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Spalentor VerlaG Johanna Dettwiler-Minder Herbert Blaser Anekdoten und Erinnerungen aus dem berühmten Kleinbasler Lokal Schluuch-Geschichten

Schluuch - Buch

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Geschichten aus dem Kleinbasler Milieu

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Johanna Dettwiler-MinderHerbert Blaser

Anekdoten und Erinnerungen aus dem berühmten Kleinbasler Lokal

Schluuch-Geschichten

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Impressum

Schluuch-Geschichten Anekdoten und Erinnerungen aus dem berühmten Kleinbasler LokalJohanna Dettwiler-Minder, Herbert BlaserISBN: 978-3-908142-49-2

© 2011 by Spalentor Verlag AG, Basel

Gestaltung, Realisation und Produktion: Spalentor Verlag AG.

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Johanna Dettwiler-MinderHerbert Blaser

Anekdoten und Erinnerungen aus dem berühmten Kleinbasler Lokal

SPALENTOR VERLAGDER BASLER VERLAG

Schluuch-Geschichten

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Inhalt

Zur Geschichte des ‹Alten Schluuch› 7

Beziehungen:

Am Anfang stand die Hochzeit 9

Dieter und Imbi, in memoriam 13

Schicksalsgemeinschaft:

Die Beziehung und das Geschäft 17

‹The old pipe› 21

Fricker, in memoriam 23

Milieu: Freude und Leid ‹uff dr Gass› 26

Jean-Paul ‹Bebbele› 30

Das Abstrakte und das Reale 34

Die Tränen der Gasse für Abbi, in memoriam 38

Drogen: Die Mutter der Gasse 41

Im Fegefeuer der Eitelkeiten 45

«Ich sah die besten Köpfe»: Albi – in memoriam 49

Bohème / Kunst und Kultur: Wandel eines Quartiers 53

Vier Elemente und... 62

Eiskompressen und Bremsspuren 62

Blondie, in memoriam 65

Schicksalswege: Die Stühle 68

Abschied 70

Die Geschichte des ‹alten Schluuch› erzählt Johanna Dettwiler-Minder.

Die Geschichten aus dem ‹alten Schluuch› erzählt Herbert Blaser.

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Zur Geschichte des ‹zem alte Schluuch›

«Geschichte im allgemeinen Sinn bezeichnet alles, was

geschehen ist. Im engeren Sinne bezeichnet Geschichte

die Entwicklung der Menschheit. So wird auch von der

Menschheitsgeschichte gesprochen. Dabei wird Ge schich te

immer synonym mit Vergangenheit gebraucht. Da ne ben

bedeutet Geschichte aber auch die Betrachtung der Ver -

gan genheit im Gedenken, im Erzählen und in der Ge -

schichts schreibung.»

So lautet die Definition des Wortes ‹Geschichte› im Duden,

deshalb entstand dieses Buch. Alle Episoden des Buches sind

der Vergangenheit und dem Vergessen entrissen, zusam-

men geben sie ein Bild über Menschen und ihre Zeit, ein

Mosaikfluss des Lebens und der Vergangenheit, der

schluss endlich in unsere Gegenwart und in unsere Iden -

tität mündet. Diese Streiflichter aus Kleinbasel sollen die

Worte Dürrenmatts bekräftigen, dass das Grosse und

Allgemeingültige im Kleinen und Lokalen entdeckt wer-

den muss.

Die geschichtlichen Daten zum ‹alte Schluuch› stammen

aus dem Staatsarchiv. Sie sollen dieses Buch einleiten:

Greifengasse 6 (aus den akten des Staatsarchivs)

Das Haus ist ab 1417 mit den Namen ‹Blotzheim›, ‹Zum

Blotzen› oder ‹Zum Blotzheim› in den Schriftquellen

erwähnt; 1417 verkaufte ein Cunrat Tschan zusammen

mit seiner Familie das Haus an einen Verwandten namens

Ulli Schan (Tschan), von Beruf Kübler. Aus der Erwähnung

11417 darf abgeleitet werden, dass schon vor diesem

Jahr ein Gebäude bestand. Der ursprüngliche Besitz, der

1284 in den Akten ein erstes Mal auftaucht, umfasst die

Par zellen der heutigen Häuser Greifengasse 4–14 und

Rheingasse 1–3. Diese Grossparzelle gehörte einem Hein -

rich Emerach. 1308 ging ein ‹Haus Emerach bi dem Sode›

durch Schenkung in den Besitz des Klosters Klingental

über. Je ein Sod befand sich bei Greifengasse 4 und 14.

1311 schenkte das Kloster das ‹Ortshaus›, d.h. das dama-

lige Eckhaus an Bürger und Rat Kleinbasels. Wie gross die

Häuser waren, ist unbekannt.

Bis 1858 war das Haus ‹zum Blotzheim› im Besitz von

Handwerkern. Erwähnt sind Schlosser, Schuhmacher, Ho sen -

stricker, Zinngiesser, Schneider, Gerber, Uhrmacher, Fer -

ger (Schiffs- oder Fuhrleute), auch ein Schneider und ein

ehrenamtlicher Bläser auf dem Martinsturm. 1858 wurde

das Haus vom Wirt Friederich Madöry erworben. Er richte -

te im Erdgeschoss eine Gastwirtschaft ein. Im Brand -

lagerbuch, das seit 1807 geführt wird, ist das Haus nur

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summarisch charakterisiert, so z.B. 1809: «Wohn be hau sung

und Hofstatt samt Höflein dahinter».

Die erste mehr detaillierte Beschreibung von 1830 lautet:

«Behausung in Mauern mit 3 Stockwerken und getröm-

tem (balkengedecktem) Keller, Angebäude mit Kammer,

worunter Waschofen, in Riegel».

In einer Neuschatzung von 1858 – dem Jahr, als Madöry

das Haus übernahm – wird ein Umbau festgehalten:

«Erhöhung um ein Stockwerk, Errichtung von Zimmern,

Küchen, Kammern und neuer Treppe». – In der bauge-

schichtlichen Untersuchung konnte bestätigt werden,

dass Teile der Inneneinrichtung und der Dachstuhl aus

jener Zeit stammen.

Die ältesten erhaltenen Baupläne des Hauses stammen

von 1884 und 1888. 1884 erfolgte die Einrichtung einer

Drechslerwerkstatt im Hof. Zugleich wurde zugunsten der

Fläche in der Wirtschaft erstmals eine Mauer im Erd ge -

schoss ausgebrochen.

Die letzten Planunterlagen des Staatsarchivs belegen den

Abort- und Pissoirumbau von 1939, sie zeigen den 1991

angetroffenen Zustand dieser Anlagen. 1945 wurde das

Haus durch den Technischen Arbeitsdienst zeichnerisch

vollständig neu aufgenommen. Die Küche im 1. Stock wur -

de erst in jüngerer Zeit, nach dem ersten Weltkrieg ein-

gerichtet.

Greifengasse 6 ... aus der Datierung: Für sieben der ent-

nommenen Holzproben konnte einheitlich das Jahr 1421

als Fälldatum bestimmt werden. Daraus folgt, dass dieses

spätgotische Haus 1422 oder im Jahr darauf erstellt

wurde – eine längere Lagerung des Bauholzes war nicht

üblich. Durch diese Datierung wird auch das Alter der

oben beschriebenen Mauer 1 zumindest auf die Zeit vor

1422 eingegrenzt.

Im 2. Obergeschoss wird die vordere Decke im 17. oder

frühen 18. Jahrhundert mit einer Rankenbemalung ver-

sehen. Die schöne Decke, mit schuppenartig abgeordne-

ten, alternierenden grauen und ocker- rosafarbigen

Blättern an den Balkenseiten, wurde beim Umbau des

vergangenen Jahrhunderts nicht geschont, so dass heute

nur noch etwa ein Viertel der bemalten Deckenbretter

vorhanden ist.

Der Text entstammt der baugeschichtlichen Unter su chung

zur Abklärung über den Status einer Schon- oder Schutz -

zone der Denkmalpflege.

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Beziehungen: Am Anfang stand die HochzeitWenn das Wort ‹Geschichte› im engeren Sinn die Ent wick -

lung der Menschheit bezeichnet, so wird diese Ent wick lung

immer von Beziehungen geprägt. Zwingend. Die Be zie -

hung im Allgemeinen ist in jedem Fall der Angelpunkt für

eine veränderte Geschichte – um nicht zu sagen, der Grund

für die Geschichte überhaupt.

So auch im ‹alte Schluuch›, aber lassen wir Johanna

Dettwiler-Minder zu Worte kommen:

«Mein Mann Ernst Dettwiler hat das kleine Restaurant

an der Greifengasse 1947 übernommen. Das waren fünf

Jahre vor dem Datum, als wir geheiratet haben. Zu dieser

Zeit kannte er mich noch nicht. Er lebte als Junggeselle,

als ich ihn zum ersten Mal getroffen habe.

Für die Gäste des ‹alte Schluuch› war unsere Beziehung

geheimnisvoll. Die Gerüchteküche brodelte sofort. Grund -

sätzlich gab es zwei Meinungen zu meiner Person: Die

einen sagten, ich sei eine Pfarrerstochter; für die anderen

war ich eine junge Prostituierte aus Bern. Man muss ver-

stehen, dass unser Kleinbasel wie ein Dorf funktionierte.

Schon damals hiess es: «Jawohl, der Aschi übernimmt die

Baiz», oder «Jawohl, der tut dies und das.» Alle redeten

über jeden. Kein grosser Unterschied zu heute, trotzdem

war die Beachtung des Einzelnen noch ausgeprägter, noch

intensiver, speziell wenn er mit ‹g’schäften› anfing.»

In Tat und Wahrheit stammt Johanna Minder aus einer

gutbürgerlichen Kaufmannsfamilie aus Gsteigwiler bei In -

ter laken. Ihr Vater handelte mit Textilien und besass zwei,

drei Liegenschaften, vor allem aber auch das Hotel ‹Schön -

fels› in Gsteigwiler. Gleich vis à vis steht heute noch das

prächtige Haus ‹Sunnegg› der Familie Minder. Das Hotel

wurde inzwischen zu einem Internat umgebaut.Der zweite

Weltkrieg brachte allen Menschen harte Zeiten. Wegen dem

Krieg kam die Textilindustrie ganz zum Erliegen. Das traf

auch die Familie Minder. Selbst das Hotel konnte nicht von

der Anwesenheit des Militärs im Reduit in den Schweizer

Bergen profitieren, die Holzbrücke in Gsteig war zu schmal

und zu schwach für die schweren Militärfahrzeuge. So

wurde der Gürtel enger geschnallt, trotzdem blieb für die

Familie der bürgerliche Status erhalten. Der Mann der

Schwe ster war seines Zeichens Arzt in Oberdorf in Basel -

land. So möge man sich vorstellen: die Tochter eines Kauf -

man nes und die Schwägerin eines Arztes sollte von einem

Kleinbasler Kneipenwirt geehelicht werden. Von einem

Kneipenwirt, dessen Gäste die junge Frau im horizontalen

Gewerbe vermuteten. Oder nahe bei Gott – auf jeden Fall

war die Geschichte viel versprechend.

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«Ich erinnere mich genau an die erste Begegnung mit Ernst.

Wir waren mit meinem Schwager Hans Minder-Minder im

Hotel ‹Drei Könige› nachtessen, als dieser eröffnete, ein

Cou sin von ihm hätte in Kleinbasel eine Baiz, wir sollten

ihn besuchen. Wir überquerten die Mittlere Brücke und

gleich nach der Kreuzung war der Eingang zum Re stau -

rant. Bis auf einen Gast war das Restaurant leer, da stan-

den aber schwere, schöne Eichentische. Der Wirt empfing

uns, er war eine robuste Erscheinung mit kräftigen Hosen -

trägern. Hätte mir zu diesem Zeitpunkt jemand gesagt, ich

würde seine Frau und die Wirtin in diesem Haus, ich wäre

in Ohnmacht gefallen.»

Nicht so der Wirt und Junggeselle Ernst Dettwiler. Er

machte sich auf und in Zukunft sah man ihn öfters als Gast

im Hotel ‹Schönfels› in Gsteigwiler. Als die Häufigkeit der

Besuche auffiel, dachten die Eltern von Johanna, Ernst

würde wegen der jungen Serviertochter Bruni die lange

Fahrt auf sich nehmen. Aber weit gefehlt: «Er hat mich

zum Nachtessen eingeladen, er war sehr charmant, er brach -

te mir Blumen und er war ein sehr interessanter Mann. Ich

Die Eltern von Johanna Minder vor deren Hotel, 1949

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habe mich verliebt», so Johanna Dettwiler-Minder. «So kam,

was kommen musste – wir heirateten 1952, obwohl mein

Mann 22 Jahre älter war als ich. Hätte mein Schwa ger

meinen Eltern nicht zugesprochen, die Hochzeit wäre nie

zustande gekommen. Er tat es, die Eltern haben ja gesagt,

wir haben geheiratet. Aber zuerst musste mich Ernst der

Brauerei vorstellen.

Was heute wie ein schlechter Witz klingt, war damals

Pächterpflicht. Der Wirt musste im Wirtshaus wohnen, wenn

er heiratete, durfte das nicht ohne Genehmigung der Lie -

gen schaftsverwaltung geschehen. Wenn der Partner nicht

überzeugend war, dann konnte je nachdem gekündigt wer-

den. Gott und der Verwalter mussten die neue Verbindung

segnen. Im Fall ‹alte Schluuch› war die Liegen schafts ver -

waltung eine Actienbrauerei im Gundeli.

Wir erhielten die Einladung zu einem Nachtessen im ‹gol-

dige Stärne› in der Aeschenvorstadt. Herr Hauser, der Lie -

gen schaftsverwalter, kam mit seiner Frau. Wir verbrach-

ten einen angeregten und angenehmen Abend. Am Schluss

sagte mir Herr Hauser: «Fräulein Minder, sie passen über-

haupt nicht in den ‹Schluuch›. Aber wenn ich Euch sehe,

dann bin ich überzeugt, dass Ihr es schaffen werdet. Die

Zukunft sollte zeigen, dass er Recht behielt. Aber ich hatte

bestimmt keine Ahnung, was da auf mich zukam.»

Die Gesetze waren hart, in jenen Tagen. Ein Pachtbetrieb

durfte keine Betriebsferien machen, die Öffnungszeiten

des Restaurants wurden zudem streng überprüft. Zu spät

öffnen hiess, eine zünftige Rüge einfangen. Das waren

keine idealen Voraussetzungen für ein frisch vermähltes

Paar. Dementsprechend haben die Freunde von Johanna

der neuen Verbindung nicht mehr als ein Jahr Dauer ein-

geräumt, die Freunde von Ernst sagten gar, diese Ehe sei

der Blödsinn seines Lebens. Aber die beiden haben im Som -

mer 1952 trotzdem geheiratet. Johanna beendete die Sai -

son im ‹Schönfels›, erst dann kam sie nach Basel. Damals

war sie bereits schwanger. Das ist übrigens der Grund,

dass Johanna Dettwiler heute, nach 53 Jahren, von einer

Frau angesprochen wurde, weil diese dachte, der erstgebo-

rene Sohn von Ernst und Johanna sei nicht ein gemeinsa-

mes Kind gewesen. So ist das halt, im engen Gerede einer

dorfähnlichen Kleinstadt.

Dementsprechend prägnant ist die Erinnerung Johannas

an den Moment, wo sie als verheiratete Frau Dettwiler-

Minder zum ersten Mal den Leuten in der Gaststube vor-

gestellt worden war:

«Die Baiz war gerammelt voll. Hinten sassen die Pro sti tu -

ier ten. Damals verkehrte das horizontale Gewerbe in den

Restaurants. Die Strasse war für Frauen auf dem ‹Waggel›

verboten, wurden sie aufgegriffen, drohte die Sitte mit Ar -

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beits- und Erziehungshaft in Hindelbank. So dienten die

Gasthäuser als Ruheräume, Kontaktstellen oder Ver pfle -

gungs möglichkeit. Entsprechend bunt und laut war die

‹Gastig› im ‹Schluuch›.

Als ich den Raum betrat, drehten sich alle um und ver-

stummten. Es war still. Es war dermassen still, dass ich

dachte, diese Leute werden mich nie akzeptieren. Ein Gast

sagte mir später: «Du warst wie eine Ausserirdische. So

einen Moment habe ich nie mehr erlebt. Diese Stille. Ich

habe mich gefreut, ich habe das sehr genossen.»

Wie dem auch sei, wir haben wenige Jahre später die

Liegenschaft ‹zem alte Schluuch› gekauft und als

Wirtepaar geführt. Aber am Anfang dieser Geschichte

stand die Beziehung zu meinem Mann Ernst und unsere

Hochzeit.»

Dieter und Imbi auf ihrer letzten Reise

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Dieter und Imbi – in memoriam

Orpheus und Euridike, Antonius und Kleopatra, Romeo

und Julia; in der Literatur begegnet uns die tragische

Liebe als eine Kraft, welche über die Gesetze des Lebens

hinaus ihre Flügel spannt, mit gewaltigem und endgülti-

gem Drang die körperliche Existenz hinter sich lässt. Sie

spottet die Grenzen des Todes Lüge und erlangt damit

eine Aura des Übernatürlichen. Sie wirkt gestelzt und kit-

schig – und dennoch pflanzt sie Tränen in die Augen der

Lebenden, und kaum jemand kann sich dem Wunsch nach

ewiger Liebe entziehen. Sie ist das menschliche Ver spre -

chen, welches wohl am meisten gebrochen wird. Trotz -

dem geben es die Menschen immer wieder ab, wohl in

der Hoffnung, dass im jeweiligen Fall die emotionale

Bindung des Paares stärker sei als Streit, Missgunst, Ent -

täuschung, Gewohnheit und Auseinanderleben. Wenn

dann ein solches Wunder passiert, wenn eine Liebe das

Leben überlebt, dann hinterlässt diese Verbindung ein

Strahlen, das etwas Mystisches nach sich zieht. Etwas

Grösseres, als es der normal Sterbliche begreifen kann.

Das dürfte der Punkt sein, wo gemäss griechischer My -

tho logie zwei neue Sterne am Nachthimmel sichtbar wer-

den. Wie Castor und Pollux. Dieter und Imbi haben diese

Liebe gelebt.

