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Hans-Günter Rolff Schulentwicklung kompakt Modelle, Instrumente, Perspektiven 3. Auflage PÄDAGOGIK

Schulentwicklung kompakt - ciando ebooks · 2016. 4. 14. · Prof.Dr.Hans-Günter Rolff,geboren1939,ist emeritierter Professoram»Institutfür Schulent-wicklungsforschung« der Universität

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Hans-Günter Rolff

SchulentwicklungkompaktModelle, Instrumente, Perspektiven

3.Auflage

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Rolff

Schulentwicklung kompakt

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Hans-Günter Rolff

SchulentwicklungkompaktModelle, Instrumente, Perspektiven

3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage

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Prof. Dr. Hans-Günter Rolff, geboren 1939, ist emeritierter Professor am »Institut für Schulent-wicklungsforschung« der Universität Dortmund, das er 1973 gegründet hat. Rolff war Visiting-Professor an der Stanford University sowie Gastprofessor in Wien, Graz, Klagenfurt und Zürich.Er ist Consulting Professor an der Shanghai Normal University. Rolff arbeitet seit Jahren in derLehrer-, Schulleiter- und Schulaufsichtsfortbildung. Er gehörte dem Beirat »Zukunft der Schule«des Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen an und war Mitglied des BildungsratsNiedersachsen und Luxemburgs. Rolff bildete Schulentwicklungsbegleiter in Nordrhein-Westfalen,Bremen, Schleswig-Holstein und der Schweiz aus und hat selbst Entwicklungsprozesse von Schulenbegleitet, darunter den des Oberstufenkollegs Bielefeld. Im Jahr 2005 gründete er die »DeutscheAkademie für Pädagogische Führungskräfte« (DAPF), zudem ist er wissenschaftlicher Leiter desMaster-Fernstudienganges »Schulmanagement« der TU Kaiserslautern.E-Mail: [email protected]: (0231) 755-5511Fax: (0231) 755-5517Dieses Buch ist aus einem Studienbrief für den Fernstudiengang »Schulmanagement« des Distanceand Independent Studies Center (DISC) der Technischen Universität Kaiserslautern hervorgegangen.

Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich(ISBN 978-3-407-25732-1)

Die Kopiervorlagen dieses Bandes stehen für Veranstaltungen inSchulen, Seminaren und in der Lehrerfortbildung zur Verfügung.Die Weitergabe der Vorlagen oder Kopien in Gruppenstärke anDritte und die gewerbliche Nutzung sind untersagt.

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. JedeNutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällenbedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teiledürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in einNetzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets vonSchulen und sonstigen Bildungseinrichtungen.

3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2016

Lektorat: Dr. Erik Zyber

© 2016 Beltz Verlag · Weinheim und BaselWerderstraße 10, 69469 Weinheimwww.beltz.deHerstellung: Lore AmannGesamtherstellung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad LangensalzaUmschlaggestaltung: Michael MatlUmschlagabbildung: iStock © dane_mark

E-Book

ISBN 978-3-407-29483-8

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort................................................................................................... 9Abkürzungen............................................................................................................. 10

I. Was ist Schulentwicklung?................................................................ 11

1. Zwei Quellen: Implementationsforschung und Einzelschulorientierung ........ 122. Drei-Wege-Modell der Schulentwicklung.......................................................... 14

2.1 Organisationsentwicklung als Ausgangspunkt .......................................... 152.2 Unterrichtsentwicklung .............................................................................. 162.3 Personalentwicklung ................................................................................... 18

3. Schulentwicklung im Systemzusammenhang.................................................... 193.1 Interner Systemzusammenhang ................................................................. 193.2 Externer Systemzusammenhang................................................................. 22

4. Probleme und Defizite ........................................................................................ 255. Auf dem Weg zur Lernenden Schule .................................................................. 336. Versuch, Schulentwicklung auf den Begriff zu bringen .................................... 367. Schulentwicklung in der Auseinandersetzung ................................................... 37

II. Arbeit mit Steuergruppen ................................................................ 41

1. Aufgaben.............................................................................................................. 412. Voraussetzungen und Arbeitsweise .................................................................... 433. Zusammensetzung .............................................................................................. 444. Kompetenzen und Mandat ................................................................................. 475. Verhältnis der Schulleitung zur Steuergruppe ................................................... 506. Startsituation ....................................................................................................... 527. Externe Begleitung .............................................................................................. 538. Qualifizierung...................................................................................................... 549. Probleme.............................................................................................................. 55

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6 Inhaltsverzeichnis

III. Leitbilder, Schulprogramme und Schulprofile als Orientierungs-und Handlungsrahmen..................................................................... 58

1. Wie sich die Begriffe unterscheiden ................................................................... 592. Kreislauf der Schulprogrammarbeit................................................................... 653. Erste Forschungsergebnisse ................................................................................ 72

IV. Bestandsaufnahme und Entwicklungsschwerpunkte ......................... 76

1. Methoden und Instrumente ............................................................................... 762. Diagnose mit dem ganzen Kollegium ................................................................ 873. Visionen entstehen lassen ................................................................................... 934. Verschriftlichung ................................................................................................. 965. Entwicklungsschwerpunkte vereinbaren............................................................ 1006. Jahrespläne........................................................................................................... 1037. Verabschiedung, Umsetzung und Fortschreibung............................................. 1048. Aufbau einer Evaluationskultur.......................................................................... 1089. Die Rolle der Schulleitung .................................................................................. 111

V. Teamentwicklung und Professionelle Lerngemeinschaften................ 114

1. Unterrichtsentwicklung als Schulentwicklung .................................................. 1142. Stand der Forschung ........................................................................................... 1193. Vorschlag für eine Begriffsbestimmung ............................................................. 1214. Lehrer als reflektierende Praktiker...................................................................... 1235. Fragen zur Praxis der Professionellen Lerngemeinschaft.................................. 124

5.1 Welche institutionelle Basis sollen Professionelle Lerngemeinschaftenhaben? .......................................................................................................... 124

5.2 Welche konkreten Aktivitäten finden in einer ProfessionellenLerngemeinschaft statt?............................................................................... 125

5.3 Wie können Professionelle Lerngemeinschaften ihre Professionalitätsteigern?........................................................................................................ 126

6. Wie können Professionelle Lerngemeinschaften eingeführt werden? .............. 1276.1 Durch gemeinsame Diagnosen................................................................... 1276.2 Durch Schulleitungen.................................................................................. 1296.3 Zwei Beispiele .............................................................................................. 130

7. Perspektive ........................................................................................................... 132

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7Inhaltsverzeichnis

VI. Gelingens- undMisslingensbedingungen von Schulentwicklung........ 134

1. Ausgangspunkt: Die Einzelschule als Gestaltungseinheit.................................. 1342. Was ist eine gute Schule? Schuleffektivitätsforschung....................................... 134

2.1 Definition von Schuleffektivität.................................................................. 1352.2 Merkmale effektiver Schulen ...................................................................... 1352.3 Umsetzungsstrategien, die auf der Effektivitätsforschung beruhen ......... 137

3. Wie gelange ich zur »guten Schule«? – Schulentwicklungsforschung .............. 1403.1 Erkenntnisse und Annahmen der Schulentwicklungsperspektive............ 1413.2 Gelingensbedingungen für Schulentwicklung ........................................... 1413.3 Umsetzungsstrategien, die auf dem Schulentwicklungsansatz beruhen .. 143

