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Sonntag, 04. September 2016 (20:05-21:00 Uhr) KW 35 Deutschlandfunk Abt. Feature/ Hörspiel/ Hintergrund Kultur FREISTIL Hauptsache Ich – Von „Selfies“ und anderen Selbstbildnissen Von Regina Kusch und Andreas Beckmann Regie: Philippe Bruehl Redaktion: Klaus Pilger Produktion: Deutschlandfunk 2016 Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - ggf. unkorrigiertes Exemplar

Von „Selfies“ und anderen Selbstbildniss · 2016. 9. 2. · Sonntag, 04. September 2016 (20:05-21:00 Uhr) KW 35 Deutschlandfunk Abt. Feature/ Hörspiel/ Hintergrund Kultur FREISTIL

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  • Sonntag, 04. September 2016 (20:05-21:00 Uhr) KW 35

    Deutschlandfunk Abt. Feature/ Hörspiel/ Hintergrund Kultur

    FREISTIL

    Hauptsache Ich – Von „Selfies“ und anderen Selbstbildnissen

    Von Regina Kusch und Andreas Beckmann

    Regie: Philippe Bruehl

    Redaktion: Klaus Pilger

    Produktion: Deutschlandfunk 2016

    Urheberrechtlicher Hinweis

    Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.

    ©

    - ggf. unkorrigiertes Exemplar

  • 2

    Montage auf Musik:

    Sprecherin 2

    Ich hab mich von oben fotografiert. Meine Brüste gucken sexy aus dem Ausschnitt.

    Ich habe ein schmales Gesicht, wunderschöne Augen und mache einen

    Schmollmund.

    O-Ton Noufa

    Ich mach schon jeden Tag Selfies, aber nicht viele. Zwei, drei Stück. Vielleicht auch

    vier oder fünf.

    O-Ton Mathias Tretter „Selfie“

    Es geht in diesem Programm um ein Thema, dass ich im Moment global betrachtet

    für das wichtigste halte, nämlich mich.

    Sprecherin 2

    Ich habe mich im Krankenhaus mit meinem Gipsarm fotografiert und bei Instagram

    und facebook gepostet. Wer tröstet mich?

    Sprecher 1

    Ich habe meine Nase und Lippen mit durchsichtigem Klebeband verschnürt und sehe

    aus, als ob ich mein Gesicht auf eine Glasplatte presse.

    O-Ton Dorit Schäfer

    Das individuelle Bild von sich selbst, was es in der Antike bereits gab, hat ... dann bis

    heute, bis zum Selfie, eine rasante Entwicklung genommen.

    O-Ton Mathias Tretter „Selfie"

    Fünf Prozent aller Deutschen haben schon mindestens eine Schönheits-OP hinter

    sich, Tendenz steigend. Das heißt, die Leute wollen Selfies machen, aber ohne sich

    selbst.

    O-Ton Kani Alavi

    Jeder Mensch hat eine gewisse Ego, Selbstsüchtigkeit. Dadurch lebt ein Mensch. Ich

    finde es gut, wenn diese Menschen dieses Gefühl haben, ich bin auch irgendwas.

    Dann sollen sie das weitervermitteln.

    O-Ton Christoph Wulf

    Man hält ja nicht fest, wie es einem wirklich geht, das wird simuliert.

    Sprecher 2

    Hauptsache Ich – Von „Selfies“ und anderen Selbstbildnissen

  • 3

    Von Regina Kusch und Andreas Beckmann

    Sprecherin 2

    Ich habe Selfies mit zehn verschiedenen Lippenstiftfarben gepostet. Welcher steht

    mir am besten?

    Sprecher 1

    Schaut her Ladies: Für euch mein bestes Stück in Nahaufnahme!

    O-Ton Lutz Prechelt

    Ein Selfie sagt doch viel mehr über mich als ein handgeschriebener Brief.

    O-Ton Wolfgang Ullrich

    Gerade weil diese Bilder so schnell gehen, wird viel experimentiert und eine neue

    Mode kann innerhalb von Tagen aufkommen. ... Das ist so ein bisschen wie es

    Modewörter gibt in einer bestimmten Zeit.

    Sprecher 1

    Ich trage einen orangefarbenen Overall, blicke düster in die Kamera und sehe aus

    wie ein Häftling aus Guantanamo.

    O-Ton Mathias Tretter „Selfie“

    Gerade für ein so komplexbeladenes Volk wie uns Deutsche war die Erfindung des

    Selfies wie eine Befreiung: endlich können wir von uns wieder Fotos mit

    ausgestrecktem rechten Arm machen.

    Sprecher 1

    Ich und Angela Merkel lächeln auf meinem Selfie vor einem Flüchtlingsheim.