«Komm, schenk da noch etwas ein. Dieses Glas ist fast

leer.» Der schwarzbärtige Mann lallte mich unfreundlich

an. Sein langes Haar war zu einem losen Zopf gebunden.

Ich hatte ihm schon über die erlaubte Menge Whisky ein-

geschenkt und sollte mich doch an die verlangten vier

Zentiliter halten. Es war fast Mitternacht, der unbeque-

me Hüne trank seit Stunden.

«Hör doch, ich habe schon über das Mass eingeschenkt.

Ich muss mich an...»

«Du musst gar nichts. Wenn ich Dir sage schenk nach,

dann schenk nach!»

«Nein. Ich darf nicht und ich will nicht!»

«Schenk ein, sag ich Dir.»

Gut, ich liebte meinen Nebenjob als Barmann, trotzdem

war ich nicht immer die geeignete Person, um mit den

Marotten der Gäste umzugehen. Das hier war so ein Fall.

Sein Befehlston und sein Auftreten brachten mein Em -

men talerblut in Wallung. Bestimmt spielte da auch das

männliche Platzhirschgebaren eine unterbewusste Rolle.

«Spinnst Du eigentlich?» Ich provozierte übergangslos

den Streit.

«Du benimmst Dich wie ein Arschloch und ich soll Dich

noch bedienen?»

«Was heisst hier Arschloch...ich...»

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Ohne das Eingreifen der Wirtin wäre der Streit eskaliert.

Sie nahm mich ins Gebet und schickte ihn nach Hause.

Zwei Tage später sass er wieder im ‹alte Schluuch›.Ich ent-

schuldigte mich verhalten für mein Benehmen.Er brumm-

te: «Ach was, Schnee von Gestern. War ja auch meine

Schuld. Ich bin Dieter.»

So lernte ich Dieter kennen. Er war gebürtiger Deutscher,

Weltenbummler und seit langen Jahren mit seiner

Lebensgefährtin aus Basel unterwegs. Ihr Übername war

Imbi, sie besassen ein Anwesen in der französischen

Haute Saone und schienen füreinander geschaffen. Sie

führten ein Leben am Rand – und doch mittendrin. Sie

reisten sehr viel und ihre kinderlose Beziehung war für

beide das Richtige. Unabhängig, alternativ; aber mit

einer Konstante, die dem Leben etwas abforderte und

den Mitmenschen viel zurückgab.

Ein halbes Jahr später half mir Dieter beim Einrichten des

Theaters am Nadelberg, das ich mit dem Einakter ‹Die

dunklen Tiefen der Liebe› bespielte. Auf den Fahrten er -

zählte er mir von Alaska, von seinen Jahren als Hoch see -

fischer. Ich wurde sehr still. Sein Fundus an Erlebtem war

enorm und ich schämte mich, wenn ich an den Streit mit

ihm zurückdachte.

Zur ungefähr gleichen Zeit fing Imbi mit dem Kochen im

‹Schluuch› an. Die gemeinsamen Frühschichten sind mir

bis jetzt unvergessen geblieben. In den drei bis vier fast

gästefreien Morgenstunden bereitete sie das Tagesmenü

und die Küche vor, ich richtete die Bar und die Gaststube.

Wir philosophierten über Gott und die Welt und ich ent-

deckte einen wunderbaren Menschen. Auch sie erzählte

viel. Von ihren Reisen, von Dieter, von Hoffnungen, ge -

platz ten Träumen und stillen Freuden. Wir arbeiteten

fast drei Jahre zusammen, als Imbi hin und wieder zu kla-

gen anfing. Sie sagte, sie würden eine Veränderung

brauchen. Sie und Dieter.

Der Alltagstrott hatte die beiden erreicht und der Al ko -

hol war ein schlechter Ersatz für Reisen und Abenteuer.

Imbi schien plötzlich von Sorgen beladen.Zu meinem 31.

Geburtstag schenkte sie mir das Buch ‹Ahasver› von Ste -

fan Heym. Einige Tage später sagte mir Imbi, dass Dieter

und sie verreisen müssten, wenn ihre Beziehung noch

eine Chance haben sollte. Noch einmal verreisen. Noch

einmal die weite Welt spüren. Noch einmal ganz sich sel-

ber sein.

Ich war über zehn Jahre jünger als das Paar und konnte

nicht beurteilen, ob dies lediglich ein momentanes Miss -

gefühl war, oder ob Imbi mit ihrer Beurteilung der per-

sönlichen Situation tatsächlich richtig lag. Zudem flog die

Zeit an mir vorbei, ich steckte über den Kopf in den

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Anforderungen von Theaterproduktionen, Kind, Be zie -

hung und Nebenjob. Der Blick in die eigene Tasse trübt

offensichtlich die Wahrnehmung für die Umgebung. So

schien mir. Aus meiner eigenen Erfahrung konnte ich le -

dig lich bestätigen, wie schwierig es war, Beziehung und

Alltag unter einen Hut zu bringen.

Einzig den gesteigerten Alkoholkonsum der beiden

konn te auch ich feststellen. Und gehässige Worte. Doch

wo gab es die nicht?

Dann kündigte Imbi. Sie hatte ihren Kopf durchgesetzt

und organisierte eine neue Weltreise für sich und ihren

Lebenspartner. Sie lachte viel, in den Tagen vor der Ab -

reise. Sie war gelöst.

Die Beiden reisten ab – und hin und wieder kamen Nach -

rich ten oder Karten aus Übersee. Wochenlang. Mo na te -

lang.

Dann ging plötzlich eine Mitteilung durch die Medien,

dass in Afrika ein Busunglück das Leben von Touristen

gefordert hätte. Zwei Schweizer wären auch dabei gewe-

sen. Zwei Schweizer – ein Paar.

Niemand wollte annehmen dass… die Schweizer Bot -

schaft bestätigte die unangenehme Vermutung. Dieter

und Imbi waren tot. Mitten im Leben – und doch vorbei.

Sie sind tot. Sie sind jetzt zusammen.

Der Nachthimmel hat zwei leuchtende Sterne mehr.

Dieter und Ruthli Moser

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Deutsche Handwerksgesellen ‹auf der Walz im Schluuch›

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Schicksalsgemeinschaft

Die Beziehung und das Geschäft,

eine Geschichte fürs Leben

Die Beziehung und das Geschäft gingen bei Ernst und

Johanna Dettwiler-Minder Hand in Hand. Dabei zeigen

beide Entwicklungen erstaunliche Parallelen. Es war nicht

Liebe auf den ersten Blick. Weder zum Ehepartner, noch

zum Betrieb. Es war vielmehr Faszination, es war Um wer -

ben, es war Zusammenwachsen, es war Zusammenhalten

– es war eine Geschichte für das ganze Leben. Zuletzt bil-

deten das jung verheiratete Paar und der ‹alte Schluuch›

eine Symbiose, oder eine Gleichung, die ohne ihre Faktoren

nicht denkbar oder machbar gewesen wäre: Beziehung und

Arbeit gleich Arbeit und Beziehung. Sowohl die Liebe wie

das Geschäft waren somit alles, nur nicht eine kurze

Liaison der oberflächlichen Begegnung.

Johanna Dettwiler erzählt: «Der Ernst konnte ein Geschäft

aufbauen, es in Gang bringen. Dafür war er bekannt.

1945–1947 war er auf dem Restaurant Morgarten. Später

hatte er mir einmal gesagt, dass nach dem ersten Ar beits -

tag Fr. 9.80 Umsatz in der Kasse lagen.

Das Geschäft war am Boden. Bereits nach zwei Jahren lief

es so gut, dass die Brauerei selber auf Ernst zukam und

ihn anfragte, ob er das heruntergewirtschaftete Re stau rant

an der Greifengasse übernehmen würde. Damals wurde es

noch von einer alten Witwe geführt. Sie besass wohl nicht

mehr die Kraft, die ein solcher Betrieb abverlangte. Ernst

hatte zugesagt, und so übernahm er den ‹alte Schluuch›. Er

reüssierte schnell.

Seine Gäste waren Hafenarbeiter, Leute aus dem Bau ge -

wer be, Prostituierte, Gewerbler, Clochards, Je ni sche; kurz,

fast ganz Kleinbasel verkehrte im ‹Schluuch›. Ernst ver-

kaufte das Bier für 85 Rappen, daneben gab es kalte

Küche. Klöpfer, Wurstsalat, Käse, Käsesalat – das waren

die Renner damals. Tagsüber kamen viele Arbeiter zum

Znüni, zum Zmittag, zum Zvieri. Lustig war, dass ausge-

rechnet die Gewerkschaft die Parole erliess, dass die Ar bei -

ter den ‹alte Schluuch› meiden sollten, weil der Ernst FDP-

Parteimitglied war. Sie forderten dies an einer Ge werks -

chaftsversammlung im Volkshaus. Nicht sehr erfolgreich,

wie man unschwer erkennen konnte.»

Diese Erinnerung entlockt Johanna ein Schmunzeln, ich

für meinen Teil möchte dazu eine Strophe aus Heinrich

Heines Gedicht ‹Die Wanderratten› beifügen:

Im hungrigen Magen Eingang finden

Nur Suppenlogik mit Knödelgründen

Nur Argumente von Rinderbraten

Begleitet mit göttlichen Wurst-Zitaten

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Das Gedicht spricht aus, was überall auf der Welt

Gültigkeit hat: Die Moral geht durch den Magen. Auch in

Kleinbasel. So war der Betrieb ‹zum alte Schluuch› läng-

stens etabliert und umsatzstark genug, als Ernst seine

Johanna ehelichte. Der Gewinn konnte die Familie gut

ernähren. Nicht nur ernähren, das Wirtepaar konnte die

Liegenschaft nach wenigen Jahren kaufen.

Nach ihrer Hochzeit lebte Johanna Dettwiler-Minder an

der Greifengasse 6. Unten war die Baiz, im ersten Stock

die Küche, im zweiten Stock war das Wohn- und Ess zimmer,

im dritten Stock das Schlafzimmer und die Kinderzimmer,

der vierte Stock bot Platz für zwei Mansarden.

Johanna erinnert sich: «Unser Sohn Hansueli kam im

April 1953 zur Welt. Das zweite Kind, Christine, bereits 16

Monate später. Im August 1954. Während dieser Zeit hatte

ich nicht viel mit dem Restaurant zu tun. Ich war Haus -

frau, Mutter, machte Stickereien und Gobelins, bezog un -

se re Stühle, besuchte den Ernst bestenfalls nach Feier -

abend im Restaurant. Ich musste mich sehr an meine neue

Umgebung gewöhnen. Ich litt unter dem Klima, der

schlech ten Luft und dem Lärm. Das Berner Oberland war

halt schon sehr anders.

Aber 1955 kam das, was mir mein früherer Arbeitgeber,

der Arzt Dr. Schmid aus Thun, auf den Kopf zugesagt

hatte: ich wollte im Betrieb mitarbeiten. Die Rolle als

Hausfrau hat mich nicht genügend ausgefüllt. Wir stellten

ein Kindermädchen ein, und so fing ich an, jeweils am

Morgen im ‹Schluuch› zu bedienen. Daneben habe ich das

Büro, die Abrechnungen und die Kasse gemacht. Da hat

mir Ernst vertraut. Blind. Von Anfang an.»

Die glückliche Familie in den Ferien; Johanna ist schwanger

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So begann neben der Familiengeschichte, die erfolgreiche

Geschäftssymbiose des Ehepaars Dettwiler-Minder. Jo -

han na brachte eine straffe Hand und einige Ideen: «Ich

habe später erfahren, dass ich den Ruf eines Drachen hat -

te. Aber Ernst war zu grosszügig, zu gutmütig. Personal,

Pöstler, Lieferanten – alle haben im ‹alte Schluuch› gratis

konsumiert. Zwischendurch ging sicher auch etwas in die

Tasche eines Angestellten, das ist in der Gastronomie kaum

zu vermeiden. Aber man kann dagegen angehen. Trotz

meiner Kontrolle begann der ‹Schluuch› noch besser zu

lau fen. Oder vielleicht gerade deswegen.

Ein wichtiger Grund für mehr Umsatz war selbstverständ-

lich auch die warme Küche, die wir ab 1955 anboten.

Gekocht hat Ernst im ersten Stock. Es gab eine Portion

Läberli für Fr. 2.10, das Bier für einen Franken und der

absolute Renner waren die Spaghetti an Tomatensauce für

Fr. 1.80. Das Geschäft florierte.

Vis à vis vom ‹alte Schluuch› stand das Odeon mit seinem

Dancing, dem Grill und dem Restaurant. In diesen Jahren

hat mich Ernst jeweils zu einem Wurstsalat im Odeon ein-

geladen, von dort konnten wir das Geschehen im ‹Schluuch›

beobachten und rechtzeitig eingreifen, sollte es zu einer

Schlä gerei oder zu anderen Unannehmlichkeiten kom-

men.»

Das war dann die Kehrseite des Erfolgs. Je mehr Gäste,

umso grösser die Probleme, welche diese mitgebracht ha -

ben. Da flogen schon mal die Fäuste. Aber nicht nur die

Schlägereien, sondern auch die Arbeitszeiten steigerten

sich mehr und mehr. Der ‹alte Schluuch› war während 365

Tagen vom Morgen um sieben Uhr früh bis Mitternacht

geöffnet. Er verlangte unerbittlich die Anwesenheit seiner

Betreiber.

Johanna erzählt, dass sie während der Fasnacht quasi drei

Tage am Stück gearbeitet haben. Der ‹alte Schluuch› war

längstens zu einem festen Bestandteil des Gastrono mie -

lebens in Kleinbasel und der so genannten ‹Gasse› gewor-

den. «Uf d Gass goo» hiess damals, dass sich eine Clique

Männer aus Klein- oder Grossbasel versammelte und

zusammen um die Häuser zog, wie das auf gut Deutsch

heisst. Da gab es dann eine Art traditioneller Route, die

wie ein ungeschriebenes Gesetz eingehalten wurde.

Angefangen hat man so einen Ausgang im ‹Schwal ben -

nest›, dem heutigen Läckerlihuus, dann ging es über die

‹Brauerzunft› zum ‹Schwarzen Bären›, von dort zum

‹Schaf eck› und in die ‹Barrikade›, zuletzt stand der ‹alte

Schluuch› auf dem Programm. Das war eine Tournée.

Zwischendurch gab es vielleicht noch einen Besuch im

Kino Union, der so genannten ‹Revolverküche›. Das Kino

erhielt diesen Namen, weil dort zwei Westernfilme für fünf

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Franken Eintrittsgeld gesehen werden konnten. Die

Vergnügungsmeile war geboren. Nicht jedermanns Sache,

aber sie war da.

Fest steht, dass sich das Wirte Ehepaar Dettwiler-Minder

einen unumstösslichen Platz in der Kleinbasler Unter neh -

mer landschaft erarbeitet hatte. Entsprechend bekannt

war Ernst Dettwiler. Johanna berichtet, wie sie die Mitt -

lere Brücke mit ihrem Mann zusammen nicht überqueren

konnte, ohne von den verschiedensten Leuten aufgehalten

und angesprochen worden zu sein. Der wirtschaftliche

Erfolg des ‹alte Schluuch› wurde somit augenfällig, die

gesteigerte Arbeitsbelastung auch.

«Ernst beschloss im Jahr 1958 den ‹alte Schluuch› zu ver-

pachten, um ein ruhigeres Restaurant neben dem Friedhof

Hörnli zu übernehmen. Ich hätte das nicht gemacht, aber

er hatte genug von den Schlägereien und den Ar beits zeit -

en. So kam es, dass wir das ‹Café Dettwiler› beim Hörnli in

Betrieb nahmen, das spätere ‹Café Favorita›.

Die Umgebung war jetzt ruhiger, der Arbeitsaufwand blieb

aber der Gleiche. Im Gegenteil, wir mussten sogar noch

mehr arbeiten. Auch hier war uns grosser Erfolg beschert,

aber wir wollten zurück. Ich wurde noch einmal schwanger

und gebar 1962 die Sabine. 1963 zogen wir an den unteren

Rheinweg. Damit wohnten wir jetzt in einer gesunden und

schönen Umgebung. Den ‹alte Schluuch› liess Ernst zu die-

ser Zeit von einem Geranten führen.»

So kam das Wirtepaar zurück ins Kleinbasel, zurück zu

ihrem Geschäft, das so sehr ihre Beziehung symbolisieren

sollte.

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‹The old pipe›

In einem Artikel über den renommierten Ga stro no mie -

unternehmer Martin Candrian sind zwei Bemerkungen

sehr aufschlussreich:

Auf die Frage nach Veränderungen bei der Übernahme

eines Traditionslokals sagt er, dass er von ebendiesen

einen grössten Respekt habe und dass selbst das Ersetzen

eines beliebten Bildes sehr heikel sein könne. Im Zu -

sammenhang mit dem Pachtantritt seines Grossvaters im

‹au premier› des Bahnhofs Zürich gibt er zu Protokoll:

«Erstaunlich, dass er damals als Katholik und als St. Galler

mit einer Basler Ehefrau den Zuschlag bekommen hat.»

Die zwei Aussagen beleuchten auf ihre Art eine schein-

bare Binsenwahrheit, die aber im Erfolgsstress der kurz-

lebigen Konzeptgastronomie gerne übersehen wird:

Für langjähriges Prosperieren eines Restaurants garan-

tiert nicht in erster Linie das Ausschanksystem oder die

Vertreterbeziehung, für langjährigen Erfolg braucht es

die kulturelle und politische Verankerung im Zu sam men

hang mit der persönlichen Identifikationsmöglichkeit der

Stammgäste. Mit anderen Worten: ausserhalb der schnel-

len Verpflegungsmöglichkeit will der Gast sich wieder

erkennen, er will ein gutes Stück ‹zu Hause› sein.

Die Dynamik dieses Prozesses hat der ‹alte Schluuch› nach

seiner Renovation hautnah miterlebt, als zur bisherigen

Stammkundschaft eine völlig neue dazu stiess. Das gab

Reibungen, trotzdem war es eindrücklich zu erleben, wie

dieses spezielle ‹sich zu Hause fühlen› zustande kommen

kann.