4. Auf den Kopf gestellt: Was wissen wir über Misslingensbedingungen? ........... 1465. Energie und Leidenschaft.................................................................................... 1476. Einige Knacknüsse bleiben.................................................................................. 148

VII. Ganzheitlichkeit statt Stückwerk – Perspektiven wirksamerSchulentwicklung............................................................................. 150

1. Qualität mit System – Holistische Schulentwicklung........................................ 1502. Ganzheitliche Gestaltung und resolute Führung............................................... 155

2.1 Das Beispiel Chicago ................................................................................... 1552.2 Das Beispiel »Success for All« ..................................................................... 157

3. Gestaltung durch Change-Management ............................................................ 1603.1 Vier-Felder-Konfigurationen ...................................................................... 1603.2 Unterrichtsentwicklung als ganzheitliches Change-Management............ 162

4. Kohärenz durch interne und externe Vernetzung ............................................. 1634.1 Ganzheitlichkeit als interne Vernetzung..................................................... 1634.2 Ganzheitlichkeit als externe Vernetzung .................................................... 170

VIII. Horizontale Schulentwicklung – Bildungsnetzwerke......................... 174

1. Trend zur Horizontalität ..................................................................................... 1742. Internationale Trends .......................................................................................... 1763. Entwicklungen in Deutschland – das Beispiel NRW......................................... 178

3.1 Beispiele interner Vernetzung ..................................................................... 1793.2 Beispiele externer Vernetzung..................................................................... 1803.3 Zukunftsperspektiven: Auf dem Wege zur integrierten Bildungs-

landschaft ..................................................................................................... 1824. Analyse – Kategorien, die der Klarheit dienen................................................... 183

4.1 Gestaltungsautonomie als Basis.................................................................... 184

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8 Inhaltsverzeichnis

4.2 Kooperation als Kern..................................................................................... 1864.3 Kohärenz und schlüssige Ausrichtung (Alignment).................................... 186

5. Perspektiven und Modelle................................................................................... 187

IX. Rolle der Schulleitung ...................................................................... 191

1. Grundverständnis von Schulleitung................................................................... 1911.1 Führung ....................................................................................................... 1911.2 Management ................................................................................................ 1951.3 Steuerung ..................................................................................................... 196

2. Wie alles zusammenkommt: Konfluente Leitung.............................................. 1973. Neue Tätigkeitsbereiche der Schulleitung.......................................................... 1984. Schulleitungen als reflektierende Praktiker........................................................ 2005. Einfluss auf Schülerleistungen? .......................................................................... 2016. Ausweitung der Schulleitungsrollen................................................................... 205

6.1 Salutogene Leitung ...................................................................................... 2066.2 Führung aus dem Hintergrund – Leading from Behind........................... 208

7. Ganzheitliche, systemische oder holistische Leitung......................................... 212

X. Transfer von Innovationen................................................................ 2141. Formen des Transfers .......................................................................................... 2142. Transfer als Nacherfindung................................................................................. 218

2.1 Prototypen ................................................................................................... 2192.2 Nachhaltigkeit.............................................................................................. 220

3. Change Management als Vehikel ........................................................................ 2224. Transfer durch Personen ..................................................................................... 224

Anhang: Leitlinien zumVerständnis von Schulentwicklung undSchulentwicklungsbegleitung .................................................................. 225

Glossar .................................................................................................... 228

Literaturverzeichnis ................................................................................ 234

Sachregister ............................................................................................ 243

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Vorwort

Schulen stehen unter Entwicklungsdruck, weil sich ihre Schülerinnen und Schüler so-wie ihr Umfeld ändern. Dies ist nicht neu, aber diese Erfahrungen spitzen sich zu,zum Teil dramatisch. Schulen mussten sich schon deshalb entwickeln, um darauf zureagieren. In Deutschland haben viele Schulen inzwischen beachtliche Maßnahmenzur Schulentwicklung durchgeführt: Projekte mit neuen Medien, Entwurf eines Schul-programms, Teamarbeit oder Einführung neuer Fächer. Man kann davon ausgehen,dass jeder Leser bereits Erfahrungen mit Schulentwicklung gemacht hat.

Dieses Buch dient dazu, die Erfahrungen aufzunehmen und zu systematisieren. DerAufbau ist dreischrittig: theoretischer Rahmen, Verfahren und Instrumente, Perspek-tive und Ausblick. Wenn man dieses Buch als Arbeitsbuch benutzen will, lässt man daserste und letzte anspruchsvolle und theoriegeladene Kapitel erst einmal beiseite undsucht sich aus den Zwischenkapiteln passende Instrumente und praktische Orientie-rungen heraus. Zum schnellen Auffinden dient das angefügte Register. Doch diesesBuch ist mehr als ein Rezeptbuch. Es handelt sich um ein Lehrbuch, das den Kursder Schulentwicklung auslotet und beschreibt. Es ist theoriegeleitet, forschungsbasiertund praxisbezogen. Seine Hauptbotschaft lautet: Ganzheitlichkeit statt Stückwerk.

Vorwort zur 3. Auflage

Schulentwicklung muss sich dem Anspruch nach selbst entwickeln, und Schulentwick-lung hat sich seit der 1. Auflage dieses Buches in der Tat weiterentwickelt: Aus der Ent-wicklung von Einzelschulen ist »Schulentwicklung im Netzwerk« und »HorizontaleSchulentwicklung« geworden; die Schulleitung hat neue Aufgaben und Rollen überneh-men müssen, wie beispielsweise Unterrichtsentwicklung mit dem Ziel, die Lernbedin-gungen der Schülerinnen und Schüler zu verbessern; Transfer von Innovationen wirdzunehmend zum Thema, und zwar innerschulischer wie zwischenschulischer Transfer.

Deshalb sind der ersten Fassung dieses Buches drei neue Kapitel hinzugefügt wor-den, die genau diese drei aktuellen Themen betreffen. Der Duktus des Buches ist dabeigleich geblieben: Es versucht, einen theoretischen Rahmen zu skizzieren und diesenmit neuen Forschungsergebnissen und vor allem mit Praxishinweisen zu verbinden.

Wenn weiterhin Neues in der Schulentwicklung passiert, wird es vermutlich neueAuflagen geben – und dieses Buch zu einer chronologischen Dokumentation derSchulentwicklung werden. Kompakt soll es dabei bleiben, damit der Leseaufwandnicht belastet, sondern entlastet und Orientierung stiftet.

Hans-Günter Rolff Dortmund, im Januar 2016

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Abkürzungen

DAPF = Deutsche Akademie für Pädagogische FührungskräfteIFS = Institut für Schulentwicklungsforschung (Universität Dortmund)OE = OrganisationsentwicklungPE = PersonalentwicklungQM = QualitätsmanagementSE = SchulentwicklungSL = Schulleiter/SchulleitungUE = Unterrichtsentwicklung

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I. Was ist Schulentwicklung?

