

griffswelt enth?llte sich als angepa?t allein mittleren

Gr??endimensionen. Die Begriffe von Raum und Zeit mu?ten

f?r die Welt des Gro?en, die Begriffe der Substanz und der Gesetz

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lichkeit f?r die Welt des Kleinen einer Umwandlung unterzogen

werden, welche die entsprechenden Begriffe, wie sie bisher aus der

Welt der mittleren Dimensionen entwickelt worden waren, als N?he?

rungen aufweist, die nur innerhalb von Gebieten mittlerer Gr??en?

ordnung anwendbar sind. Es ist dies eine Wendung, wie man sie

nur jener schon zum Symbol gewordenen Entdeckung des Koperni? kus vergleichen kann: die Erkenntnis, da? die alten Grund?

begriffe der Naturwissenschaft nur f?r mittlere Gr??en?

bereiche anwendbar sind, ist die kopernikanische Wen?

dung unserer Zeit. Sie entthront eine Welt von Begriffen, so

wie Kopernikus die Erde entthront hat; sie weist diese Begriffe auf als zu eng, als entsprungen allein aus der Beschr?nkung unserer

Gr??endimensionen im Weltall.

III.

Aber wie ist eine solche Wandlung m?glich? Hatte nicht die

Apriorit?tsphilosophie eine Reihe von Beweisen zusammengetragen, welche die Unwandelbarkeit der Grundbegriffe f?r alle Zeiten fest?

legte ?

Die Gedankeng?nge der Apriorit?tsphilosophie sind ja manchen

Wandlungen unterworfen worden; wir wollen hier nur auf jene Form

n?her eingehen, die sich in Fortf?hrung, allerdings auch Ver?nderung kantischer Gedanken herausgebildet hat. Danach sind die Grund?

begriffe, wie Raum, Zeit, Kausalit?t, Substanz, methodische Prin?

zipien, die wir im Gebrauch der Wissenschaft st?ndig voraussetzen.

Zwar mu? es zweifelhaft erscheinen, ob man sie unter diesem Ge?

sichtspunkt ?berhaupt noch als wahr zu bezeichnen hat, weil sie, als methodische Prinzipien, nichts ?ber die Welt des Wirklichen be?

sagen, sondern nur Ordnungsformen des menschlichen Denkens sind; sicher aber w?re es nach dieser Auffassung, da? jedenfalls ohne

diese Prinzipien Naturerkenntnis ?berhaupt nicht m?glich w?re.

Wenn man Erkenntnis treibt, so mu? man den Stoff der Erfahrung nach gewissen Gesichtspunkten ordnen; darum mu? es unm?glich

scheinen, die bei der Ordnung benutzten Prinzipien jemals durch

Erfahrung zu widerlegen. Wenn wir etwa den Raum ausmessen, so m?ssen wir dabei Me?instrumente benutzen, f?r deren Kon?

struktion, f?r deren mechanische Herstellung bereits die euklidische

Geometrie vorausgesetzt wurde; darum erscheint es widerspruchs? voll, wollten wir durch Messung jemals die Geltung einer nicht?

euklidischen Geometrie begr?nden. Ebenso steht es mit den anderen

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Kategorien oder Grundbegriffen; wollen wir z. B. den Grundsatz

der Kausalit?t pr?fen, so m??ten wir dazu Experimente machen, f?r welche wir das Kausalprinzip bereits vorausgesetzt haben.

Darum scheint ein Widerspruch gleicher Art zu entstehen, wollten

wir jemals auf eine Ungesetzlichkeit der Natur schlie?en. Diese

auf Kant zur?ckgehende Begr?ndung f?r die Unwandelbarkeit ge? wisser Grunds?tze der Naturerkenntnis hat in der Philosophie eine

gro?e Rolle gespielt, und sie wird heute noch von der Mehrheit der

Philosophen vertreten. Die moderne Physik freilich hat mit ihrer

Entwicklung auch den WTeg zur Widerlegung dieses Gedankens

gefunden. Wenn wir Experimente machen, so spielt sich unsere Beob?

achtung stets in der Wrelt der mittleren Dimensionen ab; das gilt sowohl f?r die Erforschung der Weite des Himmelsraums, bei der

unsere Beobachtungsdaten schlie?lich Fernrohrbilder oder, noch deut?

licher, Photographien sind, und es gilt auch f?r die Wrelt der Atom?

dimensionen, die von uns erschlossen wird durch Messungen von

Druck und Temperatur, also Angaben von Instrumenten mittlerer

Gr??enordnung, oder auch durch photographische Bilder von

Flecken und Streifen, wie etwa bei der Kristalldurchleuchtung oder

den Wilsonschen Nebelstreifen. Wenn wir diese Beobachtungs? mittel gedanklich auswerten, so d?rfen wir dabei deshalb die Be?

griffswelt der mittleren Dimensionen benutzen. Wir k?nnen aber

trotzdem auf eine wesentlich anders strukturierte Welt in andern

Dimensionen schlie?en, wenn diese Welt derart strukturiert ist, da?

die Struktur f?r mittlere Dimensionen mit gro?er N?herung in die

alte Form ?bergeht. Um das gleich deutlicher zu zeigen: wir wissen,

da? die nicht-euklidische Geometrie sich in kleinen Bereichen von

der euklidischen Geometrie nicht nennenswert unterscheidet, wir

k?nnen deshalb, auch wenn f?r das Weltall im ganzen eine nicht?

euklidische Geometrie gilt, in der Gr??enordnung der astronomischen

Instrumente ruhig mit den euklidischen Grunds?tzen weiter rechnen,

ohne dabei einen merklichen Fehler zu machen. Es ist deshalb kein

Widerspruch, wenn wir unter der Voraussetzung der euklidischen

Geometrie im kleinen auf die Geltung einer nicht-euklidischen

Geometrie im gro?en schlie?en. Entsprechend liegt es bei dem

Schlu? auf die Welt im kleinen. Wir wissen, da? bei Massenerschei?