Wie aus heiterem Himmel sassen eines Tages vier Briten

an der Theke. Das Englisch von uns Mitarbeitern war gut

genug, dass wir uns bequem unterhalten konnten. Die

Briten erzählten von ihrer Arbeit am Flughafen, von den

speziellen Anstellungsbedingungen bei ‹Jet aviation› und

von ihren Familien auf der grossen Insel. Beim Abschied

fiel die Frage, ob sie nicht einen Sonntagsbrunch auf

‹good old english fashion› bei uns reservieren könnten.

In ihren Worten hiess das, ein ‹decent meal›, eine anstän-

dige Mahlzeit. Würstchen, Toast, schwarze Bohnen,

gebratene Tomaten, Blutwurst und Eier. Viele Eier.

Warum nicht? Der ‹alte Schluuch› hat das geboten – das

war der Anfang einer langjährigen Beziehung mit Briten,

die als temporäre Arbeiter in den Werkstätten von ‹Jet

aviation› in Frankreich arbeiteten, grösstenteils in

Kleinbasel untergebracht waren und wohl deshalb ein

bisschen ‹Heimat› suchten. Der ‹alte Schluuch› wurde ihr

allabendlicher Treffpunkt zum ersten Bier, das unbeding-

Page 22: Schluuch - Buch

22

te Muss am Sonntag der zur Tradition gewordene

Brunch. Dieser Brunch belegte bald einmal das ganze

Restaurant.

Für die bisherigen Stammgäste waren die Engländer oft

ein wenig zu laut, aber dann vermischte sich das Pub -

likum zusehends, Freundschaften entstanden und lokale

Alternativkultur traf auf das ‹British Empire›. Für mich war

das eine wunderbare Zeit und ich erinnere mich genau

an einige Episoden, wenn das Vermischen dieser

Kulturen ganz neue Blüten hervorbrachte.

Da war zum Beispiel eine distinguierte Frau aus Riehen,

die hauptsächlich für Vernissagen oder Kleinkonzerte

den ‹alte Schluuch› besuchte. Sie nervte sich über die

manchmal etwas rüpelhaften Engländer. Einer war ihr

dann wirklich zu viel: es war ein charmanter Spinner von

etwa zwei Meter Höhe, der sich nach einigen Bieren

schon mal selber laut tadelte, weil ihn zu viel Alkohol -

konsum impotent machen würde. Die Riehenerin stellte

ihn empört zur Rede, ein gutes Jahr später haben sie

geheiratet und leben jetzt in London.

Oder da war Thomas, ein 62jähriger Mechaniker. Ein

Brite alter Schule mit Schalk und einer guten Portion Un -

ver frorenheit. Seine Schuhe glänzten immer, seine grau-

en Haare waren äusserst gepflegt, sein Benehmen tadel-

los. Am Schluss eines Abends wünschte er sich regelmäs-

sig Frank Sinatras ‹I did it my way› aus der Jukebox. War

noch eine Dame anwesend, fragte er höflich für einen

Tanz.

Nach diesem Ritual ging er zu seinen Kollegen und ver-

abschiedete sich mit den Worten: «Think about it, the

plane has to get in the air», was so viel heissen soll wie:

Denkt daran, das Flugzeug muss morgen fertig sein.Zu

uns hinter der Bar Arbeitenden meinte er: «So, ik gehe

jetzt lecker slapen». Thomas machte sich einen Spass dar-

aus, ein deutsch-holländisches Kauderwelsch zu spre-

chen.

Diesem Thomas geschah es, dass er einen Zimmerbrand

im Hotel miterlebte. Schlafend natürlich. Er musste mit

schweren Rauchvergiftungen in das Kantonsspital einge-

liefert werden.Als er nach über einer Woche wieder im

‹alte Schluuch› erschien und alle ihn aufgeregt fragten,

was genau passiert sei, war die einzige Antwort: «Well, it

was hot and smoky – es war heiss und rauchig.»

Sir Thomas, wie wir ihn nannten, war auch der englische

Namensgeber für den ‹alte Schluuch›. In seiner Version

hiess das Restaurant «The old pipe», ein Kürzel für die

freie Übersetzung «The old pipeline», der alte Schluuch

eben.

Page 23: Schluuch - Buch

23

Die Vollendung des Schicksals von Herrn Fricker – in memoriam

In der unheiligen Nacht vor der grossen Schlacht würden

die Wallküren über das Nachtlager der Soldaten streifen

und die Männer küssen, deren Tod am nächsten Tag das

Feld der Kriegerehre bereichern solle. So die germani-

sche Sage.

Das Schicksalhafte hinter diesem Gedanken hat einen

bestechenden Anflug von göttlichem Auserwähltsein,

von übersinnlicher Grösse; welche nicht im Buch des

sterblichen Lebens zu finden ist. Das dachte ich an jenem

Morgen. Ich sass im Tram und fuhr durch Basel.

Was ist aber mit den Verwundeten? Was für ein Schicksal

wartet auf die Verletzten und Verstümmelten? Sind sie

dazu verdammt, in den Wartesaal der Ewigkeit abge-

schoben zu werden, bis sich die nächste Gelegenheit zum

Sterben bietet? Sind sie lebende Tote? Ich wusste es

nicht. Damals. Vor vier Jahren.Aber ich fühlte mich aus-

gebrannt und suchte René Fricker auf. Wegen seinen

Diensten oder seiner Gesellschaft – ich fühlte mich auf

schwer beschreibbare Art wohl in seiner Nähe. Ich hatte

ihn durch einen Reporter kennen gelernt, der mein

Künstler-Schicksal teilte und mehr oder weniger erfolg-

reich für eine lokale Zeitung der Stadt Basel schrieb.

Nicht der grosse Lebenswurf; trotzdem ein Wurf und

trotzdem ein Leben. Sein Name war Hugo. Beide waren

wir um die Vierzig und beide waren wir den Aus -

schweifungen des Stadtlebens nicht abgeneigt. Er brach-

te mich zu René, zudem verkehrte Fricker im ‹alte

Schluuch›.

«René, he, René...»Ich versuchte die schlafende Gestalt

zu wecken. René Frickers Oberkörper lag zusammenge-

sunken auf dem kleinen Bürotisch, der nur durch eine halb

verlotterte spanische Wand von der Fahrrad werkstatt

getrennt war. Überall lagen Werkzeuge, Räder, Gestelle,

Lampen und Fetzen aus Stoff oder Putzfäden. Es roch

nach Stahl, Rost, Öl und Schmiermittel.

«René, Du wirst eines Tages ausgeraubt.»

«Nein, nein...keine Sorge... ich kenne nur gute Men schen.»

Renés Stimme klang dünn, als er seinen ausgemergelten

Körper aufrichtete. Er erwachte schnell und übergangs-

los. René Fricker war irgendwo Mitte Fünfzig, er war

bekannt für seine Ehrlichkeit und für seine Fairness.

Unter dem zerknitterten Blaumann trug er eine Leder -

hose und ein Westernhemd. Er hob den Kopf und beob-

achtete das Bild seiner Überwachungskamera. Sein trok-

kener Husten zeugte von der fortgeschrittener Tuber -

kulose.

Page 24: Schluuch - Buch

24

Einmal fragte ich ihn, wie denn alles angefangen hätte.

Er begann zu erzählen. Leise, wie zu sich selber:

«Herr Fricker lebte ein ausgesprochen wohl geordnetes

Leben.»

René redete von sich in der dritten Person. Als müsse er

den nötigen Abstand zum Erzählten gewinnen.

«Er kam jeden Morgen zur gleichen Zeit in die Werkstatt.

Er liebte die glänzenden Motorräder. Den Chrom und die

wuchtigen Zylinder. Er war immer pünktlich. Und genau.

Seine Klientel dankte es ihm. Die Kunden trugen das

Geld oft Bündelweise in den Lederstiefeln und der Laden

war in der ganzen Stadt bekannt. Frickers Motor-Bikes.

Alles lief gut. Bis – an einem Donnerstag im November

verliess Fricker sein Geschäft pünktlich wie immer...na

ja...ich habe dem Busfahrer noch einen schönen Abend

gewünscht.»

René zeigte mir die vergilbten Zeitungsausschnitte. Sie

waren zweiundzwanzig Jahre alt. Ich las die Artikel.

Die Diebe sind damals in sein Schlafzimmer eingedrun-

gen und schlugen ihn mit einer Eisenstange halbtot.

Seinen Tresor räumten sie aus.Er überlebte knapp und

musste fortan von der Invalidenrente zehren. Sein Kopf

schmerzte permanent, die Ärzte verschrieben ihm Mo r -

phium. Langsam krallte sich die Sucht in seiner Existenz

fest. Seine geliebten Motorräder wichen den Fahrrädern.

Er reparierte sie ebenso gewissenhaft. Nur jetzt unend-

lich langsam. Dies war die einzige Arbeit, die er ergän-

zend zu der Invalidenrente verrichten konnte.

Zum Morphium gesellte sich das Kokain. Er lagerte den

Stoff in den Fahrradnaben und handelte unter seinen

Freunden. So lernte ich ihn kennen. Ehrlich und gewissen -

haft. Gutes, kaum verschnittenes Koks, das wurde zu sei-

nem gewerblichen Markenzeichen.

Als die Polizei kam, ging alles sehr schnell. René Fricker

wurde über ein Jahr beschattet. Vier Kameras waren auf

seinen Veloladen gerichtet.Die Beamten stürmten den

kleinen Laden mit einem Grossaufgebot. Wir wurden ab -

geführt, verhört – ich wurde als Gelegenheits kon su ment

wieder freigelassen, bezahlte aber ein ordentliches

Strafgeld und hatte dann die Möglichkeit, mein zeitwei-

liges Suchtverhalten neu zu überdenken. Mit wachsen-

dem Erfolg.

Renés Leiden wirkte äusserst strafmildernd, er galt als

Ehrenmann und wurde nach knapp zwei Jahren wieder

entlassen. Ich besuchte ihn ab und zu in seiner So zial -

wohnung, bis eines Tages der Morgen dunkel blieb. Ich

erinnere mich ganz genau.

Auf dem Titelblatt der Zeitung war das Haus abgebildet,

darin René Fricker zwischenzeitlich lebte. Der Titel leuch-

Page 25: Schluuch - Buch

25

tete obszön mit den Worten: «Drogenhändler erschla-

gen»

Aus dem Text ging hervor, dass sich der Kleindealer R.F.

nicht gewehrt hatte, als ihn ein Süchtiger mit dem Aschen -

becher erschlug, um ihm das kleine Häufchen Drogen zu

stehlen. R.F. war nicht sofort tot, deshalb erstickte ihn der

Täter mit einem Plastik sack.

Das war der Tag, als die Walküren ihren Sohn endlich

nach Hause holten. Sein Leiden hatte nach sechsund-

zwanzig Jahren ein Ende. Die Zwischenwelt verblich.

René fehlt mir.

Ich weiss, dass über ihm und seinem umstrittenen

Verkaufsprodukt der Stab gebrochen werden kann. Zu

Recht, kann man sagen. Das weiss ich. Aber trotzdem

weiss ich auch, dass René dem Leben mehr Anstand, Ehre

und Respekt entgegengebracht hatte, als die meisten

Leute, die ich kennen lernte. R. I. P.

Page 26: Schluuch - Buch

26

Milieu: Freude und Leid ‹uff dr Gass›

Viel Licht erzeugt viel Schatten.

Kein Leben bleibt von dieser Allerweltserkenntnis ver-

schont. Nur bleibt es jedem Schicksal persönlich vorbehal-

ten, wie es mit den Folgen der Freude und mit den Folgen des

Leides umgeht. In diesem Prozess wird dann die Binsen -

wahrheit plötzlich zur Lebensweisheit. So auch in der Ge -

schichte von Ernst und Johanna – und in ihrer gemeinsa-

men Geschichte mit dem ‹alte Schluuch›.

Johanna erzählt: «Nach der Geburt von Sabine blieb ich erst

einmal zu Hause. Wir wollten beim dritten Kind keine Kin -

derschwester. Wir wussten auch, dass dies das letzte Kind

sein würde. Seit 1963 war zwar ein Gerant auf dem ‹alte

Schluuch›, trotzdem hat Ernst jeden Tag dort gearbeitet.

Damit ich nicht ‹aus der Übung kam›, habe ich jeden Frei -

tag abend übernommen. Das heisst, ich habe im ‹alte

Schluuch› gearbeitet. Der Weg vom unteren Rheinweg zur

Greifengasse war kurz. Ich erinnere mich, wie die kleine

Sabine später mit dem Trottinett oder auf dem ‹Hol län -

der› – einem Vehikel ähnlich wie ein Dreirad, nur mit

Handantrieb – ihrem Vater weisse Hemden in das Geschäft

gebracht hat. Da war Ernst pingelig, seine Hemden muss -

ten immer blütenweiss sein. Hatte er sich Flecken ge -

macht, rief er die Sabine an und fragte sie, ob sie den Pony-

Express satteln würde.»

1967 wechselte der Gerant des ‹alte Schluuch› in den

‹Rastadterhof› und das Wirte-Ehepaar Dettwiler über-

nahm sein Geschäft wieder zu ganzen Teilen.

In dieser Zeit etablierte sich das Milieu in Kleinbasel. Bars

und Nachtklubs entstanden, die Prostituierten zeigten sich

auf der Strasse, die Stammkundschaft der Arbeiter, Dirnen

und ‹Gässeler› erhielt eine ganz andere Kon kur renz: die

der Laufkundschaft von den Nachtschwärmern. Stu den -

ten verbindungen, Regierungs mitglieder, Kauf leu te, Zu häl -

ter, Musiker, Fasnächtler, Zunftleute, Besucher aus der

näheren Umgebung – alles traf sich im Kleinbasel, alles

traf sich im ‹alte Schluuch›. Das Geschäft lief, wie nie

zuvor. Die Abende wurden auch gesitteter, die Schlä gereien

verebbten ein wenig. Aus dieser Zeit berichtet Johanna:

«Eigentlich hatte ich nur noch vor Abbi Angst, der sah

immer aus wie ein Räuber. Er hat im ‹Kap Horn› gearbei-

tet, dem späteren ‹Swiss Chalet›. Ich habe jedes Mal ge -

betet, dass nichts passiert, wenn er das Restaurant betrat.

Wenn er die Tische kehrte, blieb niemand verschont. Da -

mals mochte er mich nicht. Ich habe ihm aber meine Angst

nicht gezeigt. Später hat sich Abbi dermassen verändert.

Unglaublich. Er rief mich plötzlich beim Namen, war recht

Page 27: Schluuch - Buch

27

friedlich und eigentlich sehr höflich. Er hatte sich sehr

gewandelt. Fast vom Saulus zum Paulus.»

Dann muss Johanna lachen:

«Für viele gehörte der ‹alte Schluuch› und die angrenzende

Vergnügungsmeile zu den ersten Erlebnissen ihres Jung -

män nerdaseins. Fast wie eine Institution. Mein Hausarzt

erzählte mir kürzlich, dass während seines Studiums ein

Be such im ‹alte Schluuch› Kult war, wie das heute ausge-

drückt wird. Ein ‹Äntebüsi› und ein Bier seien die er schwing -

lichste Variante gewesen, um schnell in Aus gangs stim mung

zu kommen. Als er einen Freund in dieses Ze re mo niell ein-

führte, seien ausnahmsweise wieder einmal die Stühle ge -

flogen. Er habe seinem Bekannten dann einfach gesagt, sie

müssten jetzt ihr Glas festhalten, ruhig sitzen bleiben und

sich nicht bewegen. Dann werde alles schnell vorbei sein.»

Der ‹alte Schluuch› blühte. Die Mischung seiner Kund -

schaft war einmalig, das Leben pulsierte ‹uff der Gass›.

1973 kauften Ernst und Hanni Dettwiler ein modernes

Haus in Courgenay. Es sollte Ferienhaus und Zweit wohn -

sitz werden. Die Sonne leuchtete über den beiden und über

ihren Kindern. 1974 zeigte dann der Schatten sein Gesicht:

«Ernst hatte sich kurz hingelegt. Als er aufstand, wurde

ihm schwarz vor Augen. Er fiel um, schlug mit dem Hin -

terkopf auf den Steinboden. Ich stand in der Küche und

hörte es fürchterlich knallen. Ich dachte, ein Schrank sei

umgefallen. Ich eilte durch die Wohnung und sah, dass

mein Mann bewusstlos war.»

Johanna erzählt diese Geschichte gefasst und ruhig. Sie

beschreibt, wie Ernst nach einer schweren Hirnblutung im

Spital an die Herz- Lungenmaschine angeschlos sen werden

musste. Es folgte eine Operation um die Blut gerinnsel zu

entfernen, dafür wurde der Kopf aufgefräst.

Ernst kam wieder zu sich, aber seine linke Seite blieb

gelähmt. Zudem blieb er fast blind. Nichts war mehr wie

früher – und nichts würde jemals wieder so sein. Die ersten

sechs Wochen musste er gefüttert werden. Johanna küm-

merte sich selbstständig darum, obwohl Ernst ein 1. Klasse

Patient des Spitals war.Als er selber seinen Zustand reali-

sierte, wünschte er sich, lieber gestorben zu sein. Aber

seine Frau Johanna und seine Tochter Sabine kümmerten

sich um ihn. Die älteren Kinder waren zu diesem Zeit -

punkt bereits ausgeflogen. So kam auch für das Geschäft,

was kommen musste:

Der ‹alte Schluuch› musste 1974 vermietet werden.

Was folgte, war ein mehrjähriger Kampf gegen die Be hin -

de rung und gegen den Tod. Mit über 120 Phy sio the ra pie-

Page 28: Schluuch - Buch

28

und Ergotherapiestunden konnte der Zustand Ernsts so

weit stabilisiert werden, dass er gestützt gehen konnte.

Johanna erzählt an dieser Stelle, wie ein scheinbar gut

gemeinter Zuspruch doch nur Öl in das Feuer des persön-

lichen Schmerzes giessen kann:

«Ich sass im Warteraum der Therapie und weinte. Eine

vorbeigehende Diakonissenschwester setzte sich zu mir

und sagte mir: «Keine Bange, der Herrgott prüft nur die

Starken – und nur so viel, wie sie ertragen können.»

Der Spruch war deplaziert und blöd, fast hätte ich gesagt,

dann ist ja alles gut, dann ist es ja nicht so schlimm. Der

Herrgott meint es ja gut.»

