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Untervazer Burgenverein Untervaz Texte zur Dorfgeschichte von Untervaz 1995 Rosmarie Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.

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Untervazer Burgenverein Untervaz

Texte zur Dorfgeschichte

von Untervaz

1995

Rosmarie

Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.

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1995 Rosmarie Jakob Krättli in: Krättli Jakob: Ob und nid der Felsentreppe. Riom 1995. Seite 313-355.

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XIII. KAPITEL

ROSMARIE

******************

S. 313: Um dem Zeitablauf der Datenreihenfolge, die hier nur soweit erforderlich

berücksichtigt werden soll, einigermassen gerecht zu werden, drängt es sich

nun auf, auf Aarons seltsames Unternehmen in der vorhin einleitend genannten

Höhle einzugehen. Was seine Bautätigkeit darum und darin anbetrifft, sind

aber fast keine Aufzeichnungen vorhanden, er vernachlässigte nämlich in jener

Zeit das Führen seiner bisherigen Tagebücher sehr und gab es schliesslich fast

ganz auf. Die Hinweise kommen darum von nun an zum grössten Teil aus

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Briefen, Aufsätzen und Vermerkungen aus zwei Erinnerungsbüchern, die er

dann an Stelle einer Tagebuchführung, immerhin dafür mit mehr Sorgfalt und

mit Zeichnungen ergänzt und geschmückt, zu unterhalten pflegte.

"Ostermontag 1964

Siehe, mein Gott, was habe ich heute, um näher zu Dir zu gelangen getan! Den

ersten Stein, einen grossen Stein, zur Höhle geschleppt. Wird sich, was ich da

vor habe auch lohnen, oder bin ich der dümmste Knecht? - Ein seltsamer Tag,

wirklich ein seltsamer Tag!"

"Diesen Stein übrigens, der so schwer war, dass er ihn nicht zu tragen

vermochte, und den er auf dem "Laaterkopf", also oberhalb der Höhle fand,

zog er an einem Strick den Hang bis direkt über den Felsen herab und liess ihn

an einem Seil bis vor den Eingang der Höhle herunter.

Vorhanden ist zudem auch ein zwar sehr knapp und viel später abgefasster

Bericht, welcher Aarons Bautätigkeit während des darin vermerkten Jahres

festhält:

S. 314: Die Höhle auf einem Streifzug im Sommer 1960 entdeckt und dabei auf die

Idee gekommen, dass sich darin etwas machen liesse.

Beginn der Idee-Verwirklichung: Als einsamer aber von Idealen beflügelter

Junggeselle im April 1964 den ersten Stein herbeigeschleppt. Dann im Laufe

des Sommers das Geschotter herausgeschafft. Dann den sehr engen Raum

durch Abmeisseln vom Fels in die Höhe und Breite zu erweitern begonnen,

denn vorher, in ihrem natürlichen Zustand, war die Höhle an deren höchster

Stelle nur ungefähr 1,20 Meter hoch. Dann im Herbst, neben der Tätigkeit als

Hirte und Futterknecht auf dem Maiensäss Pramisters und dem Berggut

Cadära, so im Oktober und im November, in der langen aber immer wieder

unterbrochenen Freizeit, die Mauersteine gesammelt und herbeigetragen.

Erstellt war die Mauer dann in der Hauptsache anfangs Dezember.

Dies alles geschah auf primitivste Weise, und unter dem Druck der Angst vor

ablehnender Kritik und vor Vorurteilen, geheim, im Verborgenen, geschah es,

zum Teil sozusagen bei Nacht und Nebel. Viele Nachtarbeitsstunden sind

dabei ………"

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"Den 2. Aug. 1964

Freude, ich habe geahnt, dass du noch lebst - aber fern, über sieben Bergen,

jenseits meines Sündentales und meiner Mutlosigkeit, - Freude, nun leuchtest

du wieder auf!"

Einen andern Hinweis enthält der hier anschliessend eingegliederte kurze

Aufsatz:

"Den 27. Nov. 1964

Der Oktober, der vorige Monat, war, nebst mit mässigem Arbeiten ums Vieh

und bei der Ernte, ausgefüllt

S. 315: mit dem Ersinnen und Schreiben von Liebesbriefen. Ich sann und schrieb zu

Hause, sann im Stall beim Füttern, sann und entwarf auf dem Felde während

des Viehhütens, so auf der Wiese des Heidackers, und auch auf den Wiesen

Beim Horn und Beim Schiltli. Zuerst schrieb ich an Lydia, die ich immer noch

verehre, dann eine viele Seiten lange Widmung an Maja und schliesslich an

Rosmarie. Und zudem schrieb und zeichnete ich der Schülerin Christina in ihr

Erinnerungsalbum. Mitunter habe ich andererseits öfters ein Küsschen

erhalten: von den Nachbarskindern Adelheid, Hansi und Felix, die vielmals bei

mir waren.

Jetzt nun, im November, verweile ich hier oben auf dem Berggut Cadära, wo

ich morgens und abends fünf Stück Jungvieh und eine Kuh füttere - nur sechs

zusammen. Aber was tue ich die andere Zeit? Wenn ich höchstens einmal pro

Woche ins Dorf hinunter steige, um Esswaren und anderes zu holen, dann fragt

man mich: Was machst du nebenbei, wo steckst du die Zeit tagsüber? aber ich

verrate das niemandem."

Aaron hatte damals. wenn er daheim. im Dorf, in seiner sonst leeren

Werkstätte sich etwa beschäftigte, sei es an seinem neuen Hobby, dem

Mosaiksetzen, oder um seinen notwendigen Lebensunterhalt durch eine etwas

Geld eintragende handwerkliche Arbeit zu verbessern, oder auch wenn er auf

dem Felde seinen Eltern half, am liebsten Kinder um sich.

Im allgemeinen gehen wir aber erst später auf ihn, den neugebackenen

Kinderfreund ein und verbleiben, was dies betrifft, vorderhand allein bei der

vormals schon erwähnten Maja, einem nicht mehr ganz kleinen langehin jeden

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Sommer wiederkehrten und von einem Sommer zum andern grösser

gewordenen Feriengast aus Zürich.

Maja war ein sehr intelligentes und vielseitig begabtes Kind und besass zudem

auch noch die besondere Fähigkeit und Liebenswürdigkeit. Aaron bewusst und

auch unbewusst in

S. 316: seiner schweren Lebenslage der vorigen Jahre zu trösten, und auch sonst

allemal, wenn sie zugegen war, ihn wieder aufzurichten, wenn er etwa den

Kopf hängen liess. Darum freute er sich jedesmal riesig, wenn er sie des

Sommers während ihrer Schulferien in seiner Nähe wusste, ob zu Tal oder zu

Berge. Sie spielte ihm bei Gelegenheit gern dann und wann eine ihr geläufige

einfache Melodie auf seines Bruders Klavier vor und beehrte ihn mit dem

Anspruch, ihr "Lehrer und Meister" beim Malen und Mosaiksetzen zu sein.

Auch las sie ihm nach Belieben, um ihm weitere Gefallen zu tun, aus dem

Büchlein "Alles Schöne ist ein Gleichnis" von Otto Gillen vor, und zwar, nebst

vielem anderem, auch diese schönen Zeilen daraus:

"Wie ich dies alles liebe! Birkenwege, Birkenwälder, jede einzelne Birke,

diese Mädchen unter den Bäumen, diese weissen, schlanken ….. Ich liebe die

tiefen Wiesen im Schatten der Apfelbäume, das Spiel der Lichter über der

grünen Dämmernis, den Glanz und das Glühen über Blume und Gras, das

Flimmern im Filigran der Wipfel vor dem abgründigen Blau." - Und es war

Aaron noch nach vielen Jahren, wenn er diese einst von Maja vorgetragenen

Zeilen wieder las zumute, als höre er ihre süsse Kinderstimme dabei wieder,

als wäre sie es wieder gewesen, die da las, nicht er, was ihn wahrlich in Freude

versetzte, ihn aber auch in ein wehmütiges Zurückdenken an jene schönen

Stündchen versenken konnte, die er mit ihr verbringen durfte.

Und einmal schrieb sie, was sie wohl in der Schule gelernt, aber auf ihn

umgeändert hatte, ihn mit Humor erheiternd in sein Erinnerungsbuch:

"Aaron hat kein Brot im Haus,

Aaron macht sich gar nichts draus.

Aaron hin, Aaron her,

Aaron ist ein Zottelbär."

S. 317: Sie waren einander treue Freunde - er liebte sie, als wäre dieses Kind sein

eigen gewesen, sie war ihm ein richtiger kleiner Herzensschatz.

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Unter anderem erzählte sie ihm auch häufig von daheim, und dies vorwiegend

von ihren Eltern und Geschwistern. Da einmal, während eines

Ferienaufenthaltes - es war aber an einem Herbst - berichtete sie besonders von

ihrer erwachsenen Schwester Rosmarie, wie diese schon seit langem schwer

krank sei, und wie sie überhaupt in allem seit Jahren infolge ihrer Schwachheit

zeitweilig mit grossen Schwierigkeiten zu kämpfen habe. Und weiter erzählte

Maja, wie tapfer sich Rosmarie in den ersten Jahren nach ihrer Schulentlassung

auch gewehrt, weitergebildet und edle Ziele angestrebt habe, und nun,

nachdem alle ihre guten Wünsche und Absichten zerbrochen, ach, gar oft in

ihrer äussersten Notlage völlig den Mut verliere und eher zu sterben wünsche,

als unter solch scheinbar aussichtslosen Umständen weiterzuleben.

