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(Aus der Heidelberger Psychiatrisch-neurologischen Klinik.) Uber die H/iufigkeit der Schizophrenie. Von Hans W. Gruhle i. Mit 2 Textabbildungen. (Eingegangen am 29. April 1932.) Die komplizierten, methodologisch wohl noch nicht ganz befriedigen- den Berechnungen Luxenburgers und seiner Mitarbeiter fiber die H~ufig- keit des Vorkommens der Schizophrenie in der BevSlkerung mfissen vorls noch durch andere Forschungsmittel erg~nzt werden. Wenn die Hell- und Pflegeanstalten ihren Prozentgehalt an Schizophrenen im Gesamtbestand nennen, so driicken diese hohen Zahlen ja nut die selbstverstiindliche Tatsache aus, dab sich die langfristig verlaufenden schizophrenen Erkrankungen natfirlich dort zusammenhs So melden aus deutschem Sprachgebiet: Klingenmiinster ........... 1929 Ansbach .............. 1918 Ansbach .............. 1920 Ansbach .............. 1922 Ansbach .............. 1929 Haar ............... 1929 Eglfing .............. 1929 Gabersee ............. 1929 Streckni~z (Liibeck) ........ 1920 Alle wiirttembergischen 61,3 % des Bestandes 69,0 % .... 68,5 % .... 67,5 % .... 73,0 % .... 60,6 % .... 58,47 % .... 68,5 % .... 57,6 % .... Landesanstalten ........ 1.8. 29 72,0 ~ .... (A. Wetzel) Wenn die schizophrenen Hunderts~tze des Bestandes der Heil- und Pflegeanstalten schon wichtig sind, so interessieren doch die Au/nahme. ziffern noch mehr. Freilich sind die sozialen und verordnungsm~l~igen Bedingungen der Aufnahmen allenthalben recht uniibersichtlich. Man wei• nicht, ob nicht einder Anstalt vorgelagertes Stadtasyl oder dgl. einen Teil der frischen F~lle abfiingt. Immerhin seien einige Zahlen mitgeteilt. Es melden folgende Schizophreniezahlen aus dem/r~inkischen Bezirk (im weiteren Sinne): 1 Siehe auch Mayer-Grofl' Aufsatz im 9. Bande des Handbuches der Geistes- krankheiten.

Über die Häufigkeit der Schizophrenie

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Page 1: Über die Häufigkeit der Schizophrenie

(Aus der Heidelberger Psychiatrisch-neurologischen Klinik.)

Uber die H/iufigkeit der Schizophrenie. Von

Hans W. Gruhle i.

Mit 2 Textabbildungen.

(Eingegangen am 29. April 1932.)

Die kompl iz ier ten , methodologisch wohl noch n icht ganz befriedigen- den Berechnungen Luxenburgers und seiner Mi ta rbe i t e r fiber die H~ufig- ke i t des Vorkommens der Schizophrenie in der BevSlkerung mfissen vorls noch durch andere Forschungsmi t t e l erg~nzt werden. W e n n die Hell- und Pf legeans ta l ten ihren P rozen tgeha l t an Schizophrenen im Gesamtbes t and nennen, so dr i icken diese hohen Zahlen ja nu t die selbstvers t i indl iche Ta t sache aus, dab sich die langfr is t ig ver laufenden schizophrenen E r k r a n k u n g e n natf i r l ich do r t zusammenhs So melden aus deutschem Sprachgebie t :

Klingenmiinster . . . . . . . . . . . 1929 Ansbach . . . . . . . . . . . . . . 1918 Ansbach . . . . . . . . . . . . . . 1920 Ansbach . . . . . . . . . . . . . . 1922 Ansbach . . . . . . . . . . . . . . 1929 Haar . . . . . . . . . . . . . . . 1929 Eglfing . . . . . . . . . . . . . . 1929 Gabersee . . . . . . . . . . . . . 1929 Streckni~z (Liibeck) . . . . . . . . 1920 Alle wiirttembergischen

61,3 % des Bestandes 69,0 % . . . . 68,5 % . . . . 67,5 % . . . . 73,0 % . . . . 60,6 % . . . . 58,47 % . . . . 68,5 % . . . . 57,6 % . . . .