Die Situation war schlimm genug, aber die Pflege und die

Therapie zeigten Wirkung. Bis Ernst bei einem Opti ker -

besuch einen totalen Rückfall hatte, zusammenbrach, mit

einer Oberschenkelfraktur erneut eingewiesen wurde und

bis zu seinem Tod an den Rollstuhl gefesselt blieb. Für

Johanna war es zuviel, sie protokolliert, dass sie unbedingt

eine Lösung für ihr Leben brauchte. Sie verlangte nach

Arbeit und Zerstreuung. Diese Lösung war das gemeinsa-

me Geschäft, das sie mit ihrem Mann aufgebaut hatte.

1978 ging sie wieder in den ‹alte Schluuch› zurück, diesmal

allein.

Sie sagt heute: «Wenn ich nicht im ‹Schluuch› hätte arbei-

ten können, ich weiss nicht, wie ich die Zeit bis zu Ernsts

Abschied durchgestanden hätte. Aber so war ich am Vor -

mit tag bei Ernst zu Hause, von 14. 00 Uhr bis Ge schäfts -

schluss war ich im Restaurant. In dieser Spanne kümmer-

ten sich ein Pfleger und die Sabine um meinen Mann. Dem

Geschäft ging es zwischenzeitlich nicht so gut, die Ver mie -

tung war nicht zufriedenstellend. Als ich am 1. April 1978

wieder neu anfing, stellte sich mir ein Hüne in den Weg

und sagte mir, er würde mich jetzt rausschmeissen. Ich

hätte im ‹Schluuch› nichts verloren. Später wurden wir aber

Freunde. Die Arbeit war hart, der Umsatz musste wieder

gesteigert werden. Dann war das auch die Zeit von pöbeln-

den Halbstarken.»

Johanna musste sich den Respekt erarbeiten, den ihr Mann

zeitlebens genossen hatte. Kein leichtes Unter nehmen für

eine allein stehende Frau. Zusammen mit ihrer Ser vier -

tochter Rita verdiente sie sich den nötigen Respekt, der das

sensible Gleichgewicht im ‹alte Schluuch› aufrechterhielt.

Mit Erfolg. Sie reüssierte als Geschäftsführerin und

Inhaberin im Schicksals geprägten Restaurant.

Am 22. Januar 1981 starb Ernst Dettwiler. In der Nacht

wollte er noch die Kinder sehen, dann wurde er bewusstlos

und verschied am Morgen um 6.00 im Spital.

Das Leiden war zu Ende.

Page 29: Schluuch - Buch

29

Zurück blieben die Familie und das Geschäft, welches in

Johanna eine würdige Nachfolgerin für ihren Mann fand –

demzufolge leuchtete ein kleines Licht weiter. Es hatte den

Schatten überlebt.

Auf die Frage, was denn das Charisma Ernst Dettwilers

ausgemacht habe, antwortet Johanna folgendes:

«Er war ein Lebemann. Er war sehr belesen, sehr kommu-

nikativ und sehr beliebt. Ernst hat Leute förmlich angezo-

gen. Das war seine Stärke. Aber er war kein Men schen -

kenner und deswegen oft unvorsichtig. Ich bin genau das

Gegenteil. Da haben wir uns ergänzt. Während er das

Geschäft nach Aussen repräsentierte, habe ich es gegen

Innen zusammengehalten. Das hat gut funktioniert. Wenn

es aber um Investitionen ging, musste ich ihm oft sagen:

«Schuster bleib bei Deinen Leisten».

Er hat den Leuten einfach geglaubt. Leider auch den

Gaunern. Er hat zum Beispiel in das bombensichere

Geschäft einer Kiesgrube investiert – und nie wieder einen

Rappen von seinem Geld gesehen. Ich kannte auch nicht

ganz all seine Nebengeschäfte. Ich wäre vermutlich über-

rascht gewesen. Nach seinem Tod habe ich einen Einkaufs -

wagen voll verschiedenster Munition auf den Polizeiposten

ge bracht. Die habe ich bei uns gefunden. Einen ganzen

Ein kaufswagen voll. Die Beamten sind fast Kopf gestan-

den und haben mich gefragt, wo denn die Waffen zu diesen

Patronen wären. Das wusste ich natürlich nicht. Das wusste

nur Ernst. Alleine war er zu vertrauensselig, aber zusam-

men konnten wir gut wirtschaften. Der ‹alte Schluuch› hat

uns getragen. So war für mich und unsere Kinder über den

Tod von Ernst hinaus gesorgt.»

Das Licht ist nie erloschen.

Page 30: Schluuch - Buch

30

Jean-Paul ‹Bebbele›

Diese Geschichte soll nicht ausschliesslich ‹...zum

Gedenken› sein, ihr Protagonist weilt schlussendlich noch

unter uns. Diese Geschichte ist weder ‹nur komisch› noch

‹zu tragisch›, sie ist ein Stück von beidem und deswegen

ein Stück Alltag. Diese Geschichte kommt aus der Mitte

und spielt doch am Rand. Sie beleuchtet ein Leben, das

auf verschlungenen Wegen seinen Platz fand und dort

auf eine schwer erklärbare Art und Weise zu einer

Schlüsselfigur wurde. Tagtäglich. Monat für Monat. Jahr

für Jahr. Diese Geschichte handelt von Jean-Paul, einem

Kellner, der wie kaum ein zweiter seines Standes im

Leben Kleinbasels und im Milieu der Vergnügungsmeile

am Rheinufer verwurzelt war. Diese Geschichte handelt

von einem Kollegen, der mir zum Arbeitsfreund wurde.

Diese Geschichte handelt damit von einem Menschen,

wegen dem ich zwischendurch einen regelrechten Rum -

pel stilzchentanz der Verzweiflung aufführen konnte und

den ich total in mein Herz geschlossen habe.

Ich habe sehr gerne mit ihm gearbeitet, keiner war so

schnell wie er, keiner konnte so witzig sein, keiner so viel

Heiterkeit verbreiten. Und keiner konnte dermassen

schandmäulig lästern und seine Ungnade über Land und

Leute kundtun.

Er kannte absolut alle und jeden. Er war Anlaufstelle, Kon -

taktperson und Auskunftskapazität in Personal union.

Neben dem Servieren, parlieren (schwätzen) und resümie -

ren.

Wenn jemand sagte, «...ich gehe heute in den ‹alte

Schluuch›...», dann lag es auf der Zunge, dass er sagen

konnte, «...ich gehe zu Jean-Paul...».

Dabei war er nicht fürs Kellnern geboren. Wie er sagte.

Und das erst noch im Milieu.

Nein, er absolvierte eine Lehre als Repro duktions pho to -

graf und arbeitete auf diesem schönen Beruf, bis sein

ganzer Berufsstand zu Gunsten der modernen Techniken

wegrationalisiert wurde. Das war das Ende der Geschichte

aller Reproduktionsphotographen. Das war das Ende von

Jean-Pauls zwanzig Jahre dauernden Karriere als Lehr -

lingsausbildner in seinem Betrieb.

Jean-Paul wollte nicht arbeitslos sein und nahm ersatz-

weise einen Job als Kellner in Kleinbasel an. Im ‹Schwar -

zen Bären.› Aus dem Überbrückungsangebot wurde eine

Berufung. Ich kann das nicht anders formulieren. Er ging

ganz und gar in seinem Job auf. Er liebte ihn. Aber natür-

lich war niemand gefeit vor Jean-Pauls Gehässigkeit,

wenn er auch nur den Hauch einer Un ge rechtigkeit oder

eines Dünkels spürte. Man wünschte sich einen sonnigen

Page 31: Schluuch - Buch

31

Tag Jean-Pauls, dann schien die Sonne über Kleinbasel.

Wenn nicht – mein Gott, dann musste man sich schon um

die Gunst der Götter und um das Wohlbefinden Jean-

Pauls bemühen. Am Besten wenn man ihn zu einem Glas

Wein oder zu einem Cointreau einlud. Himbeergeist oder

Quittenwasser konnten auch einiges zum Gelingen eines

Abends beitragen.

Zusätzlich zu einem Händedruck und einem aufrichtigen

«...ich freue mich, Dich zu sehen...»

Tatsächlich freuten sich alle, die ihn sahen. Mit ihm nahm

man halt einfach am Leben teil. Keine Zeit war zu kurz,

um nicht doch noch schnell ein paar Neuigkeiten auszu-

tauschen. Klatsch und Tratsch im Vorübergehen, aber

auch aufrichtiges Zuhören, wenn tatsächlich etwas in

Schieflage war. Das alles war Jean-Paul bei der Arbeit –

und damit war die Arbeit bei ihm.

Was ich damit sagen will ist dies: Die heutige Arbeitswelt

ist geprägt von ‹Job-Descriptions› und Normierungen, die

den Einzelnen als Teil eines Ganzen ersetzbar machen

und die damit Individualität und Autonomie fast ganz

aufheben.

In diesem Umfeld wird eine Figur, wie der Jean-Paul es an

seinem Arbeitsplatz war, unbedingt zu einer Identi fi ka -

tions figur für das Geschäft und für die Kunden. Er war an

seinem Arbeitsort ein Original – und gab damit seinen

Gästen etwas Originalität ab.

Page 32: Schluuch - Buch

32

Daneben war seine grosse Leidenschaft ‹das Löifä›, das

Laufen, wie er es als gebürtiger Elsässer aussprach. Er

wanderte. Viel und in einem Tempo, das einem professio-

nellen Langstreckenläufer zur Ehre gereicht hätte.

Jede freie Minute verbrachte er in den Bergen, im Wald,

an Seen – oder in einer der geliebten Dampfeisen bah -

nen, die hier und da noch touristisch eingesetzt werden.

Von seinen Reisen brachte er Spezialitäten mit: Zie gen -

käse, Schafskäse, Pflaumenbrot, Beeren – alles was

Gottes spezielle Natur hergab. Die Köstlichkeiten dra-

pierte er auf einem Teller neben der Kasse, in der Pause

konnte er sie dann essen. Das war Jean-Pauls Ritual.

Diesen Ausgleich zur Nachtarbeit, zum Alkoholkonsum

und zum Stress eines Servicefachmanns betrieb er so

intensiv, dass er trotz den eben aufgeführten Faktoren

stets äusserst gesund und gepflegt aussah. Braun ge -

brannt, schlank, nicht gross gewachsen, dafür sehr wen-

dig und eigentlich recht elegant.

So servierte er mit Fleiss, meistens guten Manieren und

unermüdlichem Ein satz. Nur manchmal, wenn die Götter

allzu gnädig gestimmt werden mussten, konnte er am

Schluss der Nachtschicht nicht mehr. Dann kam er zum

Tresen, legte sein Service geld und die Quittungen zum

Abrechnen hin und sagte «Du Herbert, mach Du das. Gell

Du machst das? Ich mag nicht mehr. Ich habe ein bischen

zuviel...Du weisst schon. Gell?»

Nach diesen Worten pfiff er dann ein paar Töne und

bedankte sich sehr höflich für die Hilfe, die ich ihm nie

hätte abschlagen können. Oder packte mich am Ohr und

sagte: «Gell, Bebbele. Mein Bebbele.»

Dabei war er der «Bebbele». Seine Patentante hatte ihn

als Kind immer am Ohr gezogen, er war als Frühgeburt

ein Nesthäkchen, dann an ihre riesigen Brüste (gemäss

seiner Erinnerung) gedrückt, seine Nase gestupst und

gesagt:»Ja Duu bisch mii Bebbele. Mii Bebbele»

Gut – wenn er mir von diesem Trauma berichtete, schloss

er gewöhnlich mit den Worten: «Wenn die manchmal

wüssten. Die meinen immer weiss was. Aber jetzt ist ja

alles gut gekommen.»

Und wenn der Lärm im Restaurant ohrenbetäubend war

und wir in der Arbeit versanken, dann half er mir beim

Einschenken der Bestellungen und dazu sangen wir:

«Travailler c’est trop dur, mais voler c’est pas bon.

Demandez la charité, c’est quelque chose je peux pas

faire. »

Er sollte mir das Lied übersetzen, das klang dann so:

«...Arbeiten ist zu hart aber stehlen ist schlecht.

Barmherzige Almosen nehmen ist etwas, das ich nicht

kann...»

Page 33: Schluuch - Buch

33

Dann verschwand er mit dem beladenen Servierbrett und

sang in meine Richtung: «... la charité ... la charité...»

(...barmherzige Almosen....barmherzige Almosen...)

Ich mochte ihn.

Aber wehe, wenn er jemanden nicht mochte.

Da stand ein Gast an der Theke und wollte bestellen.

Offensichtlich kannte ihn Jean-Paul, denn er stöhnte:

«Nicht der schon wieder», obwohl ich den Mann noch nie

im ‹alte Schluuch› gesehen hatte.Der Gast grüsste und

bestellte einen Kirsch.

Jean-Paul sagte:

»Wollen Sie einen Baselbieter oder einen Elsässer

Kirsch?»

Der Gast war erstaunt:

«Haben Sie Elsässer Kirsch?»

Darauf Jean-Paul kurz angebunden: «Nein. Warum?»

Und liess den verblüfften Gast am Tresen stehen.

Als er dann zu mir kam, meinte er: «Gäll ‘Erber’ (niemand

konnte Herbert so französisch aussprechen wie er), da

meinen alle, wer weiss was sie sind, aber ohne Un ter -

hosen sind wir alle einfach nackt.»

Wo er Recht hatte, hatte er Recht. Ich möchte Jean-Paul

in meiner Lebensgeschichte nicht vermissen.

Page 34: Schluuch - Buch

34

Das Abstrakte und das Reale.

Sicher eine der grössten und faszinierendsten Freiheiten

des Künstlers ist es, die zwingenden Gesetze der Wirk -

lichkeit in abstrakte Bilder zu verpacken. In der Fantasie

Theorien und Welten zu errichten, deren Ursprung die

sinnlich erfahrbare Realität darstellt – und deren über-

sinnlichen Erscheinungsbilder lediglich dazu helfen kön-

nen, in dem Ausnahmezustand des Gedankenkonstrukts

die Regel der Naturgesetze zu entdecken.

Demzufolge könnte man sagen:

Am Anfang des Abstrakten steht die Realität.

Jetzt ist reichlich bekannt, dass die Welt des Künstlers

nicht immer Hand in Hand geht mit dem, was der Rest

der Menschheit Wirklichkeit nennt. Zwischen den beiden

Welten gibt es oft eine Kluft, die kaum zu überbrücken

ist.

Die folgende Episode beleuchtet einen unverstandenen

Kunstakt, der sich in der Welt unserer Realität höchst

abstrakt auswirkte.

Am Anfang dieser Geschichte steht Niggi. Einfach Niggi.

Wobei Niggi gar nicht so einfach war. Nein. Denn Niggi

war ein Hüne von einem Meter neunzig und sicher hun-

dertsechzig realen Kilos. Ohne Kleider.

Sein Bauch war riesig, seine Oberweite Furcht einflössend,

seine langen, grau-schwarzen Haare hingen in dicken

Sträh nen an seinem Kopf.

Niggi war ein Ausgestossener. Ein herumziehender Stadt-

Obdachloser, der entweder im Männerheim, in der Heils -

armee oder am Rheinufer seine Zelte aufschlug.

Er konnte es nicht mit dieser Gesellschaft. Das machte er

in seinem Bündner-Dialekt schnell einmal jedem klar, der

es genau wissen wollte.

«Was man aufbaut, wird schnell zerstört.»

So seine Worte. «Und auf die Frauen ist überhaupt kein

Verlass.» Er wolle gar nicht erst anfangen zu erzählen.

Aber sonst war er friedlich, ja, er war sogar sehr speziell.

Denn Niggi war wohl ein Obdachloser, aber ein Ob dach -

loser der seltensten Ausnahme, Niggi arbeitete jeden Tag

an die vier Stunden im ‹alte Schluuch›.

Damit stempelte Niggi die Fantasie vieler Urteiler und

Vorurteiler zur puren Lüge.

Er war nicht arbeitsfaul! Er kam nachts um drei Uhr, rei-

nigte das Restaurant und den Vorplatz, recycelte das Glas

und die Sonderabfälle, dann war für ihn der Tag gelau-

fen. Manchmal kam er schon am frühen Abend und legte

sich im Putzraum auf eine Matratze zum Schlafen. Ver -

mutlich hatte er in diesen Nächten keine Bleibe gefun-

den.

Page 35: Schluuch - Buch

35

Wenn er dann im Morgengrauen vor dem ‹alte Schluuch›

stand, den Oberkörper nackt, nur mit einer überdimen-

sionalen Hose bekleidet – die lediglich durch ein Seil zu -

sam mengehalten wurde – wenn er dort mit dem

Wasserschlauch das Trottoir abspritzte und zufällig erste

Sonnenstrahlen die Szene zum Dampfen brachten, dann

sah man Hägar den Schrecklichen vor sich. Oder einen

anderen Wikinger.

Auf jeden Fall eine Figur von nahezu mythologischer

Ausstrahlung. Ein Zentaur oder ein Berserker, vielleicht.

Aber ganz sicher ein Unikum mit enormem Wanst in gros -

sen Latzhosen, die er vierteljährlich von der Wirtin erneuert

bekam.

Page 36: Schluuch - Buch

36

Niggi arbeitete jeden Tag. Im Grossen und Ganzen sehr

pünktlich und sehr zuverlässig. Bis auf ein, zwei kleine

Entgleisungen.

Ausgerechnet für eine dieser Entgleisungen trug wahr-

scheinlich das Abstrakte der Kunst die Schuld.

Ganz real.

Das kam so: Es war Samstagnacht, respektive Sonn tag -

morg en. Wir schlossen das Restaurant erst kurz vor drei

Uhr in den Nachtstunden, ich habe noch die Bar gereinigt,

als Niggi bereits die Toiletten im Untergeschoss putzte.

Beim Eingang des Restaurants stand eine grosse Juke-

Box, die wir jeweils nach Ladenschluss noch ausgiebig in

Anspruch nahmen. Die laute Musik half, den Pflichtteil

des täglichen Saubermachens schnell zu Ende zu bringen.

Damals hatte die Band ‹stiller Haas› ein neues Album auf

dem Markt, ich war begeisterter Fan. Das Lied vom Hasen

im Weltraum fand ich besonders gut.

