Upload
docong
View
229
Download
9
Embed Size (px)
Citation preview
1
Schuld, Scham, Stigma und Sucht: eine tabuisierte Viererbeziehung
22. Suchtselbsthilfetagung im Land Brandenburg
Verantworten-Vertrauen-Verzeihen – Chance auf den Neubeginn
Sonntag den 19. Februar 2017
Dr.med. Robert Stracke
Chefarzt Fachklinik Hansenbarg
Hanstedt Nordheide / Hamburg
www. hansenbarg. de www.alida.de
Fachklinik Hansenbarg für Abhängigkeits-erkrankungen Hanstedt / Hamburg
3
Einstellungen gegenüber Alkoholkranken in Deutschland / Stigmatisierung psychisch Kranker …
• willensschwach
• arbeitsscheu, arbeitslos, Harzt IV, Penner
• Alki
• aggressiv, unberechenbar
• verlogen, Bagatellisierer
• Sprung in der Schüssel
• Rad ab
• Plemm – Plemm
• Hirnis, Mongos, Epilepis
• Weicheier
• Emos
4
Einstellungen gegenüber seelischen Problemen und Ihre Auswirkungen im Alltag
• G, Chefarzt
• K., Ex- Altenheimleiter
• H., Internist
• Paul, der nette Junge aus der Nachbarschaft
• Robert Enke
• Sprung in der Schüssel
• Rad ab
• Plemm – Plemm
• Hirnis, Mongos, Epilepis
• Weicheier
• Emos
• Saufschnauzen
5
„ Ich habe mich zu Tode geschämt, als mein Mann mich vor den Augen aller Kollegen aus meiner Klinik abholen mußte … ich stand kurz vor dem Suzid. Wegen meines Sohnes habe ich das nicht geschafft …“
Zitat Rehapatientin, 45 Jahre, Kinderkrankenschwester, auf die Frage nach dem Behandlungsanlass bei Aufnahme
6
Diagnosestellung stigmatisiert
Diagnose wird wie Urteil empfunden, das „gefällt“ wird
das Urteil inkludiert negative Wertung / Bewertung
Folge :
Aktivierung des Schamgefühls
Verletzung des Selbstwertgefühls
7
Diagnose alkoholkrank
•aktiviert Abwehr aversiver Gefühle durch
•Bagatellisierung
•Leugnung / Abspaltung
•Verdrängung
8
Schamgefühle
• verletzten Selbstwert
• demütigen
• grenzen aus
• machen sprachlos !
• führen u.U. in die Suizidalität
… und sollten deshalb offensiv angesprochen werden
9
Ursprung und Funktion von Scham (nach Marks
2011)
• Angeboren • Evolutionsbiologisch geprägte Reaktion bei Verletzung
von Gruppenregeln • Existentielles Gefühl wie die Angst: Das Daseinsrecht
des Beschämten wird infrage gestellt ( aus Scham im Boden versinken …)
• Ausprägung stark durch individuelle Lerngeschichte
beeinflußt • „Hüterin der Würde“ ( Leo Wurmser )
10
Charakteristika der Scham
Scham kommt überfallsartig •Gefühl der Entblößung Verlust der Kontrolle über die Situation •Erstarren, Fluchtimpulse, Kampfreaktionen (Stephan Marks: Scham - die tabuisierte Emotion, 2011)
Menschliche Grundbedürfnisse und Entstehung von / Umgang mit seel. Leiden
• Orientierung
• Kontrolle
• Bindung
• Selbstwertsteigerung /
• Selbstwertschutz
• Lustgewinn
• Unlustvermeidung
Therapiehindernisse
• Schuldgefühle
• Schamgefühle
• Bagatellisieren
• Verleugnen
als Ergebnis und Symptom eines Auseinandersetzungsprozesses mit verletzten Grundbedürfnissen
13
Schamgefühlsspektrum
Beschämung
Bloßstellung
Entwertung
Erniedrigung
Verlust des Ansehens, der Achtung
Eine unauflösbare Dyade: Schuld und Scham
• Bahnung durch beschämende Situationen in der Kindheit / Erziehung