Landesanstalten . . . . . . . . 1.8. 29 72,0 ~ . . . . (A. Wetzel)

W e n n die schizophrenen Hunder t s~ tze des Bestandes der Heil- und Pf legeans ta l ten schon wicht ig sind, so interessieren doch die Au/nahme. ziffern noch mehr. Fre i l ich s ind die sozialen und verordnungsm~l~igen Bedingungen der Aufnahmen a l len tha lben recht uni ibers icht l ich. Man wei• nicht , ob n icht e i n d e r A n s t a l t vorgelager tes S t ad t a sy l oder dgl. einen Teil der fr ischen F~lle abfi ingt . I m m e r h i n seien einige Zahlen mi tgete i l t . Es melden folgende Schizophreniezahlen aus dem/r~inkischen Bezirk (im wei teren Sinne):

1 Siehe auch Mayer-Grofl' Aufsatz im 9. Bande des Handbuches der Geistes- krankheiten.

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Hans W. Gruhle: ~ber die H/iufigkeit der Schizophrenia. 558

Klingenmiinster . . . . . . . . . . 1929 Ansbach . . . . . . . . . . . . . . 1929

A u s d e m bayrischen B e z i r k :

Haar . . . . . . . . . . . . . . . 1929 Eglfing . . . . . . . . . . . . . . 1929 Gabersee . . . . . . . . . . . . . 1929 Hall i. Tirol . . . . . . . . . . . . 1912

Aus d e m alemannischen K r e i s :

Wil (St. Gallen) . . . . . . . . . 1929

1911 Sonnenhalde bei Riehen . . . . . . 1911 Mfinsingen . . . . . . . . . . . . 1930 Waldau . . . . . . . . . . . . . . 1911

1930 Miinsterlingen . . . . . . . . . . . 1913 Rufach (ElsaB) . . . . . . . . . . . 1913

Aus d e m Norden: Owinsk . . . . . . . . . . . . . . 1913 Allenberg . . . . . . . . . . . . . 1924

1925 1926

Strecknitz (Ltibeck) . . . . . . . . 1920 l~ekermiinde . . . . . . . 1905 bis 1910

Aus der /ranzSsischen Schweiz: Pr6fargier (Neufchatel) . . . . . . . 1910

1911 1912

C6ry (Lausanne) . . . . . . . . . . 1912

45,9 % der Gesamtaufnahmen 41,7 % . . . .

46,0 % der Gesamtaufnahmen 55,35% . . . . 57,4 % . . . . 46,2 % . . . .

36,0 % der Erstaufnahmen 51,3 % der Mehraufnahmen 39,2 % der Aufnahmen 24,6 % . . . . 62,0 % . . . . 4 2 , 1 % . . . . 51,5 % . . . . 41,5 % . . . . 44,3 % . . . .

44,8 % der Aufnahmen 39,0 % der Erstaufnahmen 37,2 % . . . . 37,8 % 32,4 % der Aufnahmen 36,2 % . . . .

45,0 % der Aufnahmea 40,0 % . . . . 49,5 % . . . . 27,3 % . . . .

Bellelay (Bern) . . . . . . . . . . . 1930 40,6 % . . . .

Die s c h i z o p h r e n e n Prozents/i , tze de r A u f n a h m e n s c h w a n k e n also

z w i s c h e n d e m M i n i m u m yon 24,6 (Sonnenha lde ) u n d 62 (Mfinsingen). Das is t e in t i be r r a schend groBer Sp ie l r aum. N i m m t m a n n u r die Grenz- z a h l e n de r grol~en r e i chsdeu t s chen Hel l - u n d P f l egeans t a l t en , so l a u t e n

sie 41,7 u n d 57 ,4% ; d e r D u r c h s c h n i t t de r o b e n e r w ~ h n t e n r e i c h s d e u t s c h e n A n s t a l t e n w/~re: 44 ,98%.

D e u t l i c h e geog raph i s che U n t e r s c h i e d e lassen s ich n i ch t e rkennen . D e m g e g e n f i b e r h a b e n die K l i n i k e n na t i i r l i ch v ie l wen ige r Sch izophren ie -

p r o z e n t e ih re r A u f n a h m e n , da sie v ie l m e h r A lkoho l ike r , p s y c h o p a t h i s c h e Reak~ ionen u n d G u t a c h t e n f ~ l l e a u f z u n e h m e n haben .

