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(Aus dcr Frankfurter Poliklinik fiir Nervenkranko.) Verschiedene Vulnerabilitiit bzw. Giftaffinitiit der Nerven oder Gesetz der L~ihmungstypen? Von Siegmund Auerbaeh (Frankfurt a. M.p). ( Eingegangen am 1. Juni 1918.) M. H. ! Auf der letzten Jahresversammlung der Gesellschaft Deut- scher Nerveni~rzte in Bonn (September 1917) sagte ich, dal3 ich den yon O. Foerster zur Erkl~rung des zeitlich und graduell verschiedenen gfickganges der LRhmungen in den einzelnen Muskelgruppen nach Schul3verletzungen atffgestellten Begriff der verschiedenen ,,V u I n e r a - bilit~t" der Nervenfasern nicht akzeptieren kSnne, lch gab diesem B~griffe das Epitheton ,,mystisch" und betonte, dal3 jene regehni~13ige Erscheinung restlos durch das yon mir fiir die gesamte Neuropatho- Iogie aufgestellte ,,Gesetz der L~hmungstypen'" zu erklaren sei. Dieses Gesetz lautet: ,,Diejenigen Muskeln bzw. Muskelgruppen erlahmen am raschesten und vollkommenstcn bzw. erholen sich am langsamsten und am wenigsten, die die gcringste Kraft (ausgedriickt durch das Muskelgewicht) besitzen und ihre Arbeitsleistung unter ungfinstigen physika]isch'en. physi01ogischen und anatomischen Bedingungen zu voll- bringen haben, wahrend die in dieser Beziehung besser ge- stellten Muskeln yon der L~hmung grSl~tenteils verschont hleiben." In seinem Schluflworte hielt Foerster (vgl. den Eigenbermht im Neurot. Centralbl. 1917, Nr. 20) den Begriff der verschiedenen Vul- nerabilit~t der Nervenfasern fiir verschiedene Muskeln unbedingt auf- recht und hielt ferner aufrecht, dal3 die Fasern fiir die distalen Muskeln vulnerabler seien als die fiir die prozimalen. Der Eigenbericht lautet dann weiter: ,,Die Auffassung A u e r b a c h s steht iibrigens nicht im Wider- spruch zu der Auffassung des Vortragenden, weil die distalen Muskeln dem Volumen nach weir schw~cher sind als die proximalen, nur kann natiirlich nicht, wie Auerbach es annimmt, das Muskelvolumen an ') Vortrag gchalten auf der 43. Wanderversammluug der siidwa~tdeutschen Neurologen und Psychiater in Baden-Baden am 26. V. 1918.

Verschiedene vulnerablität bzw. giftaffinität der nerven oder gesetz der lähmungstypen?

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(Aus dcr Frankfurter Poliklinik fiir Nervenkranko.)

Verschiedene Vulnerabilitiit bzw. Giftaffinitiit der Nerven oder Gesetz der L~ihmungstypen?

Von Siegmund Auerbaeh (Frankfurt a. M.p).

( Eingegangen am 1. Jun i 1918.)