Schulentwicklung steht derzeit im Zentrum von Bildungspolitik, Fortbildungseinrich-tungen und Einzelschulen. In dem Maße, wie Ansätze von Schulentwicklung Kon-junktur haben, entstehen Vielfalt, Unübersichtlichkeit, Konkurrenz und Mitläufertum.Fast alle Maßnahmen von Politik und Verwaltung, sogar Sparmaßnahmen, werdenSchulentwicklung genannt. Fast alle, die mit Schulen arbeiten, Lehrkräfte fortbildenoder beraten, nennen sich Schulentwickler, und fast alles, was Schulen betreiben, wirdmit dem Etikett Schulentwicklung versehen. Der Begriff erscheint ebenso populär wieinflationär. Es stellt sich zunehmend die Frage: Was ist eigentlich Schulentwicklung?

Der Begriff Schulentwicklung (SE) gehört im deutschsprachigen Raum nicht zumInventar der Erziehungswissenschaft. Er ist neueren Datums. Soweit das zu überse-hen ist, wurde er zum ersten Mal im Zusammenhang mit zwei Institutsgründungengenannt, die völlig unabhängig voneinander erfolgten. Das österreichische Bundesmi-nisterium für Bildung und Unterricht gründete 1971 das Zentrum für Schulversucheund Schulentwicklung mit Sitz in Klagenfurt, und der Landtag Nordrhein-Westfalensbeschloss 1972 die Errichtung einer Arbeitsstelle für Schulentwicklungsforschung ander Pädagogischen Hochschule Ruhr, die später in »Institut für Schulentwicklungs-forschung« (IFS) an der Universität Dortmund umbenannt wurde. Beim Klagenfur-ter Zentrum für Schulversuche spielte der Zusatz »und Schulentwicklung« bis in die1980er-Jahre keine Rolle, was schon daran zu erkennen war, dass er auf den Briefköp-fen einfach weggelassen wurde.

Die Dortmunder Arbeitsstelle vertrat zunächst ein enges Begriffsverständnis, dassich von dem heutigen unterscheidet. Sie verstand in den 1970er-Jahren unter Schul-entwicklung überwiegend Schulentwicklungsplanung, also die Planung der sogenann-ten äußeren Schulangelegenheiten wie des Standorts, vor allem der sogenannten äuße-ren Schulreform. Unter Schulentwicklungsplanung (SEP) verstand und versteht mandie Planung der äußeren Schulangelegenheiten. Sie antwortet auf die Frage: WelcherSchulraum muss an welchem Standort in welchem Umfang bereitgestellt und wie aus-gestattet werden?

Diese Auffassung von Schulentwicklung als Planung erfuhr Ende der 1970er-Jahreeine erhebliche Erweiterung. 1980 hieß es im ersten Jahrbuch der Schulentwicklung:»Schulentwicklungsforschung analysiert und beschreibt die jüngere Entwicklung desbundesdeutschen Schulwesens, um auf diese Weise zu empirisch abgesicherten Erklä-rungen über diesen Entwicklungsabschnitt zu gelangen, die auch realistischere Pro-gnosen künftiger Entwicklungen erlauben, einen Beitrag zur Ausfüllung einer Theo-rie der Schule zu leisten, die auf Erklärung des Implikationsverhältnisses von Schule

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I. Was ist Schulentwicklung?12

und Gesellschaft ausgerichtet ist. Wir begreifen das Schulsystem in seiner Genese undGestalt zugleich als gesellschaftlich-historisch strukturiert wie auch als handelnd-veränderbar« (Rolff/Tillmann 1980, S. 242 f.). Der Gegenstand von Schulentwicklungwar eindeutig die Planung des Schulsystems, nicht die der Einzelschule. Dabei ging esdarum, das Schulsystem als Ganzes zu begreifen und zu planen. Das erste Jahrbuch derSchulentwicklung nannte drei Bezugstheorien: die Curriculumtheorie, die Sozialisati-onstheorie und die Institutionsanalyse, wobei die beiden Letzten die organisatorischenund administrativen Aspekte der Schule thematisierten, während Erstere auf die Wis-sens- und Wertebasis sowie auf die Interaktionszusammenhänge fokussierte (Rolff/Tillmann 1980, S. 243 ff.).

Erst etliche Jahre später bildete sich das heute dominierende Verständnis von Schul-entwicklung heraus, das mit dem weltweiten Paradigmenwechsel von der zentralisti-schen Schulplanung zur Entdeckung der »Einzelschule als Gestaltungseinheit« (Fend1986) eine vehemente Schubkraft entfachte.

1. Zwei Quellen: Implementationsforschungund Einzelschulorientierung

Das Konzept der SE hat zwei Quellen: Zum einen wurde die Wichtigkeit von Imple-mentationsprozessen bei der Realisierung von Reformen entdeckt. Zum anderen wur-de deutlich, dass weniger das Gesamtsystem als vielmehr die Einzelschule die Gestal-tungseinheit bzw. der Motor von Reformmaßnahmen ist.

Der Begriff der Implementation ist nur ungenau mit Aus- oder Durchführung zuübersetzen. Er meint darüber hinaus auch Entscheidungs- und Kontrollprozesse. DieImplementationsforschung entstand in den 1970er-Jahren, als große Reformprogram-me der US-Bundesregierung evaluiert wurden. Besonders einflussreich wurde eineStudie der RAND-Corporation (Berman/McLaughlin 1975). Deren Ergebnisse lassensich knapp zusammenfassen:• Projekte, die eine Einbeziehung der Betroffenen, vor allem der Lehrer, in den Ent-

scheidungsprozess vorgesehen hatten, ließen sich leichter und konsequenter aus-führen als Projekte, die von außen bis ins Detail vorgeplant waren.

• Der Erfolg von Reformprojekten war umso wahrscheinlicher, je mehr Mitgliederder betroffenen Schule aktiv im Projektteam mitarbeiteten.

• Entscheidend war, ob die Projekte einen unterstützenden organisatorischen Rah-men vorfanden. Partizipation der Betroffenen und Unterstützung durch die Verwal-tung sind zentrale Bestandteile eines solchen Rahmens.

• Das Training der Projektmitarbeiter erwies sich als besonders wichtig, und zwar so-wohl vorbereitend als auch begleitend. Je konkreter sich das Training an alltäglichenArbeitsproblemen orientierte, desto erfolgreicher war es.

• Die gemeinsame Entwicklung von Unterrichtsmaterialien vor Ort war förderlicherals die bloße Übernahme zentral entwickelter Materialien.

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1. Zwei Quellen: Implementationsforschung und Einzelschulorientierung 13

• Grundschulprojekte ließen sich generell leichter umsetzen als Sekundarschulpro-jekte.

• Die Schulleitungen übernahmen häufig die Funktion eines »Gatekeepers«: Sie ent-schieden, ob Neuerungen Einlass in die Schule fanden oder nicht.

Aufschlussreich sind die Ergebnisse der RAND-Studie auch hinsichtlich der Fortfüh-rung und Nachhaltigkeit der Reformprojekte:• Die Evaluation des Projekts im Allgemeinen scheint auf lokaler Ebene kaum darü-

ber zu entscheiden, ob eine Reform fortgeführt werden soll oder nicht.• Ferner scheinen die Fortführungschancen von Reformen umso größer zu sein, je

mehr Personaltraining durchgeführt wird und je mehr dieses Training an der kon-kreten Arbeit im Unterricht orientiert ist.

• Schließlich sind die Erfolgschancen desto größer, je genauer spezifisch lokale Inter-essen getroffen werden, je stärker lokale Projektteams mitbestimmen können und jemehr der Projektzuschnitt an lokale organisatorische Bedingungen angepasst wird.Das heißt aber gleichzeitig, dass die Möglichkeiten einer detaillierten zentralen Pla-nung sehr begrenzt sind.