nungen von Elementarprozessen Gesetze von nahezu strenger Sicher?

heit resultieren, obgleich der Elementarvorgang selbst nur die Un?

sicherheit des Wahrscheinlichkeitsvorganges besitzt. Die Beobach

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Die philosophische Bedeutung der modernen Physik 5Q

tungen, welche wir von den Quantenvorg?ngen machen, vollziehen

sich aber wieder mit Hilfe von Instrumenten mittlerer Dimensionen, d. h. also mit Hilfe von Prozessen, bei welchen eine gro?e Zahl von

Elementarakten beteiligt ist; wir d?rfen deshalb f?r die Theorie

dieser Instrumente den strengen Kausalbegriff voraussetzen und

k?nnen trotzdem auf Abweichungen von der Kausalgesetzlichkeit im kleinen schlie?en, ohne damit einen Widerspruch zu begehen. So k?nnen wir etwa, wenn wir Interferenzerscheinungen im Fern?

rohr beobachten, den Strahlengang im Innern des Fernrohres nach

den strengen Gesetzen der geometrischen Optik berechnen, ohne

da? wir dabei auf den im Grunde quantenhaften Proze? der Licht?

ausbreitung mit seinen einzelnen St??en und seine Unregelm??ig? keiten R?cksicht nehmen; und es ist kein Widerspruch, wenn wir

auf Grund solcher Beobachtungen auf den Wahrscheinlichkeits

charakter des elementaren Quantenvorganges schlie?en. Auch wenn

wir auf die statistischen Vorg?nge in der kinetischen Theorie der

W?rme schlie?en, benutzen wir dabei Thermometer und Manometer, deren Ver?nderungen zwar in strenger Betrachtung nur Durch?

schnittsbildungen von Elementarprozessen bedeuten, von uns aber

als thermische und mechanische Prozesse im Sinne der makrosko?

pischen Physik behandelt werden.

Das Verfahren, welches die Physik zur Abwandlung ihrer Vor?

aussetzungen eingef?hrt hat, kann deshalb als ein Verfahren

stetiger Erweiterung bezeichnet werden. Es gelingt, f?r die Welt

des Gro?en und des Kleinen eine wesentlich andere Struktur auf?

zuzeigen, wenn diese Struktur so beschaffen ist, da? sie in der Welt

der mittleren Dimensionen mit der bisherigen Struktur nahe zu?

sammenf?llt. Dieses Zusammenfallen vollzieht sich f?r die Welt des

Gro?en dadurch, da? die bisherige Struktur als Infinitesimalprinzip

angenommen wird, d. h. als g?ltig f?r das Kleine. F?r die Welt

des Kleinen mu? dagegen gerade umgekehrt die bisherige Struktur

als Integralprinzip, d. h. als g?ltig f?r das Gro?e, angesetzt werden.

Der Riemannsche Aufbau der nicht-euklidischen Geometrie aus

dem Postulat der euklidischen Geometrie im Infinitesimalen, und

das Bohr sehe Korrespondenzprinzip, welches f?r gr??er werdende

Quantenzahlen einen allm?hlichen ?bergang des quantenhaften Atommodells in das klassische, d. h. das mittleren Dimensionen

nachgebildete, ausspricht, bedeuten typische Anwendungsformen dieses Gedankens. Und es lie?en sich noch viele Beispiele nennen.

In der Durchf?hrung des Verfahrens stetiger Erweiterung hat die

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6 o Hans Reichenbach

Physik eine virtuose Kraft begrifflicher Verallgemeinerung entdeckt, von der sie in ihren neueren Theorien st?ndig Gebrauch macht und

der sie die ?berraschend neuen Z?ge ihres Weltbildes verdankt.

IV.

Diese Aufkl?rung f?r die M?glichkeit, neue Grundbegriffe in

die Wissenschaft einzuf?hren, entwickelt zugleich eine gro?e Trag?

weite, wenn es sich darum handelt, die psychologischen Gr?nde f?r

die Unbedingtheitsanspr?che aufzudecken, mit welchen die alten

Grundbegriffe auftreten.

Denn es wird durch die geschilderten ?berlegungen deutlich, da? die ?lteren Grundbegriffe nur deshalb in dem Menschen ent?

stehen konnten, weil die Umwelt gewisse allgemeine Verhaltungs? weisen in sich tr?gt, die eine Anwendung dieser Begriffe nahe legen. So ist es eine Eigent?mlichkeit der starren K?rper, da? sie bei

Messungsoperationen in Gebieten mittlerer Dimensionen gewisse Ge?

setze befolgen, die Euklid dann als Axiome der Geometrie formu?

liert hat; die Vorstellung des euklidischen Raumes ist also aus der

Besch?ftigung mit Dingen der Umwelt entstanden, die entsprechende Gesetze in sich tragen. Ebenso ist auch der Begriff der strengen Kausalit?t durch die gro?e Regelm??igkeit nahe gelegt worden, welche sich in den raumzeitlichen Ver?nderungen makroskopischer

Materie, in der Mechanik also, zeigt. Wenn man dar?ber hinaus

diese Begriffe f?r das Gro?e und f?r das Kleine ebenso postulierte, so hat man falsch extrapoliert. Aber zu sagen, da? das Gro?e und

das Kleine f?r uns deswegen nicht begreiflich seien, weil es sich

den ?lteren Begriffen nicht f?gt, hei?t den Ursprung jener Begriffe in der physikalischen Welt verkennen, hei?t physikalische Tat?

s?chlichkeit irrt?mlich in Denknotwendigkeit umzudeuten. Unsere

sogenannten Grundbegriffe sind umweltbedingt; die t?glich wieder?