Rosmarie, die übrigens zehn Jahre jünger war als Aaron, machte also derzeit

eine schwere Krise durch. Sie litt nämlich hauptsächlich an der furchtbaren

Krankheit, die man in Fachkreisen mit dem Fremdwort "Schizophrenie"

bezeichnet, wie er selbst also ehemals, aber auf seine Weise und viel weniger

schlimm, eine solche Krise durchgestanden hatte. Er konnte sich deshalb gut in

ihre Lage hineinfühlen.

Ihrer voller Rührung gedenkend, bot er sich an, mit ihr mittels Briefwechsel

Beziehung aufzunehmen und zu unterhalten, und zwar einzig mit dem

Verlangen, ihr auf diese Art dienen zu dürfen, ihr nach Möglichkeit zu neuem

Mut zu verhelfen, wie verschiedene andere dies auch versuchten. Ihre Eltern

bejahten sein Angebot, und er sandte ihr sein erstes Brieflein, das sie bald

darauf zu seiner grossen Freude auch beantwortete. Der beiden Briefaustausch

geschah jedoch anfänglich, und zeitweilig auch später noch, der Umstände

halber durch die Hände ihrer Eltern. Dann bald selbst im Besitz ihrer Adresse,

vermerkte er für sich, als er ihr wieder schrieb:

S. 318: "Habe gestern, am 3. Dezember, an Rosmarie den ersten direkt an sie

adressierten Brief geschrieben, den ich aber, um mir dessen Inhalt noch mehr

zu überdenken, erst morgen oder übermorgen zur Post zu bringen beabsichtige.

- Liebes Mädchen, armes Mädchen, hoffentlich kann ich dir in Gottes Namen

irgendwie helfen!"

Den einzigen Vorteil, den er anfänglich für sich bei Rosmarie suchte. sein

egoistischer Hintergedanke war, sich der eigenen Freude zu erfreuen, die darin

bestand, das stärkende Bewusstsein zu erlangen, ihr gegenüber eine sinnvolle

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und schöne Aufgabe erfüllen zu dürfen. Dabei allein blieb es jedoch nicht

lange. Was dann innert der darauffolgenden Wochen in ihm vorgegangen,

weiter hinzukam, verrät das letzte Drittel der folgenden Aussage:

"Den 22. Dez. 1964

Die Glücklichen dieser Welt brauchen meine Liebe nicht. So eile ich hin zu

den Armen und Kranken und Seufzenden, dort bei ihnen bin ich willkommen,

dort wartet man auf mich.

Rosmarie, du ärmstes Geschöpf unter den Menschen, du elender, du

verlassener Wurm, ich bin glücklich, dass ich von dir weiss, dass es dich gibt

und dass ich dir dienen darf! So wie du bist, gerade so am besten, kann ich

dich mit feurigster Liebe lieben - so innig und feurig, wie ich ausser meiner

Mutter noch nie einen Menschen geliebt habe!"

Diese äusserst grosse Liebe zu ihr hatte sich also bereits angebahnt und sollte

sich nun bald auf das Schönste bewahrheiten. Eine neue Zeit, eine lichte,

sonnige Zeit war damit für Aaron dank Rosmarie angebrochen. Er stürzte sich

auf sie, in seiner Leere, in seinem Hunger zu lieben, wie ein Adler auf ein

ahnungsloses Lamm.

S. 319: Sein unstetes Leben rührte er aber unterdessen mehr oder weniger noch weiter,

obwohl nun viel mehr Wärme hereinströmte in seine Tage. Was den Beruf

betraf verhielt er sich noch weitgehend als derselbe Schlendrian wie bisher in

den vergangenen drei Jahren: Also arbeitete er ein wenig in der Landwirtschaft

der Eltern und - aber nur soweit es sein musste - in seinem eigenen Gewerbe

als Handwerker. Dazwischen machte er sich noch wie bisher nach sich

längsthin angeeigneter Gewohnheit von solchen Arbeiten, deren Ausführung

keine Eile hatte davon und strich in der Landschaft umher - von jetzt an aber,

im Gegensatz zu vorher, man darf sagen als Vagabund aus Überzeugung in

wachsendem Masse. Denn er hatte neu erkannt und erfahren, dass es auch sein

Gutes hat, wegzukommen vom materialistischen Denken und Streben. Das

Schlendern hatte zum grossen gesundheitlichen Nutzen hinzu einen neuen Sinn

bekommen· in seiner Anschauung, es war nun philosophisch verfechtbar, so

gesehen berechtigt und gut.

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Als einer der sich gern aus dem Staube machte, oder auch aus Zielstrebigkeit

und Unternehmungsgeist eine andere Richtung einschlagend - man kann es

betrachten wie man will - kam er in jenen Wochen gar häufig in die Höhle

nach Laat herauf. Es galt nun, wie er sich vorgenommen hatte, in diesem

Felsenloch hinter der, wie wir wissen, unlängst erstellten Mauer den für ihn

zwar überflüssig langen aber sehr engen und gar zu niedrigen Raum

wenigstens in dessen vorderer Hälfte zu erweitern und zu erhöhen. Das hiess

mit Hammer und Meissel Stücklein um Stücklein vom harten Fels abschlagen

und abspalten - eine an sich langweilige, uninteressante und manchmal recht

mühsame Schwerarbeit - eine Maulwurfsarbeit - ein vernünftiges Tun bei den

Mäusen, die so etwas dem Ähnliches in der Erde machen, von ihm aber eine

Torheit ohnegleichen, wenn man sich seine kämpferische Begeisterung für

diese Sache, und seinen aus der Not geborenen Idealismus, und seine helle

Flamme der Sehnsucht nach dem Höheren, was seine treibende Kraft

ausmachte, wegdenken würde.

S. 320: Eines Tages hingegen, bereits im tiefsten Winter, kam er mit seinem Rucksack,

wie auch sonst etwa, durch den Schnee herauf, aber diesmal mutlos und ohne

die zum Meisseln nötige Tatkraft. Ein vorangegangenes Missgeschick, eine

Enttäuschung, eine Zankerei, oder eine schnell vorübergegangene Krankheit,

oder eine zu lange angehaltene Knappheit an Nahrungsaufnahme, - was

mochte ihn wieder einmal niedergedrückt, deprimiert haben? Er rührte

jedenfalls die Werkzeuge, welche mit andern Sachen in einer Kiste deponiert

zur Verfügung lagen, kaum an. Doch wie üblich zum Meisseln, drückte er auch

diesmal den hierfür einmal gezimmerten Bretterladen in den gerade noch als

Schlupfloch für seine schmalen Schultern beim Bau der Mauer belassenen

Eingang, und stopfte die drei Luftlöcher der Mauer mit Lumpen zu, nachdem

er sich vorher eine oder zwei vorhandene Kerzen angezündet hatte, und hielt

sich so weg von allem - darin auf - und schrieb an Rosmarie:

"Untervaz, den 25. Jan. 1965

Liebe Freundin!

Wie geht es Dir? - Eben bin ich vom Tal heraufgestiegen und habe mich in die

kleine Höhle begeben, in deren Eingang ich im vergangenen Herbst eine feste

Mauer errichtete.

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Hier drinnen ist meine Einsamkeit auf einer Höhe angelangt. Hier bete ich zur

Dich, und entwerfe diesen Brief an Dich.

Ich muss Dir aber mitteilen: Ich bin kein tapferer Mann, heute bin ich ein

Versager. Denn ich lief von daheim und der Arbeit davon, bin jetzt in diesem

dunklen Felsenloch versteckt und niemand weiss wo ich bin. Ich bin nicht

mutig, ich habe hier Angst - Angst vor dem verneinenden Urteil der Leute, das

sie möglicherweise über mich hätten, wenn man mich hier entdecken würde.

Aber vor Dir habe ich keine Angst, liebe Rosmarie. Du verstehst mich ja, in

meinem Leiden, Du weisst auch, was ich hier suche, Du verstehst die

S. 321: Sehnsucht meiner Seele. Darum fühle ich mich nicht allein, und auch nicht,

weil ich ja in Gedanken in Verbindung bin mit Dir.

Und Du bist gewiss auch nicht immer tapfer. Aber genau das, unsere

Mutlosigkeit, kann uns noch zum Segen werden. Gott bricht in unser Elend

herein und zieht uns zu sich. Um seinetwillen dürfen wir uns rühmen. Er hat

uns ausgezeichnet mit unsern besonderen Schwächen. Weil wir beide derart

anders zu leiden haben als die meisten Mitmenschen, streben und handeln wir

zum Teil auch anders. Wenn wir füreinander einstehen und ausharren, können

wir noch mehr Schläge ertragen, und die Leute werden einst bejahend von uns

reden also auch von Dir, Geliebte. Das hätten wir dann vorzüglich unsern

Leiden zu verdanken, die für uns eine Gnade sind. Die Angst vor unserm

eigenen leiblichen Leben zwingt uns, in die Höhe zu schauen.

Von tausend Misserfolgen werden wir immer und immer wieder

zurückgeschlagen, heimgesucht - darin ist unser Sieg verschlungen. Wir

werden dennoch siegen, leben, kämpfen und sterben, um zu siegen, dies sei

unser Kampfesruf. Wir müssen einander helfen im Kampf um das Grosse.