M. H. ! Auf der letzten Jahresversammlung der Gesellschaft Deut- scher Nerveni~rzte in Bonn (September 1917) sagte ich, dal3 ich den yon O. F o e r s t e r zur Erkl~rung des zeitlich und graduell verschiedenen gfickganges der LRhmungen in den einzelnen Muskelgruppen nach Schul3verletzungen atffgestellten Begriff der verschiedenen ,,V u I n e r a - b i l i t ~ t " der Nervenfasern nicht akzeptieren kSnne, lch gab diesem B~griffe das Epitheton ,,mystisch" und betonte, dal3 jene regehni~13ige Erscheinung restlos durch das yon mir fiir die gesamte Neuropatho- Iogie aufgestellte ,,Gesetz der L~hmungstypen'" zu erklaren sei. Dieses Gesetz lautet: , , D i e j e n i g e n M u s k e l n bzw. M u s k e l g r u p p e n e r l a h m e n a m r a s c h e s t e n u n d v o l l k o m m e n s t c n bzw. e r h o l e n s ich a m l a n g s a m s t e n u n d a m w e n i g s t e n , d ie d ie g c r i n g s t e K r a f t ( a u s g e d r i i c k t d u r c h das M u s k e l g e w i c h t ) b e s i t z e n u n d ih re A r b e i t s l e i s t u n g u n t e r u n g f i n s t i g e n p h y s i k a ] i s c h ' e n . p h y s i 0 1 o g i s c h e n u n d a n a t o m i s c h e n B e d i n g u n g e n zu vo l l - b r i n g e n h a b e n , w a h r e n d d ie in d i e s e r B e z i e h u n g b e s s e r ge- s t e l l t e n M u s k e l n y o n d e r L ~ h m u n g g r S l ~ t e n t e i l s v e r s c h o n t h l e i b e n . "

In seinem Schluflworte hielt F o e r s t e r (vgl. den Eigenbermht im Neurot. Centralbl. 1917, Nr. 20) den Begriff der verschiedenen Vul- nerabilit~t der Nervenfasern fiir verschiedene Muskeln unbedingt auf- recht und hielt ferner aufrecht, dal3 die Fasern fiir die distalen Muskeln vulnerabler seien als die fiir die prozimalen. Der Eigenbericht lautet dann weiter: ,,Die Auffassung A u e r b a c h s steht iibrigens nicht im Wider- spruch zu der Auffassung des Vortragenden, weil die distalen Muskeln dem Volumen nach weir schw~cher sind als die proximalen, nur kann natiirlich nicht, wie A u e r b a c h es annimmt, das Muskelvolumen an

') Vortrag gchalten auf der 43. Wanderversammluug der siidwa~tdeutschen Neurologen und Psychiater in Baden-Baden am 26. V. 1918.

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sich maBgebend ftir die Vulnerabilit~tt der Nervenfaseru sein. Wohl- gemerkt, gilt das vom Vortragenden Vorgetragene nur ftir traumatische Sehiidigungen, nicht aber ffir toxische und infekti6se; hier kommen noch ganz besondere A f f i n i t i ~ t e n in Betracht ."

Herr C u r s e h m a n n st immte F o e r s t e r zu. Naeh ihm (vgl. dell erwi~hnten Bericht) entspricht diese Vulnerabilitiit ,,der Kompressions- sch~digungsm6gliehkeit {z. T. bei professioneller L~thmung) eiaerseits und der verschiedenen E r k r a n k u n g s b e r e i t s e h a f t versehiedener Nerven auf toxische Einfliisse hin. C. verweist auf die gr6~ere Vulnera- bilit~t des N. peron, gegentiber dem N. tibial, und des N. axillaris gegen- iiber anderen Nerven des Plexus".

Ich vermute, dab weder F o e r s t e r noch C u r s c h m a n n meine Publikationen 1) iiber diese, wie ich zugebe, dem Verstandnisse nicht ganz leieht zugi~ngliche Materie hinreichend bekannt waren, wie das auch bei Herrn G e r h a r d t der Fall war, als er vor 2 Jahren hier seinen Vbrtrag hielt ,,Uber die Beeinflussung organischer Liihmungen durch funktionelle Verhaltnisse" (Deutsche Zeitsehr. f. Nervenheilk., 55, 226 und Sitzungsbericht der Physikal. reed. Gesellschaft zu Wtirzburg vom 9. XI. 16). Nachdem ich Herrn G e r h a r d t auf meine Arbeiten, die ihm entgangen waren, aufmerksam gemacht hatte, gab er sofort zu, dab meine Li~hmungstheorie die yon ihm aufgeworfenen Fragen der Moti- lit~t in plausibelster Weise zu erkli~ren imstande sei. Ich mSchte an- nehmen, da$ es den Herren F o e r s t e r und C u r s c h m a n n ebenso ergehen wird, wenn sie sich nur mit meinen ausfiihrliehen Ver6ffentlichun- gen ver t raut machen wollen.