Die Ergebnisse der RAND-Studie können in einem Satz zusammengefasst werden: DieImplementation dominiert das Ergebnis.

Die zweite Quelle der Schulentwicklung entstand ebenfalls aus Forschungsprojek-ten, denn mit der Stagnation der Bildungsreform wuchs das Interesse an der Erfor-schung der Gelingens- und Misslingensbedingungen von schulischen Innovationen.Vor allem im angelsächsischen Raum wurden Studien durchgeführt, die ausnahmsloszu dem Ergebnis kamen, dass sich die Umsetzung und damit auch der Erfolg vonPlänen nicht auf der staatlichen Ebene, sondern auf der Ebene von Einzelschulen ent-scheiden (Miles 1998). Vor dem Hintergrund dieser Studien bahnte sich in der Schul-entwicklung ein Paradigmenwechsel an, und zwar von der Makropolitik zur Mikropo-litik. Fend war der Erste, der anhand empirischer Untersuchungen feststellte, dass sicheinzelne Schulen derselben Schulform untereinander stärker unterschieden als vonSchulen anderer Schulformen, woraus er den Schluss zog, dass die »einzelne Schule alspädagogische Handlungseinheit« (Fend 1986) anzusehen sei.

Die Schulsysteme der OECD-Länder haben über Jahre hinweg versucht, den He-rausforderungen auf zentraler staatlicher Ebene zu begegnen. Allerdings waren die-se Maßnahmen wenig erfolgreich, wie wir den genannten Implementationsstudienentnehmen können. Das hat vor allem vier Gründe: Erstens gehen Gesamtsystem-strategien davon aus, dass eine Innovation in vergleichbarer Weise auf alle Schulenangewendet werden kann. Dies setzt an zentraler Stelle ein Wissen darüber voraus,wie unter Berücksichtigung aller Bedingungen, die nur an den einzelnen Schulen undregionalen Subsystemen anzutreffen sind, eine Verbesserung erzielt werden kann, diefür alle, zumindest für fast alle Schulen Gültigkeit besitzt. Demgegenüber zeigen dieImplementationsstudien, dass sich bildungspolitische Vorstellungen nur in der indivi-

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I. Was ist Schulentwicklung?14

duellen Schule umsetzen lassen. Sie werden unterschiedlich interpretiert, weil sie aufverschiedene Zusammensetzungen von Personen, Umständen und Bedingungen tref-fen.

Zweitens sehen Gesamtsystemstrategien die Lehrerinnen und Lehrer als »Konsu-menten« neuer Ideen und Produkte an. Im Grunde wird die Schule als Zulieferins-titution betrachtet. Dabei geht man davon aus, dass die Schule die Lösungen, die aufder Systemebene vorbereitet wurden, einfach übernimmt und umsetzt. Forschungenwiderlegen diese Annahme. Sie zeigen, dass Schulen selten eine Innovation adoptieren,sondern mehr adaptieren. Sie versuchen, die Innovationen den Realitäten anzupassen,wobei der »Druck von oben« nur ein Veränderungsfaktor unter anderen ist.

Drittens nehmen Gesamtsystemstrategien an, dass Innovationen zielgetreu zu im-plementieren sind. Das setzt voraus, dass man Ziele etablieren, Mittel rational zu-ordnen und einen Konsens erreichen kann, der vom gesamten System getragen wird.Demgegenüber geht aus den Implementationsstudien hervor, dass Änderungen in derSchule komplexe politische, ideologische, soziale und organisatorische Prozesse sind,die einer eigenen Dynamik folgen. Änderungen von Schulen sind meistens auch Än-derungen der Schulkultur.

Viertens hat die Systemtheorie auf den Punkt gebracht, was die meisten Schulprak-tiker bereits ahnten oder wussten: Wenn von außen interveniert wird, also z. B. vonzentralen Behörden, dann entscheiden die Einzelsysteme, also die Schulen selbst, obund wie sie diese Intervention verarbeiten.

SE erhielt mit dem Blick auf die Einzelschule einen neuen Fokus. Diesen Perspek-tivwechsel vollzogen Bildungspolitiker wie Bildungsforscher und Lehrerfortbildner.Spätestens seit 1990 gilt die Einzelschule als »Motor der Entwicklung« (Dalin/Rolff1990), für dessen Wirkungsweise in erster Linie die Lehrpersonen und die Leitungselbst verantwortlich sind, während andere Instanzen eher unterstützende und Res-sourcen sichernde Funktionen ausüben.

2. Drei-Wege-Modell der Schulentwicklung

Das neue Paradigma legt den Fokus auf die Entwicklung von Einzelschulen und gehtdavon aus, dass diese gegenüber der Systemkoordination den Vorrang hat. DiesePrioritätensetzung ist doppelt konzipiert: einmal als zeitliche Priorität in dem Sinne,dass Schulentwicklung auch in den Einzelschulen beginnen soll, und zum anderen alsSachpriorität, wonach die Entwicklung von Einzelschulen der richtige Weg sei, nichtderen Ableitung vom Gesamtsystem. Folgerichtig beziehen sich die meisten neuerenkonzeptionellen Ansätze der Schulentwicklung auf die Entwicklung von Einzelschulen.

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2. Drei-Wege-Modell der Schulentwicklung 15

2.1 Organisationsentwicklung als Ausgangspunkt

Kein Ansatz hat die Wendung zur Entwicklung von Einzelschulen so früh und sogrundlegend beeinflusst wie der der Organisationsentwicklung (OE). OE wurde inden USA bereits in den 1960er-Jahren von der Schulentwicklung aufgegriffen und inden deutschen Bundesländern Ende der 1970er-Jahre der Schulleitungsfortbildungzugrunde gelegt. Zum Durchbruch kam es allerdings erst zu Beginn der 1990er-Jahre,als die Schulpolitik fast aller Länder die Entwicklung von Einzelschulen propagierteund nach einem orientierenden und handlungsanleitenden Konzept suchte.

Organisationsentwicklung bedeutet, eine Organisation von innen heraus weiterzu-entwickeln, und zwar im Wesentlichen durch deren Mitglieder, wobei der Leitung einezentrale Bedeutung zukommt und nicht selten Prozessberater von außen hinzugezo-gen werden (French/Bell 1990). OE wird als Lernprozess von Menschen und Organi-sationen verstanden.

Die Bezugstheorien von OE waren anfangs die Sozialpsychologie und die humanis-tische Psychologie. Heute dominiert die evolutionäre Systemtheorie, die sich sowohlauf die systemische Familientherapie als auch auf die soziologische Systemtheoriestützt (Baumgartner et al. 1988). Dieser Zugang darf jedoch nicht auf eine schlichteOrganisationsanalyse der Schule reduziert werden, wie das gelegentlich der Fall ist.Gewiss ist die Schule eine soziale Organisation, aber sie ist eine von ganz besonderer,pädagogischer Zielsetzung. Sie unterliegt zum einen nicht unmittelbar den Gesetzender Warenproduktion, auch wenn die Bildungskosten durch die dominierenden Ver-wertungsinteressen begrenzt sind. Zum anderen ist die Zielsetzung der InstitutionSchule eine spezifische, die sich von der aller anderen sozialen Organisationen unter-scheidet, nämlich eine pädagogische.