Ohne eitel zu sein, dürfen wir auch ein wenig Ehrgeiz haben, insofern unser

Begehren und Handeln auf eine gute Sache ausgerichtet ist.

Wir helfen einander. Bete auch Du für mich! Du hilfst mir doch, wenn ich

Dich rufe! Du hilfst mir des Vaters Schäflein hüten. - Komm!

Wo begegnen und unterhalten wir einander, auf dem Ball, beim Spiel, auf

Gartenbänklein, bei der Arbeit? Nein, nichts von dem.

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Wir begegnen uns am nächsten auf dem Kreuzweg, in den Flammen, die uns

langsam aufzuzehren scheinen. Aber die Liebe steht ja über allem, auch über

uns beiden. Auch wir werden darum die Palme des Sieges erlangen. Wir

grüssen einander, wir winken einander freudig zu! Dein Aaron"

S. 322: Dieser seltsame und eigenartige Liebesbrief, und zugleich auch Passionsbrief,

ist, wie man merkt, in niedergeschlagenem Zustand verfasst worden und

dennoch stark vom allgemeinen tröstlichen christlichen Gedankengut

durchdrungen. Er beinhaltet offensichtlich unter anderem die bekannte Lehre

und Redensart vom "Kreuztragen" im Alltag, abgeleitet vom Leidensweg Jesu,

vom Getsemani zum Golgata und den österlichen Sieg des Geistes in einem

schöneren jenseitigen Leben.

Dazu sei aber vermerkt: Aaron meinte es wohl gut, als er sich zu ihr

erniedrigte, um näher an sie heranzukommen. Der Brief wird jedoch wegen

seinem überfordernden Inhalt für ein Mädchen wie Rosmarie, die dennoch

nach einer besseren Zukunft in diesem Leben ausgerichtet war, kaum von

Nutzen gewesen sein, denn es fehlte diesem an Substanz aus der eigentlichen

Heilslehre des Evangeliums im Sinne: glaube an die Gesundheit und du wirst

gesund, und "kommet alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will

euch erquicken".

Wenige Tage darnach, anschliessend an ein Telefongespräch mit ihrer Mutter,

wodurch er erfuhr, dass Rosmarie einen schweren Rückfall erlitten und wieder

in einem Spital untergebracht war, schrieb er in sein Erinnerungsbuch:

"Den 31. Jan. 1965

……. Arme Rosmarie, armes Mädchen! Alle frauliche Anmut hat dich

verlassen. Meine Geliebte, musst du schon sterben, ehe ich dich im Leben je

einmal gesehen habe? Welch ein Häuflein Elend ich mir zu meiner "Braut"

ausgewählt! Welches Mädchen übertrifft dieses Mädchen an Gebrechlichkeit

und Seelenschmerz? Doch ich will sie um so mehr lieben, je elender sie ist.

Dies sei meine allerschönste Sendung."

Wie inniglichst Aarons Liebe zu ihr war und an Tiefe nur noch zugenommen

hatte, wird dadurch ersichtlich, dass

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S. 323:

S. 324: er sie zu seiner "Braut" erhoben, erkoren hatte, zu seiner "Geistigen Braut",

wie er sie für sich nach und nach nannte, zur Geistigen Braut unter den

Lebenden - und sie auf diese Weise ins Gemach seines Herzens heimholte.

Dies im Gegensatz zu derjenigen unter den Verstorbenen, der Mystikerin

Gemma Galgani, die er bisher schon etwa mit dieser Bezeichnung beehrte,

obwohl sie in diesem Buch seltener erwähnt wird.

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Er schrieb in jener Zeit während zwei Monaten gar jede Woche an Rosmarie.

Kaum hatte er einen Brief zugeklebt und abgesandt, harrte er mit feurigem

Bangen bis eine Woche vorüber war, um ihr wieder schreiben zu dürfen, so

sehr war er vom Gedanken an sie erfüllt. Sie aber antwortete währenddessen

nicht, doch ihre Eltern taten es gelegentlich an ihrer Stelle.

"Der Einladung von Rosmaries Eltern und ihrer Schwester Maja folgend, reiste

ich am letzten Sonntag, den 14. Februar nach Zürich, wo mich ihre Mutter vom

Bahnhof abholte und gleich ins Spital führte, wo ich nun Rosmarie zum ersten

Mal begegnen durfte. Um ein Tischlein gruppiert, unterhielten wir uns dort mit

ihr, mit dabei waren auch ihre Schwester Elva und deren Freundin. Ich

überreichte Rosmarie das Büchlein Gemma Galgani, mit der Absicht, sie möge

daraus Kraft schöpfen, auch gab ich ihr einen Strauss von Föhrenzweigen und

Haselstrauchkätzchen, den ich daheim für sie vom Waldrand holte.

- Mein armes Würmchen, wie warst du so verzagt! Du klagtest: Ich komme

nicht in den Himmel, ich kriege keinen Mann, ich bin nicht schön. - Eine

Weile später hingegen sagte sie vertrauensvoll zu mir: Du bist mein Schatz, ich

hab dich gern, das ist wirklich wahr! Mit blassem Gesichtlein und mit

schwacher Stimme, gestand sie dies mir.

Rosmarie ist am Äussersten ihrer Kraft, und sie zeigt kaum ein bisschen Mut,

sagte bei Gelegenheit

S. 325: ihre Mutter zu mir, und ihre Sehkraft sei so gedämpft, dass sie meine Briefe in

letzter Zeit nicht mehr lesen könne, jemand müsse sie ihr vorlesen, und sie

könne mir deshalb auch nicht mehr schreiben, solange dieser Zustand anhalte.

Dann abends spät, als ich mich in die Stille zurückgezogen hatte und dieses

besondere Erlebnis überdachte, da kam mir reumütig erst zu Bewusstsein: In

Anbetracht ihrer schweren Lage hätte ich ihr, Rosmarie, wenigstens zum

Abschied einen süssen Kuss schenken sollen, als leibhaftiges Zeichen meiner

Liebe zu ihr, die den Umständen entsprechend mehr geistiger Art war. Statt

dessen verhielt ich mich, zwar auch aus Schüchternheit, schwunglos und zu

kühl. Zudem verharrte ich zu sehr am Buchstaben meines Vorsatzes, sie

möglichst wenig zu berühren. Ich habe Rosmarie wirklich zu wenig Liebe

bewiesen. Nicht eine reizende Dame hätte ich ja geküsst, sondern ein elendes

Würmchen, eines der armseligsten Mädchen, die zur Zeit in unserm Lande

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leben. - So will ich denn im Frühling wieder zu ihr gehen, aber sie dann auch

küssen und umarmen nachholen, was ich ihr gegenüber versäumt habe.

Und eigentlich, wenn es gut geht und alles klappt, so werden wir dann im April

eine Pilgerreise unternehmen, die ersten Vorbereitungen dazu sind bereits im

Gange. Aber wenn sie dazu zu schwach sein wird?"

* * *

Dem Erfülltsein vom Gedanken an Rosmarie und jedem Nachdenken an die

Frauen überhaupt widerstrebt allerdings der folgende, wohl fast in einem

gewissen Zustand der Entrückung und glückseligen Zufriedenseins verfasste

Text, in einer Behäbigkeit noch höheren Glückes, als jenem hohen Glück,

welches Frauen Männern zu bescheren vermögen:

S. 326: "Den 10. März 1965

Ein Aufenthalt in Laat. Einsamkeit in den Menschenmassen und Einsamkeit in

der Stille der Berge ist nicht dasselbe - jene ist Verlassenheit und diese

Erhabenheit, diese trägt einen fort aus der Drangsal des Alltags, fort von all

seinen Plagen, Begierden und Leidenschaften, empor in die Gefilde des

Friedens, wo die Seele neu heilige Ruhe atmet. Das Schweigen um sich her ist

auch ein Sprechen. Die Stille erteilt uns eine andere Lehre, als das Getriebe der

Geschäfte sie uns erteilt.

Nur sanft und leise weht ein Lüftchen von den höher am Berg oben zur Zeit im

Schatten gelegenen Mulden herab. Da in Laat, in dieser Weite, ruht eben das

Licht der Märzensonne auf den Wiesen, die noch mit Schnee bedeckt sind, und

sich als ein einziges blendend weisses Feld ansehen lassen, während da und

dort vereinzelte Vögel von den Bäumen herunter ihre um diese Zeit üblichen

Laute verbreiten. - Die Vögel: Sinnbild der Unsterblichkeit, Gleichnis vom

ewigen Leben in den Gärten des Paradieses.

Wir tappen im Dunkeln, wenn wir nur das in uns aufzunehmen vermögen, was

wir mit unsern fünf Sinnen wahrnehmen können. Für die himmlischen Dinge

um uns - und in uns - sind wir verschlossen. Nur wenigen ist es zuerteilt, mit

den Engeln im Lichte zu wandeln. Was kann dich darum noch traurig machen,

du Narr!, so muss ich zu mir selber reden.

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Eine Welt ist mir verlorengegangen - und siehe doch, es weitet sich eine

andere, schönere Welt mir aus, die Welt des neuen Friedens. Wie hast du es da

überhaupt noch nötig, von Frauen zu träumen? Die Erhabenheit der Natur hier

oben bietet dir Ersatz, sie bringt der Seele Ruhe und die Begierden schweigen."

Doch so einfach war das für Aaron auch wieder nicht. Er hatte es eben

dennoch nötig, auch weiterhin an Frauen zu

S. 327-30:

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Die Höhle, links deren Vormauer und

Eingang, und unten der Eingang mit

Gätterchen.