M. H. ! Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, den ganzen Weg noeh einmal zu durehwandern, der reich zur Aufstellung des Li~hmungs- gesetzes gefiihrt hat. Jeder, der sich mit Li~hmungen zu beschi~ftigen hat - - und wer ware das nieht in diesem Kreise - - wird sich, wenn er den Erscheinungen nicht ratlos gegentiber stehenbleiben will, mit meinen Er6rterungen befassen miissen. Ieh giaube versichern zu dtirfen, dag er dies nieht bereuen wird. Hier werde ich reich so kurz fassen, als es (las Vortragsthema gerade noch zul~tSt

Was bedeuten denn Ausdriicke wie verschiedene ,Vulnerabiliti~t", ,,Giftaffinit~t" und , ,Erkrankungsbereitschaft" der Nerven ? Das sind doeh nur Umschreibungen des Tatbestandes, der Erscheinungen, aber keine Erkl~irungen. Ich finde es wohl begreiflich, dal3 ein Hautnerv

1) Die Hauptursachcn dcr h/~ufigstcn L~hmungstypcn. Vo lkmanns Saturn. lung klin. Vortr~ge Nr. 633/634. 1911. - - Zur Pathogenese der postdiphtherischen Akkommodatdonsl~hmung. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde 49, 94. - - Die Aufbrauehtheorie und das Gesetz der L~hmungstypen 53, 449. - - Zur Lehre yon den Li~hmungstypen 57, 101. - - Warum beobaehtet man IAihmungen des N. peron. viel .hiiufiger a]s solche des N. tibia]is ? Deutsche med. Wochenschr. 1916, S. 1228.

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oder auch ein oberfl~tchlich liegender gemischter Nerv wie der N. radia- ]is an seiner Umschlagstelle am Oberarm oder der N. ulnaris am Epi- condylus humeri eher verletzt werden kann als ein tiefliegender Nerv, dab er ,,vulnerabler" ist als der letztere. Die Annahme einer versehie- denen ,,Vulnerabilit~t' .' bringt reich abet doeh in meinem kausalen Denken keinen Schritt vorw~rts, wenn ich mir die jetzt in zahlreichen FMlen ganz regehni~Bige Beobachtung erkl~iren soll, daI~ nach Abschu{l des N. ischiadicus am Oberschenkel oder nach Resektion eines seinen ganzen Querschnitt durchsetzenden Callus und darauffolgender Naht dieses Nerven stets, falls gegeneration eintritt, zuerst die vom N. tibialis innervierten Plantafflexoren des Fu[3es ihre Funktion wiedererlangen, und erst vie| sF, tter, wenn iiberhaupt, die yore N. peron, beherrschten DorsMflexoren und Abductoren. Diese bei Liision des G e s a m t - quersehnittes des N. ischiad. - - bei Verletzungen einzelner Bahnen kommen natfirtich rein topographische Gesichtspunkte in Betracht - - regelm~13ige Erscheinung ist doch unm6glich damit zu erkl~ren, (laii man annimmt, die Bahn des N. peron, im Ischiadicus sei ,,vulnerabter'" ats die des N. tibiM. Sie ist aueh nicht zu erklhren mit der gr613eren Distanz, welche die auswachsenden Nervenfasern zu durchlatffen haben, ebensowenig re.it der gr6Beren Entfernung yore trophischen Zentrum der zugehSrigen Vorderhorngauglienzellen. I~nn es wird doch niemand behaupten wollcn, da[~ .in dieser Beziehuug Unterschiede zwischen dem N. tibiak und dem N. peron, bestehen. Auch die bessere Gdf~ti~versor- gung der Tibialisgruppe gegeniiber der Peroneusgruppe kann nicht befriedigen, da nach der g o u x sehen Lehre yon den Erhaltungs- und Gestaltungsfunktioneu die volumin6seren Musketn eo ipso st~i.rkere und zahlreichere Gef~l]e erha.lten, Ms die weniger umfangreichen; hierin kann ~ber keine Minderwertigkeit der letzteren erblickt werden.