Das Konzept der Schulentwicklung als pädagogische Organisationsentwicklungwurde im Deutschland der 1970er-Jahre noch als Spezialthema behandelt, ist zwi-schenzeitlich jedoch außerordentlich ausdifferenziert und vielfach erprobt worden.Charakteristisch für OE-Konzepte ist, dass sie sich auf das Ganze der Schule beziehenund nicht nur auf Teilaspekte. Gleichzeitig wird aber betont, dass nur eine schritt-weise Entwicklung möglich ist, die an Subeinheiten der Schule anknüpfen kann,aber auch am Kooperationsklima, an der Schulleitung, am Schulprogramm, an einerAbteilung oder an einer Fachkonferenz. Es wird in aller Regel nach der Devise ver-fahren: Keine Maßnahme ohne vorherige Diagnose, und es wird eine institutionelleStruktur zur Binnensteuerung des Wandels aufgebaut, vor allem in Form einer Steu-er- oder Entwicklungsgruppe, externer Beratung und Evaluation als datengestützterReflexion.

OE ist dezidiert prozessorientiert. Die Prozesse werden ebenso wichtig genommenwie das Ergebnis. Die Prozessorientierung der OE bezieht sich nicht nur auf den An-fang, den – vermutlich – wichtigsten Prozess der Implementation, sondern auf jedePhase der OE. Die Literatur über OE unterscheidet üblicherweise drei aufeinanderfol-gende Phasen des Organisationswandels in Schulen, nämlich

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I. Was ist Schulentwicklung?16

• Initiation• Implementation• Inkorporation (bzw. Institutionalisierung)

Es ist wichtig zu verstehen, dass Aktivitäten der OE wie der SE in keiner Weise linearablaufen. Sie treten zu unterschiedlichen Zeiten im Prozess auf. Man kann sie als zyk-lische oder spiralförmige Prozesse verstehen.

Planung und Ausführung gehören bei SE zusammen. Durch gemeinsame Planungkann sich ein Kollegium selbst mobilisieren oder motivieren. Nur wer etwas selbstmacht, kann von einer Woge der Begeisterung getragen werden. Und nur kooperati-ve Planung kann diejenigen einbeziehen, denen die Ausführung obliegt. GemeinsameProzessplanung ist die Basis einer sich selbst entwickelnden Schule. Bei der Prozess-planung geht es letztlich um Organisationslernen, um die Etablierung teamförmigerArbeitsgruppen, um die Institutionalisierung von Selbststeuerung, vielleicht auch umdie Schaffung eines Coaching-Systems oder die Durchführung regelmäßiger Schul-evaluation.

Aus der Implementationsforschung wissen wir allerdings: Nichts wird so realisiert,wie es einmal geplant war. Aber nur, wenn wir Beliebigkeit akzeptieren, brauchen wirüberhaupt keine Planung. Deshalb muss sich SE um Implementationstreue bemühen.Zur Verbesserung der Implementationstreue gibt es einige methodische Ansätze. Dererste ist: Ziele klären und vereinbaren. Der zweite bezieht sich auf eine strikte Pro-zessorientierung. Und der dritte sorgt für Institutionalisierung bzw. Inkorporation.Daraus ergibt sich die Formel: Strategie vor Prozess vor Struktur.

Das Konzept der OE wurde inzwischen zum Konzept des Change-Managementsweiterentwickelt. Change-Management betont stärker als OE die Rolle von Führungund legt deutlich mehr Wert auf Evaluation und Qualitätsmanagement. Üblicherweisewerden beim Change-Management ebenfalls drei Phasen unterschieden, die eine an-dere Dimension ansprechen als die Phasen des OE-Prozesses:• Strategie, d. h. die Klärung und Vereinbarung mittelfristiger Ziele und die Wahl der

Zielerreichung (Konzepte, Methoden)• Struktur, d. h. die dauerhafte, nachhaltige Basis der Zielbearbeitung durch feste

Teams und neue Organisationsformen.• Kultur, d. h. die Normen, Werte und Interaktionsformen.

2.2 Unterrichtsentwicklung

Vertreter der Lehrerfortbildung werfen der OE mit einem gewissen Recht vor, sie ver-nachlässige die Unterrichtsentwicklung. Lehrerfortbildung bezieht sich traditionellauf fachliche Fragen des Unterrichts und auf unterrichtsübergreifende schulpädago-gische Themen wie Leistungsbeurteilungen oder Gewaltprävention. Im Zuge der ein-gangs behandelten paradigmatischen Wendung orientiert sich die Lehrerfortbildung

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2. Drei-Wege-Modell der Schulentwicklung 17

zunehmend an Schulentwicklung. Landesinstitute wie in Thüringen oder Rheinland-Pfalz stellen Schulentwicklung in den Fokus ihrer Arbeit, andere Institute richten dies-bezügliche Abteilungen oder zumindest Schwerpunkte ein. Lehrerfortbildner an denUniversitäten nehmen sich ebenfalls zunehmend der Schulentwicklung an.

Unterricht steht traditionell im Zentrum von Schule, und konsequenterweise be-zieht sich Lehrerfortbildung im Kern auf Unterricht. Schulentwicklung bezieht sichauf die ganze Schule und nicht nur und manchmal auch nicht primär auf Unterricht.Das mag ein Grund dafür sein, dass Unterrichtsentwicklung (UE) der Organisations-entwicklung gelegentlich wie in einem Wettbewerb gegenübergestellt wird. Hier istz. B. Heinz Klippert zu nennen, der ausführt:

Aus diesen Gründen folgert Klippert:1) »Die Reduzierung des Innovationsfeldes auf einen überschaubaren Kernbereich

der Lehrertätigkeit, den Unterricht;2) die Straffung der meist langwierigen Such-, Reflexions- und Entscheidungsprozes-

se im Vorfeld der eigentlichen Innovationsarbeit sowie3) die Offerierung gezielter Qualifizierungsangebote für die betreffenden Lehrkräf-

te/Kollegien, damit diese – unterstützt durch erfahrene Innovatoren – möglichstrasch das nötige Knowhow erwerben, um die intendierte Innovationsarbeit zügigund erfolgreich zu realisieren« (Klippert 1995, S. 13).

Klippert hält OE für unwirksam (»Sisyphusarbeit«) und setzt ein Konzept dagegen,das er »Innovationsmanagement« und »Methodentraining« nennt.