Miinchener Psychiatrische K l i n i k . . . 1905 Leipziger Psychiatrische Klinik . . . 1922 BurghSlzli Zfirich . . . . . . . . . 1929

Heidelberger Psychiatrische Klinik . . 1927 1928 1929 1930 1931

17 % 20,4 % 27 % 42,4 % 24,4 % 21,6 % 22,4 % 2 5 , 1 % 25,8 %

der Erstaufnahmen ,, Mehraufnahmen

durchschnittlich 23,9 %

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554 Hans W. Gruhle:

M5gen die Zahlen der Beteiligung der Schizophrenie an den Gesamt- Aufnahmen aus allerlei Gesichtspunkten der Irrenfiirsorge auch interessant erscheinen, wissenschaftlich wiinscht man lieber zu wissen, wie sich der Anteil der Schizophrenie an den frischen eigentlichen Psychosen ver- h/tit. Man dfirfte kaum in der Annahme irren, dal~ die Umst/inde, die eine Familie veranlassen, einen geisteskrank gewordenen AngehSrigen der Anstalt zuzufiihren, bei allen Psychosen gleich sind. Es sind natfirlich keine klinischen Gesichtspunkte, die die Frage der Internierung ent- scheiden, sondern die praktischen Erw/tgungen, ob ein Kranker (beliebiger Diagnose) zu Haus noch gehalten werden kann oder nicht. Xndern sich diese Bedingungen (Krieg, Inflation), so/tndern sie sich ffir alle Psychosen

~oo ~

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l.oq3 15 17 79 eq 23 25 27 29 $1

Abb. 1. Heidelberger psyehiatrisch- neurologische Klinik. Kurve a: Auf 100 (Manischdepressive + Paraly- tiker + Epileptiker) entfallen Schizo- phrene. Kurve b: Auf 100 Manisch- depressive entfa[len Schizophren~.

gleichm/tl3ig. Dieser Anteil der Schizo- phrenie an den Gesamtaufnahmen wirk- licher Psychosen dtirfte also interessieren. Frei]ich ist die Diagnosestellung ja das Werk sich wandelnder und zuweilen irren- der Arzte. In dem 9. Bande des Bumke- schen Handbuches der Geisteskrankheiten (S. 26 f.) ist der Versuch gemacht, die Gesichtspunkte der Realit/tt und der Dia- gnostik an der Hand des Heidelberger Beispiels zu besprechen. Der Beziehung der Schizophrenieaufnahmen zu den Auf- nahmen der eigentlichen Psychosen ging ich in den folgenden Kurven (Abb. 1) noch sorgf/tltiger nach. Mich interessierte, wie

seit 1913 sich das Verh/tltnis der Schizophrenie zum manisch-depressiven Irresein allein, und wie es sich zu den groBen Psychosen fiberhaupt (manisch- depressives Irresein + Paralyse ~- Epilepsie) gestaltet hat. Senium und Ar- teriosklerose lie6 ich - - als weniger wichtig - - beiseite. Abgesehen yon einem groBen Sprung der Kurven im Kriege 1917 verlaufen beide Kurven

[ Schizophrenie leidlich regelm~ltig, diejenige ,,a" \anderenPsychosen] noch ruhiger als

[ Schizophrenie ,,b" \manisch-depressivem Irresein]' besonders seit Kriegsende. Die hohen

Spitzen der Kurven im Kriege sind zum Teil wohl /tullerlich veranlal~t - - es war ein Lazarett im Hause, die /tlterenXrzte waren zum Teil im Feld - - zum Teil wohl insofern diagnostisch bedingt, als manehe Situ- ationspsychosen und Simulationen in der Hast der grol3en Kriegsarbeit und bei der Kiirze der milit/tr/trztliehen Beobachtungen fiir Schizo- phrenien gehalten wurden. Endlich mag aber auch eine reale Prozent- zunahme insofern kriegsbedingt gewesen sein, als man die leiehteren Psyehosen zu Hause behielt, die schwereren einwies - - und die schwereren (im sozialen Sinne) waren natiirlich Schizophrenien. Mit anderen Worten : In der Heidelberger psychiatrischen Klinik sehwankt das Verh/tltnis