Vögel als Sinnbild der

Unsterblichkeit, Gleichnis vom

ewigen Leben in den Gärten des

Paradieses.

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S. 331: denken. Er hielt sich ja nicht immer so befriedeten Herzens unter den

Kirschbäumen von Laat oder am Hügel Valdrux auf. Sein Alltag war anders, er

gehörte also auch neuerdings nicht zu den Allerglücklichsten. Weiteren Anlass

zu demselben Hindenken gab ihm erfreulicherweise Rosmarie persönlich,

nämlich, als es ihr zur grossen Freude beiderseits wieder besser ging, in einem

wenn auch mit Zurückhaltung bedachten aber schönen Brief, in welchem sie

ihn mit den hierzu vortrefflichsten und lieblichsten Worten aufforderte,

immerhin gedanklich dennoch bei ihr zu sein:

"Zürich, den 19. April 1965

Lieber Aaron!

Pflücken wir zusammen in Gedanken bunte Blumen auf einer Wiese. Und

spiegeln wir uns in einer Quelle und hören einem rauschenden Bergbach zu.

Vergessen wir bei diesen Gedanken Iur eine Weile unsere Sorgen. Ich wünsche

Dir viele schöne Stunden und grüsse Dich! Rosmarie

Kann ich Dir irgendwelche Freude bereiten?"

O, und wie! - Wenn sie doch wirklich gewusst hätte, wie viele und grosse

Freuden sie ihm bereits schon beschert hatte und weiterhin noch bescherte, wie

er ganz besonders durch sie bald wieder ein fröhlicher, heiterer Mensch

geworden war!

- "Spiegeln wir uns zusammen in Gedanken in einer Quelle und hören einem

rauschenden Bergbach zu." - Und wäre diese Quelle auch der Weiher von Laat

gewesen, wo daneben um diese Zeit die Kirschbäume und die

Himmelsschlüsselchen blühten. Wie liegt doch in diesem Bilde, in dieser

Vorstellung, so viel sprühende Jugendanmut, Schönheit und

. 332: Lieblichkeit drin!

Nun Aaron selbst, schrieb an sie auf demselben Pfade, doch weiter gehend, mit

weniger Zurückhaltung und eigentlich schon vorher:

"Untervaz, den 4. März 1965

Liebe Rosmarie!

Du treibst aus mir neue Knospen hervor, die wollen spriessen und zu Blüten

sich entfalten - die wollen schön sein, ewig schön.

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Geliebte, Du bist mein! Ich will Dich haben, solange Du meiner bedarfst. Wie

es sich unter Liebenden wie wir es sind gehört, so ,verwandelt Dich meine

Vorstellungskraft in ein so schönes Mädchen, das einem lichten Engel gleicht,

oder einer bekränzten Frühlingsfee in weissem Gewand. So stehst Du über der

harten Wirklichkeit des Irdischen meinem geistigen Auge zur Schau. Wie ich

Dich oft so sehe, bist Du ein Spiegelbild meiner Wünsche. Aber auch ohne

dies: Eine grosse Kraft, und auch viel Trost gehen von Dir aus und kommen

auf mich zu. So hilfst Du mir durchs tägliche Leben ……"

"Untervaz, den 25. Febr. 1965

Meine liebe Freundin!

…. Heute begab ich mich auf einen Spaziergang nach Friewis, der Sonne zu.

Dort dachte ich ganz innig an Dich und wünschte, Du wärest bei mir - ganz bei

mir, dort, wo bereits die Vögel singen und die weissen Birken stehen.

Dir zum Gruss! Dein Aaron"

S. 333: Mit der Lehre von der Gedankenübertragung, damals zwar noch kaum vertraut,

drehte er sich gar nicht sehr selten aus dem Verlangen des Herzens heraus

irgendwo im Verborgenen nach Nordwesten um, wo Rosmarie lebte, streckte

sanft seine Hände in dieser Richtung nach ihr aus und rief sie in Gedanken an,

als müsste sie ihn wirklich hören und auch sehen. Er tat dies, indem er sie

dabei bald in andern bald in diesen Worten auf solche Weise anrief: " …..

Vernimmst du mich? Ich denke an dich, und auch an deine Eltern und

Geschwister. Es möge euch gut gehen!"

* * *

"Zum Dienste der Nächstenliebe sind nur gebrochene Herzen fähig." Von wem

dieses Wort auch stammt, und wie wenig oder wie viel Wahrheit darin stecken

mag, auf Aaron jedenfalls, traf es wirklich zu. Ein gutes Wirkungsfeld in dieser

Hinsicht fand er in seinem immer noch nicht gestillten Verlangen zu lieben,

hauptsächlich bei den Kindern, mit denen er sich zunehmend beschäftigte.

Diese erwiderten ihm seine Liebe hundertfach, die zwar ohne die

Beanspruchung ihrer Gegenliebe um so echter gewesen wäre. Sie erwiderten

sie ihm ganz offen, zutraulich und unbekümmert, bis zur gelegentlichen

süssen, schmeichelhaften Aufdringlichkeit. Wusste das doch auch der

russische Meister der Dichtkunst Dostojewski, der von ihnen sagt: "Mein Gott,

wenn so ein Kind mit seinen hellen Augen einen treuherzig und glücklich

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ansieht ….. ", und der weiter bemerkt: "Durch den Umgang mit Kindern

gesundet die Seele".

Aarons gelegentlicher Tätigkeit in der Rolle einer Kindergärtnerin braucht hier

nicht lange vorgegriffen zu werden, die kleinen damals von ihm verfassten

Aufsätze, welche darüber Aufschluss geben, machen dies nämlich fast

überflüssig. Es als nennenswert erachtend, sei diesen Aufsätzlein vorangehend

beigefügt: Sein Beisammensein mit Kindern und seine Beschäftigung mit

ihnen, gewöhnlich mit drei - bis zehnjährigen, stimmte ihn so froh, dass er sich

S. 334: einmal in einem Brief an das Kindergarten-Komitee der Gemeinde wendete,

mit dem Wunsch, sich als zweite "Kindergärtnerin" anstellen zu lassen, hier

ein Ausschnitt daraus:

Untervaz, den 4. Mai 1965

So kommt es, dass ich wenn auch nicht ohne Sinn und Ziel - ein

vagabundenhaftes Leben führe, während nämlich andere Leute arbeiten, streife

ich wie ein Tagedieb vielmals in den Wäldern umher, betreibe ein Hobby oder

spiele mit den Kindern. Der Umgang mit den Kleinen hat mich seit letzthin

immer wieder neu beglückt. Die Sehnsucht nach dem Glück, das, wie wir

wissen, allein in der Liebe seine wahre Erfüllung findet, zieht mich heute sehr

zu den Kindern hin. Die Kinder meiner Umgebung merken und nutzen das.

Einzelne hängen so fest an mir, dass sie, wenn ich zuwenig Zeit zu haben

meine, um mich mit ihnen zu unterhalten, oft weinen, wenn ich sie wieder

heimschicke …….

Mein alter Egoismus, nun jedoch mit neuen Einsichten, scheint auch auf

Gegenseitigkeit zu beruhen ……"

"Mitte Mai 1965

Glücklich ohne Ehering, so heisst der Titel eines Kleinschriftenbändchens von

Daniela Krein. Anfänglich konnte ich mit dieser Art "Heilkraut" nichts

anfangen, wohl gelesen, aber ohne dass es mich gerührt hätte, legte ich es

wieder irgendwo von mir weg, auf die Seite. Und es dauerte fast zwei Jahre,

also bis jetzt, bis diese Botschaft, dieses Rezept, bei mir Aufnahme und

Anwendung - und schliesslich auch Heilwirkung zeigte. Aber jetzt, da ich es

wieder hervorgenommen, nochmals gelesen und dessen Inhalt entsprechend

sinne und handle, ist auch darum für mich eine neue Zeit angebrochen.

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S. 335: Heute, schon den vierten Sonntag in diesem Frühling, wanderte ich mit einem

kleinen Grüpplein Kinder in die blühende Natur hinaus. Wir bummelten den

einen Sonntag da- den andern dorthin. Wir wackelten zum Heidacker,

rutschten dort mit Reitschindeln einen Hang herunter und vergnügten uns

ebendort unter dem Kirschbaum beim Stall und dem Brunnen. Und wir

sprangen über die grünenden Wiesen von Patnal, und auch über jene von Salis

und Ratitsch und erfreuten uns an den Blumen und Vögeln. Und wir spielten

und zeichneten im Freien wie auch im Hause.

Das Aufgenommenwerden und Mittanzen im Kinderreigen des Wonnemonats

Mai, das früher bloss ein schönes dichterisches Traumbild mir war, ist mir

denn somit zu einer froh erlebten Wirklichkeit geworden. Die Kinder des

Nachbars und die der Witwe Josefine Gander, aber auch andere, laufen mir

tatsächlich nach, wenn sie sehen, wie ich zu meinen Spaziergängen ausgehe.

Darob bin ich sehr froh und lasse sie dies auch wissen. So kann ich denn, weil

ich keine eigenen Kinder habe, im Gegensatz zu den meisten meiner

Altersgenossen, meine natürliche väterliche Liebe sonst welchen Kindern

schenken, vor allem denen der Witwe, weil diese ihren eigentlichen Vater

entbehren. Diese hangen am meisten an mir, und ich darum auch so sehr an

ihnen.