Diese Konzentration könnte man auch als Reduktion deuten, insofern die fachdi-daktische und vor allem die bildungstheoretische Dimension dabei ebenso ausgespartwerden wie die Beziehungsebene und eine allzu starke Fixierung auf Methoden refle-xionshemmend wirkt, also bildungstheoretische und allgemeindidaktische Erwägun-gen ausblendet. Des ungeachtet handelt es sich bei dieser Form der Unterrichtsent-wicklung (UE) um ein Konzept der Schulentwicklung, sofern der Rahmen eines Fachsüberschritten und eine Struktur der Arbeit an Teilen oder der ganzen Schule aufgebautwird (Joyce/Showers 1995). Klippert baut z. B. Schulteams zur Praktizierung und Wei-

OE ist grundsätzlich langfristig angelegt und hat einen relativ komplexen Zuschnitt. Innoviert undverbessert werden soll die Organisation als Ganze. (…) Entsprechend vielschichtig und langwierigsind die betreffenden Klärungs-, Abstimmungs- und Innovationsprozesse. Da werden Probleme ge-sucht und natürlich auch in großer Vielzahl gefunden. Da werden Befragungen durchgeführt undumfangreiche Daten gesammelt, Daten ausgewertet und Datenfeedbacks organisiert, Entscheidun-gen angebahnt und Prioritäten gesetzt, Kontroversen geführt und Konflikte ausgetragen, Ziele ge-klärt und Ziele vereinbart, Aktionen geplant und Arbeitsgruppen gebildet, Steuergruppen installiertund konkrete Vorhaben implementiert, Strukturen diskutiert und Projekte evaluiert etc. Kurzum, dieKonferenz- und Arbeitsbelastung während dieser OE-Prozesse erreicht rasch ein Ausmaß, von demviele gutwillige Lehrkräfte abgeschreckt werden, weil sie sich durch die vielschichtige Sisyphusar-beit überfordert fühlen. (Klippert 1995, S. 13)

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I. Was ist Schulentwicklung?18

terentwicklung des Methodentrainings auf und schult daneben die Schulleitung. Erversucht auch, die Schulaufsicht und die Eltern einzubeziehen.

Es gibt jedoch zahlreiche Lehrerfortbildner, die sich um ein derartiges »Innovations-management« nicht bemühen, sondern ihre bisherige Tätigkeit bloß mit einem neu-en Etikett versehen. Hiergegen ist einzuwenden, dass Schulentwicklung zwar immerLehrerfortbildung umfasst, aber nicht jede Lehrerfortbildung gleich Schulentwicklungist. Ebenso wenig ist Schulentwicklung ohne Personalentwicklung vorstellbar, dochPersonalentwicklung ist nicht zwangsläufig mit Schulentwicklung identisch.

2.3 Personalentwicklung

Organisationen sind Interaktionszusammenhänge konkreter Menschen, und Schu-len sind in besonderem Maße personengetragene Einrichtungen. Der pädagogischeProzess ist im Kern ein zwischenmenschlicher, er beruht mehr als andere Interakti-onszusammenhänge auf persönlicher Begegnung. Insofern ist es keine Phrase, wennSchulpsychologen immer wieder betonen, dass im Mittelpunkt der Schule lebendigeMenschen stehen, in erster Linie die Schülerinnen und Schüler sowie die Lehrper-sonen. Deshalb ist es plausibel, Personalentwicklung (PE) als dritten Hauptweg zurSchulentwicklung anzusehen.

Personalentwicklung meint ein Gesamtkonzept, das Personalfortbildung, Personal-führung und Personalförderung umfasst. Schulische Personalentwicklung impliziertwegen der überragenden Bedeutung von Personen im pädagogischen Prozess auchPersönlichkeitsentwicklung.

Beratung und Unterstützung bei der Persönlichkeitsentwicklung sind traditionelleine Domäne der Schulpsychologen. Deshalb ist es verständlich, dass Schulpsycholo-gen auf diesen Weg zur Schulentwicklung besonderen Wert legen und darauf hinwir-ken, dass SE nicht zu kurz kommt.

Hier handelt es sich um wichtige Hinweise. Schulentwicklung als OE würde miss-verstanden, wenn man sie mit Methoden und Projekten gleichgesetzte, denn OE istnicht Technik oder Methodik. Diese werden wohl angewendet, den Ausschlag gibt aberdie dabei sichtbar werdende Einstellung zum Menschen. Organisationsentwickler wä-ren keine, wenn sie die Menschen, mit denen sie arbeiten, nicht akzeptieren, respek-tieren, ja sogar mögen würden. »Kritischer Freund« ist eine Metapher, die in diesemZusammenhang gern benutzt wird.

Doch die Personenorientierung hat Grenzen. In einem Kollegium mit 30 bis über100 Mitgliedern kann man schwerlich den von Schulpsychologen geforderten Zugangzur Subjektivität suchen, wie sie familiengeschichtlich und biografisch in Auseinan-dersetzung mit den zeitgeschichtlichen Anforderungen entstanden ist. In Einzelfällenmag das erwünscht, notwendig und auch realisierbar sein – in Form von Coachingoder Supervision, wobei die Verbindung von Supervision und OE ohnehin zum Kon-zept der Schulentwicklung gehört (vgl. Dalin/Rolff 1990, S. 224 ff.). Eine Zusammen-

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3. Schulentwicklung im Systemzusammenhang 19

arbeit mit Schulpsychologen ist gerade in diesem Bereich nötig, möglich und aucherwünscht.

Fraglos sollten Schulentwicklungsprojekte die Beteiligten als Subjekte verstehenund ihnen wirkliche Lernchancen geben, die sich nicht nur auf die fachliche, sondernebenso auf die personale Kompetenz beziehen. Aber es gibt auch Situationen, in denenpersonales Lernen am besten über die Sachebene, z. B. ein Projekt der Schulentwick-lung, erreicht wird, weil andernfalls Ängste und Scham zu Lernblockaden führen (vgl.Buhren/Rolff 2009).

3. Schulentwicklung im Systemzusammenhang

3.1 Interner Systemzusammenhang

Sowohl Klippert als auch Meyer betonen zu Recht, dass Unterricht zur Kernaktivitätvon Lehrpersonen gehört. Sie proklamieren darüber hinaus, dass SE deshalb immerbei UE ansetzen müsse (Meyer 1997, S. 159). Dagegen ist zum einen einzuwenden,dass es etliche Schulen gibt, die erfolgreiche Schulentwicklungsprozesse auf ganz an-dere Weise in Gang setzen, z. B. anlässlich der Entwicklung eines Schulprogramms,der Einführung von Budgetautonomie oder der Erweiterung der Schulleitung zumLeitungsteam, also in Form von Maßnahmen, die man der OE zurechnen kann. Einemzeitlich strategischen Primat der UE ist zum anderen entgegenzuhalten, dass es demneuen Paradigma widerspräche, nach dem die Einzelschule der Motor der Entwick-lung ist. Insofern müssen die Einzelschulen und nicht die Lehrerfortbildner entschei-den können, ob sie bei der Organisationsentwicklung, der Unterrichtsentwicklungoder der Personalentwicklung ansetzen.

Das Proklamieren von Vorzugswegen und Prioritäten widerspricht auch einemDenken in Systemzusammenhängen, das in Abbildung 1 skizziert ist.

Denkt man in Systemzusammenhängen oder handelt man konsequent, was nichtnur in diesem Fall auf dasselbe hinausläuft, dann führt jeder Weg der SE notwendigzu den zwei anderen. Eine Schule kann z. B. mit UE beginnen, wobei es sich normaler-weise nicht um einen Neubeginn, sondern um eine Fortsetzung bzw. Akzentuierunglängst vorhandener oder doch angebahnter Entwicklungen handelt. Ob es dabei umüberfachliches Lernen oder um erweiterte Unterrichtsformen oder um Methoden-training geht: Jeder dieser Ansätze überschreitet die konventionelle Orientierung aneinem Fach oder Lehrer und führt folglich zu organisatorischen Veränderungen, dieinstitutionell gestützt werden müssen – also zu OE. Wer den Unterricht verändernwill, muss mehr als den Unterricht verändern. Das kann auf mehr Kooperation odermehr Teamarbeit hinauslaufen. Unterrichtsveränderung mag auch Kern des Schulpro-gramms werden. Auswirkungen auf das Lehrerhandeln sind unvermeidlich, weshalbvermutlich immer ein Bedarf an PE entsteht – sei es in Form von Lehrerberatung,Kommunikationstraining oder Hospitation.