Es ist eine Allegorie auf das Künstlerleben des Inter pre -

ten. Wie er im Alkohol und im Opium die ‹schönen Liech -

terln› sucht und am Ende das grosse Loch der Er nüch te -

rung findet. Wie er sich dann am Kopf kratzt und von

vorne wieder anfängt. So etwa das Lied. Dazwischen der

erkenntnistheoretische Denkansatz über den Hasen im

Weltall, der bei immer grösserer Geschwindigkeit immer

dünner wird und keinen Halt findet. Bis er so dünn ist

wie eine Spaghetti. So fliegt er durchs All und sucht

einen Aus weg, doch das verdammte All ist überall.

Leider. In der einen Strophe wird dann mit erstickender

Stimme gesungen: «Ich bin so dünn wie eine Spaghetti...

ich fliege mit über Lichtgeschwindigkeit durch das

Universum und sehe nichts, du Arschloch...»

Tja. Wenn jemand auf diese Art Text nicht vorbereitet ist,

kann das schon Konfusionen geben. Das könnte möglich

sein. Persönlich fand ich den Text umwerfend. Im über-

tragenen Sinn. Auf jeden Fall habe ich das Lied etwa vier

Mal nacheinander abspielen lassen, als ich von der Trep -

pe her eine fassungslose Stimme hörte:

«Ja was soll auch das...eine Spaghetti...ich bin so dünn

wie eine Spaghetti...der spinnt ja völlig...Spaghetti»

Ich musste ein wenig lachen, habe mich bald darauf von

Niggi verabschiedet und bin nach Hause gegangen. Am

Morgen um neun Uhr wurde ich telefonisch geweckt, die

Wirtin vom ‹alte Schluuch› bat mich, schnell vorbeizu-

kommen, ich müsse in einer Notsituation helfen. Nicht

geduscht und schlaftrunken kam ich im Restaurant an.

Dort versuchten bereits zwei Polizisten, den Niggi vom

Boden hochzuheben. Er lag hinter der Theke, seine Putz -

mittel und der Werkzeugkasten waren über den Boden

verteilt, einige angebrochene Flaschen Schnaps waren

Page 37: Schluuch - Buch

37

leer getrunken. Überall lagen Schrauben und Ösen. Der

stockbesoffene Koloss rührte sich nicht und lallte: «... die

Spaghettiii...immer die...hat doch keinen Sinn...erschiessen

Sie mich, he, Polizist... schiessen sie mal... Gnaden schuss...»

Er brauchte tatsächlich das Wort ‹Gnadenschuss›. Ob er

vom Lied oder von seinem Zustand befreit werden wollte,

blieb sein Geheimnis. Zu Dritt konnten wir ihn hinaustra-

gen und ich habe mir gedacht, dass dies des Ab strakten

ein wenig zu viel war. Für Niggis reale Welt. Himmel -

noch eins.

Am Abend kam er schon wieder in das Restaurant, nüch-

tern, das Spital hatte ihn den ganzen Tag über ‹am Tropf›

angeschlossen.Er wusste von nichts mehr. Er hatte ein

sprichwörtliches Loch im Hirn.Wo wir wieder beim stillen

Hasen angelangt wären: «Z’ Läbe isch äs Löcherbecki,

Löcher noch und nöcher...»

Page 38: Schluuch - Buch

38

Die Tränen der Gasse für Abbiin memoriam

Ich habe mich gefragt, woher all die Leute kommen.

Unglaublich. Die Kirche am Claraplatz in Basel war voll

bis zum letzten Platz. Und weit darüber hinaus. Leute

standen in den Gängen, Leute standen auf der Empore,

Leute standen im windgeschützten Eingangsbereich des

hohen Kirchenschiffes. Leute standen überall. Ein Tenor

sang das Ave Maria.

Neben mir lehnte eine kurzberockte Schönheit in Lack

und Leder an der schweren Steinsäule und verbarg ihre

tränengefüllten Augen hinter einem filigranen Fächer.

Schon eigenartig, die Tränen der Gasse. Tränen einer Zunft,

die sonst hart im Nehmen und hart im Geben war. Eine

Zunft von der man spricht – und über die man doch

nichts gesagt haben will. Zuhälter, Dealer, Huren, Diebe,

Heimatlose. Kurzum ‹die Gasse›, wie das Milieu in Basel

genannt wurde.

Meine Gedanken schweiften ab, als der Pfarrer zu sprechen

begann. Drei Wochen zurück.

«Rufst du mich an?»

Abbi verabschiedete sich gewohnt schnell und gewohnt

schroff. Ein kleines Lächeln, ein kurzes Augenzwinkern,

die Autotüre wurde zugeschlagen und fort war er. Eben

hatten wir den Marktstand für die Behinderten ver eini -

gung der Stadt Basel auf dem Petersplatz aufgestellt. Es

goss in Kübeln und wir standen schlotternd unter der

Arkade des angrenzenden Universitätsgebäudes. Ein un -

gleiches Paar. Er war schwarz, ich weiss. Er war ein durch-

trainierter Haudegen, ich eher der beschauliche Typ. Was

uns verband, war das Nachtleben. Und die Herkunft. Er

war als uneheliches Pflegekind bei einer Bauernfamilie

im Emmental aufgewachsen. Ich teilte das gleiche Schick -

sal. Er wurde arbeitsloser Zuhälter, ich arbeitsloser Schau -

spieler.

So lernte ich ihn kennen. Es war eine seltsame Freund -

schaft mit seltsamen Banden, aber ich schloss ihn damals

ins Herz, als er blutüberströmt den ‹alte Schluuch› betrat,

in dem ich nachts arbeitete. Er fragte nach kaltem Wasser

und etwas Eis. Er versuchte sich die Reste eines abgebro-

chenen Zahns aus der geballten Faust zu ziehen.

Ich kannte ihn nur vom Hörensagen und wusste, wie ge -

fürch tet er war. Die Zeiten der Zuhälterei waren vorbei,

die Damen machten sich längst in barocken Salons selbst-

ständig und der moderne Zuhälter nannte sich Liegen -

schafts verwalter. Da blieb keinen Platz für Helden und

Ber serker. Also arbeitete Abbi als Türsteher und Auf pas -

ser in der Rheingasse und in der angrenzenden Weber -

Page 39: Schluuch - Buch

39

gasse. So behielt er einen gewissen Status und mir fiel

auf, dass die Leute ihn lieber freundlich grüssten, als dass

sie achtlos an ihm vorbeigingen. Der ehemalige Träger

des fehlenden Zahns hat ihn offensichtlich nicht ge grüsst.

Page 40: Schluuch - Buch

40

Ich verband ihm die Hand, zwei Wochen später zog er bei

mir ein. Das war vor zwölf Jahren.

Wir wohnten zwei Jahre lose zusammen, dann trennten

sich unsere Wege und plötzlich hörte ich, dass Abbi als

Fahrer für Behinderte und Schüler arbeite.

Irgendwann rief er mich wieder an und fragte, ob ich ihm

helfen würde, einen Stand auf dem Markt der Herbst mes -

se am Petersplatz zu montieren. Ich sagte zu, jetzt standen

wir unter der Arkade des Universitätsgebäudes.

«Weisst du, die kleinen Krüppel sind wenigstens keine

Fischköpfe. Die lachen, wenn ich sie am Morgen abhole.

Die freuen sich wenn ich ihnen helfe. Die mögen mich.»

Ich staunte. So viel Gefühlsregung von seiner Seite war ich

nicht gewohnt. Offensichtlich mochte er seine Arbeit. Er

fragte mich, ob ich Interesse hätte, für die gleichen Schul -

transporte der behinderten Kinder zu arbeiten. Er würde

mich einführen. Er würde jemand brauchen, der ihn ab

und zu ersetzt.

«Ich überlege es mir»

Meine Antwort kam nicht von Herzen, musste ich mir doch

eingestehen, dass ich Berührungsängste hatte. «Rufst du

mich an?»

Abbi verabschiedete sich gewohnt schnell und gewohnt

schroff. Ein kleines Lächeln, ein kurzes Augenzwinkern,

die Autotüre wurde zugeschlagen und weg war er.

Einige Tage später versuchte ich ihn zu erreichen. Ver ge -

bens. Ich rief die Zentrale der Behinderten trans porte an.

«Wissen sie, er fuhr unsere Behindertenbusse so sicher

und hatte nie einen Unfall. Er war immer pünktlich und

nie krank. Die Leute mochten ihn sehr. Ich verstehe das

immer noch nicht...»

Die Dame am anderen Ende der Leitung schniefte und

ich hatte einen Kloss im Hals. Abbi war nicht mehr.

Jetzt standen wir also in der Clarakirche. Weit über drei-

hundert Leute. Der Pfarrer hatte seine Rede beendet, als

ein schmächtiger Mann im Rollstuhl nach vorne gescho-

ben wurde. Er war tränenüberströmt und fragte, ob er

etwas sagen dürfe. Er sprach zu Abbis Bild vor der Urne,

währenddem er sich der übervollen Kirche nur halb zu -

wandte:

«Viele haben gesagt, du bist böse. Aber du hast nur keine

Zäune gelitten. Du hast uns geholfen, dass wir auch we -

ni ger Zäune leiden müssen. Ich vermisse dich so sehr.»

Da konnte ich nicht mehr an mich halten: das Wasser

floss mir unaufhaltsam aus den Augen.

Seither weiss ich – die Tränen der Gasse sind weich, nicht

weicher als andere, aber weiss Trost auch nicht härter.

Page 41: Schluuch - Buch

41

Drogen: ‹Die Mutter der Gasse›

Nur die Veränderung hat tatsächlichen Bestand. Diese Ein -

sicht mag wohl von der Allgemeinheit unterschrieben wer-

den, dass diese Veränderung streng nach dem Prinzip

‹Ursache und Wirkung› vonstatten geht, steht in der Regel

in einem anderen Buch geschrieben. Speziell wenn die Aus -

wir kungen – durch eigene Entschlüsse geprägt – eine ganz

andere Richtung vorgeben, als dies beabsichtigt war.

So gesehen im Allgemeinen der meisten Lebensentwürfe

unserer Menschheit, gleichsam entdeckt im Spezifischen

der Städtebauplanung Basels.

«Es kommt, wie es kommen muss»; diese Behauptung dürf-

te unter diesen Umständen hinfällig sein, «es kommt, wie

es verursacht wurde», wäre die richtige Schlussfolgerung.

So gesehen im Milieu Basels.

In den späten siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts

veränderten sich die Gasse und das Ausgehverhalten der

Stadtbewohner. Nicht nur in Basel, überall in der westlichen

Welt.Das persönliche Lustprinzip gewann an Bedeutung,

Freizeitaktivitäten wurden kommerzialisiert und eine bis-

her unbekannte Grösse frass sich ihren Weg durch die

Gesellschaft: eine ungeheure Flut verschiedenster Drogen

überrollte Europa und Amerika. Sie machten vor Basel nicht

halt.

Als sich Drogen im öffentlichen Lebensraum Basels aus-

breiteten, nahmen die Konsumenten als Erstes den Bar -

füs serplatz in Beschlag. Das ‹Balance› und die ‹Seibi› waren

Umschlagplätze und Treffpunkte gleichermassen. Die ‹Kla -

gemauer›, eine Stützmauer quer über den Barfüsserplatz,

bot willkommene Sitzgelegenheit im Freien. Die ‹Drögeler›

prägten das Stadtbild rund um das Casino und um den

‹Barfi› im Grossbasel.

Dann kam die Landesausstellung Grün 80 nach Basel.Die

ganze Schweiz sollte Gast sein.

Diese ‹Drögeler› mussten weg. Sie störten das Bild Gross -

basels gewaltig, speziell wenn der Rest der Schweiz zu Be -

such war. Etwas musste geschehen.

Im Zugzwang der nahenden Eröffnung von der grossen Aus -

stellung wurde das ‹Balance› geschlossen, die ‹Seibi› auch,

die ‹Klagemauer› wurde abgerissen und die Drogenszene

in Grossbasel schien zerschlagen. Jedoch das Problem nicht

gelöst.

Die ‹Drögeler› zogen um, sie nahmen postwendend den

Claraplatz in Beschlag.

Johanna erzählt:

«Nach dem Tod meines Mannes erhielt ich das Wirtepatent

geschenkt. Ich war inzwischen als Ersatz für meinen Mann

etabliert, nach der unglücklichen Untervermietung hatte

Page 42: Schluuch - Buch

42

sich der Betrieb bis 1981 unter meiner Führung gut erholt.

Wir hatten insgesamt zwei Mal untervermiete. Beide Mie -

ter hatten nicht reüssiert. Die beste Menükarte nützt

nichts, wenn nicht der Service, das Ambiente und über-

haupt jedes noch so kleine Detail im Betrieb stimmen. Mir

sagte einmal ein Gast:

«Wenn Du in den ‹Schluuch› kommst, dann kommt die

Sonne herein.»

Natürlich ist das persönlich gefärbt und sollte mir den

‹Schmuus› bringen, trotzdem, viele scheitern in der Ga stro -

no mie, weil sie nur einen kleinen Teil der erforderlichen

Palette beherrschen. Auf jeden Fall erhielt ich das Patent

geschenkt, mit der Auflage, dass dies nur für diesen Be -

trieb Gültigkeit habe.

In den Jahren nach der Grün 80 hat sich die Szene im

Kleinbasel drastisch verändert. Grund dafür waren die

ver triebenen ‹Drögeler› aus Grossbasel. Dort wurden sie

ver jagt, im Kleinbasel verteilten sie sich, ohne dass dem

Problem beigekommen worden war. Als das ‹Balance› ge -

schlos sen wurde, zog die ganze Truppe in den ‹Fährimaa›

am Claraplatz. Das Restaurant war im ersten Stock. Als

diese Liegenschaft an die UBS verkauft wurde, zogen die

Vertriebenen dem Rhein zu. Die Greifengasse hin unter, in

die Rheingasse und an das Rheinufer.

Plötzlich sind wir von Drogensüchtigen überrollt worden.

Niemand wusste, wie mit dem Problem umgehen, niemand

war richtig aufgeklärt oder informiert.»

Diese Worte Johannas verkörpern das wohl grösste Pro -

blem im Umgang mit Suchtpolitik. Die Drogenpolitik wurde

zu lange von Leuten geführt, die über das Thema nur

Schlagwörter austauschen konnten und ansonsten über-

haupt keine Ahnung über die Suchtproblematik hatten.

Oder haben wollten.

Die Süchtigen wurden bekämpft – das resultierte lediglich

in einem Aktionismus, der einer Symptombehandlung gleich -

kommt, die Ursachen wurden nicht angegangen.

Und wie in der Zeit der Prohibition in Amerika, profitier-

tem auch bei uns hauptsächlich der Schwarzmarkt und die

Kriminalität von der Kurzsichtigkeit der Gesetzesmacher.

So kam die Drogenszene im ‹alte Schluuch› an und Jo han na

versuchte, die Lage zu meistern:

«Für mich als Frau war das sehr, sehr schwierig. Ich konn-

te sie nicht aus dem Restaurant vertreiben, also bin ich

höflich und neutral geblieben, obwohl ich dafür ausgerech-

net von meinen Mitbürgern und von der Polizei unter Druck

gesetzt wurde. Aber geholfen hat niemand. So lernte ich

bald, dass die Pupille in der Grösse einer Stecknadel den

Heroinkonsumenten verriet, wenn die Pupille wie ein Teller

erweitert war, wurde Rohypnol ‹geschmissen›.

Page 43: Schluuch - Buch

43

Oder was sonst alles unterwegs war. Weil ich fair blieb und

sie jederzeit gleich bediente wie all die anderen Gäste auch,

wurde ich bald als eine ‹Mutter der Gasse› betitelt. Die

einen haben sich gefreut, die enderen haben sich geärgert.

Kaum jemand bedachte, wie viel Arbeit und Auf merk -

samkeit die Anwesenheit dieser Gäste dem Personal und

mir abverlangte. Dann begann die Polizei, im ‹alte Schluuch›

Razzien durchzuführen. Schlussendlich wurde ich von den

Fahndern vorgeladen und in einem Gespräch mit einer

ganzen Runde Männer dazu aufgefordert, mit ihnen zu ko -

operieren. Meine Beobachtungen zu melden, über meine

Gäste Bericht zu erstatten.

Ich verneinte vehement. Das kam überhaupt nicht in Frage.

Ich würde nie und niemanden denunzieren. Das war meine

Antwort. Abgesehen davon hätten sie überhaupt keinen

Nutzen, wenn ich ihnen Kranke, Süchtige und

Beschaffungs kri minelle ans Messer liefern würde, wäh-

renddem sie die Grossen und Drahtzieher verschonen wür-

den. Das fügte ich hinzu.

Als ich dann vom Vorsteher des Dezernats persönlich im

Lift nach unten begleitet wurde, sagte der mir unverblümt,

dass ich mein Patent verlöre, wenn sich die Gäste im

‹Schluuch› nicht ändern würden. Das war eine Drohung.

Ich ging noch am gleichen Tag zu Frau Dr. Schultheiss, der

Anwältin vom Wirteverband und klagte ihr mein Leid. Ihre

Reaktion war unmissverständlich, sie sagte: «Das ist un -

haltbar, solange ein Wirt nicht selber abhängig ist oder mit

Drogen handelt, ist so ein Vorgehen unzulänglich und gegen

das Gesetz.» Sie kümmerte sich um die Angelegenheit, da -

nach hatte ich Ruhe.

Christoph ‹Stöffi› Mercier im Gespräch mit Barbara Kuhn und Imbi

Page 44: Schluuch - Buch

44

An dieser Stelle muss aber auch gesagt werden, dass der

‹alte Schluuch› nicht einfach plötzlich eine Drogenkneipe

war, wie viele spekulierten. Überhaupt nicht. All die ande-

ren Gäste aus der Ausgeh- und Vergnügungsmeile kamen

immer noch und immer wieder, lediglich die zwei vorderen

Tische waren eine Art Stammtische für die Drogen süch -

tigen. Das Publikum blieb immer gemischt, meine Neu tra -

li tät hatte sich herumgesprochen und machte sich diesbe-

züglich bezahlt.