Es ist auch eine Sorge, keine Sorgen zu haben, sag ich mir, und: es ist auch ein

Glück, für zutrauliche, liebenswürdige Kinder sich besorgt zu wissen. Auch die

Kleinsten der Gassen kommen, diese küssen mich, ich liebkose sie, und sie

liebkosen auch mich. Sie kommen zu mir, und ich drücke sie an meine

Wangen: den Hansli, den Felix, Kätherli, Margritli, Johanna, Gerlinda, Räto

und Alois.

Und das älteste der Kinder meines Grüppleins, die zehnjährige Hedwig,

scheint mir beim Zeichnen schon dies und das abgeguckt zu haben. Wenn sie

selbst auch zeichnet, überlasse ich es ihr ganz und gar, ihr

S. 336: kindliches poetisches Empfinden zum Ausdruck zu bringen. Auch zeichnete

und malte sie in mein Erinnerungsbuch, das eine Mal drei blaue Vögel mit

gelben Köpfen, ein andermal ein Mädchen in rotem Röcklein, wie es auf einer

Wiese einhergeht und von Blumen und Bäumen umgeben ist.

…… Und die alte Zither von Trimmis, welche mir vor Jahren Helena, die dort

wohnt, geschenkt hat, gedenke ich bald einmal aus ihrem Winkel

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herauszuholen und abzustauben, um Hedwig darauf zur weiteren Entfaltung

ihres Frohmutes einfältig zupfen zu lassen.

Immer wartet irgendwo ein Kind,

Dass du es tröstest und es liebst.

Immer wartet irgendwo ein Mensch,

Dass du ihm neues Hoffen gibst. (Daniela Krein)"

"Den 10. Juli 1965

Sonne in die Werkstatt. Welch ein Gegensatz! Nicht mehr wie damals ist es,

wie in jenen schweren Tagen, als ich oft in der Werkstatt sass mit

gebrochenem Herzen und verlorenem Lebensmut - so verlassen, so traurig und

krank. Heute ist alles anders. Leute, die mich da etwa aufsuchen, bewundern

meine Kerbschnittarbeiten und Malereien. Und immer häufiger kommen

Kinder zu mir, sie wollen auch bei mir malen, und ich nehme mir gern Zeit für

sie. Aus Freude an meinen lieben kleinen Gästen gebe ich gerne ganze Stunden

her, indem ich ihnen nach ihrem Belieben vorzeichne, Anweisungen gebe,

Farben zubereite und nachhelfe. Die Kinder sind meine herzlieben Schüler.

Wir zaubern Blumen her, Schmetterlinge, Käfer, Vögel, Zwerge, und wir

basteln zudem auch etwa mit Karton oder Steinchen. Mitunter wäre ein zweiter

Tisch nötig, damit alle genug Platz hätten, so behilft man sich denn einfach mit

S. 337: Kisten und Brettern - denn alle sind willkommen, alle, alle. Und so bringen sie

darnach gar manchmal ein Stück bemaltes Papier oder Brettchen stolz ihren

Müttern heim.

Meine Freude, mein Glück sind die Kleinen. Um nicht grösser zu sein als sie,

knie ich oft vor dem einen oder andern nieder, wenn es, vor mir stehend, etwas

zu mir sagen will und breite meine Arme nach ihm aus.

Wenn ich Kinder des Dorfes, die nicht mir gehören, aufnehme und mich mit

ihnen dermassen beschäftige, bürde ich mir aber auch eine Verantwortung auf.

Wie würde es sich ergeben, falls einmal, während sie unter meiner Obhut sind,

dem oder diesem ein schwerwiegender Unfall zustossen würde? - Ein solches

Missgeschick könnte mich geradezu zermürben. Doch wenn ein Unfall - so

glaube ich - wäre es eine Absicht Gottes, der alles nur zum Besten lenken

würde.

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Aarons einstiges Fluchtvorhaben und seine Seufzer nach Befreiung in den

Bergen in den Zeiten seiner schwersten Not, blieben aber keineswegs bloss

eine Utopie, etwas ohne Hände und Füsse, denn was er damals erschrie und

erwog, wurde jetzt zu einer immerhin zeitweiligen Wirklichkeit. Da er sich

also aus seinem Beruf, seinem Geschäftlein, weitgehend zurückgezogen hatte,

hielt er sich nun - doch wenigstens als des Vaters Gehilfe in dessen

Familienbetrieb in der Landwirtschaft - häufig oben am Berge auf, nämlich auf

dem Heuberg Cadära, und auch auf dem Maiensäss Pramisters im Raume Laat.

Auf diesem Maiensäss wohnte er, soweit er es sich erlauben durfte, im

Frühling und Vorsommer wie auch im Herbst und betreute, sich auf diese

Weise ein wenig nützlich machend, eine kleine Zahl von seines Vaters

Viehhabe - wie schon darauf hingewiesen wurde. Er fütterte diese Tiere, wenn

sie im Stall bleiben mussten und hütete und beobachtete sie, soweit überhaupt

nötig, wenn sie sich auf der Weide befanden.

S. 338: Ein so behagliches, unbeschwertes Leben, so einen leichten Hirtenposten, den

ebensogut ein fünfzehnjähriger Bub hätte innehaben können, konnte er sich

natürlich nur als Junggeselle leisten, nicht aber, wenn er eine Familie zu

umsorgen gehabt hätte, denn es blieb ihm dabei, in Geld umgerechnet, fast

nichts. Er war also nicht vollbeschäftigt. Darum hatte er sich etwa eine

zeitausfüllende Beschäftigung aus seiner Werkstatt vom Dorf herauf

mitgenommen, ob denn in Richtung Bauernmalerei oder Holzschnitzerei, oder

er schaffte in der von hier aus rasch zu erreichenden Höhle.

Seine weit und auch weniger weit entfernten aber recht spärlichen Nachbaren,

die ebenfalls eine Viehhabe besorgten, waren vorwiegend ältere Männer:

Onkels und Grossväter, welche zu ihrer Kurzweile, aber auch aus

Dienstfertigkeit, etwa ein Kind, einen Buben, ihren Neffen, beziehungsweise

Enkel beherbergten. Aus denselben Gründen hatte auch Aaron zeitweilig ein

Kind oder gelegentlich gar zwei und mehr bei sich.

Eigentliche gesellige Zusammenkünfte dieser Hirten und Futterknechte, aber

darunter auch wirklich standesmässiger Bauern fanden zwar kurzfristig auch

statt. Hingegen viele Stunden während ein bis mehreren Tagen beisammen

waren sie beim "Gemeindewerk", in diesem Fall jeden Frühling beim

erforderlichen Überprüfen und wo nötig Neu-Instandstellen der öffentlichen

Zäune und auch beim Pflegen der Weiden und Brunnen. Der Weidfach-Chef

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wusste freilich, wer zu diesem althergebrachten und altehrwürdigen

Gemeinschaftswerk, wofür das Interesse stets abnahm, sich für die Gegend von

und um Laat noch zur Verfügung stellte:

"Ds Amma Luza Daniel Dr Landamma-Peter

Ds Anna-Lenza Christa Dr Messmer-Hans

Dr Annas Lenzi Dr Oberlehrer

Dr Gufel-Hans Dr Quadera-Plazi

Dr Guntli-Köbi Ds Schreiner-Hansi"

Diese vom Volksmund so geprägten und so ausgesprochenen Benennungen

dieser schlichten Menschen sind kaum, und sicher nicht auf diese Weise, in

Bäume oder Hüttentüren

S. 339: eingeschnitzt anzutreffen, aber sie sollen hier zu lesen sein, so zu lesen - zum

Gedächtnis an diese Menschen und jene vergangene Zeit.

Nun von jenen Kindern, die Aaron etwa da bei sich hatte, war es hauptsächlich

das Mädchen Hedwig, eines der Töchterlein der schon genannten Witwe

Josefine Gander. Josefine war Mutter von zehn Kindern, von denen das

Jüngste eben erst Drei zählte. Hedwig, die ja auch im Dorf zu seinem

Kindergrüpplein gehörte, hing aber ganz besonders an ihm, sie lief ihm fast

ständig nach, sozusagen fast auf Schritt und Tritt - und während der

Schulferien bis hierher, aufs Maiensäss herauf. Es schien, als würde sie in ihm

den Ersatz für ihren erst vor drei Jahren verstorbenen Vater suchen und ihn

auch gefunden haben. Aaron, sich dessen gewiss, kam sich ihr gegenüber auch

wirklich vor als ihr Vater, zumal er sich in dieser Vaterrolle richtig glücklich

fühlte. Eifrig war er um ihr Wohl bemüht, er teilte mit ihr alles, was es mit ihr

zu teilen gab. Er sorgte ihr ausserdem für Beschäftigung und Spielgelegenheit

und stellte ihr sogar, ihrem Wunsch entsprechend, seinen eigenen Schlafsack

zur Verfügung, der sie abends gewöhnlich nach kurzem Nachtgebetlein und

einem Pläuderchen auf ihrem Strohlager einschlummern liess.

Sie selbst half ihm beim Kochen und Geschirrabwaschen, und trieb, bis sie

ermüdete, das Butterfass, holte Wasser vom Brunnen, und half ihm auch das

Vieh auf die Weide treiben. Sie begleitete ihn auch etwa, wenn er in die Höhle

ging, zu deren schwerzugänglichem Eingang er sie einen Ruck weit

hinauflüpfte. Und auch beim Brennholzsammeln im Wald war sie dabei. Sie

half ihm vor allem, wieder froh zu leben - auch sie!