holte Anwendung hat sie zur Vertrautheit gebracht, und solche

Gew?hnung hat man f?r Denknotwendigkeit gehalten. Ist dies einmal erkannt, so steht nichts im Wege, da? eine

entsprechende Gew?hnung sich schlie?lich auch einmal f?r Begriffe anderer Art einstellt. W?rden wir in einer Umwelt leben, deren

starre K?rper die Lagerungsverh?ltnisse der nicht-euklidischen Geo?

metrie befolgen, so w?rde uns die nicht-euklidische Geometrie genau so anschaulich erscheinen wie die euklidische. Wir w?rden gelernt

haben, die Kongruenz anders als jetzt in den Raum hineinzusehen, und w?rden deshalb die Axiome einer Riemannschen Geometrie

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Die philosophische Bedeutung der modernen Physik 6l

ebenso aus der Raumanschauung herauslesen k?nnen, wie wir dies

heute f?r die euklidische Geometrie verm?gen. Und w?rden die

K?rper unserer Umwelt, wenn wir sie durch mechanische Kr?fte in

andere Lagen zu bringen versuchen, dabei nicht die strenge Gesetz?

m??igkeit der Mechanik, sondern die Zufallsgesetzlichkeit geschleu? derter W?rfel realisieren, so w?rden wir uns bald daran gew?hnt

haben, da? man nicht durch Herstellung gewisser Ursachen das

zuk?nftige Geschehen eindeutig vorschreiben kann, sondern dabei

nur auf Wahrscheinlichkeitserfolge hoffen kann.1) Es besteht des?

halb keine grunds?tzliche Schwierigkeit, die allgemeineren Begriffs?

gebilde der heutigen Physik in der gleichen Weise mit anschaulichem

Inhalt zu belegen, wie dies mit den Grundbegriffen der klassischen

Physik m?glich ist. Es geh?rt dazu nichts als das Ausmalen ent?

sprechender Umweltverh?ltnisse; denn es zeigt sich, da? f?r eine

Umstellung nicht einmal die Realisierung solcher Verh?ltnisse er?

forderlich ist, sondern da? das blo? vorstellungsm??ige Ausmalen

entsprechender Erlebnisse gen?gt, um die innere Umstellung zu voll?

ziehen. Wenigstens gelingt eine Veranschaulichung derartiger fremder Verh?ltnisse f?r den, dessen Vorstellungsverm?gen durch

abstraktes Denken hinreichend geschult und dessen Wille auf die

Umstellung fest eingestellt ist.

Die erkenntnistheoretische Kritik der sogenannten apriorischen

Begriffe lehrt also, wie wir erkennen, nicht nur die M?glichkeit ihrer logischen ?berwindung: sie lehrt zugleich den Weg f?r die

anschauliche Realisation von neuen Begriffen. Hier liegt der Kern?

gedanke, aus dem das Weltbild der neuen Physik konstruiert werden

mu?. Es ist nicht wahr, da? die Physik in ihren neuen Resultaten

unanschaulich sei; es gelingt, auch die Physik des Gro?en und des

*) Es ist gar nicht schwer, sich derartige Sachverhalte auszumalen. Man stelle

sich zum Beispiel vor, da? ein Stuhl, den wir mit der Hand nach bestimmter Richtung

dr?cken, nur manchmal an dem beabsichtigten Ort, gelegentlich aber auch an ganz

anderen Orten ankommen w?rde, oder da? etwa ein von einer Maschine getriebenes

Fahrzeug nicht eindeutig gesteuert werden k?nnte, sondern Zickzackkurven be?

schreiben w?rde wie ein Brownsches Teilchen unter dem Mikroskop. In einer solchen

Welt w?rde sich der Begriff der strengen Kausalit?t nicht entwickelt haben; aber

man h?tte gelernt, Mechanismen zu konstruieren, die wenigstens im Durchschnitt

mit einiger Wahrscheinlichkeit an ihr Ziel k?men. Dabei ist der Unterschied einer

solchen Welt gegen die unsere nur graduell. Auch unsere Fahrzeuge erreichen ihr

Ziel nicht immer; wir m?ssen uns mit Wahrscheinlichkeitsaussichten begn?gen, und

wenn der Grad der Wahrscheinlichkeit auch verh?ltnism??ig hoch ist, so bleibt doch

stets ein Rest von Versagern zu tragen? wie er in jener gedachten Welt nur in

gr??erem Umfange auftr?te.

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62 Hans Reichenbach

Kleinen anschaulich zu machen, wenn wir uns nur f?r die Welt der

mittleren Dimensionen Erlebnisse vorstellen, wie sie dem Verhalten

der K?rper in gro?en und kleinen Dimensionen entsprechen. Sind diese Gedanken zwar aus der Fachwissenschaft entstanden,

so sind sie doch noch nicht etwa in der Fachwissenschaft allgemein anerkannt. Vielmehr hat sich unter Fachwissenschaftlern die un?

gl?ckliche Vorstellung ausgebildet, da? Anschaulichkeit etwas sei, worauf man zugunsten der Exaktheit zu verzichten habe, da? An?

schaulichkeit sozusagen ein Bed?rfnis des Laien sei, von dem der

Fachwissenschaftler sich freigemacht haben m?sse. So haben denn

die Physiker auf ihrem Wege in die neue Begriffswelt hinein zahl?

reiche Verbotstafeln aufgerichtet, die an kritischen Stellen eine Ver?

anschaulichung verbieten und den Glauben erwecken sollen, da? die

eigentliche Physik nur noch aus mathematischen Formeln bestehe.

Dieses Verbotssystem hat sich f?r die Praxis zweifellos bew?hrt; es hat n?mlich verhindert, da? ?berkommene Anschauungen sich

mit unberechtigten Geltungsanspr?chen in die neue Begriffswelt

eindr?ngen. Die Konstruktion neuer Anschaulichkeit kann im all?

gemeinen erst einsetzen, wenn das begriffliche Ger?st gefestigt ist; es gibt einen Weg, traditionelle Anschauungen auf Begriffen gleich? sam zu umklettern und dann zu neuen Anschauungen vorzudringen.