Dem Verst~ndnisse zug~nglich wird die crw~hnte Beobachtung erst dutch folgende l~berlegungen : Die Kraft der 1)lantarflexoren, ausgedrtickt dutch das Muskelvolumeu bzw. das Muskeltrockengewieht ist nach den Bestimmungen der Gebrikler W e b e r 1) gr6i~er ats die Kraft aller iibrigen Untersehenketmuskelu zusammengenommen (733 : 537). Naeh F r o h s e und M. iFri~nkel 2) verh~ilt sieh das Gewieht der Plantarflexoren des

' ( Ful~es (Gastrocnemius + S )leus + Plantaris) zu dem der Dorsalflexoren (Tibiat. ant. + Ext. digit, long. + peron, tertius) vale 795:196, also wie 4 : 1. Die Mm. peron, long. et brevis (Abductoren bzw. Prona- toren) geh6ren zu den sehw:~tehsten; ihre Gewichtszahl betr~igt naeh F r o h s e und F r ~ n k e l 123, naeh den Gebrfiden~ W e b e r 137,2. Beriiek- sichtigt man nun aullerdem, da~ die Wadenmusketn mit der Sehwere

1) Mechanik der mensehlichen Gehwerkzeuge. GSttingen 1836. ~) Die Muskeln des menschlichen Beins. Handbueh d. Anat. v. Bardetcben ~,

lI. Abt., II. Teil B., Jena 1913.

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arbeiten, die ohnehin schwachen Peronei abet gegen diese und als Ab- ductoren den Ful3 vonder Medianebene des K6rpers zu entfernen haben, welche Bewegung natiirlich eine gr6l~ere Arbeitsleistung darstellt als die Bewegung ifach der Medianebene des K6rpers hin, so wird man es begreiflich finden, dab ceteris paribus die Plantarflexoren des FuBes ihre Funktion friiher wiederaufnehmen als die Dorsalflexoren. 1)as Erfolgsorgan des N. tibialis ist eben viel kr/~ftiger und hat auflerdem seine Arbeit unter gtinstigeren Bedingungen zu leisten als dasjenige des N. peroneus.

Ein weiteres Beispiel, das uns bei den Massenbeobachtungen dieses Krieges jetzt tagti~glich vor Augen tr i t t : Bei Abschtissen des N. radialis am Oberarm bzw. bei einem seinen ganzen Querschnitt durchsetzenden Nervencallus, Resektion desselben und daraflffolgender Naht treten regelm~,l~ig zuerst die Strecker des~arpus wieder in T/~tigkeit, viel spis die Strecker der Finger. W.eshalb ? Well die Kraft der ersteren, aus- gedrfickt durch ihr Muskelgewicht, sich zu der der lctzteren verhMt wie 114 :50 [ F r ~ n k e l und Frohse l ) ] . Die Fingerstrecker sind die schwachsten s~mtlicher langen Fingermuskeln. Hierzu kommt noch, dab die Kraft, welche sie aufzuwenden haben, um ihre Arbeit gegen die Schwere zu vollbringen, eine relativ gr6Bere ist, als die yon den Hand- streckern zu leistende, well 2) in der natiirlichen Ruhelage die Grund- pha]angen der Finger sich in leichter Beugestellung befinden, w~hrend die Handstrecker in der Ruhelage in Folge ihrer (~berlegenheit an Masse fiber die Handbeuger bereits eine geringe Dorsalflexion einnehmen.