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Als in jenen Wochen im Dorf unten einmal seine Schwester Rita so halb zum

Spass zu ihm sagte: "Was machst du so, wie geht es dir droben auf dem

Maiensäss, - du - so ohne Frau?", da erwiderte er schlagfertig und

S. 340: gewissermassen auch wahrheitsgetreu: "Es geht mir sehr gut, und eine Frau

habe ich, ich habe Hedwig."

Wenn er bei Gelegenheit in der Hütte Begebenheiten in sein Erinnerungsbuch

oder einen Brief an Rosmarie schrieb, dann begehrte Hedwig neben ihm am

Tisch auch dergleichen zu tun. Was sie dabei selbst einmal, freilich mit seiner

Beihilfe, zustande brachte, hat er darnach aus Freude daran von ihrem Blatt

abschreibend in sein Erinnerungsbuch eingetragen, mit dem Brief, welchen er

im Beisammensein mit ihr an Rosmarie richtete, zusammen:

"Das Schifflein.

Aaron und ich, die Hedwig~ machen ein Segelschifflein aus Rinde und Papier.

Und weil wir es jetzt schon fertig haben, gehen wir an den Weiher. Wir legen

das Schifflein hinein. Da schwimmt es fort. Es weht ein starker Wind. Es gibt

Wellen und der Wald rauscht. Mücklein laufen auf dem Wasser. Sie glänzen

schön. Sie spielen miteinander und schwimmen schnell. Molche kriechen am

Boden im Wasser. Andere Molche schwimmen umher. Blumen wachsen aus

dem Wasser. Das Wasser kommt vom Brunnen her. Wir lassen über Nacht das

Schifflein mitten auf dem Weiher. Wir können es jetzt nicht mehr holen. Am

Morgen holen wir es, wenn es am Rand gelandet ist. Und dann am Mittag

legen wir es wieder hinein, bis am Abend.

Auf der Weide.

Das Gras ist nass. Die Kühe haben nicht hohes Gras. Die Kälblein fressen kein

Gras und fast kein Heu. Die Kühe sind halt gross. Die Kälblein sind halt klein.

Darum können die Kälblein nicht recht fressen. Wenn die Kälblein kein Gras

fressen, dann werden sie auch nicht gross. Wir hätten ja auch keine Kühe,

wenn die früher, als sie noch Kälblein waren, nicht Gras gefressen hätten."

S. 341: "Untervaz, den 12. Juni 1965

Meine liebe Rosmarie!

Vielen, vielen Dank für Deinen gar netten Brief! Es geht Dir jetzt offenbar

ordentlich gut. Das freut mich sehr! Und ganz besonders schätze ich es, dass

Du Dich bereit erklärst, mir je nach Möglichkeit zu helfen, wozu ich Dich im

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vorherigen Brief aufmunterte. Ja, Du kannst mir helfen. Du hilfst mir am

meisten, wenn Du mir beistehst, andern zu helfen. Magst Du stricken? Falls Du

dazu bereit wärest, würdest Du dann für das bedürftige zehnjährige Mädchen,

welches diesen Sommer über mehr oder weniger bei mir ist, meinetwegen ein

Paar Kniesocken stricken?

Wir könnten eigentlich überhaupt, Du und ich gemeinsam, unser weiteres

Leben im Dienste bedürftiger Kinder ganz sinnvoll gestalten. Das würde uns

selber ebenfalls froh und glücklich machen.

Gegenwärtig bin ich mit dem Vieh während etwa drei Wochen auf dem

Maiensäss, von wo aus ich Dir berichte. Dieses Mädchen, Hedwig heisst es, ist

fast die ganze Zeit bei mir hier oben, und dazu sind hin und wieder auch noch

zwei bis drei Knaben da. Wir singen und basteln manchmal da in der Hütte und

fabrizieren auch Butter. Doch gibt es für uns auch im Stall ein wenig zu tun.

Zur Abwechslung verweilen wir freilich auch beim Vieh auf der Weide. --

Eine schöne Zeit wirklich eine schöne Zeit!

Und sehr oft denke ich: Wäre doch auch Rosmarie bei uns! - Denn o wie viel,

viel schöner noch, wäre es, wenn wir Dich in unserer Mitte hätten! Du würdest

uns kochen: Tatsch und Polenta. Du würdest aber auch unsere Unordnung

beseitigen, die wir in der ganzen Hütte haben. Und Du würdest Dich zudem

auch mit den Kindern unterhalten und beschäftigen. Ich wünsche, Du wärest

bei uns - ganz bei uns! Das war in diesen Tagen

S. 342: hier. wie auch jetzt eben. mein allergrösster Wunsch.

Das Wetter war jedoch langehin leider zu kühl, mit viel Nebel und Regen, mit

so viel Regen, dass der Tümpel im sumpfigen Ried bei uns in der Wiese zu

einem beträchtlichen Weiher angewachsen ist. Heute abend aber leuchtete

lieblich der Vollmond eine Weile in dieses stille Tälchen herein und zauberte

einen goldenen Streifen auf das ruhige Wasser des Weihers. Hedwig und ich,

die wir dieses Ereignis gewahrten und daran teilnahmen, als wir uns zur

gegebenen Zeit dort kurz aufhielten, gerieten in ein seliges Staunen darüber,

denn Es war als hätt der Himmel

Die Erde still geküsst,

Dass sie im Blütenschimmer

Von ihm nun träumen müsst. (Josef von Eichendorff)

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Dort schauten unsere Herzen die Seele der Flur: das heilige Sein und

Geschehen. das Wirken der Gegenwart Gottes auf Erden.

Vom Berge grüsst Dich Dein Aaron"

Als Antwort auf diesen Brief, worin also Aaron Rosmarie zum Mithelfen

anregte, sandte sie dann tätsächlich ein Paar Kniesocken, und dazu noch

andere, aber gewöhnliche. Ein anderes Mal brachte der Postbote eine riesige

Schachtel von ihr und ihrer Mutter ins Haus. Diese Schachtel war mit einer

Menge verschiedener Kleidungsstücke für Kinder vollgestopft, die er dann

jedoch an mehrere Kinder, je nach dem, welchem dies oder das an den Leib

passte. verteilte.

S. 343: Aaron untersagte es sich nicht, sich betreffs Rosmarie seine Wunschträumchen

zu hegen. Am liebsten wäre er nach Zürich gereist und hätte sie geholt, der

Grossstadt entrissen und sie gebeten, zu ihm auf das Maiensäss zu kommen,

um da mit ihr bis im Winter - oder bis zum Sterben - zu verbleiben, mit ihr

zusammen hier am Berge den Lebensunterhalt zu bestreiten: als Hirte und

Heuer, als Betreuer von Ferienkindern, als Körbeflechter, Kräutersammler,

Beerenleser, aber auch als Versedichter und Blumensticker. Oder, oder - wenn

man ihnen dies vereitelt hätte - dann mit ihr fliehen, aber wohin, in ein fernes

Land?

Äusserlich gesehen galt Aaron im Dorf als ein Versager oder denn als

Querkopf, keine nennenswerten Leistungen und Verdienste, keine Abzeichen

und Medallien, die er sich erkämpft hätte, keine "Federn auf dem Hut", ausser

in einem Fach, als Hirte, "nur" als Hirte, hatte er sich ganz bewährt, dies aber

schon als Knabe, so auch auswärts. Als Hinweis dafür dient der Hauptteil eines

Zeugnisses, das ihm einst ein Bauer und Alpbesitzer im Hinterrheintal

ausstellte:

"Nufenen, den 2. Okt. 1945

Aaron ….. aus Untervaz hat im vergangenen Sommer bei mir als Viehhirte

gedient. Ich kann ihm dafür das beste Zeugnis ausstellen. Er war ein ganz

zuverlässiger, treuer und anständiger Knabe und ich darf diesen Hirten

jedermann bestens empfehlen. Dies bezeugt Simon Sprecher"

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Nun aber empfing er auch ein solches Lob, jedoch mündlich, von innerorts.

Das geschah einmal hier auf dem Maiensäss auf dem Bänklein vor der Hütte

und dem Stall, unterhalb

S. 344: der hohen Eschen, die damals noch daneben standen. Luzi, der Dorfschmied,

war es, der nebenbei noch etwas Landwirtschaft betrieb und ihm einmal zwei

seiner Jungtiere vorübergehend zur Betreuung anvertraut hatte, der sprach es

ihm aus. Er tat das, indem er zu ihm und weiteren Anwesenden sagte: "Aaron

ist ein guter Futterknecht". Dieses Lobeswort Luzis vergass ihm Aaron nie.

Hingegen vom Sommer, als alles Vieh, das er auf diesem Maiensäss umsorgt

hatte, schon längst auf der Alp war und er einmal wegen etwas von daheim, im

Dorf, sich aufmachte und drei Tage sich am Berge, wovon zwei hier und

Umgebung, aufhielt, zeugt der folgende Ausschnitt eines Aufsätzleins:

" …. Heute, am zweiten Tage, ziehe ich mich noch weiter in die

Bergeinsamkeit zurück und male ruhend im Föhrenwald, diesmal jedoch nach

Art der Kinder. Die Kinder haben mich nämlich in ihre Schule genommen,

denn wie ihnen, so scheint auch mich nun künstlerische Qualität beim Malen

kaum zu kümmern. Die Kunst, gut zu malen wollen mir die Kinder stückweise

wegnehmen - dafür aber lehren sie mich die Kunst, froh zu leben.