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t~ber die tI/~ufigkeit der Schizophrenie . 555

der Schizophrenie zu den groflen nichtschizophrenen Psychosen seit 13 Jahren zwischen 117 auf 100 und 160 auf 100. In diesen 13 Jahren ist das arithmetische Mittel der H/~ufigkeit des manisch-depressiven Irreseins zur Schizophrenie 100 : 274,5, der gro•en nichtschizophrenen Psychosen zur Schizophrenie 100:129,6. Strecknitz (Ltibeck) meldet 1920 als Verh~ltnis des manisch-depressiven Irreseins zur Schizophrenie unter den Aufnahmen 100 : 1420, Allenberg im Durchschnitt der Jahre 1914 1926 100:852 (mit Paranoia : 878) der Erstaufnahmen. Das Ver- h/~ltnis schizophrene zu nicht schizo-1~oo ~ . ~ | I phrenen groBen Psychosen habe ich nur moo] ~ ~ ~ - ]1 n~ m o o l ~ I,~,~: 1926errechnen kSnnen.Es betrug 100:43,9. Diese Zahlen scheinen die miindlich h/~ufig 1zoo ~ ~ : .... gehSrte Bemerkung (auch yon Hedenberg- m~o] ~ Sehweden) zu best~ttigen, dal3 im Norden 800[ das manisch-depressive Irresein viel sel- s00 tener gefunden wird. Man kann auch ~s,0 ~ • ~ ~

welchen Prozentsatz die ~ ~.'~e~ untersuchen, Schizophrenie zu allen grol]en Psychosen 6"o,o ~ ~ ~ ~ / g

(Schizophrenie q- manisch-depressivem 5z, o ~ ~'~ ~ ~ Irresein q- Paralyse q- Epilepsie) stellt s0,0 (Abb. 2). Es beteiligt sich die Schizo- ~5,0 ~ ~ phrenie mit ~o,o ~

1919 . 53,9% 1927 �9 �9 53,0% 3~0 1920 57, o/0 192 . 53,7% 1921 58,1% 1929 . . 55,5% 3o, o ~ 1922 58,2% 1930 57,7% 25,o ~ ~ \ r ~ r

" t 1923 61,5% 1931 . . 56,7% 1513"15 17 ~.r ~ 23 ~5 ~7 29 31 1924 55,0% A r i t h m e t i s c h e s Mit te l 1925 57,3% der 13 J a h r e 56,3% Abb. 2. Heidelberger ps:cchiatrisch-

�9 neurologische Klinik. Kurve c: Pro- 1926 53,5% zcntsutz tier Schizophrenie an den

Gesamtaufn~hmen. Kurved : Die ,b - Die mittlere Kurve e der Abb. 2 gibt soluten Zahlen der Gesamtaufnah-

men. Kurve e : Prozentsatz der Schi- diese Uahlen wieder, die untere Kurve c zophrenie an den echten Psychosen.

( Schizophrenie § manisch-depresives gibt die Prozentzahlen der Schizophrenie I rese in + earalyse § Epilepsie). innerhalb der Gesamtaufnahmen fiber- hauptL Dartiber stehen in Kurve d die abso]uten Zahlen aller Jahres- aufnahmen. Letztere Kurve zeigt kein erhebliches Nachlassen im Krieg (zahlreiche Gutachtenf~lle des Fachlazarettes), wohl aber das gleich- zeitige Ansteigen der Schizophrenien, das schon oben besprochen wurde. Sehr deutlich ist der Abfall der Gesamtaufnahmen in der Inflation 1923 und entsprechend das Ansteigen der Schizophreniezahlen. Von

z I m 9. B a n d des H a n d b u c h e s der G e i s t e s k r a n k h e i t e n Seite 28 u n d ebenso in der N e u e n d e u t s c h e n Kl in ik , 7, 158 k 6 n n t e der A u s d r u c k , ,auf 100 Psychosen - a u f n a h m e n fal len Sch izophrene" mi l~vers t~nden werden . G e m e i n t i s t : U n t e r 100 G e s a m t p s y c h o s e n s t ecken Schizophrene .

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556 Hans W. Gruhle: t)ber die ttaufigkeit dor Schizophronie.

da ab steigen zwar die Gesamtaufnahmen enorm, der Prozentsatz der Schizophrenie schwankt abet nicht allzuviel mehr (nur um 4,7 % bei e).

Fasse ich die Hauptergebnisse nochmals zusammen, so lauten sie: In der Heidelberger Psychiatrischen Klinik sind durchschnittlich

schizophren 23,9% aller Aufnahmen 33,8% aller Aufnahmen minus (Psychopathen und neurologische

FaHe). 56,3% aller groBen Psychosen (Schizophrenie -[- manisch-depressives

Irresein ~ Paralyse -4- Epilepsie). Die hohen Zahlen sind vor allem ffir die soziale Bedeutsamkeit der

Schizophrenie kennzeichnend (s. A. Wetzels Aufsatz im 9. Bande des Bumkeschen Handbuches der Geisteskrankheiten).