Bis dann Ende der neunziger Jahre das Baudepartement

bei mir vorsprach – und mir die Sicherheitsbewilligungen

aller Installationen absprach. Dann war klar, dass der da -

ma lige ‹alte Schluuch› zu Ende war.» Ein Ende, das seiner-

seits einen Neuanfang beinhalten sollte, wie die Fort -

setzung dieser Geschichte zeigen wird. So schliesst sich der

Kreis zum Anfang dieser Episode und bestätigt dessen

Aussage, dass nur die Veränderung von Bestand sei.

Und dass der Mensch mit Klugheit, Respekt und Anstand

diese Veränderung zu seinen Gunsten beeinflussen könnte

– wenn er das nur wollte.

Page 45: Schluuch - Buch

45

Im Fegefeuer der Eitelkeiten

Rauschmittel:

Unter Rauschmitteln versteht man all jene Stoffe bzw.

Drogen, die Menschen zu sich nehmen, um einen veränder -

ten Bewusstseinszustand hervorzurufen; welche geeignet

sind, sie in einen Rausch zu versetzen. Eine Veränderung

der Wahrnehmung kann das Ziel der Einnahme oder eine

unerwünschte Nebenwirkung sein. Alle Rauschmittel

sind gleichzeitig psychotrope Stoffe, jedoch sind die

wenigsten psychotropen Stoffe Rauschmittel. Der

Unterschied be steht in der Absicht oder Funktion, mit

der der Stoff eingesetzt wird und in der Stärke seiner

Wirkung. Ein fliessender Übergang besteht zu den

Genussmitteln. Übliche Beispiele für Drogen: Die welt-

weit am weitesten verbreiteten Drogen sind Koffein (im

Kaffee), Nikotin (im Tabak), Alkohol, Betel sowie

Cannabis. Tabak und Alkohol ver

zeichnen die meisten Todesopfer.

Rauschdrogen bewirken eine Änderung der Aktivität der

Nervenzellen in bestimmten Hirnregionen. Dadurch kommt

es zu veränderter Wahrnehmung des eigenen Selbst und

der Umwelt, die als angenehm oder unangenehm emp-

funden wird.

Aus diesem Artikel über Drogen (Internet: Wikipedia)

geht klar hervor, dass jede Form von Drogenkonsum mit

einer veränderten Wahrnehmung, einem veränderten Be -

wusstseinszustand, Hand in Hand geht. Die Palette der

Stoffe die einen solchen Zustand bewirken können ist riesig,

neben den natürlichen und künstlichen Produkten gehö-

ren ohne Zweifel auch soziale Funktionen wie Macht be -

wusstsein, Grössenwahn, Gruppensuggestion und Eitel -

keiten zu den verändernden Faktoren.

Während den vielen Jahren als alternativer Künstler ar -

bei tend, in den verschiedensten Kulturbetrieben und Brot -

jobs, habe ich vermutlich fast jede Droge gesehen und

ihre Wirkung an Leib und Leben kennen gelernt. Per -

sönlich oder an meinem Umfeld.

Nach all den Beobachtungen und nach einigen selbst-

ständig gemachten Erfahrungen glaube ich feststellen zu

können, dass der gewünschte Zustand bei einer Drogen -

beanspruchung immer mit einem Realitätsverlust zusam-

menhängt. Wenn die Wirklichkeit nicht den Zu stand be -

reit hält, den die Konsumenten oder Bean spru cher als den

gewünschten Lebenszustand identifizieren wollen, grei-

Page 46: Schluuch - Buch

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fen sie zu dem Mittel, das ihnen am schnellsten die Illusion

der zurechtgebogenen Realität verschafft. So gesehen

hängt das Phänomen Drogen mit dem Phänomen Sehn -

sucht oder Selbstsucht zusammen: Die Sehnsucht und

Selbstsucht nach einer Welt, wie sie nach persönlichem

Gutdünken sein sollte.

Dass dies oft mit gewaltigen Lebenslügen Hand in Hand

geht, wird von den Betroffenen in Kauf genommen. Die

einen werden auf diese Weise in den Sog des sozialen und

körperlichen Zerfalls gezogen, sie werden als gesellschaft -

liche Verlierer deklariert, die anderen etablieren damit

einen Egoismus, der die soziale Ausbeutung seiner Mit -

menschen problemlos in Kauf nimmt. Landläufig ausge-

drückt ‹setzen sie sich durch›, das macht sie dann zu den

Gewinnern in diesem Spiel. Ob mit legalen oder illegalen

Mitteln, das Produkt bleibt leider das Gleiche, wenn es

die Übervorteilung des Mitmenschen in Kauf nimmt.

Bei beiden Gestaltungsmöglichkeiten der Lebensführung

bleiben in der Regel die Ehrlichkeit und die soziale Kom -

pe tenz vollständig auf der Strecke.

Soviel zu meinen Beobachtungen. Ohne das schwierige

Thema verharmlosen zu wollen (so etwas steht mir wirk-

lich fern), möchte ich mit meiner Kurzgeschichte nicht

von einem substanzbezogenen Ego-Trip sprechen, son-

dern eine kleine Selbstsucht thematisieren, über die ich

mich heute noch ärgere. In dieser Geschichte wurde ich

Opfer meiner Eitelsucht:

Schauspiel hängt zwangsläufig mit ‹zur Schau stellen› und

‹sich produzieren› zusammen. Es ist allgemein be kannt,

wie turbulent dieses Fegefeuer der Eitelkeiten sein kann.

Der Drang zum Schönen fordert den Mut zum Un schö -

nen, das Gefällige verlangt das Verstossene. Schwierig.

Wer nicht durch und durch im Sich-Exponierenden ruhen

kann, verliert sich gerne einmal im Schönen. Oder im

oberflächlich Dummen. Oder in Beidem. Aber das tut der

geforderten Ehrlichkeit vom Schauspiel keinen Gefallen,

im Gegenteil, dort entsteht das überkandidelte Spiel, in

englischer Sprache ausgedrückt, der «Trash».

So geschieht es öfters, dass man schöner sein will, als es

die Wirklichkeit für einen bereithält, obwohl die Wirk -

lichkeit immer noch besser wäre, als das, was man daraus

macht.

Jedenfalls bei mir war das so. Ich habe im ‹alte Schluuch›

gearbeitet, als ein Schauspielkollege bei mir vorbeischau-

te. Er fragte mich, ob ich mich für eine szenische Lesung

Page 47: Schluuch - Buch

47

bereit erklären könnte. Er würde schon eine Weile nach

der geeigneten Person suchen, wäre aber bis jetzt nicht

fündig geworden. Ein lokaler Kulturveranstalter hätte ihm

den Tipp gegeben, ich würde mit dem gesuchten Profil

perfekt zusammen passen. Na, das hat mir geschmeichelt.

Musste es sich doch bereits herumgesprochen haben,

dass ich mit szenischen Lesungen sehr vertraut war und

diesbezüglich über ein beachtliches Leistungszeugnis ver-

fügte. Welch grosse Wohltat.

Natürlich würde ich mich um die Lesung kümmern. Na -

türlich würde ich zu den ersten Proben kommen. Natür -

lich. Ich kam dann zu den ersten Proben und der Schau -

spieler drückte mir ein Buch von Gottfried Benn in die

Hand. Dessen Bild zierte die Titelseite und – ich war zu

Tode beleidigt. Ich sah das Bild und wusste, warum ich so

perfekt zu der Rolle passen sollte: Der Umschlag zeigte

Gottfried Benn, wie er im Arbeitsmantel an einem Tisch

sass, hoffnungslos übergewichtig, mit schwarzer Brille

und polierter Halbglatze. Ein schleimiger Unhold.

Page 48: Schluuch - Buch

48

Das war zu viel für mich.Ich hatte schliesslich gute Zeiten

gesehen, ich war ein hübscher Jüngling, der die Welt ero-

bern wollte. Die Eroberungen waren verlust reich, jetzt

wog ich hundertzehn Kilo, aber mein Haar war voll und

die Brille brauchte ich vorläufig nur zum Lesen.

Ich war so im Stolz verletzt, dass ich dem Kollegen auf der

Stelle sagte, ich sei nur gekommen um ihm mitzuteilen,

ich hätte ein anderes Engagement gekriegt und müsse

leider verzichten. Damit liess ich ihn konsterniert im Probe -

raum zurück und segelte beleidigt meines Weges. Aus

dem Pro gramm heft erfuhr ich später, dass der sitzen gelas-

sene Schau spieler am Ende die Rolle selber gespielt hatte,

obwohl er als blond gelockter Schönling überhaupt nicht

zum Er schei nungs bild Benns passte. Da hätte es in Basel

viele gegeben, die mehr an Gottfried Benns Aussehen

erinnerten, als er selber das tat. Viele mehr.

Bei diesem Gedanken wurde mir plötzlich klar, dass er

mich wahrscheinlich nicht nur wegen den hundertzehn

Kilo angefragt hatte – und ich schäme mich noch heute

dafür, dieses spannende An gebot ausgeschlagen zu

haben. Aber eitel muss die Welt vor die Hunde

gehen.Und Hochmut kommt vor dem Fall.

Irgendwie wurde mir das dann zum Lehrstück und der

Initialzünder dafür, in Zukunft das ungestüme Wollen

der persönlichen Süchte mehr zu hinterfragen.

Page 49: Schluuch - Buch

49

«Ich sah die besten Köpfe»: Albi – in memoriam«Das ist es...ja, das ist es...»

Ich spürte, wie Albi seinen Griff um meinen Körper locker -

te, sich gerade aufrichtete und seine Arme weit ausbrei-

tete. «Mein Gott, das ist es...»

Sein Wohlgefühl grenzte wohl an eine Obszönität. Ich

musste trotzdem schmunzeln und beschleunigte die Ma -

schine jenseits aller erlaubten Werte. Albi schrie laut vor

Entzücken. Das heulende Motorengeräusch der schwe-

ren Kawasaki vermischte sich mit seinen Rufen. Wir flo-

gen über die St. Johanns Brücke in Basel, in diesem

Moment war der Rhein nur mehr eine fliessende Sehn sucht

des blauen Himmels. Ich liebte das Motorrad und die

Arbeit am Theater, Albi liebte das Heroin und die

Schauspielerei.

An diesem Morgen musste ich ihn zuerst zu dem Süch ti -

genprogramm ‹Janus› fahren, bevor er die Proben zu

dem Stück ‹Second Ending› aufnehmen konnte.

An diesem Morgen – wie an jedem Morgen unserer Zu -

sam menarbeit. Ich holte ihn ab, begleitete ihn zu der

ärztlichen Heroinabgabe, folgte ihm in das Vorstadt-

Theater und beobachtete seine Proben zu dem ambitiö-

sen Stück. Seine Sucht war dabei Programmpunkt, das

Stück handelte vom Drogentod eines New-Yorker Jazz

Musikers. Wenn alle Umstände stimmten, spielte Albi wie

ein Gott. Meine Aufgabe war es, die Umstände zum

Stimmen zu bringen.

«Ich sah die besten Köpfe meiner Generation zerstört

vom Wahnsinn...»

Wie wahr, dachte ich, ich hätte das Engagement nie an -

neh men sollen…

«...ausgemergelt, hysterisch nackt...»

Jetzt stand ich da, halb ausgezogen in einem grossen

Haufen Eiswürfel…

«...wie sie sich im Morgengrauen durch die Neger Viertel

schleppten..»

Hinter mir zerdepperte Albi einen übermannsgrossen

Spiegel auf der Bühne…

«...auf der Suche nach einer wütenden Spritze.»

Und ich rezitierte Alain Ginsbergs grosses Geheul.

Christina Volk begleitete die szenische Lesung auf dem

Saxophon. Sie spielte grossartig und brachte in unserer Pro -

duktion ihre langjährige Bühnenerfahrung mit den Quattro

Stagioni zum Tragen. Trotzdem. Ich zweifelte. Aber die Wir -

Page 50: Schluuch - Buch

50

kung des in Szene gesetzten Textes war gross artig, ganz

entgegen meinen Befürchtungen. Wir spielten für die

jähr liche Versammlung des politischen Drogen stamm -

tisches, viel Prominenz war anwesend, am Schluss konnte

der lokale Vorstoss für einen dritten Abgabeplatz des staat -

lichen Methadon-Programms entschieden werden. Einmal

mehr war Albi der Vorzeige-Junkie. Hier – und in den fol-

genden Produktionen.

Aber ich misstraute der For tuna, dachte ich doch, dass die

Sympathie für einen be ken nenden Heroinsüchtigen von

kurzer Dauer sei. Albi Klieber war seinerzeit ein begna-

deter Radiomann und hervorragender Sprecher gewesen,

ein Nachmittagsliebling der öffentlich-rechtlichen Sender

für gelangweilte Wohlstandsbürger, bis ihn sein national

vorgetragenes Suchtbekenntnis brutal vom Thron stiess.

Der Fall war tief, die Wunden kaum mehr zu heilen. Der

gesellschaftliche Schaden unreparierbar. So lernte ich Albi

kennen. Am Rande der Gesellschaft. Süchtig und ausge-

stossen.

In Calvin Millers ‹Der Sänger› ist ein Satz geschrieben, der

mich stets an Albis Situation erinnerte. Oft auch an meine,

wenn ich in dem ständigen Existenzkampf des Alternativ -

künstlers das rettende Ufer bürgerlichen Friedens aus den

Augen verlor. In Millers Ballade steht sinngemäss:

«Es ist immer schwieriger zu singen, wenn dir das Pub li -

kum den Rücken zudreht.»

Wie wahr dachte ich, wie wahr. Aber eben schwierig,

wenn man nur singen kann. So jobbte ich und führte

Theaterregie, dann führte ich Theaterregie und jobbte.

Dann jobbte ich wieder und war entmutigt.

Zur gleichen Zeit war Albi einfach heroinabhängig. Dann

drehte der Wind in seinem Leben: Süchtigen-Programme

wurden gefordert. Umfassende Aufklärung der Bevöl ke -

rung und das Bestreben zur Entkriminalisierung der Kon -

su menten. Es entstanden Drop-Ins und soziale Auf fang -

stellen. Sterbehäuser für Aidskranke und Fixer stuben. Die

Sozialpolitiker formierten sich zum besagten Drogen -

stamm tisch und orientierten sich an den holländischen

Suchtprogrammen. Integration statt Repression war an -

gesagt. Das war Albis Chance. Er wurde zum Spielen auf-

gefordert. Quasi als Spieler im Spiel. Als direkt Be trof fe ner

und als Botschafter der Basler Suchtpolitik. Die szenischen

Lesungen waren sehr erfolgreich, es folgte ‹Second Ending›.

Dieses Stück spielte er im Vorstadt-Theater, dann im

Stadttheater.

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51

Christoph Marthaler holte ihn dann in seine Pro -

duktionen und die unerklärliche Glückssträhne des

Junkie-Schauspielers hörte irgendwie nicht auf. Ich er -

wischte mich bei dem Gedanken, dass seine Sucht inzwi-

schen zur Masche verkommen wäre, die ihm erneut einen

sozialen Sympathiebonus einbringen sollte. Themen orien -

tierte Arbeit als berechnender Karriere schub. Diesmal

halt kein Niedlichkeits-Faktor, sondern einen gezielten

Betroffenheits-Faktor.

Dann belehrte mich Albi eines Besseren:

Auf dem Höhepunkt seiner ‹Second Ending›-Spielzeit

fragte er mich, ob ich ihm helfen würde, das Thea ter stück

in den inzwischen vier Fixerstuben von Basel zu spielen.

Unentgeltlich. Dort würde das Stück eigentlich hingehö-

ren. Ich sagte zu und das Folgende gehört zweifellos zu

den härtesten Erlebnissen, die ein Theater macher nach-

weisen kann. Jeweils eine Stunde nach der Metha don ab -

gabe halfen uns die Sozialarbeiter, die Fixerstube zu put-

zen und für eine Aufführung herzurichten.

Schmutzige Spritzen, Watte, Plastikbecher, Apotheker -

Utensilien aller Art, Unmengen verschmutzter Papier -

taschentücher machten dreissig bis vierzig Stühlen Platz,

einem grossen Teppich als Bühne und sechs tragbaren Steh -

lampen. Eine Stereoanlage gehörte mit zum Bühnen bild.

Albi spielte hervorragend – da war kein Unterschied zwi-

schen Stadttheater und Fixerstube. Albi meinte es voll-

kommen ernst. Die Sucht und der Umgang mit Sucht trie-

ben ihn zu erstaunlichen Leistungen. Er war tatsächlich

zum Botschafter geworden, der das Eis der Vorurteile

zum Schmelzen bringen konnte. Auf allen Seiten. Er ver-

langte sich und seiner Kunst viel ab. Sicher auch seiner

unmittelbaren Umgebung, aber er gab nicht auf.

Als er starb, starb er an den Folgen seiner langjährigen

Heroinsucht. Doch ich meine sagen zu können, dass Albi

sehr wohl mit den Drogen starb. Aber die Drogen haben

ihn nicht umgebracht.

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Gruppenbild mit dem verstorbenen Inigo Gallo und Klaus Maria Brandauer

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Bohème, Kunst und Kultur: Wandel eines Quartiers«Nachdem mir das Amt die Installationen im Haus abge-

sprochen hatte, blieb nur der Verkauf von der Liegenschaft

– oder deren Renovation. Was folgte, das war die grösst-

mögliche Veränderung, die der ‹alte Schluuch› mitmachen

konnte und mitgemacht hat. Diese Veränderung war radikal,

aber sehr erfolgreich. Sie widerspiegelt noch einmal die

Wandlung eines ganzen Quartiers. Ich muss betonen, dass

dieser Schritt ohne meine Familie nicht möglich gewesen

wäre.»

Johanna erzählt ruhig, nicht ohne berechtigten Stolz von

dem ehrgeizigen Projekt, das noch einmal alle Kräfte und

alle Aufmerksamkeit gefordert hatte.

Sie erzählt zuerst von den Kindern:

«1988 war Sabine an einer Sprachschule in Stuttgart und

arbeitete dort in der Gastronomie, Hansueli führte bereits

eine Arztpraxis in Biel und Christine arbeitete als So zial -

pä dagogin in Zürich. Wir haben uns zusammengetan und

beschlossen, den ‹alte Schluuch› nicht aufzugeben. Wir kamen

überein, dass wir das alte Haus renovieren lassen wollten

und unter der Geschäftsform einer Familien-AG weiter

betreiben würden. Sabine und ihr damaliger Lebens partner

Robert Schroeder verfolgten die Option, im neu entstehen-

den Restaurant zu arbeiten. Sie absolvierten 1990 die Wirte -

fachschule, und 1991 haben wir den ‹alte Schluuch› ge -

schlossen.»