Und jetzt, am dritten Morgen, da die Wolken sich am eben noch teils

bedeckten Himmel auflösen, sitze ich an der strahlenden Frühsonne vor der

Höhle und fühle da von neuem die Unordnung in mir, welche ich von drunten

im Tale mitgenommen habe und hier oben loszuwerden suche. Beten kann ich

wegen dieser Unordnung in mir nicht, und ich atme nur oberflächlich, doch bin

ich nicht unzufrieden - etwas hält mich, etwas trägt mich.

Im sanften, doch frischen Morgenwind, zittert im Felsen festgewurzelt ein

Stöcklein Blauglöcklein über mir. Ich betrachte diese Blumen, wie sie sich im

Winde neigen und heben, und stellte dabei fest, wie mein

S. 345: Atem als Folge dieser Betrachtung nun tiefer geht. Diese Blumen, sie spielen

mit dem Wind, sie unterhalten sich mit ihm, eingetaucht in ihn, und auch ins

Licht des Morgens.

Lichte Nebelfahnen entsteigen den Wipfeln der Bäume in der Weite unter mir

und treiben geschwind gegen Norden. Dort drunten, aber auf der Weide mit

ihren Kirschbäumen, grasen noch emsig die Kühe des Bauern Hans Göpfert,

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die dieser nachts im Freien hielt. Hans lockt sie in den Stall zurück, denn es ist

bald Zeit zum Melken. - Und wieder ruft er: Chomm, chomm!

Doch nicht lange bin ich heute allein, nämlich in die Hütte zurückgekehrt,

kommt ein Knabe zu mir und bald noch ein zweiter, die beide Kurzweile

suchen. Je in ein Brettchen schnitze ich ihnen einen weitgehörnten Hirschen

mit zwei Tannen, eine auf jeder Seite, alles wie sie es sich wünschen, die

nachbarlichen Bauernbuben Christali und Wendelin.

Schön ist es hier oben, schön ists im Wald und auf den Fluren! Denn bei

klarem Sonnenschein, nach dem Nebelwetter von gestern, streifen wir drei

darnach während einer Stunde durch die heute recht feierliche Landschaft. So

gelangen wir in ein sehr enges Tälchen, das Steckentobel, und zwingen uns in

diesem durch ein Dickicht von Brennesseln und Himbeerstauden, zwischen

gewaltigen herabgestürzten Felsblöcken. So erreichen wir den losgelösten aber

doch noch steil anliegenden Felsblock, in den ich vor vielen Jahren zur

Pfingstzeit jene in höherem Sinne dramatischen Worte einmeisselte:

Engelsbild, ich suche Dich! Urquell der Schönheit, wo bist Du? Damit ist - auf

zwar kaum gelungene und darum kaum verständlich ausgedrückte Art - das in

mir selbst erfahrene Drama des rastlosen Menschen gemeint, der Gott einmal

besessen, ihn dann verloren hat und nun auf der Suche ist, ihn wieder zu

finden…..

S. 346: …. Und Gott lässt durch den Mund eines Psalmisten (?) von sich sprechen: Mit

ewiger Liebe habe ich dich geliebt, und habe dich an mich gezogen mit den

Banden der Liebe ….. So schmücke dich und ziehe aus in den Reigen der

Fröhlichen. …. Diese Hügel und Tälchen hier, mit ihren Wäldern, Weiden und

Wiesen, sind ein Stück meiner irdischen Heimat. Oft bin ich stolz darauf, die

weite Welt nicht gesehen zu haben."

Ein anderes um jene Tage herum entstandene Aufsätzchen sei zu einem Teil

hier ebenfalls beigezogen, da es sich dabei auch um diese Gegend handelt:

"Was sollte ich heute tun, oder wo wollte ich hingehen? Ich wusste es nicht.

Darum kniete ich nieder und forschte im Herzen, um Gottes Absicht zu

erkennen. So liess ich mich denn von Ihm leiten und bin an diesen Ort

gekommen, zur Breitplatta, und sage mir hier: Es lohnt sich immer, der

Stimme des Herzens zu folgen. Doch muss ich da meine Gnade meiner

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Ungnade gegenübergestellt sehen, indem ich erfahre: O dieser herrliche

Blumengarten, worin ich nun sitze, dies alles rings um mich her ist schön, nur

ich mittendrin bin nicht schön, weil ich im Alltag nicht lebe wie ich sollte, wie

es dazu erforderlich wäre!

Dennoch: kaum je einmal im Leben habe ich eine solche Blumenpracht

gesehen und erlebt wie hier, das heisst, kaum je war mir die Gnade zuteil, mich

mit solcher Hingabe und Kindlichkeit in das geheimnisvolle Wunderreich der

Blumen zu vertiefen wie hier: Es sind die Wildnelken da den Felsenrand

entlang, und anschliessend dahinter die vielen andern Blumen.

Die Föhren sind ruhig, Die Grashalme nur bewegen sich leicht im sanften

Wind. Im Sonnenlicht flattern Schmetterlinge über Gras und Blumen hin, von

denen

S. 347: der und dieser sich den offenen Blüten einer purpurroten Nelke oder andern

Blumen hingibt. Ein grosser Vogel kreist über der glatten, eigenartigen

Felswand vor mir. Er strebt zur Höhe. Dieser Vogel und der Felsen als Einheit

betrachtet, erwecken in mir einen erhabenen Eindruck.

In ein paradiesisches Flecklein Landschaft eingebettet bin ich hier - und

erfreue mich abermals am leuchtenden Rot der Nelken. Und all diese Pracht

möchte ich meinen Lieben und Freunden mitteilen, sie hierherführen, damit

auch sie sich an dieser Schönheit erfreuen können. Aber kann man ein solches

Erleben auch teilen, ohne dass dabei das grosse Wesentliche verloren ginge? -

Man muss, es richtig zu geniessen, allein sein, ganz allein. Und dieses

Alleinsein kann man nicht teilen - oder denn doch: man teilt es, indem man in

Gedanken sich vorstellt, dass der Freund oder die Freundin zu dieser oder einer

andern Stunde in einem andern Nelkengärtlein sitzt und auch so allein und still

- und auch an seine Lieben denkt. So ist dieses leibliche Alleinsein ein

Beisammensein im Geiste.

….. Du glücklicher Sohn, wie viel hast du deinem Unglück, deinem Leiden zu

verdanken, auch dem dieser Tage: Gar freudetrunken lacht nun dein Herz,

weiterwandernd durch den Wald, und über die Weide und den Bach!"

Ein Neffe Aarons, ein auswärts wohnender Knabe, der auch etwa mit ihm

umherzog und in helle Begeisterung geriet, wenn zur Ueberraschung beider

gelegentlich Hirsche oder Rehe, oder auch andere Wildtiere auftauchten, der

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zudem auch ein Liebhaber der Vogelwelt war, und lustig zur Unterhaltung

Vogelstimmen nachzuahmen suchte, schrieb ihm einmal, zwar im Jahr

darnach:

S. 348: "Landquart, den 18. April 1966

Lieber Aaron!

Was machst Du? Ich habe schöne Stunden mit Dir und mit Nini und Nana

verbringen dürfen. Es war grossartig. Ich komme wieder im Sommer. Wann

gehst Du wieder in die Höhle? Ich habe immer noch die Wellensittiche. Sie

machen mir viel Freude. Aaron, komm doch wieder einmal zu uns! - Bitte

schreibe mir bald! Viele Grüsse von Deinem Beni"

Was die Höhle anbetrifft, hatte Aaron bis daher aber kaum die Hälfte des

gesamten Aufwandes, alles Drum und Dran auch mitgerechnet, geleistet. Und

sie verlor dann in Zukunft aus Gründen, die hier bald genannt werden, ihre

anfängliche Zweckbestimmung für ihn, und er ging darum bei ihrer weiteren

Umgestaltung und Ausstattung auch dementsprechend vor. Als vollendet galt

dieses Unternehmen aus seiner Sicht, nach etwa fünf jährigem Unterbruch und

dann wiedergefundenem Interesse daran, erst über zwanzig Jahre später.

Nun zurück zu Rosmarie: Es ging ihr jetzt also ordentlich gut, bis erfreulich.

Aus dem Spital entlassen, lebte sie dann bei ihren Eltern, daheim. Aaron

schrieb ihr währenddessen etwa jede zweite Woche, indes er sich in derselben

Zeit bald zu Tal bald zu Berge aufhielt. Inzwischen lud er sie einmal zu einer

kurzen Reise mit der Eisenbahn· ein, und da sie ihm zusagte, durfte er dann

innert zwei Tagen viele Stunden froh mit ihr zusammensein.

S. 349: Dann aber im Herbst meldeten ihre Eltern, sie habe einen zwar nur leichten

gesundheitlichen Rückfall erlitten. Von diesem erholte sie sich allmählich

bestens wieder und trat anschliessend in eine Haushaltungsschule ein, was

Aaron ebenfalls mitgeteilt wurde. Die Nachricht von diesem Rückfall aber,

ergriff ihn dennoch so sehr, dass er sich aufgerufen fühlte, ihr mit allen

Kräften, die er sich damals zumutete, entgegenzueilen. Er tat dies im Rahmen

seiner Einstellung, die von seiner eigenen vorherigen Not geprägt war, wie

auch in Harmonie mit seinen eigenen Wünschen und Bedürfnissen - und

seinem für sie unendlich weit offenen Herzen:

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"Untervaz, den 2. Okt. 1965

Geliebte Freundin!