Die Entwicklung der modernen Physik ist ein ?berzeugendes Bei?

spiel f?r dieses psychologische Faktum. Dennoch kann das System der Verbotstafeln nur provisorische Bedeutung besitzen; es bedeutet

ein Arbeitsprinzip, aber kein Endstadium, und es wird schlie?lich

doch ein Zustand erstrebt werden m?ssen, in dem alles ebenso ver?

anschaulicht werden kann, wie es begrifflich formulierbar ist. Und

man braucht sich nicht damit zu begn?gen, da? die ?nderungen der

Welt im gro?en und im kleinen den Bereich der mittleren Dimensionen

so wenig beeinflussen, da? hier die ?nderung von Anschauungs? bildern ?berfl?ssig wird; dies w?rde ?berhaupt keine echte Ver?

anschaulichung bedeuten, sondern vielmehr den Verzicht auf an?

schauliches Erfassen von Unterschieden, die sich erst in extremen

Dimensionen bemerkbar machen. Wir m?ssen schon deshalb an

einer weitergehenden M?glichkeit der Veranschaulichung festhalten, weil es nicht grunds?tzlich ausgeschlossen erscheint, da? jene ?nde?

rungen eines Tages auch die Welt der mittleren Dimensionen merk?

lich ergreifen. Das Ausmalen entsprechender Verhaltungsweisen f?r

die Welt der mittleren Dimensionen ist deshalb grunds?tzlich durch?

f?hrbar; aber es ist zugleich auch alles, was f?r eine Veranschau

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Die philosophische Bedeutung der modernen Physik 63

lichung gefordert werden kann, was sinnhaft ?berhaupt Anschaulich?

keit genannt werden kann.

Hier trifft sich die ?berlegungskette der Philosophie mit der

Tendenz des Laien, Wissenschaft aus einem Abstraktum mathema?

tischer Formeln zu dem Konkretum anschaulicher Erlebnisse zu

machen. Nicht diese Forderung des Ungelehrten ist es, die ihn von

der Wissenschaft trennt; denn die Forderung ist berechtigt ? nur

ihre Durchf?hrung sieht wesentlich anders aus, als der Ungeschulte

glauben m?chte. Und doch ist das Ausmalen m?glicher Erlebnisse

etwas so Anschauliches und ?berzeugendes, da? es auch den zu

gewinnen vermag, den Unkenntnis mathematischer Formeln von

der exakten Wissenschaft trennt. Geh?rt doch zu solcher Umstellung nichts als die Bereitschaft, die Erlebnisse der Tageswelt in ihrer

Situationsbedingtheit zu erkennen; eine Bereitschaft, welcher die

?berrasche Entwicklung moderner Technik schon erfolgreich vor?

gearbeitet hat. Wer, sei er Philosoph, sei er Physiker, die M?glich? keit zur Veranschaulichung der modernen Physik nicht zugibt, der

allein, und nicht die Physik, tr?gt die Schuld, wenn der Ungeschulte an die Tore der neuen Wissenschaft vergeblich pocht. In der Auf?

l?sung des Anschaulichkeitsproblems, wie sie in der neuen Natur?

philosophie vollzogen wurde, liegt deshalb die Quelle, aus der eine

Vereinigung von Wissenschaft und Tageswelt allein flie?en kann.

V.

Einen wichtigen Einwand der Apriorit?tsphilosophie m?ssen

wir noch widerlegen. Es mag sein, so wird argumentiert, da? die Physik die M?glich?

keit zur ?berwindung apriorischer Vorstellungen besitzt; aber hat

die Physik das Recht, von dieser M?glichkeit Gebrauch zu machen ?

Stellt sie nicht damit den Erkenntniswert ihrer Ergebnisse ?ber?

haupt in Frage? Erkenntnis bedeutet, so argumentiert man, nicht

die blinde Konstruktion eines Formelsystems, sondern Erkenntnis

bedeutet die Einordnung des Erkenntnisstoffes in vorgegebene feste

Formen, eben die apriorischen Kategorien; wenn die Physik diese

Kategorien au?er acht l??t, so sei ihr Ergebnis bestenfalls eine

praktisch brauchbare Fiktion, niemals aber die Antwort auf die

Frage nach dem Wesen der Welt, niemals eine echte Erkenntnis.

Man kann diese Auffassung dahin charakterisieren, da? es be?

sondere Wahrheitskriterien gibt, zusammengefa?t in einem System von Kategorien, deren Erf?llung in ihrer Gesamtheit dem physika

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64 Hans Reichenbach

lischen Weltbild erst Wahrheitscharakter verleiht. Aber diese Auf?

fassung beruht auf einem Irrtum, wie man leicht zeigen kann.

Es ist n?mlich apriori nicht vorauszusehen, ob das System von

Kategorien nicht in seiner fortgesetzten Anwendung auf Erfahrungs? best?nde schlie?lich zu Widerspr?chen f?hrt. Zwar wird es immer

Erfahrungsbest?nde geben, die mit dem System vereinbar sind; das

ergibt sich f?r uns schon aus der historischen Entstehung dieses

Systems als Denkform der Physik vergangener Jahrhunderte. Aber

was bewiesen werden m??te, ist eine sehr viel weitergehende Forde?

rung: n?mlich, da? das System mit allen denkbaren Wahrneh?

mungsbest?nden vereinbar ist. Erscheint ein derartiger Beweis in

v?lliger Allgemeinheit schon kaum m?glich, so ist es um so leichter, f?r einzelne F?lle den Gegenbeweis zu erbringen. Man braucht sich

nur eine Wahrnehmungswelt auszumalen, in der Widerspr?che auf?

treten, wenn man die Gesamtheit der apriorischen Begriffe fest?