• Regelverletzende Situationen durch süchtige Verhaltensmuster ( Beziehung, Familie, Beruf, Freundeskreis )
• Schuld und Schamgefühle als Reaktion
• Dauerhaftes Beschämungs / Schuldgefühl nicht aushaltbar
14
15
Genetische
Ausstattung
SubstanzwirkungIndividuelleIndividuelle
VulnerabilitätVulnerabilität
Prägungsprozesse,
frühe Lebensereignisse
Verfügbarkeit
der Substanz
permissive
Haltung
psychosoziale
FaktorenSuchtSuchtpositive
Verstärkung
Entstehungsbedingung der Sucht
Kiefer, 2005
Komorbidität, Stigma und Scham
• ADHS
• Posttraumatische Belastungsstörungen
• Angststörungen
• Depressive Störungen
• Persönlichkeitsstörungen
• Psychotische Störungen
erhöhen das Risiko für problematischen Drogenkonsum und verstärken Schamproblematik
17
Schuld und Schamgefühle als Ergebnis und Behandlungshemmnis von süchtigem Verhalten I.
• Bedürfnis nach Selbstwertbestätigung durch Sucht verletzt („Alki“) • Verhalten unter Alkohol oft beschämend
• Ergebnis sind Schamgefühle • die wiederum – weil schwer erträglich – verdrängt werden • Akzeptanz des Problems wird so problematisch • Inanspruchnahme von Hilfe = gleich Eingeständnis des Problems (= noch mehr Verletzung des Selbstwertgefühls) verzögert sich
18
Schuld und Schamgefühle als Ergebnis und Behandlungshemmnis von süchtigem Verhalten II.
• Bagatellisierung und Leugnung bei alkoholabhängigen Eltern des Patienten besonders ausgeprägt
• Ausmaß der Leugnung in Abhängigkeit von der als Kind selbst erlebten Gewalt, Entwertung etc • ist das Bedürfnis nach Selbstwert biografisch bereits verletzt worden, bedeutet Alkoholismusdiagnose erneute Demütigung •Die Beschämung darüber macht sprachlos …
Zusammenhang von Scham und Suizidalität bei Sucht
• Prägend sind biografische Ausgrenzungen / Traumata / Vernachlässigungen
• Spätere Verstärkung ( „Reaktivierung“) durch gesellschaftliche Ausgrenzungen als Suchtkranker
• Beide Themenbereiche sind tabuisiert
• Tabuisierung macht sprach – und hilflos
• Hilflosigkeit / Ausgrenzung bahnen Suizidalität
19
Alkohol: Motivationsprobleme
Motivationsprobleme
•Einsichtsmängel •Motivationsmängel zu Therapie •Motivationsmängel zu Abstinenz •Abwehrmechanismen
( Funktion oft Selbstwertschutz, Verleugnungsgrad oft beträchtlich, abhängig vom Sozialstatus)
Wege aus Scham und Suizidalität „motivierende Gesprächsführung“
Ratschlag geben
Alternativen
aufzeigen
Eigenverantwortung
betonen
Empathie und
Akzeptanz der
Ambivalenz
Selbstwirksamkeits-
überzeugung stärken
Rückmeldung
geben
Miller WR & Rollnick S: Motivierende Gesprächsführung. Freiburg i. Br. 1999
Eckpfeiler der motivierenden Intervention
Therapeutische Wirkfaktoren /mittel
Gestörtes Grundbedürfnis
Therapiemittel
Orientierung Klärungshilfe
Kontrolle Aktive Hilfe bei der Problembewältigung /
Problemaktualisierung/
Ressourcenaktivierung
Bindung Einfühlende Beziehung / Milieu
Selbstwertsteigerung / Selbstwertschutz
Einfühlende Beziehung / Milieu / (psycho)therapeut. Angebote
Lustgewinn /Unlustvermeidung
Einfühlende Beziehung / Milieu/
(psycho)therapeut. Angebote
24
Behandlungsprobleme durch Schuld und Scham
• Was vermeidet auch der Therapeut an „beschämenden „ zu thematisieren ?