Der Eingriff war total, sowohl architektonisch, wie betrieb-

lich. Unter der Berücksichtigung der Schutzzonen be stim -

mungen vom Amt für Bau- und Denkmalschutz schuf der

Architekt Freddy Jauch ein kleines Juwel. Qualitativ und

ästhetisch wurden keine Kosten gescheut, nach einem Jahr

Bauzeit strahlte der ‹alte Schluuch› in neuem Glanz. Ent -

stan den war ein schmuckes Restaurant im Brasserie-Stil

mit grosser Fensterfront, einem gut ausgebauten Keller

mit Warenlift und grosszügiger Kühlgelegenheit, einem

um werfenden Aufbau mit originaler Holzdecke und Ver zie -

rungen im ersten Stock und einer schönen Wohnung, ver-

teilt über die restlichen Etagen. Ein kleines Meister werk.

Die Familien-AG wurde unter dem Namen ‹Gastrosophie

AG› gegründet, die Kommunikations- und Produktions be -

ra terin Bettina Wildi aus Zürich, eine langjährige Freun -

din von Sabine Dettwiler, zeigte sich mit Sabine und Robert

für das Betriebskonzept verantwortlich. Dieses Konzept

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beinhaltete eine gute Küche während 365 Tagen, auserle-

sene Weine, Cocktails, Veranstaltungen und Aus stel lun -

gen. Schier Unglaubliches, auf einer so kleinen Wirt schafts -

fläche. 1992 konnte der Betrieb wieder aufgenommen wer-

den, und siehe da – das Konzept war sehr erfolgreich.

Dazu Johanna:

«Natürlich hatte sich zwischenzeitlich auch Kleinbasel

wieder verändert. Die Drogenprogramme haben die Süch -

tigen von der Strasse weggeholt, die Kriminalität ver-

schwand, die Prostitution zog sich in die entsprechenden

Bars und Etablissements zurück und machte Schritt für

Schritt einer neuen Kundschaft Platz: Den Künstlern und

Kulturschaffenden. So gesehen war unser neues Konzept

das Richtige, zur richtigen Zeit.»

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Tatsächlich, der ‹alte Schluuch› war innerhalb kürzester

Zeit Treffpunkt, Ausstellungsraum und Angelpunkt für

Künstler, Bohémiens und Kulturschaffende. Regionale, na -

tio nale, ja, sogar internationale Grössen verkehrten im

kleinen Kulturtreffpunkt. Hanspeter Doll und Christoph

Marthaler aus der Theaterwelt, Esther de Pommery aus

dem Mäzenatentum für Musik, David Schönauer aus der

Welt des Varietes, Alois Bischof und Ewald Billerbeck aus

dem Journalismus, Stephan Bachmann, Sam Keller, Adrian

Bühler, Georg Freuler, Hansjörg Bürgin, Walter Brack, Zir -

kus Maus, Remagen, die Leute vom Stadttheater und von

der Kulturwerkstatt Kaserne, Personen aus der Ver wal -

tung und der Politik – alles was Rang und Namen hatte,

war im ‹alte Schluuch› zu Gast. An Konzerten, Ver nis sa -

gen, oder ganz einfach zum Mittagsmenü.

Über Jahre hinweg waren die Ausstellungen und Kleinst -

kon zerte ein gern besuchter Geheimtipp in Basel. Hoch -

qualifizierte Künstler standen im Wechselspiel mit alter-

nativeren Exponenten: Richterich, Roduner, Wegmüller,

Schulthess, Rasser, Fürst, Cornelia Ziegler; das ist nur

eine kleine Auswahl der namhaften Maler, die ihre Werke

im ‹alte Schluuch› ausgestellt hatten.

Der Musiker Calo Rapallo in Aktion...

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Daneben gab es Konzerte, Lesungen oder Flamenco aben de.

Von Zeit zu Zeit auch eine richtige italienische Disco mit

Michele. Oder Travestie mit Max Madöry. Der Betrieb

brummte und die Gastrosophie AG schaffte, was man kaum

für möglich gehalten hatte: einen völligen Um schwung und

eine Neuorientierung im gleichen Betrieb, mit der gleichen

Besitzerin und der gleichen Betreiberin.

Johanna Dettwiler erinnert sich: «Wir profitierten von

Vielem. Auch von der Laufkundschaft, die im Zug der städ-

tebaulichen Planung einer angestrebten Tangente vom

Barfüsserplatz zum Messeplatz neu dazukam. Dann war

die Küche ein schöner Erfolg. Die Karte war ausgesucht

und speziell, wir servierten täglich zwei Mittagsmenüs, die

Gäste kamen aus den umliegenden Büros und aus der

Novartis. Erstaunlich ist auch die Tatsache, dass es

Stammgäste gab, die dem ‹Schluuch› zeitlebens treu

geblieben sind. Sie haben alle Wechsel mitgemacht und

trugen ganz wesentlich zum Erfolg dieses Betriebes bei.

Es gab auch kleine ‹Schmankerl› wie zum Beispiel die

‹Golden Girls›. Jeden Donnerstagmittag reservierten sieben

pensionierte Ex-Krankenschwestern aus dem Lindenhof

einen Tisch im Restaurant. Wir haben sie nach Herzens -

lust verwöhnt und mehr als einmal blieben sie bis in den

späten Nachmittag hinein in der Gaststube sitzen. Sie fei -

erten auch jeden ‹Santiglaus› im ‹alte Schluuch›. Das war

schön.»

Die Gastrosophie AG arbeitete erfolgreich, trotzdem wie-

derholte sich in kleinen Teilen auch hier die Geschichte, die

Johanna Dettwiler bereits am eigenen Leib erfahren mus-

ste, als sie nach dem Tod ihres Mannes dem Betrieb selber

übernahm. Wer auch immer innovativ arbeitet, wird von

vielen Mitmenschen misstrauisch beargwöhnt. Manchmal

auch beneidet und verleumdet.

Wie schon zuvor ihre Mutter, musste jetzt auch die Tochter

bei der Polizei vortraben, weil diese einen Rotlichtbetrieb

im ersten Stock annahm. Wie sie auf diese Idee kam, dar-

über muss des Sängers Höflichkeit wohl schweigen. Es

scheint, dass es doch Menschen gegeben hatte, die der Fa -

mi lie Dettwiler den Erfolg missgönnten. Als erste Mass -

nahme platzierten die Behörden ‹sicherheitshalber› jede

Nacht ein Polizeiauto auf der gegenüberliegenden Stras -

sen seite. Ohne den Betrieb vorher geprüft zu haben.

Sabine lud sie ein, das Gebäude zu inspizieren, die ver-

blüfften Beamten standen darauf in der Küche und im Ess -

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zimmer der inzwischen verheirateten Parteien Schröder-

Dettwiler. Kein Jahrhundertfang, also. Wie schon bei der

Mutter, herrschte dann auch bei der Tochter Ruhe.

Nach sechs Jahren gab es familienbedingt noch einmal

einen Wechsel im ‹alte Schluuch›, die Familien-AG wurde

stillgelegt und Johanna Dettwiler führte den Betrieb ein-

mal mehr alleine weiter. Inzwischen war bereits der Kas -

sen sturz auf die Qualität im kleinen Szenen-Bistro aufmerk -

sam geworden, in einem schweizerischen Qualitä/Preis/

Lei stungsvergleich erhielt der ‹alte Schluuch› die Note 4,6

und belegte den sensationellen fünften Platz in einer lan-

gen Reihe geprüfter Restaurants aus Basel, Bern, Luzern,

Zürich, Fraubrunnen und Solothurn.

Johanna Dettwiler berichtet: «Die letzten dreieinhalb

Jahre waren eigentlich sehr schön. Ich habe den Betrieb

noch einmal persönlich erfahren, konnte mich auf diese Art

verabschieden und würdig lösen. Diese letzten Jahre waren

begleitet von sehr treuen Mitarbeitern, ich denke dabei an

Ruedi Müller, an Caroline Widmann, an Elfriede Reck -

ziegel, an Isabelle Keller und an Sonja Michel. Sie haben

mich wunderbar begleitet und im Jahr 2001 habe ich dann

einen Käufer für die ganze Liegenschaft gesucht. Der Ver -

kauf kam zustande, am 01. Januar 2002 hat der neue

Besitzer und Betreiber sein Geschäft angefangen. Mein

Abschied vom Restaurant, vom Haus und von den Gästen

war zum Teil von Tränen begleitet, ich vergesse nie das rie-

sige Zeitungsinserat mit hundert Unterschriften von über-

aus geschätzten Stammgästen, die sich auf diese Art per-

sönlich von mir verabschiedeten. Ich habe den Schlüssel

von der Liegenschaft übergeben – und erst dann hat sich

das Licht meines Mannes zur Ruhe gesetzt.»

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Johanna Dettwiler

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Vier Elemente und Gottes Hauch des Schicksals

Einige lächeln darüber, andere finden es beschämend,

wieder andere sehen darin eine kreative Notwendigkeit;

wenn man in New York im Restaurant bedient oder im

Taxi ge fahren wird, liegt die Chance bei etwa 80%, dass

der Fah rer oder die Kellnerin aus dem Schauspiel- Tanz-

oder Modellbusiness kommt. Die existenzielle Not wen -

dig keit vom Gebrauch eines Überbrückungsangebots aus

den vielfältigen marktwirtschaftlichen Dienst leistungs -

be reic hen während der Entwicklung einer künstlerischen

Kar riere ist allgegenwärtig. Bei uns wird so etwas eher

verschwiegen oder nicht ernst genommen, der Profi muss

schlussendlich von seinem Beruf leben. Das sehen jedoch

nicht alle gleich, im Gegenteil: Es gibt Künstlerinnen und

Künstler, die in ihrer Arbeit keine Kompromisse mit In sti -

tu tionen eingehen wollen und unter dem Druck der

kapitalistischen Existenz be wäl tigung alternative Lebens -

mo delle errichten – und sehr erfolgreich betreiben. Dazu

gehört eben auch das temporäre Arbeiten in Brotjobs.

Oft führt diese Lebensweise sogar zu autonomen Mo -

dellen der interdisziplinären Kultur be mü hungen. Häuser

werden gemietet, bespielt, betanzt, mit Gastronomie-

und Kursangeboten ausgelastet, an die Party-People-

Commu nity vermietet, kurzum, der so genannte Off-

Broadway entsteht, begleitet von alternativen Zwi schen -

nut zungs modellen, deren soziokultureller Charakter

heutzutage längst als städteplanerisches Muss an den

Fach hoch schu len gelehrt wird. Damals hatte so eine

Zwischennutzung noch mit der illegalen Besetzung ange-

fangen. Kenner der Kulturbetriebe können nun bestäti-

gen, dass genau diese Off-Broadway Szene der notwen-

dige Durch lauf er hitzer für neue Stücke und junge

Interpreten/innen darstellt. Im Feuer dieser Umgebung

kristallisiert die grosse Kunst. Mit anderen Worten: ohne

Off-Broadway, kein Broad way. So kann man das auch

sehen.

Gut, es gibt immer Grauzonen. In dieser Kulturgegend

trifft Qualität oft auf Einbildung, manchmal Einbildung

auf Qualität. Davon handelt die folgende Geschichte:

Ein Teil dieses eben beschriebenen Prozesses ist selbstver-

ständlich auch in der Schweiz sichtbar. Alternative Kul tur -

ga stronomie stellt einen aktiven Posten in der Existenz -

bewältigung vieler Künstlerinnen und Künstler dar. Sie ist ein

Schmelztiegel von Talenten, beinharter Arbeit, Ein bil -

dungen und Hoffnungen. So habe ich im ‹alte Schluuch›

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einen Künstler kennen gelernt, der mit wahrhaft kreati-

ven Loopings ein Varieté- und Zigeunerleben finanzierte.

Das Schaubudenleben war seine Leidenschaft. Er legte

Karten, wahrsagte, kochte, sang, spielte als Pantomime;

er war ein Multitalent, dem schlussendlich jeder gute Im -

pre sario eines Schaubudentheaters zu Grunde liegt. Das

sich aber auch leicht verheddern kann. Denn grosse Aus -

wahl an Können erfordert umso grössere Disziplin in der

Anwendung. Sein Künstlername war Noël.

Dieser Künstler hatte vernommen, dass ich mit dem

Theaterwesen liiert war, irgendwann in einer No vem ber -

nacht stand er vor mir und fragte mich, ob ich ihm eine

kurze Show choreographieren würde. Es waren Proben

für eine Life Performance, die er in der Sylvesternacht in

einem noblen Hotel in St. Moritz geben sollte. Als Teil

eines Dinner-Spektakels. Ich wollte ihm gerne helfen.

Sein Thema war tatsächlich recht anspruchsvoll, er wähl-

te die vier Elemente als Grundbasis seines Aktes und sah

sich selber als eine Art göttlicher Belebung zwischen Tanz

und Pantomime.

Da waren Erdhaufen mit pyrotechnischen Effekten, da

waren grosse Wasserschalen mit schwimmenden Kerzen,

da waren Seidentücher und Windaggregate. Er selber

stellte eine Art Geist dar, der zu Musik und Gedichten

den Weg zum Äusseren eines Menschen fand. Das Ganze

war sehr poetisch und verspielt, am Schluss hatte ich

Freude an dem Geprobten. Tänzerische Mängel konnte

er ge schickt wettmachen, ich war überzeugt, dass die

Show Gefallen finden würde.

Wir stolperten einzig über die Maske. Mir schwebte ein

märchenhafter Faun vor, allein seine Brille störte halt

gewaltig. Mit Linsen spielen wollte er nicht. Doch wer

hat schon Barischnikow mit einer Brille tanzen sehen?

Oder Marcel Marceau mit einem echten Nasenfahrrad

Pan to mime spielen? Das geht nun mal wirklich nicht.Also

habe ich mit ihm die Schritte gezählt. Der Abstand zum

Feuer, den Abstand zu den Wasserbecken, die Distanz zu

den Erdhügeln – Schritt für Schritt und Bewegung um Be -

we gung. Noch einmal und noch einmal.

Aber mein guter Künstlerfreund war nicht nur halbblind,

er hatte auch vergessen, wie gross die Bühne im Hotel

wirklich war. Die Distanzen waren viel weiter als geplant,

die Brille anziehen kam für ihn trotzdem nicht in Frage.Er

spielte auf gutes Glück.

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Die Quittung darüber konnte man am Neujahr in der

lokalen Zeitung lesen: in der Sylvesternacht haben die

Bühnenvorhänge des Hotels Feuer gefangen. Zum Glück

standen genug Wasserschalen im Raum, der Brand konn-

te mit deren Inhalt gelöscht werden.

Ich habe mir dann gedacht, dass es Gott eigentlich ganz

gut mit seinen Elementen gemeint hat. Alle waren zur

rechten Zeit am richtigen Platz. So schien es mir.

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Eiskompressen und Bremsspuren

Die Arbeit hinter der Theke ist oft eine fantastische. Das

Leben prallt gegen die Bar wie ein ständiger Wellen gang;

es schäumt, zischt, säuselt, tobt.

Speziell am Tresen verlangt der Gast jede Art von Auf -

merk samkeit. Er will entspannen oder angeregt werden.

Er will abladen oder zuhören. Er will glücklich sein oder

streiten – in jedem Fall will er die ganze Konzentration

seines Gegenübers.

Ich liebte meine Arbeit als Barmann. Ich liebte die Kom -

mu nikation und verglich mein Reich der Gläser und Fla -

schen oft mit dem Gang des Dompteurs in der Zirkus are na.

Manchmal war es auch eine Falle, aus der ich nicht ent-

wischen konnte.

Ich erinnere mich an eine bestimmte Adventsnacht:

Der Abend war bereits fortgeschritten, die Gäste im Re -

stau rant guter Stimmung. Die Bar war geschmückt, die

heilige Zeit hielt bedächtig Einzug. Wie ich das genoss.

Das Silber glitzerte, die Gläser funkelten, die Kerzen

leuchteten; ich mochte die festlich-wohlige Atmosphäre.

Drei deutsche Touristen dachten wohl das Gleiche, die

Frau und ihre zwei Begleiter betraten das Restaurant und

kamen direkt an die Bar. Es waren ausnahmslos elegante

Erscheinungen, die den Abend gepflegt beenden woll-

ten. So ihre Worte. Dafür waren Hahnenschwänze genau

das Richtige. Cocktails. Farbige Verführer, oh, ich zele-

brierte sie. Blue Lagoon, Nevskij Prospekt, White Russian.

Drei königliche Drinks zum Ausklinken. Danach ein

Nevskij Prospekt und zwei White Russian. Dann drei Mal

Champagner. Zum Ausklinken. Wir unterhielten uns präch-

tig, meine deutschen Gäste lobten die fachmännische

Dienstleistung. Und wollten zum Abrunden des Abends

noch etwas bestellen.

Damit nahm das Schicksal seinen unergründlichen Lauf.

Ein betrunkener Gast aus dem Restaurant bestellte das

berühmte ‹Äntebüsi›. Schon klar, dass dann ausgerechnet

dieses Gebräu auch der Absacker meiner Touristen sein

sollte. Ich warnte. Natürlich ist der Gast König – trotz-

dem: Wodka, Gin, Blue Curacao, Cointreau, Champagner,

Kaffeelikör, das Ganze getoppt mit einer Mischung aus

Kernobstler und Kümmelbranntwein; ohne den Teufel an

die Wand zu malen – das brauchte doch einen guten

Verdauungstrakt.

Page 63: Schluuch - Buch

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Keine Sorge, war die Antwort, wir sind geeicht. Gesagt,

getan. Rein damit und weg damit. Und ha, ha, ha. Der

Mann im Lodenmantel richtete sich plötzlich kerzengera-

de auf, einen Blick in den Augen, der gut und gern als

eine Mischung zwischen dem Ausdruck eines verstörten

Kalbs und dem eines hilflosen Kindes hätte durchgehen

konnte.