halten will. Solche denkbaren Erfahrungsbest?nde sind konstruiert

worden; es l??t sich vor allem zeigen, da? f?r solche Erfahrungs? best?nde die Kategorien der normalen Kausalit?t und der euklidi?

schen Geometrie in Widerspruch treten. Der geschilderte Gedanke

der Apriorit?tsphilosophie, da? Erkenntnis wesenhaft an ein System von Kategorien gebunden sei, ist deshalb unhaltbar, weil er in Wider?

spr?che f?hrt.1) Aber wie ist es m?glich, da? die Erfahrung, und sei es in kon?

struierten Welten, so weitgehende Entscheidungen liefert? Erfah?

rung liefert doch stets nur vereinzelte Beobachtungsdaten. Besteht

da nicht die M?glichkeit, durch Einf?hrung verborgener Ursachen,

hypothetischer Kr?fte, das Kategorienschema zu retten? Es g?be in der Tat diese M?glichkeit, wenn die Naturerkenntnis nicht ?ber

ein Prinzip verf?gte, welches gestattet, solche k?nstlichen Annahmen

auszuschlie?en. Das ist das Prinzip der Induktion.2) Dieses Prinzip mu? freilich vorausgesetzt werden, wenn unser

obiger Beweis f?r die Widerspruchsm?glichkeit des Kategorien?

systems schl?ssig sein soll. Aber dieses Prinzip kann schlechterdings nicht entbehrt werden, denn es bedeutet das eigentliche Mittel f?r

den Wahrheitsentscheid der Wissenschaft. W?rden wir das Induk

x) F?r eine genauere Begr?ndung sei verwiesen auf die folgenden Schriften

des Verf.s: Relativit?tstheorie und Erkenntnis a priori, Berlin 1920, Springer, und

Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, Berlin 1928, de Gruyter, S. 83.

2) Genauer bezeichnet man diesen Schlu? auch als unvollst?ndige Induktion

im Gegensatz zur vollst?ndigen Induktion, die in der Mathematik vorkommt.

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Die philosophische Bedeutung der modernen Physik 65

tionsprinzip aufgeben, so w?rde damit Willk?r in die Wissenschaft

einziehen, und jede beliebige Behauptung ?ber die physikalische Natur mit vorliegenden Beobachtungen vereinbar sein.

Denn das Induktionsprinzip erlaubt erst den Schlu? von den

Tatsachen auf das allgemeine Gesetz. Wir beobachten etwa, da? ein

durch eine Drahtschleife geschickter Strom einen Magneten ablenkt, und schlie?en, da? dies immer der Fall sein wird; wir beobachten, da? bei allen uns bisher bekannten Vorg?ngen die Energie niemals

kleiner oder gr??er geworden ist, und schlie?en, da? die Energie in allen ?berhaupt vorkommenden F?llen konstant bleibt. Auch in

komplizierteren gedanklichen Verbindungen kann dieser Schlu? auf?

treten, wenn der Beobachtungsbefund in einen gr??eren theoreti?

schen Zusammenhang eingebettet ist und dadurch indirekt Voraus?

setzungen ganz anderer Art best?tigt. So beobachtet man die Licht?

ablenkung an der Sonne oder die Perihelverschiebung des Merkur und

sieht darin eine indirekte Best?tigung der Eins teinschen Behaup?

tung, da? f?r den Weltraum eine nicht-euklidische Geometrie gilt. Auch dies ist ein Induktionsschlu?, da hier von einem Beobachtungs? befund auf ein allgemeineres Gesetz geschlossen wird; nur ist dieses

Gesetz nicht einfach die Verallgemeinerung des Beobachteten auf

weitere ?hnliche F?lle, sondern der ?bergang auf ein tiefer liegendes Gesetz.

Ohne Benutzung des Induktionsprinzips w?re es allerdings nicht

m?glich, von Beobachtungen auf allgemeine Gesetzlichkeiten zu

schlie?en. Denn das im einzelnen Beobachtete k?nnte dann immer

Ausnahmefall sein; da? z. B. jedesmal, wenn in der Drahtspule der

elektrische Strom eingeschaltet wird, auch die Magnetnadel aus?

schl?gt, k?nnte ein zuf?lliges Zusammentreffen von Ereignissen sein, ohne da? damit ein Gesetz ausgesprochen w?re. So k?nnte es auch

ein Zufall sein, da? die von der Eins teinschen Gravitationstheorie

gelieferte Perihelverschiebung des Merkur gerade 43 Bogensekunden

betr?gt und damit genau soviel, wie die Astronomen unabh?ngig von der Eins teinschen Theorie gefunden hatten; oder es k?nnte

ein Zufall sein, da? die Spektrallinien der gl?henden Stoffe, soweit

man dies bisher beobachtet hat, gerade die Gesetzm??igkeit in sich

tragen, die von der Bohrschen Formel ausgesprochen wird. Aber

das glaubt nun einmal der Physiker nicht, ja, diese M?glichkeit scheint so absurd, da? kein Mensch sie ernsthaft in Betracht ziehen

w?rde; man glaubt nun einmal nicht an so sonderbare Zuf?lle, zu?

mal wenn die ?bereinstimmung nicht nur einmal, sondern, wie

Erkenntnis I. 5

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66 Hans Reichenbach

etwa bei den Spektrallinien, in zahlreichen F?llen beobachtet worden

ist. Es ist aber nichts anderes als das Prinzip der Induktion, was

hinter dieser Schlu?weise steht.

Man hat dagegen eingewandt, da? die Physik in zahlreichen

und gerade bedeutungsvollen F?llen die Entscheidung zwischen

widersprechenden Theorien nicht erst durch eine Anzahl von Beob?

achtungen f?llt, sondern schon durch ein einziges Experiment trifft.