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I. Was ist Schulentwicklung?20

Analog und gleichwertig ist die Entscheidung einer Schule, mit systematischer undkonsequenter OE zu starten, z. B. Teamentwicklung zu betreiben oder ein Schulpro-gramm zu erstellen. Wenn es sich um Teamarbeit in der Schulleitung handelt, ist PEvonnöten. Wenn sich die Teamarbeit auf Fach- oder Jahrgangsgruppen bezieht, folgtdaraus UE. Ein Schulprogramm wiederum würde seinen Zweck verfehlen, wenn esnicht auch UE bewirkte.

Schließlich könnte eine Schule auch bei der PE ansetzen, z. B. Supervisionsgruppeneinrichten oder Erfahrungen mit freiwilliger Lehrerbeurteilung durch Schülerinnenund Schüler sammeln. Letzteres wäre nur dann sinnvoll, wenn die Ergebnisse ausge-wertet und Hinweise für einen veränderten Unterricht gewonnen würden oder die be-

• Lehrer- Feedback• Supervision/Coaching• Kommunikationstraining• Schulleitungsberatung• Hospitationen• Jahresgespräche/Zielvereinbarungen

• Führungs- Feedbacku. a.

Personal-entwicklung

Organisations-entwicklung

Unterrichts-entwicklung

Lernfortschrittevon

Schüler/innenals ultimativerBezugspunkt

• Fachlernen• Schülerorientierung• Überfachliches Lernen• Methodentraining• Selbstlernfähigkeit• Öffnung• Erweiterte U-formen• Lernkultur u. a.

• Schulprogramm• Schulkultur• Erziehungsklima• Schulmanagement• Teamentwicklung• Evaluation• Kooperation• Steuergruppeu. a.

Umfeld

Umfeld

Umfeld

Abb. 1: Drei-Wege-Modell der Schulentwicklung

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3. Schulentwicklung im Systemzusammenhang 21

teiligten Lehrkräfte sich zu Qualitätszirkeln bzw. Selbstlernteams zusammenschlössen.Supervision im Sinne von Schulentwicklung müsste arbeitsbezogen sein, was wiede-rum auf Unterricht und sonstige Schularbeit (im Bereich von Schulkultur, Schulma-nagement oder Erziehungsklima) im Sinne von OE verweist.

Man könnte diesen Systemzusammenhang auch bündiger formulieren: keine UEohne OE und PE, keine OE ohne PE, keine PE ohne OE und UE. Das Neue und Be-sondere in diesem Systemzusammenhang stellt allerdings OE dar: Ohne OE würde UEebenso wenig wie PE auf das Ganze der Schule zielen, und es bliebe bei modernisierterLehrerfortbildung und renovierter Schulpsychologie.

Der bisher behandelte Systemzusammenhang ist allerdings ein innerschulischer; ermuss durch einen außerschulischen ergänzt werden. Zum Umfeld (bzw. zur Umwelt)der Schule gehören Eltern, »Abnehmer« wie Betriebe und Universitäten, die Presse,der Stadtteil, der Schulträger und die Schulaufsicht. Das System Schule ist dabei ge-schlossen (im operativen Bereich des Unterrichts und der Erziehung) und offen zu-gleich, wie besonders deutlich an der Schulaufsicht wird, die sich in den operativenBereich einmischt und in diesem Sinne auch als Bestandteil der Schule angesehen wer-den kann.

Ziele der Schulentwicklung?

Bleibt noch die Frage zu klären, welches die Ziele einer Schulentwicklung im System-zusammenhang sind. Bei pädagogischer Schulentwicklung sind die Ziele dem päda-gogischen Prozess verpflichtet und damit reflexiv. Die Reflexivität von Zielen lässt sicham hohen Ziel »Erziehung zur Mündigkeit« plausibel machen. Unmündigkeit wirdhäufig in Anlehnung an Kant als das Unvermögen bezeichnet, »sich seines Verstandesohne Anleitung eines anderen zu bedienen«. Nimmt man diese Bestimmung ernst, sofolgt aus ihr, dass ein Lehrer einen Schüler nicht direkt zur Mündigkeit erziehen kannund schon gar nicht ein Schulentwicklungsberater eine Schule. Denn würde man je-mandem vorschreiben, wie er als Mündiger zu denken oder zu handeln habe, würdeman ihn im gleichen Augenblick entmündigen. Was Mündigkeit heißt, kann man le-diglich »reflektieren«, d. h. bedenken, diskutieren oder ausprobieren. Was Mündigkeitjeweils konkret bedeutet, muss jeder selbst entscheiden und verantworten. Es geht beipädagogischem Handeln also letztlich um Erziehung zur Selbsterziehung und bei derSchulentwicklung um Selbsthilfe und Selbstverantwortung.

Heißt das, dass Schulentwicklung ohne verbindliche und ohne legitimierbare Zie-le bleibt? Gewiss nicht. Zwar sind Einzelschulen wenig gewohnt, sich selber Ziele zusetzen. Sie müssen offenbar aufgefordert werden (durch Erlasse und Gesetze in im-mer mehr Ländern), sich in Form von Schulprogrammen oder Leitbildern damit zubeschäftigen. Auch die Aufforderung zur Evaluation macht auf eine gewisse Zielab-stinenz aufmerksam: Kaum eine Schule verfügt über Kriterien und Indikatoren derEvaluation, die ja von Zielen abzuleiten wären. Man frage einmal eine Fachkonferenz

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I. Was ist Schulentwicklung?22

nach den Fachzielen oder eine Lehrkraft nach ihren Unterrichtszielen, und man wirdvielfach erleben, dass es keine Antwort gibt oder gesagt wird, das stehe doch in denLehrplänen.

Dennoch ist pädagogische Schulentwicklung nicht ziellos. Gerade eine Orientie-rung an Leitsätzen und Schulprogrammen fordert Schulen auf, ihre Ziele zu klärensowie diese im Kollegium und mit Schülern und Eltern zu vereinbaren. Zielklärungheißt im Kern, die Schulziele an pädagogischen Grundwerten bzw. an Bildungstheori-en zu reflektieren und miteinander in einer Weise zu vereinbaren, bei der über aktiveBeteiligung auch klargestellt werden kann, dass jede Einzelschule und alle an der Schu-le Beteiligten für die Schulentwicklung (mit)verantwortlich sind.

3.2 Externer Systemzusammenhang

Auch wenn die Einzelschulen aufgerufen oder gar gezwungen sind, Selbststeuerungs-potenziale auf- und auszubauen, kann nicht angenommen werden, dass die Ge-samtsteuerung daraus gewissermaßen automatisch entspringt. Im Gegenteil: In demMaße, wie Einzelschulen mehr Gestaltungsautonomie erhalten und nutzen, werdendie Steuerungsprobleme des Gesamtsystems des Schulwesens umso prekärer. Ausei-nanderentwicklung der Schulen und Schulformen ist ebenso zu befürchten wie eineBeliebigkeit der Inhalte jenseits eines für alle verbindlichen Kerncurriculums. In demMaße, wie Schulen ihr Personal ganz oder teilweise selbst rekrutieren dürfen, wächstdie Ungleichheit zwischen den Kollegien, wodurch attraktive Schulen einerseits undweniger attraktive Schulen andererseits weit über das heutige Ausmaß hinaus entste-hen könnten. Die Gefahr der Auseinanderentwicklung wird durch Budgetautonomieund schuleigene Mitteleinwerbungen noch vergrößert.