• Wie stark verhindert Schuld und Scham eine Offenlegung von Rückfällen ? Müssen wir den Patienten da nicht mehr Zeit einräumen ? (z.B. 2 Tage abwarten nach „ Rückfallschock“)
• Wie stark verhindert Schuld und Scham Verschweigen wichtiger Informationen in der Anamnese ?
• Wie stark behindert Schuld und Scham Besprechung anderer aktueller Themen im Verlauf ( z.B. Regelbrüche, Annahme von Paargesprächen, Angehörigenseminaren etc )
25
Behandlungsschritte bei Schuld und Scham
• Gezielte Tabubrüche herbeiführen
• Reden entlastet !
• Schuldgefühle ansprechen
• Schamgefühle ansprechen
• für biografisch bedingte Scham Verständnis zeigen
• „schamhaftes“ mit aushalten
• Von beschämenden „entschulden“
• Von biografisch schuldhaft erlebtem entschulden
• In der Sucht schuldhaft begangenes akzeptieren und integrieren lernen (u.a. ausgeübte Gewalt etc )
Schuld, Scham und Suizidrisiko: die Sprachlosigkeit überwinden …
„ Nicht wenige Menschen, die solche Probleme ( Partnerschaft, Familie, Beruf etc) haben, geraten in eine Sackgasse …“
„Solche Themen sind peinlich – das kann ich verstehen / das ist
menschlich / das kenne ich auch - und machen deshalb sprachlos … „)
„ Hat Ihr Trinkstil/ die Probleme um dieses Verhalten / ihre
schlechten Gefühle, sie schon einmal so unter Druck gesetzt, das sie nur noch ihre Ruhe haben wollten …. ? „
„ … das sie schon einmal daran gedacht haben, sich was anzutun
… „
Schuld, Scham und Suizidrisiko
• Suizidalität und vollendete Suizide bei Suchtkranken immer mitbedenken
• Depressive Syndrome und andere Komorbiditäten sind häufig
• CAVE: Schuld und Schamgefühle machen sprachlos …
• Aktives Ansprechen von Suizidalität
unabdingbar
Schuld, Scham , Stigma und Sucht
• Tabuisierte Viererbande • Auflösen des bandenhaften nur mit (einfühlsamen)Tabubrüchen
möglich • Überwinden eigener Scham und Insuffizienzgefühle auch der
Behandler sinnvoll ! • Einlassen auf Risiken • Leben ist Leiden / Leben ist Abwehr • Akzeptanz von Leid und Abwehr macht das Helfen leichter … • Mit Empathie durchgeführte Behandlungssch(r)nitte dürfen
auch weh tun …
29
J.G. Jung, Psycotherapeut (1875 - 1961): „Ohne Not verändert sich nichts, am wenigsten die menschliche Persönlichkeit. Sie ist ungeheuer konservativ … Nur scharfe Not vermag sie aufzujagen. So gehorcht auch die Entwicklung der Persönlichkeit keinem Wunsch, keinem Befehl und keiner Einsicht, sondern nur der Not; sie bedarf des motivierenden Zwanges innerer und äußerer Schicksale.“ Gerhard Roth , Hirnforscher (geb. 1942): Nur „emotionale Revolutionen“ schaffen die Voraussetzung für grundlegende Verhaltensänderungen
30
Horst Jansson konnte niemand vor seinen „Dämonen“ retten … Vielen Dank für Ihr Interesse ! Und weiterhin viel Erfolg bei Ihrer / unseren Arbeit ! Stracke / Fachklinik Hansenbarg / Hanstedt Hamburg www.hansenbarg.de