Es handelt sich also bei meiner Auffassung der Dinge gar nicht um einen Vergleich zwischen distalen und proximalen Muskeln, wie F o e r - s t e r meint (vgl. oben!), sondern u,n einen Vergleich der distalen Mus- keln unter sieh, auch ist nattirlich das Muskelvolumen an sich ffir reich keineswegs allein mai~gebend ffir die sog. Vulnerabilit~tt der Nerven- fasern. Mir kam es darauf an, die Momente zu ermitteln, die es bedingen, daf~ naeh v611iger Leitungsunterbrechung im innervierenden Nerven-~ stamm zwei yon ihm versorgte Muskelgruppen der distalen Extremi- tiitenabschnitte ihre Funktion zu ganz verschiedenen Zeiten und in ganz versehiedenem Grade wiedererlangen; ich behaupte sogar, dai3 sie sich so verhalte,n miissen. In einer gr6Beren Arbeit aus neuerer Zeit tiber ,,Die Kriegsverletzungen der peripheren Nerven", die aus der Wiener Nervenheilanstalt Maria-Theresien-Schl6ssel stammt und atff diese Fragen eingeht, hebt We x b e r g 3) die Bereehtigung meiner Theorie hervor.

1) Die Muskeln des menschlichen Arms. Handbuch d. Anat, v. Bardelebcn :t, II. Abt., II. Tell, Jena 1913.

~) Volkmannsches I-Ieft 1. c. S. 154 u.155. a) Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. 36, 345. 1917.

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Ffir die t r a u m a t i s c h e Gruppe unter den peripheren Lahmnngen kommt das Gesetz der Liihmungstypen, wie ich bereits angedeutet babe, nur in b e s c h r ~ n k t e m Umfange in Betracht. Durch eine Ver- letznng kann jeder Nerv und jeder yon ihm abhangige Muskel gelfihmt werden, ganz ohne Rficksicht auf seine spezielle Muskelkraft und die Arbeitsbedingunge~l, unter denen er sich zu betgtigen pflegt. Es kann sich nurum solche FMle handeln, in denen das Trauma e inen mehre re Muske ln i n n e r v i e r e n d e n Nerven nachweislich in seinem ganzen Querschnitte l~diert oder einen Nervenplexus in toto getroffen hat, oder wenn bei partieller Verletzung eines solchen durch einen autop- tischen Operationsbefund konstatiert werden kann, welche J~ste wr- schont geblieben sind. A l lgemeine Gii . l t igkeit hat das Li~hmungs- gesetz jedoch ftir die fibrigen typischen L~thmungen der peripheren Nerven, insbesondere ffir die durch eine Polyneuritis bedingten. Und hiermit komme ich auf den Begriff der , , G i f t a f f i n i t ~ t " und der , , E r k r a n k u n g s b e r e i t s c h a f t " zu sprechen. Auch hier fasse ich reich so kurz wie m6glich und verweise auf meine einschl~gigen Arbeiten.

Wir nehmen an, daf~ die verschiedenen Gifte, m6gen sic toxischer oder infekti6ser Nat ur sein, eine verschieden grol~e Affinit~t zu einzelnen Organen oder Organsystemen haben oder umgekehrt. So gibt es Gef~iB-. Blut-, Muskelgifte nsw., selbstverst~tndlich auch Nervengifte, und unter diesen wieder solche, die sich mit Vorliebe in der Gehirn- oder Rticken- marksubstanz verankern, andere, welche die peripheren Nerven bevor- zugen. Warum das eine Gift mit Vorliebe oder ausschliel~lich dieses oder jenes Organ befiillt, wissen wit, yon einigen Ausnahmen abgesehen, nicht und nehmen deshalb zu dem Begriffe der differenten Giftaffinit~t unsere Zuflucht. Unser Kausalbediirfnis kann und mul~ sich hiermit vor]fi~ufig zufrieden geben. Es kann ihm aber unm6gljeh zugemutet werden, anzunehmen, dab ein und dasse]be Gift eine besondere Ver- wandtschaft zu b e s t i m m t e n periI)heren Nerven oder Nerven~tsten eines Extremit~itenabschnittes besitzt, dab es abet andere derselben GliedmaBe, die anatomisch und chemisch genau ebenso konstruiert sind, verschont. Besonders bemerkenswert ist, daft, wenn bei der ge- w6hnlichen Polyneuritis ein vom N. peron, profund, innervierter Muskel intakt bleibt, es der relativ kraftigste M. tibial, anticus ist, obgleich aueh er die Anziehungskraft der Erde zu tiberwinden hat. ])as kann man doeh wirklich nieht mit einer verschiedenen Giftaffiniti~t oder Erkran- kungsbereitschaft der Nervenfasern erkl~ren. Es ware doch mehr als gezwungen, anzunehmen, dab die die Mm. extens, digit, long. et brevis und extens, halluc, long. et brevis versorgenden Nerven~ste des N. peron, profund, eine gr6Bere Affiniti~t zu dem betreffenden Gifte haben als die in den M. tibiat, anticus eindringenden, dab das krankmaehende Agens jene befMlt und vor diesen haltmaeht! Das Muskelgewieht des