Das darauf folgende «Ohhhh..ach..uahhh» war im ganzen

Lokal zu hören. Sein Mageninhalt spritzte mit Schmackes

über meine Theke, meine Gläser, mein Alles. Ein letztes

Stöhnen, dann sank der Unglückliche in die Knie. Das war

hammerhart. Begleiterin und Begleiter stemmten ihn

schwankend hoch und schleppten ihn nach draussen.

Ich stand in der Schweinerei, einem Nerven zu sam men -

bruch ziemlich nah. Und genau in diesem Moment sah

eine generalbeschwipste Krankenschwester die Heraus -

for derung ihres Lebens. Sie kam zur Theke und ich war

Page 64: Schluuch - Buch

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einfach zu langsam. Respektive, ich habe sie gar nicht

rechtzeitig beachtet. Sie nahm die drei Champagner fla -

schen aus der Eisschale, krallte sich den grossen Silberbe -

hälter und marschierte damit zum Ausgang.

«Braucht ‘ne Abkühlung... braucht er», schwafelte sie und

war draussen. Ein Regisseur hätte bestimmt Mühe, das

Folgende zu inszenieren: Mit einem kleinen Hopper in

Richtung der zusammengesunkenen Gestalt auf dem

Trottoir verabschiedete sich die Krankenschwester vom

aufrechten Gang und stülpte dem Unglücklichen den

Champagnerkübel förmlich über den Kopf. So endete

ihre gut gemeinte Abkühlung. An die drei Kilo Eis schlu-

gen in kleinen Stücken auf ihn nieder, während der

Kübel und die Schwester in grossem Bogen auf die

Strasse flogen. Ein Fahrradfahrer wurde selbstverständ-

lich mitgerissen. Das Chaos war unbeschreiblich.

Irgendwie wurde nur noch geblutet, gekotzt und

gestöhnt. Die Polizei und die Sanität waren recht schnell

zur Stelle und halfen, wo sie konnten.

Ich war inzwischen nur noch Stoiker. Aber ich vergesse

den Satz des Protokoll führenden Polizisten nie: Ich stand

hinter der Theke, meine Hände steckten in grünen Gum -

mi handschuhen, zu meinen Füssen war ein Kübel heisses

Wasser mit dem unvergleichlichen Javel-Geruch, überall

waren nasse Tücher – der Mann nimmt seine Mütze vom

Kopf, kratzt im Haar und sagt: «Ich...wie...», dann beugt

er sich vertraulich nach vorne und fragt schnell: «Wie

kommt eigentlich die Bremsspur auf ihren Bauch?»

«Ach Göttchen... ach Göttchen...», habe ich mir ge dacht.

Wie wohl? Eine betrunkene Krankenschwester haut einem

deutschen Touristen einen Eiskübel über die Rübe und

lässt sich auf offener Strasse von einem Fahrrad überfah-

ren. Ganz einfach, dachte ich. Und trotzdem nicht richtig

das Wahre für ein Protokoll.

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Blondie / in Memoriam

Der Schweizer Künstler und Kunsttheoretiker Rémy

Zaugg hat gesagt, dass ein Werk ausserhalb seiner Wahr -

neh mung nichts sei. Mit anderen Worten: Kunst ausser-

halb ihrer Wahrnehmung ist tot. Zu vergleichen mit einem

Sprecher ohne Zuhörer. So ist jede Kunst zweifellos ein

Medium, das in eine direkte Kommunikation mit ihrem

Konsumenten tritt. Oder treten muss, wenn sie erfüllt

sein will.

Es gibt gute Kunst, provinzielle Kunst, schlechte Kunst,

Kleinkunst, geniale Kunst, unverstandene Kunst, lang-

weilige Kunst, moderne Kunst; je nach dem Ausüben und

dem Verkaufen des Handwerkes, welchem jede Kunst be -

stre bung schlussendlich zu Grunde liegt. Zusammen fas send

kann man sagen: Jeder menschliche Gedanke sucht sich

ein Medium als Ausdrucksform, die kann dann Kunst

sein. Das ist aber nur die eine Seite der Kunstausübung,

die andere Seite ist das Leben der Kunstschaffenden selber,

welches oft eine eigene Sprache und eine eigene Bot -

schaft enthält. Oft leise und kaum beachtet, manchmal

laut und verdrängend. Zwischendurch einen ganz ande-

ren Sinn vermittelnd, als es der Künstler mit seinem Werk

tut.

Dort stand Blondie. Sie malte, als hätte Charles Bukowski

einen schlechten Tag erwischt. Ihre Bilder waren wie ihr

Auftritt: schrill, laut, ungeordnet, ungezähmt; im besten

Fall Pop-Art, im schlechtesten Fall dilettantisch. Das war

meine Meinung, die war aber bestimmt nicht gefragt,

denn ich finanzierte mein eigenes Künstlerdasein mit

dem Brotjob in der Kleinbasler Szene-Kneipe. Der ‹alte

Schluuch› wurde bereits seit einigen Jahren als Ausstel -

lungs plattform für die Kunstszene benutzt. Dort traf ich

Blondie, respektive sie traf mich, denn ich arbeitete le dig -

lich, während sie den Künstlertreff zu ihrer Zweit be hau -

sung machte. Den Einen zur Freude, den Anderen zum

Leid. Dann kam der Tag ihrer Ausstellung.*

«Schatz, mach nicht so ein Gesicht und gib mir noch ein

‹Äntebüsi›.» Blondie kniff mich in die Wange und schick-

te gleich einen Kussmund nach. Mein Gott, ein ‹Äntebüsi›

war eine Mischung aus Kernobstler und Kümmel brannt -

wein und wer so etwas soff, hatte meines Erachtens Hilfe

nötig. Trotzdem musste ich lachen. Wie sie mich immer

irgendwie zum Lachen brachte. Der ‹alte Schluuch› war

zum Bersten voll. Die ganze Kleinbasler Kunstszene war

versammelt. Blondie war lokal bekannt, ja sogar be rühmt.

Page 66: Schluuch - Buch

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Sie verkörperte die ‹femme fatale› schlechthin und zog

jeden in den Bann ihrer Zügellosigkeit. Doch habe ich

schliesslich vor ihrer Offenheit kapituliert, war ich doch

ihr ‹Lieblings-Barmann›, je nach der Ausserordentlichkeit

ihres Wunsches. Oder je nach ihrem Alkoholpegel. Beide

waren heute gross, der Name ihrer Ausstellung musste

Programm sein. Blondie rief zur Vernissage ihrer Aus stel -

lung ‹König Alkohol›.

Alle kamen, ich war todmüde und genervt von der Arbeit

und dem Volk das sich trunken versammelt hatte. Aber

ich mixte ihr selbstverständlich die beiden Schnäpse in

ein Glas. «Blondie wann wirst Du endlich erwachsen?»

Ich war bestimmt der einzige Mensch, der sie Blondie

nennen durfte. Schlussendlich war ich ja auch ihr

«Schatz, bring mir noch...»

Ich – und vielleicht noch Sabine, die damalige Wirtin des

«alten Schluuch». Mit ihr verband Blondie eine gemein-

sam verbrachte Jugendzeit, deshalb die Vertrautheit im

persönlichen Umgang. Ansonsten konnte Andrea, wie

Blondie mit gutbürgerlichem Namen hiess, anmassend,

frech, fordernd und bedenkenlos anarchistisch sein. Wie

mir ihre Antwort einmal mehr beweisen sollte.

«Ich brauche nicht erwachsen zu werden. Damit geht das

Leben verloren. Ich bleibe Kind. Wem das nicht passt,

braucht nicht mir zu verkehren.»

«Aber hallo...» wollte ich zu bedenken geben, «...der

Alkohol wird Dich umbringen.»

«Schätzchen, Du bist rührend. Weisst Du nicht, dass ich

nicht älter werde als vierzig Jahre?»

Blondie lachte mich an.

«Herrgott, dass kannst Du doch nicht...» Ich widersprach

ihr tadelnd.

«Doch kann ich. Weil ich nicht älter werden will.»

Später sagte mir Sabine, dass Blondie seit früher Tee na -

ger Zeit das Gleiche sagte: sie wolle nicht älter als vierzig

Jahre werden. Ich fand das albern und besoffen.

Ein knappes Jahr später sass Blondie wieder an der The ke.

Es war später Sonntagnachmittag und die Fest teil nehmer

hatten sich langsam verzogen. Seit dem Sam stag abend

feierten sie den vierzigsten Geburtstag Blondies. Aus ge -

lassen, wild, uferlos.

Blondie wirkte müde und nicht mehr in bester Laune.

«Gib noch einen Gin-Tonic Schätzchen, dann bin ich zu

einem Motorboottrip eingeladen.»

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Das sonntägliche Befahren des Rheins mit teuren Mo tor -

booten war einigen Baslerbürgern Hobby und Status sym -

bol gleichermassen. Sie kippte ihren Long-Drink und war

weg. Zwei Stunden später betrat eine Bekannte den

‹alten Schluuch›. Bleich, mit Tränen im Gesicht.

«Andrea...Andrea...sie ist tot...ertrunken.»

Blondie war vom Motorboot gefallen. Die Strömung zog

sie in die Tiefe und ihr Wunsch war offensichtlich erfüllt.

Sie starb am vierzigsten Geburtstag.

Jetzt kann man sagen, dass in ihrem Leben Werk und

Existenz identisch gewesen waren. Hemmungsloser Alko -

hol rausch bis zum Schluss. Das kann man sagen.

Das habe auch ich gesagt, am Anfang des kollektiven

Erstaunens über ihren Tod.Doch dann habe ich nachge-

dacht. Ich versuchte mich an Blondies Bilder zu erinnern.

Da war nichts. Keine Erinnerung. Ich dachte an ihre Ex -

zes se. Deren Bild verblich langsam im Nebel der Ver gan -

gen heit und machten platz für andere Prioritäten des

Gedenkens: Was mir von Blondie blieb war eindeutig ihr

Lachen. Ihre Offenheit. Und auf schwer erklärbare Art

und Weise das beeindruckt Sein vor der Klarheit ihres

Willens. Vor der enormen Konsequenz.

Da merkte ich, dass bei Blondie Werk und Leben nicht

identisch waren: das Werk mochte wohl ihre Sucht reprä-

sentieren, jedoch das Leben verbarg eine königliche Aus -

ein an dersetzung, die einer Figur Dostojewskis zur Ehre

ge reichte.Sie verlangte nicht Anarchie, sondern Auto no -

mie. Das ist tatsächlich nicht das Gleiche. Während das

Eine die Gesellschaftsordnung auflöst, verlangt das An -

de re eine Zusammenarbeit, die das Recht des Einzelnen

fördert und ergänzt.

Ich denke, dass ich behaupten darf, dass dies die Philo so -

phie Blondies war. Ihre Konsequenz wurde mir später oft

zur Triebfeder, wenn meine Mutlosigkeit das träge Auf -

geben und Fallenlassen forderte. Das ist mir von Blondie

geblieben. Danke Andrea.

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Schicksalswege: ‹Die Stühle›

Das Glück das ihr sucht, ist nicht das Glück das ihr finden

werdet und was ihr findet, ist nicht, was ihr zu suchen

glaubtet. So lautet das Orakel im Film der Coen Brüder

«Oh brother, where art thou?»

So müsste eigentlich die thematische Zusammenfassung

dieser Geschichte lauten.Wäre da nicht das Theater. Aber

das Theater ist da. Deshalb widmet sich die kurze Er zäh -

lung zuerst diesem Theater, dann dem Glück, obwohl das

Glück in meinem Leben bereits Theater bedeutete.

Die Geschichte beginnt so: Sowohl der in Polen geborene

Jerzy Grotowski wie der italienische Meister Dario Fo ha -

ben ihre Theaterarbeit einem existenzialistischen Puris -

mus verschrieben. Sie setzten dem üppigen Regietheater

der Wohlstandsbürger eine neue Arbeitsweise entgegen.

Dario Fo besann sich der Wurzeln der commedia del arte,

während Grotowski den Bühnenraum ausmistete, sowohl

Requisiten wie Gestik einer asketischen Reinigung unter-

warf und auf diese Art die bourgeoise Verlogenheit der

klassischen Inszenierungen anprangerte. Das war die Ge -

burt s tunde des absurden Theaters und des Living Thea -

ter. Damals begann die Ära der Groteske. Es war die Zeit

Becketts und Ionescos. Arrabals und Dürrenmatts.

Die Moderne suchte ihre eigenen Dramen. Komödie und

Tragödie verschmolzen zur Tragikomödie. Es war aber

auch die Zeit, als sich die alternativen Theatermacher nicht

mehr mit der gekauften und bereitgestellten Bühnen prä -

senz der Institutionen zufrieden gaben, sondern das

Schau spiel in einen unmittelbaren Kontext mit seiner

sozialen Verantwortung brachten. Oder bringen wollten.

So wurden Gesamtkonzepte entworfen, es entstand das

Theater im Wald, das Theater am Tatort und das Theater

in Zwischennutzungsmodellen. Das war auch Tadeusz

Kantors ‹Theater des Todes›. Dort war ich zu Hause.

Meine Auseinandersetzung mit der Bühnenkunst führte

mich über Bern, Zürich, Hamburg, nach New York. Als ich

von Amerika zurückkam, unterrichtete ich in Dor nach

experimentelles Theater, jobbte und plante meine erste

Inszenierung.

Für den Einakter ‹Der Kandidat›, einem traumatischen

Monolog eines Häftlings über sein Gewaltverbrechen,

suchte ich einen bespielbaren Raum. In der Nähe der

Mustermesse fand ich einen passenden Hinterhof. Zwei

mehrstöckige Häuser standen Rücken an Rücken, zwischen

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ihnen an die 15 Meter Kieselbelag und grosse, nackte

Betonwände. Das Ganze war eine klaustrophobisch

anmutende Zementschlucht, ideal um den Eindruck eines

Gefängnisses zu vermitteln. Als ich von den Behörden die

Bewilligung erhielt, fing ich mit dem Bau der Bühne und

des Zuschauerraums an.

Schwere schwarze Leinenstoffbahnen dienten mir als

Bühnendach, zur Beleuchtung wählte ich Talgkerzen. In

kurzer Zeit entstand so ein Theaterraum, der mit Fug und

Recht als speziell bezeichnet werden konnte. Ich probte

das Stück bereits auf der naturalistischen Bühne, als ich

immer noch keine Sitzgelegenheiten für die Zuschauer

hatte. Ungefähr hundert Stühle waren notwendig, mein

Budget erlaubte mir nur noch die Selbstverpflegung mit

Sandwichs bis zum Beginn der geplanten Vorführungen.

Ein klassisches Paradoxon, sozusagen.

Dann kam der erlösende Anruf eines Freundes:

«Du, in der Greifengasse renoviert ein Restaurant. Frag

sie nach den alten Stühlen.»

Der Besuch im besagten Restaurant war leider nicht

erfolgreich, die Stühle waren bereits entsorgt worden.

Ich erhielt aber noch die Information, dass das Kino im

Singerhaus seine Bestuhlung erneuern wolle. Mit dem

Besitzer dort kam ich überein, dass ich die schweren Kino-

stühle ausbauen und entsorgen, respektive in meinem

kleinen Theater wieder einbauen könne. Gratis. Nur Ar -

beit und Transportkosten. Das ging.

So kamen rote Kinosessel in meinen Theaterraum. Gross -

artig. Ebenso grossartig war die Erfahrung mit dieser

Thea terproduktion. Als dann die Spielzeit längst vorbei

war, erinnerte ich mich an das Restaurant an der Grei fen -

gasse. Die Besitzer hatten zwischenzeitlich die Neu er öff -

nung gefeiert, die Kneipe ‹zum alte Schluuch› hatte sich

in einen schmucken Künstlertreff verwandelt. Immer auf

der Suche nach Überbrückungsjobs fragte ich die Wirtin,

ob sie einen Barmann brauchen würden.

Sie dachte, ich sei entweder wunderbar oder sehr schräg,

auf jeden Fall stellte sie mich ein und statt der Stühle

hatte ich Arbeit. Sie besuchte meine Theater. Sie heisst

Sabine. Sie ist die Tochter von Johanna Dettwiler-Minder.

Sie lebt heute mit mir zusammen und unsere Patchwork-

Familie unterhält drei Kinder, die zwischenzeitlich zu

Teenagern herangewachsen sind und ihre Zu kunft pla-

nen. An guten Sonntagen, wenn die Freunde der Kinder

unsere gemeinsame Wohnung stürmen, fehlt uns vor

allem das Eine: genug Stühle.

Page 70: Schluuch - Buch

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Abschied

Liebe Hanni,ich möchte mich mit den Zeilen bei Dir ganz

herzlich bedanken.

Du warst vielmals für mich wie eine Mutter, ein Zu fluchts -

ort und Du nahmst mich so wie ich war und bin. Du hast

mir auch jeden Blödsinn verziehen, vielen Dank! War bis

1983 auf Heroin, viele bemerkten dies nicht einmal, da -

nach auf Alkohol bis im Herbst 1984. Dann wurde ich

schwanger, hörte auf zu rauchen und zu trinken, ja ich

lebte 12 Jahre völlig ohne Drogen, Alkohol und sogar

ohne Mann oder Freund. War nur für meinen Sohn da

und ich bereue nichts.

Nun trinke ich wieder gerne mal so am Wochenende in

Basel. Heroin werde ich nie mehr anrühren.

Ja ich freute mich so sehr als ich Dich wieder gesehen

habe und erinnere mich noch sehr gut daran wie Du

immer für uns, und für mich da warst.

Nun kommt die Zeit da Du den Schluuch in andere Hände

gibst, ist sicher auch schwer für Dich, aber eben alles hat

seine Zeit.

Nochmals vielen Dank für alles was Du für mich, uns

getan hast.

Wünsche Dir gute Gesundheit und einfach alles Gute auf

Deinen weiteren Lebenswegen.

Ganz liebi Grüess vo dr T.

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FotosDie Autoren und der Verlag danken den folgenden Personen für das Bild ma -

te rial, das ihnen kostenlos zur Verfügung gestellt wurde:

• Gaudenz Lüdin

• Georg Freuler

Sollte Bildmaterial verwendet worden sein, welches Copyright-pflichtig ist, bit-

ten wir die Autorin/den Autor, mit dem Verlag Kontakt aufzunehmen. Es war

leider nicht möglich, alle Bilder den Urhebern zuzuordnen.

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