So gen?gt nach dieser Ansicht etwa ein einziger Versuch, der die

Interferenz von Lichtwellen zeigt, zur Widerlegung der Newton

schen Emissionstheorie. Aber man erkennt bei tieferem Nachsehen, da? es sich hier nur um eine scheinbare Ausschaltung des Induktions?

prinzips handelt. Denn indem man der Versuchsanordnung die?

jenige Bedeutung beilegt, die man f?r das Resultat braucht, also

etwa den Durchgang des Lichts im Fernrohr nach den Gesetzen

der geometrischen Optik berechnet, oder die Zeigerangabe eines

Amperemeters als Ma? der elektrischen Stromst?rke benutzt, hat

man bereits das Induktionsprinzip f?r ?ltere Erfahrungsbest?nde

vorausgesetzt. Es gibt eine Reihe von prim?ren Erfahrungsbest?nden, die auf Grund der Induktion einen so hohen Grad von Wahrschein?

lichkeit f?r eine bestimmte zugeh?rige Deutung gewonnen haben, da? wir sie nur einmal zu realisieren brauchen, um dann eine hohe

Wahrscheinlichkeit f?r das Vorliegen der zugeh?rigen Deutungs?

behauptung zu besitzen. Das experimentum crucis kann sich des?

halb mit einer einmaligen Realisierung begn?gen, weil f?r seine

Deutung eine Reihe von prim?ren Deutungen seiner Komponenten

zugrunde gelegt werden kann; aber in diesen prim?ren Deutungen steckt wieder das Induktionsprinzip. Und genauer betrachtet, zeigt sich das Auftreten des Induktionsprinzips noch einmal, sowie es

sich darum handelt, im Experiment quantitative Angaben zu ge?

winnen. Denn f?r die Ausschaltung der Beobachtungsfehler, die

nur auf statistischem Wege erfolgen kann, ist eine gro?e Menge von

Messungen n?tig. Ein moderner physikalischer Versuch sieht des?

halb wesentlich anders aus, als der Laie sich vorstellt. Das ber?hmte

Experiment von Michelson, ein Musterbeispiel f?r ein experi? mentum crucis, st?tzt sich in seiner neueren Ausf?hrung auf

5000 Einzelbeobachtungen; der ?eine" Versuch bedeutet also in

Wirklichkeit 5000 Versuche. In der Anwendung der Fehlertheorie

dr?ckt sich deshalb das Induktionsprinzip noch einmal wieder

aus; es ist hier nur in den schmalen Bereich der Genauigkeits?

regulation hineingeraten, weil der gro?e Bereich weiterer M?glich

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Die philosophische Bedeutung der modernen Physik 67

keiten durch die prim?ren Induktionen in den prim?ren Versuchs?

komponenten bereits ausgeschlossen wird.

Wir wollen an dieser Stelle die Bedeutung des Induktions?

prinzips nur aufzeigen, k?nnen dagegen nicht in die Untersuchung der Frage eintreten, woher die Wissenschaft das Recht f?r den

Induktionsschlu? nimmt. Es handelt sich hier um eins der schwie?

rigsten Probleme der modernen Naturphilosophie; das folgende Heft

der Zeitschrift wird Ausf?hrungen des Verfassers zu diesem Problem

bringen. Hier sei nur betont, da? das Induktionsprinzip von der

gesamten Wissenschaft r?ckhaltlos anerkannt wird, und da? es

keinen Menschen gibt, der dieses Prinzip, auch f?r das t?gliche Leben, ernstlich bezweifelt.

Wir nannten das Induktionsprinzip den Schritt von den Tat?

sachen zu dem allgemeinen Gesetz. Aber worin besteht der An?

spruch auf Allgemeingeltung, der mit den Naturgesetzen verbunden

wird ? Die Naturwissenschaft ist fern davon, unter Allgemeingeltung

irgendeinen geheimnisvollen Anspruch von metaphysischer Not?

wendigkeit zu verstehen. Wenn sie einem Gesetz Geltung zusprechen

will, so soll dies nichts anderes hei?en, als nur das eine, da? das

Gesetz Schl?sse zul??t auf zuk?nftige Wahrnehmungen. Dieser

Schlu? kann von sehr einfacher Form sein; wenn z. B. die Ablenkung der Magnetnadel durch den elektrischen Strom ein Gesetz genannt

wird, so besagt dies, da? nicht nur bei den bisherigen Beobachtungen, sondern auch bei allen zuk?nftigen Beobachtungen das Zusammen?

treffen der beiden Ereignisse ?Einschalten des elektrischen Stroms"

und ?Ausschlagen der Magnetnadel" stattfinden wird. Wenn wir

vorher sagten, da? dieses Zusammentreffen kein zuf?lliges sein

k?nnte, so ergibt sich hierdurch die n?here Bestimmung dieses

Begriffs: da? hier kein Zufall, sondern ein Gesetz vorliegt, soll nichts

anderes hei?en, als da? das Zusammentreffen sich immer wieder?

holen wird. Und entsprechend liegt es bei komplizierteren Zu?

sammenh?ngen. Wenn die Geltung der nicht-euklidischen Geometrie

in astronomischen Bereichen behauptet wird, so besagt dies, da?

nicht nur die beobachteten Erscheinungen der Lichtablenkung und

Perihelverschiebung des Merkur zutreffen, sondern da? auch eine

Reihe anderer Erscheinungen zutrifft, die man aus dem Begriffs? kreis der nicht-euklidischen Geometrie berechnen kann, bisher aber

noch nicht direkt pr?fen konnte. Der Geltungsanspruch natur?

wissenschaftlicher Gesetze besteht also in einer Prophezeiung, und

das Induktionsprinzip, auf welches sich der Geltungsanspruch st?tzt,

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68 Hans Reichenbach

bedeutet deshalb nichts anderes als den Schlu? vom beobachteten

Fall auf unbeobachtete F?lle.

IV.