Um diesen Gefahren entgegenzuwirken, aber auch um den Führungsanspruchstaatlicher Instanzen und anderer Schulträger nicht aufzugeben, wird allerorten mitneuen Steuerungsmodellen experimentiert. Das betrifft zum einen die Rolle des Ge-setzgebers, der aufgefordert ist, klare, aber weitmaschige Rahmenvorgaben zu be-schließen, für alle Schulen verbindliche Standards zu setzen und eine Gleichverteilungder Ressourcen zu sichern. Die neuen Steuerungsmodelle verändern zum Zweiten dieRolle der Aufsicht führenden Behörden, die nun vor allem die Vergleichbarkeit unddie Qualität der schulischen Arbeit sichern, die Schule als Ganze beraten und unter-stützen sowie Schulentwicklung initiieren sollen. Und zum Dritten bringen sie neueSteuerungsmittel bzw. -instrumente ins Spiel. Dabei stehen Verfahren der Evaluationim Vordergrund, aber auch Ansätze zur regionalen Vernetzung und Abgleichung derEntwicklung von Einzelschulen.

Wenn das Gesamtsystem bisher nach einem Regulierungsmodell gesteuert wurde,so ist jetzt Steuerung nach dem Kontextmodell angesagt, die Steuerung auf Abstandund nicht Eingriffssteuerung ist, nicht Systemplanung, sondern Systemkoordinati-on. Um die Entwicklung des gesamten Schulsystems eines Landes steuern zu kön-

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3. Schulentwicklung im Systemzusammenhang 23

nen, existiert eine ganze Reihe traditioneller und neuer Steuerungsmittel bzw. -agen-turen:• Gesetzgeber, Schulgesetze• Zentralbehörde, Erlasse• Schulaufsicht• Schulträger (staatlich, kommunal oder privat)• zentrale Tests und landesweite Vorgaben

Hinzu kommt eine Reihe sogenannter intermediärer Steuerungseinheiten, die zwi-schen der zentralen Ebene und der Ebene der Einzelschulen stehen und zumeist nichtüber förmliche Sanktionsmacht verfügen, beispielsweise:• Regionalkonferenzen• institutionalisierte Lehrerfortbildung (einschließlich Schulentwicklungsmoderato-

ren)• Netzwerke

Das Hauptproblem des Gesamtsystems besteht in der Kopplung der Entwicklung vonEinzelschulen (»Selbststeuerung«) mit der Entwicklung des Gesamtsystems (»System-steuerung«). Das Kopplungsproblem ist ein Struktur-Kopplungsproblem. Es ist vorallem deshalb so kompliziert, weil – wie erwähnt – die zentralen Instanzen entscheidenkönnen, in welchem Bereich, in welcher Form und zu welchem Zeitpunkt sie interve-nieren, aber die Schulen demgegenüber ziemlich unabhängig davon befinden können,wie sie mit diesen Interventionen umgehen. Und hier ist der Spielraum weit: von dervorgabegerechten Umsetzung über die innere Kündigung bis zur mehr oder wenigersubversiven Gegenwehr.

Entwicklung 1. Gesetze,Erlasse

2. ZentraleTests,Bench-marks

3. Vor-steuerung

4. ExterneEvaluation

5. Nach-steuerung

Ebene derEinzelschulen

Entwicklungs-korridor(Engführung)

OperativeUmsetzung(Unsicherheit)

OperativeUmsetzung(Fassaden-entwicklung)

InterneEvaluation(Abstimmung)

Selbst-koordinierung(»Balkani-sierung«)

Abb. 2: Struktur-Kopplungsmodelle

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I. Was ist Schulentwicklung?24

In Abbildung 2 sind fünf Lösungsmöglichkeiten angedeutet, die allesamt zurzeit prak-tiziert bzw. ausprobiert werden. Ihre Wirkungsweise bemisst sich daran, ob sie denEinzelschulen Entwicklungsspielraum gewähren (und sie bei der Entwicklung unter-stützen) und ob sie gleichzeitig die Systemziele zu erfüllen vermögen, die vor allem inder Vergleichbarkeit (der Ausstattung und Bildungschancen) sowie in der Qualitäts-sicherung liegen.

Modell 1 (Steuerung durch Gesetze und Erlasse) ist das traditionelle Steuerungs-modell. Es ist hierarchisch aufgebaut und steuert durch Gesetze und Erlasse, jedochneuerdings eher durch weniger detaillierte Rahmen- oder Entwicklungsgesetze. Auchwerden die Hierarchien abgeflacht, und Steuerung erfolgt auf größeren Abstand, wassich vor allem im weitgehenden Verzicht auf Einzeleingriffe äußert. Für die Einzel-schulen entsteht auf diese Weise eine Art Entwicklungskorridor, innerhalb dessen siesich relativ selbstständig bewegen können. Probleme treten auf, wenn der Korridor zuschmal ist (»Engführung«) und nicht genügend Spielraum für die einzelschulbezo-gene Entwicklung bleibt.

Modell 2 (Steuerung durch Tests und Benchmarks) ist in den angelsächsischen Län-dern, aber auch in den Niederlanden weit verbreitet. Dabei geht es darum, über zentralentwickelte und administrative Fachleistungstests oder Einstellungsmessungen (auchzu Erziehung und Sozialverhalten) nationale Durchschnitte zu ermitteln und diese(wenn möglich) mit den international Besten zu vergleichen. Auf diese Weise werdensogenannte Benchmarks ermittelt, die als Standards vorgegeben werden. Wie die Ein-zelschulen damit umgehen, bleibt jedoch weitgehend unklar. In jedem Fall ist diese Artder Kopplung kontingent: Schulen können aufatmen und gar nicht reagieren, weil ihreWerte besser sind; eine Reaktion kann aber auch dann unterbleiben, wenn die Werteschlechter sind, weil es dafür genügend Erklärungen (z. B. im Schulumfeld) gibt; oderdie Schulen planen Maßnahmen, die mit den Benchmarks zu tun haben.

Modell 3 (Vorsteuerung) beruht eher auf einem Missverständnis neuer Steuerungs-ansätze. Es ist aber erstaunlich weit verbreitet. Es gibt den Schulen mehr Raum fürSelbstorganisation, engt die Entwicklungsspielräume durch zusätzliche Vorgabenjedoch wieder ein, um auseinanderlaufenden Entwicklungen vorzubeugen. Ein Bei-spiel ist eine Kommune, die den Schulen mehr Budgetautonomie gewährt, diese aberdurch seitenlange, hochdetaillierte Ausführungsbestimmungen praktisch wieder zu-rücknimmt. Ein anderes Beispiel ist ein hoher Beamter der Schulaufsicht, der nichtabwarten kann, bis die ihm unterstellten höheren Schulen ein eigenes Schulprogrammentwickelt haben, und der diesen ein »Rahmenschulprogramm« vorgibt. Schulen re-agieren auf Vorsteuerung häufig nicht nur irritiert, sondern mit offenem oder ver-decktem Widerstand.