Nun sind wir mitten im Herbst drin. Schon die dritte Woche bin ich hier oben

auf dem Maiensäss, wo ich, wie ich es auch im Frühling tat, wie Du weisst,

unser Vieh besorge. In meiner weiteren Umgebung hat es auch andere, welche

dasselbe tun.

Aber ach - bald bin ich allein: meine letzten zwei Geschwister, die noch zu

Hause, in unserer Familie sind, ziehen bald aus, und die Eltern werden langsam

alt. Da denke ich mir, Du könntest einmal später zu mir kommen - oder besser

recht bald. Du könntest mir den Haushalt führen, wir würden miteinander

leben wie Schwester und Bruder, enthaltsam und einfach, auf immer. Wäre das

nicht gut für uns beide, besonders für Dich? Das Leben auf dem Lande würde

Dir auf die Dauer gewiss zum Wohl gereichen. Sprich darüber mit Deinem

Arzt und Deinen Eltern! Mit viel Liebe und Hingabe grüsst Dich Dein Aaron"

S. 350: Aaron fasste also den Vorschlag, Rosmarie zu sich zu nehmen und mit ihr wie

Bruder und Schwester zusammenzuleben. Er hatte demnach nicht die Absicht,

mit ihr eine eigentliche Ehe im üblichen Sinne einzugehen. Diese Idee ist

freilich aussergewöhnlich und unter normalen Umständen wirklich

unrealisierbar, aber trotzdem in der Ausübung keineswegs etwas Einmaliges

auf unserer alten und weiten Welt. Die diesbezüglichen Anschauungen und

Massstäbe und damit auch der Lebensstil im Bezug auf das Zusammenleben

von Mann und Frau, haben sich ja, wie wir wissen, seither gründlich geändert.

Der genannte Vorschlag also, die damaligen Richtlinien berücksichtigend, die

für einen Junggesellen wie Aaron es war, galten, war irgendwie ein Kind der

Zeit, in der er ausgesprochen wurde - aber nur zu einem kleinen Teil - zum

allergrössten Teil war er ein Kind von Aarons Not, - ein gewisses Mass an

Idealismus· muss zwar auch im Spiel gewesen sein. Das Wohnidyll, das hier

folgt, ist darum im Sinne der obigen Schilderung zu verstehen:

"Untervaz, den 8. Dez. 1965

Geliebte!

An Dich meinen allerbesten Dank für Deinen aufschlussreichen Brief! Es war

gerade zu meiner gewünschten Zeit, denn vom letzthin sturmumpeitscht

gewesenen Berggut Cadära bin ich nun mit dem Vieh zurückgekehrt. Ich kam

von dort zurück, dem Sturmwetter nachgebend, mit langen windzerzausten

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Haaren. Dies geschah mit einem andern Mann und dem seinigen Vieh

zusammen durch neugefallenen tiefen Schnee ...

Du bist jetzt also in einer Haushaltungsschule, wo Du es zwar, wie Du sagst,

streng hast, es aber dennoch herrlich findest. Dass es Dir dort so gut gefällt,

freut mich sehr. Eine solche Schule ist ja so wichtig für Mädchen. Das gibt

einmal tüchtige Hausmeisterinnen. -

S. 351: Vielleicht kommt das, was Du dort lernst, einst sogar mir zugute. Denn ich bin

auch Freund einer gemütlichen Stube: Bunte Vorhänge, sanfte Teppiche, aber

auch bestickte Tüchlein habe ich gern, und vor allem bedarf man eines warmen

Ofens. - Das wäre was für uns! Meinst Du nicht auch? …."

Rosmarie hat dann umgehend auf Aarons Brief geantwortet. Diese Antwort

beruhte aber auf dem Boden der Wirklichkeit, ist von klarer

Selbstverständlichkeit getragen und darf als klug und absolut richtig bezeichnet

werden. Sie rückte ihm den Kopf wieder zurecht - nicht aber das Herz, denn

dieses hatte es ja nicht nötig, denn es war ohnehin im Hinblick auf Rosmarie

allezeit auf dem rechten Fleck:

"Zürich, den 12. Jan. 1966

Lieber Aaron!

Mit dem Gefühl herzlichen Dankes habe ich Deinen Brief erhalten und gelesen

….. Ich komme diesmal mit einer grossen Bitte an Dich und baue auf Dein

Verständnis: Sei doch bitte so gut und verehre und verherrliche mich nicht so!

Ich verdiene das nämlich ganz und gar nicht. Und zudem möchte ich nicht,

dass Du auf mein Kommen wartest ….. "

Da aber plötzlich überwarfen sich die Dinge, in Aarons Seele hohe Wellen

schlagend. Er glaubte nämlich während kurzer Zeit, Rosmarie verlieren zu

müssen und wurde sehr traurig deswegen und fühlte sich verlassen. Aber er

hatte sich geirrt. Denn sie hatte ihn nicht eigentlich fallengelassen, nicht

aufgegeben und nicht vergessen, wie wir weiter gleich erfahren werden:

Ihr Vater hatte ihm ein Karte gesandt, mit der Botschaft, sie habe einen netten

Herrn kennengelernt, und die

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S. 352: beiden gedächten sich zu Ostern zu verloben. - Aber trotzdem brachen der

Briefwechsel und die freundschaftlichen Beziehungen zwischen ihr und Aaron

keineswegs gleich ab.

Ihre Bekanntschaft mit jenem Herrn dauerte jedoch nicht lange, wie sie selbst

dies Aaron bald wissen liess. Sie fand hingegen schliesslich doch - aber Jahre

später - den richtigen, passenden Freund: ihren allerbesten und allerliebsten

Fridolin, den Fredi. Und was für jenen ersteren Herrn gegolten, das sollte auch

für ihren richtigen, den Fredi gelten:

"Untervaz, den 1. März 1966

Liebe Rosmarie! Ueberreiche Deinem Allerliebsten einen Gruss von mir, und

ich biete ihm über Dich meine Hand zur Freundschaft an. Und sende mir zu

Ostern auch eine Verlobungskarte! ….. "

Ihr Fredi, "mein Märchenprinz", wie sie selbst ihn einmal so bezeichnete - er

fand sie auf einem weiten Umwege, über Afrika, der sie dann auch, was Aaron

nicht gelungen, wahrlich erlöste, indem sich dank ihm ihre Lebenslage

daraufhin entscheidend besserte, dass sie sich einer hinreichenden und

dauernden Gesundheit erfreuen konnte.

S. 353/54:

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Und nachdem die beiden sich verheiratet hatten, sandte sie Aaron eine Photo

von ihrer Hochzeit. - Unter erfreulichen Umständen - aber auch ärztlicher

Beratung - hatte er sich innert derselben Jahre, doch früher als Rosmarie,

ebenfalls verheiratet. Deswegen hatte er sein bis daher zeitweise geführtes

Vagabundenleben, das auf seine Weise auch wertvoll war, freilich ziemlich

ganz preisgeben müssen und den Wohnort gewechselt. Wie Rosmarie in

Gemeinschaft mit Fredi wieder aufgeblüht und zu vollen Kräften gekommen

war, fand Aaron in seinem neuen Wohnort im Jahre ihrer Hochzeit bestätigt:

S. 355: "Den 16. August 1971

Wer hätte das gedacht vor Jahren, dass sich alles so wenden und Rosmarie

mich - und sogar hier - besuchen würde! Dank Fredi ist das geschehen, er hat

sie mir geholt. Und wie darf ich jetzt sehen, wie sie schön geworden ist - und

wie sie lächelt, in fast überschwenglichem Glück!

Nämlich vom 31. Juli bis 2. August waren sie miteinander bei mir und meiner

Familie hier in Riom auf dem Maiensäss. So unternahmen wir am Sonntag zu

dritt eine weite ganztägige Wanderung: über die Alp Schmoras auf das

Saletschajoch und den Starlerapass - und zurück durch das Val Curtegns."

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Die Freundschaft zwischen Rosmarie und Aaron blieb, abgesehen von einem

Unterbruch, einer Epoche des Schweigens, in gewisser, der Lage beider

entsprechenden Form bestehen, im Einverständnis und auch zum Vorteil der

Ehepartner beiderseits - und wunderbarerweise hauptsächlich durch ihre

Initiative. Und zur Bekräftigung dauernder Verbundenheit und aus

wahrhaftigem Edelmut beschenkte sie seine Kinder immer wieder mit Puppen,

Teddybärchen, Märchenbüchlein und Dutzenden von andern kleinen Dingen.

Und ihm selber schenkte sie, auch neben vielem anderem, das Buch

"Siddhartha" von Hermann Hesse und dasjenige mit den "Reden des Südsee-

Häuptlings Tuiavii aus Tiavea", das den Titel "Der Papalagi" trägt. Und er

sandte ihr einmal eine Wurzel, aber auch nebst anderem, mit einem daran

hineingeschnitzten lustigen Koboldgesicht, an diese Wurzel er auf der

Rückseite scherzweise die Verse aufzukripseln beabsichtigte, die er deswegen

ersann: "Rösli, Fredi, hört mein Klagen!

Muss Euch schlimme Nachricht sagen:

Ich bin der kleine Knorreli,

Früher war ich Aaroli.

Ein Zaubermeister, der gehandelt,

Hat mich in diese Wurz verwandelt."

Internet-Bearbeitung: K. J. Version 05/2013

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