In nichts pr?gt sich die antimetaphysische Haltung der modernen

Naturwissenschaft so sichtbar aus, wie in dieser Auffassung des

Geltungsproblems. Es kommt der Naturforschung nicht darauf an,

Erfahrungen in ein bestimmtes, von der Vernunft vorgegebenes Schema zu pressen, wie etwa Kant geglaubt hatte; es kommt ihr

nicht darauf an, die Beobachtungen in Raum und Zeit einzuordnen

oder unter dem Zwang eigent?mlicher Begriffsbildungen wie Sub?

stanz und gesetzlicher Notwendigkeit zusammenzufassen, sondern

es kommt ihr allein darauf an, aus beobachteten Erfahrungen zu?

k?nftige zu prophezeien. Weil sie nichts weiter will als dieses, ist

die moderne Naturforschung in der Lage, auf den Ballast alther?

gebrachter Vorstellungen zu verzichten, mit dem der historische

Entwicklungsgang das Denken angef?llt hat. Um diesen ent?

scheidenden Schritt ist das Weltbild des t?glichen Lebens noch

hinter dem der Wissenschaft zur?ck. Wenn das Weltbild des t?g? lichen Lebens angef?llt ist von bildhaften Beschreibungen, in denen

die Natur nach dem Wesen des Menschen konstruiert wird, wenn man

etwa die Kraft einer angespannten Feder der Anspannung eines

Menschen vergleicht, der eine schwere Last emporschleppt, wenn

man die Einordnung des fallenden Steins in das galileische Fall?

gesetz der Einordnung des Menschen in Polizeigesetze vergleicht, wenn man das Licht als einen feinen und farbigen Stoff ansieht, sowie er unserem Auge erscheint, so sind das Ausf?llungen von

Naturgesetzen mit Anschauungsinhalten, die aus andern Erlebnis?

zusammenh?ngen zu Unrecht auf die physikalische Welt ?bertragen sind. Auf solche unberechtigte Extrapolation zu verzichten, ist die

Grundforderung, die an jeden zu stellen ist, der das physikalische Weltbild begreifen will. Man mag diese Entmenschlichung der Natur

bedauern, man mag sie eine Entseelung nennen und die physikalische Natur deshalb lebensfern und uninteressant ? das sind Begriffe, an die sich der Physiker nicht kehrt, weil sie die Naturforschung mit

Ma?st?ben messen, die aus der Welt des Dichters und Malers ge? nommen sind, und deshalb eine Bedeutung auch nur f?r eine andere

Sph?re besitzen. Es mu? vielmehr als eine Angelegenheit intellek?

tueller Sauberkeit anerkannt werden, da? solche Ma?st?be auf wissen?

schaftliche Forschung nicht anwendbar sind; und gerade der k?nst

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Die philosophische Bedeutung der modernen Physik 6Q

lerisch empfindende Mensch sollte die Kraft zu solcher Reinigung in sich aufbringen

? ist doch k?nstlerisches Schaffen von einer

moralischen Reinigungskraft ?hnlicher Art durchzogen. Solche Ab?

lehnung gef?hlsbetonter Einstellungen in der Naturerkenntnis be?

deutet nicht, da? wir der Welt des K?nstlers ihren Wert absprechen

wollen; es hei?t vielmehr nur, da? wir es ablehnen, Begriffe des

K?nstlers in eine Sph?re zu tragen, in die sie nicht geh?ren. Das

k?nstlerische Erfassen der Natur tr?gt seinen Wert in sich; daf?r

vermag es jedoch gerade das nicht zu leisten, was die Wissenschaft

vermag: n?mlich die Voraussage k?nftiger Ereignisse. Wir nannten diesen Grundzug einen antimetaphysischen; wir

k?nnen ihn auch eine Entg?tterung der Natur nennen. Die alten

V?lker haben sich die Natur durch Hinzudenken von G?ttern und

D?monen belebt, sie konnten sich das Zustandekommen von Natur?

vorg?ngen eben nicht anders denken als nach dem Bilde menschen?

?hnlicher Wesen, die das Geschehen regieren und deren Willens?

zusammenh?nge uns als Naturgesetze erscheinen. Ist dieses poly? theistische Weltbild der naiven V?lker auch schon seit langem

?berwunden, so bedeutet die Erf?llung der Naturwissenschaft mit

Begriffsbildungen metaphysischer Art im Grunde doch nichts

anderes. Auch der Raum- und Zeitbegriff, der Substanzbegriff, der

Kraft- und Gesetzesbegriff der Metaphysik, alle in ihrer unverkennbar

anthropomorphen Herkunft, bedeuten heute nur noch bildhafte Zutat, die in keinem Zusammenhang steht mit den Erlebnissen, auf die die

physikalische Erkenntnis wirklich gest?tzt ist. Nur diese Erlebnisse

aber, und ihre Ordnung zum Zusammenhang einer vorausschauenden

Theorie, machen den Inhalt moderner Naturforschung aus. Viel?

leicht gibt es keine gr??ere Revolution in der Geschichte der Mensch?

heit als diesen allm?hlichen ?bergang von der G?tternatur der

Primitiven ?ber die metaphysische Natur der Philosophen bis zu

der n?chternen Natur der heutigen Physik, in der es nur noch Tat?

sachen und begriffliche Zusammenh?nge zwischen Tatsachen gibt. Freilich sieht ein solches Weltbild anders aus als das Weltbild

des t?glichen Lebens; aber es ist doch nur ein gradueller, nicht ein

prinzipieller Unterschied. Denn das letzte Kriterium wissenschaft?

licher Wahrheit, der Erfolg in der Voraussage k?nftiger Ereignisse, ist ebenso f?r das t?gliche Leben letzte Wurzel aller erkenntnis?

m??igen Stellungnahmen; es gibt keine Behauptung, keinen Glauben, die sich im t?glichen Leben halten k?nnten, wenn sie nicht durch

das Zutreffen best?tigender Erlebnisse gest?tzt w?rden. Es gibt

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7? Hans Reichenbach

deshalb nicht zwei Welten verschiedener Erkenntnisarten, sondern

es gibt nur eine Wahrheit, und ihre Forderung bestimmt in gleicher Weise das Verhalten des Gelehrten und des Ungelehrten. Wenn

die Anerkennung dieses Wahrheitskriteriums die Wissenschaft zu

so ver?nderten Aussagen ?ber die Welt zwingt, so verbindet sie

mit dem Glauben an die neuen Einsichten die ?berzeugung, da?

prinzipiell jeder zu dem gleichen Resultat kommen w?rde, der mit

gleicher Gr?ndlichkeit, gleichem Ernst und gleicher Unvorein

genommenheit die Erlebnisse der Erfahrung zu begreifen sucht.