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Tibial. anticus verhMt sich abet zu dem der Zehenstrecker wie 12"2 : 84 : 38 Ebensowelfig kann man die yon O p p e n h e i m in seinem Lehrbuehe (6. Aufl., S. 672) noch als ,,iiberraschend" bezeichnete Tatsaehe mit einer verschiedenen GiftaffinitRt der betreffenden Nervenfasern erkliiren, dab bei der polyneuritischen Radialisl~thmung yon den verschiedenen, unter der Herrsehaft dieses Nerven stehenden Muskeln ein Teil gel~hmt sein kann, wRhrend die anderen ihre Bewegungsfi~higkeit bewahren, dab diese Lahmung sieh sogar im Beginne auf den Ext. digit, eommun. beschr~nken kann. Nach dem vorhin Gesagten (vgl. oben) ist diese Tat- sache keineswegs fiberraschend, sie muB vielmehr als ein notwendiges Postulat erseheinen, wenn die yon mir aufgestellte Lehre richtig ist. Mit ihr gelingt es auch, zwanglos den L~hmungstypus bei der BleilRh- mung und vielen anderen L~hmungsformen dem Verst~ndnisse zug~nglich zu machen. Die von E d i n g e r geltend gemachte q u a n t i t a t i v e Funktionssteigerung, der ,,Aufbrauch", ist hierzu durchaus entbehrlich und fiberdies aueh 5fters nicht zutreffend. Es gentigen vSllig die yon mir aufgedeckten ,,inneren Grfinde", die ,,generellen Faktoren", deren Existenz G e r h a r d t (l. c.) vermutet hatte, die Qualit~it der Einzellei- stungen. Wie wenig berechtigt die Annahme e, iner verschiedenen Gift- affinit~t oder Erkrankungsbereitschaft der Nervenfasern ist, zeigt auch die yon vielen Beobachtern gemachte Feststellung, dab bei der Poly- neuritis anscheinend funktionstfichtige Muskeln bei genauer Unter- suchung sich oft auch als leicht .geschw~cht erweisen und eine deutlich herabgesetzte elektrische Erregbarkeit zeigen. Zum vSl l igen Ver- s a g e n aber k o m m t es n u t bei den weniger k rRf t igen u n d u n t e r u n g f i n s t i g e n Umst~tnden a r b e i t e n d e n Muske ln .

Nach dem Ergebnis meiner Untersuchun~en, die ich hier nattirlich nut in nuce vortragen konnte, sollte man Begriffe wie verschiedene ,,VulnerabilitRt" oder ,,GiftaffinitRt" der Nervenfasern endgiiltig fallen lassen. Sie sind fiir unser kausales Denken entbehrlich geworden, nachdem es gelungen ist, sie dutch exakte physikalische und physiologisch-anato- misehe Vorstellungen zu ersetzen. DaB dies einen Fortsehritt in der Erkenntnis bedeutet, wird wohl niemand bestreiten kSnnen.