Und wenn der Weg der Wissenschaft dabei ein Weg der Er?

n?chterung war, ein Weg, dessen Entfernung von traditionellen

Phantasiewelten nicht ohne moralische Kraft ertragen werden

konnte, so liegt gerade darin ein Zug, der sich in gleicher Form in

dem Entwicklungsproze? wiederfindet, den das Weltbild des Tages? menschen seit einiger Zeit mit soziologischer Notwendigkeit durch?

l?uft. Denn die Entseelung und Entzauberung der Welt ist Grundzug nicht nur der Naturforschung, sie ist zugleich Grundzug unseres t?g? lichen Daseins, ist die Kategorie, unter der wir unsere Gegenwart zu

sehen haben. Man mag auch hier den Verlust von Gef?hlswerten be?

dauern, wie sie die naive und technisch noch nicht rationalisierte Welt

fr?herer Jahrhunderte ausf?llten; aber man gewinnt sie dadurch

nicht zur?ck, so wenig, wie man in den Jahren der Reife die Kindheit

zur?ckzaubern kann. Wer aber genug Lebenskraft in sich f?hlt, die Gegenwart zu bejahen, der wird auch angesichts einer ern?chterten

Welt nicht den Blick in die Vergangenheit richten. Was unser

Wissen von der Welt anbetrifft, so gilt f?r uns nichts als die Wahrheit; nicht aber k?nnen uns ressentiments ?berholter Gef?hlsbest?nde

binden. Und was die Gef?hle anbetrifft, so gibt es noch genug,

worauf wir sie richten, wodurch wir ihnen Ausdruck schaffen k?nnen.

Nicht das theoretische Weltbild, das Leben selbst sei es, wohin

Gef?hle ihre Form pr?gen. Und hier scheint sich deshalb die gleichsam moralische M?g?

lichkeit zu er?ffnen, da? auch der Nichtwissenschaftier in seinem

Weltbild den entscheidenden Schritt tut, der ihn bisher von der Welt

der neuen Physik trennte. Der Zusammenbruch traditioneller Ge?

f?hlswelten ist heute das Problem f?r das Leben jedes Einzelnen,

f?r das Leben des Tages, und die physikalische Wissenschaft, so

sehr ihre Wendung logischer Kritik entsprang, vollzieht darin nichts

anderes als ihre Eingliederung in eine soziologische Tendenz unserer

Zeit. Der Einsturz des Systems apriorischer Kategorien und ihr Er

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Die philosophische Bedeutung der modernen Physik 71

satz durch das n?chterne Prinzip der Induktion, durch das Postulat

der Prophezeibarkeit, bedeutet die klarste Spiegelung von Erlebnis?

situationen des Tages, und es sind dieselben K?mpfe zwischen

?berkommener Lehre und neuen Erfahrungen, die hier wie dort

gef?hrt werden. Wer das einmal begriffen hat, der hat die Zwei?

weltentheorie ?berwunden. Es ist ja nicht wahr, da? die Fachwissen?

schaft eine fremde Welt, eine unpers?nliche Welt ohne Erlebnis?

grundlagen sei. Wer die Physik nur von weitem kennt, wer nur

fremde Namen in ihr h?rt und mathematische Formeln, der wird

freilich zu der Ansicht kommen, da? sie eine Angelegenheit der

Gelehrten allein sei, mit Scharfsinn und Klugheit aufgebaut, aber

ohne Bedeutung f?r Menschenkreise anderer Interessen, anderer

Fragestellungen. Nichts hie?e jedoch, die Physik mehr verkennen, als solches Abprallen an der harten Schale der Fachbegriffe, mit

denen sie sich ummauert hat. Wem es gelingt, hinter diese Mauer

zu blicken, der wird dahinter eine Wissenschaft voll lebendiger

Fragestellungen erkennen, voll innerer Bewegtheit und voll der

gro?en Spannung, Antwort zu finden auf die Fragen des Erkenntnis

suchenden Geistes. Wenn diese Antwort auch ganz anders aussieht, als man urspr?nglich vermutet hatte, so ist sie darum nicht weniger

wert; im Gegenteil bedeutet es eine der allergr??ten Leistungen, da? hier mit dem Inhalt des Naturwissens zugleich neue Formen

f?r das gedankliche System geschaffen wurden, in dessen Rahmen

die Natur durch den Erkenntnisvorgang eingespannt wird. Und

vielleicht darf man es als das gr??te Resultat moderner Natur?

erkenntnis ansehen, da? das Weltbild, zu dem sie gef?hrt hat, zu?

gleich ein neues Bild vom Menschen als denkendem Geist ans Licht

gestellt hat: denn die Naturwissenschaft hat uns gelehrt, da? Ver?

nunft nicht ein starres Ger?st logischer Schubf?cher, da? Denken

nicht die ewige Wiederholung ?berkommener Normen bedeutet, sondern da? der Mensch mit der Erkenntnis w?chst und in sich die

M?glichkeit zu Denkformen tr?gt, die er auf fr?herer Stufe noch

nicht zu ahnen vermochte.

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