    Sprecherin 1

    Mit dem Selfie verallgemeinert sich eine Gattung, die früher selbstbewussten

    Künstlern vorbehalten war: das Selbstporträt. Heute schütteln Normalbürger aus dem

    Handgelenk, was Maler und Fotografen, Bildhauer und Video-Performer einst mit

    Bedacht arrangierten. Und wofür die Pioniere dieser Gattung sogar ins Gefängnis

    gegangen sind, erzählt die Kunsthistorikerin Dorit Schäfer, die in der Staatlichen

    Kunsthalle Karlsruhe die Ausstellung „Ich bin hier! Von Rembrandt zum Selfie“

    kuratiert hat.

  • 4

    O-Ton Dorit Schäfer

    Das erste Selbstporträt, das in der griechischen Antike zumindest dokumentiert

    worden ist, ... ist ein Selbstporträt von dem berühmten klassischen Bildhauer Phidias,

    der unter Perikles gearbeitet, der auf dem Schild der großen Figur der Athener

    Parthenon auf dem Schild eine Amazonenschlacht dargestellt hat. Und in diese

    Amazonenschlacht hat er sich selber integriert in Form eines Selbstporträts ...

    Interessanterweise berichtet Plutarch, dass ihm das schwer übel genommen worden

    ist, dass er der Hybris, also des Hochmutes angeklagt worden ist.

    Sprecherin 1

    Bildnisse waren ursprünglich den Göttern vorbehalten.

    O-Ton Dorit Schäfer

    Eine Grundvoraussetzung für ein Selbstporträt ist die Tatsache, dass der Mensch

    sich es überhaupt wert ist, sich mit sich selbst zu befassen. Statt sich der

    Verherrlichung eines Gottes, eines Heiligen oder eines weltlichen Herrschers zu

    widmen. Das ist etwas Neues und ... es ist tief in der europäischen Tradition

    verwurzelt. Es bedeutet, dass man die individuelle Freiheit ausleben dürfen muss.

    Montage auf Musik:

    Sprecherin 2

    Ein Jugendlicher in Saudi-Arabien hat ein Selfie gepostet, das ihn mit

    herausgestreckter Zunge neben seinem gerade gestorbenen Großvater zeigt. Am

    nächsten Tag stehen Sittenwächter vor seiner Tür.

    Sprecher 1

    Um ihren Freund zu erschrecken, inszeniert sich eine Frau aus Deutschland auf

    einem Selfie als blutüberströmtes Opfer eines Überfalls. Der holt die Polizei.

    Sprecherin 2

    Eine Frau fotografiert sich während der Arbeitszeit und wird von ihrem Chef

    gekündigt.

    Sprecher 1

    In Moskau stürzt eine 21-Jährige von einer Brücke, während sie für ein Selfie posiert

    und stirbt.

  • 5

    Sprecherin 2

    Eine Autofirma warnt: Lass das Selfie am Steuer nicht das letzte Bild von dir sein!

    Sprecher 1

    Zwei Soldaten posieren mit einer Handgranate für ein Selfie. Auf dem Foto ist nur die

    Explosion zu sehen.

    O-Ton Lutz Prechelt

    Selbstporträts, indem man eine Kamera am ausgestreckten Arm hält, haben die

    Leute schon sehr lange gemacht.

    Sprecherin 1

    Für einen Informatiker wie Lutz Prechelt von der FU Berlin sind 15 Jahre schon eine

    halbe Ewigkeit. Was etwa um die Jahrtausendwende, quasi im digitalen Mittelalter,

    geschehen ist, lässt sich angesichts der Rasanz der Entwicklung auch von Experten

    kaum noch rekonstruieren. Wann also das Selfie erfunden wurde, weiß niemand

    genau. Es muss zu der Zeit gewesen sein, als die ersten Smartphones auf den Markt

    kamen. Wer das Selfie erfunden hat, kann Lutz Prechelt dagegen mit Bestimmtheit

    sagen: niemand. Denn die Ingenieure, die Smartphones entwarfen, dachten

    zunächst gar nicht an Massenkonsumenten, sondern an Geschäftsleute, denen sie

    ein vielseitiges Mobiltelefon anbieten wollten, das ihnen den beruflichen Alltag

    erleichtern sollte und sich deswegen hoffentlich auch hochpreisig verkaufen lassen

    würde.

    O-Ton Lutz Prechelt

    Die Frontkamera, die man ja am liebsten für das Selfie verwendet, weil man sich im

    Sucher sehen kann, ist ja auch relevant, wenn Sie eine Videokonferenz machen

    wollen. Wenn Sie gleichzeitig Ihren Partner auf dem Display sehen wollen und der

    auch Sie sehen soll, dann kommen Sie ohne eine Kamera auf der Bildschirmseite

    nicht aus. Und dass die Videokonferenz nach wie vor ein totales Randphänomen ist,

    ist eine interessante Fußnote dabei.

  • 6

    Sprecherin 1

    Das Selfie hingegen wurde zum Massenphänomen, als sich nach ein paar Jahren

    auch die Massen ein Smartphone leisten konnten. Und einen Mobilfunkvertrag, der

    eine Flatrate für Bildübertragungen beinhaltete. Selfies macht man nicht unbedingt,

    weil man lang ersehnte Freiheiten und lange unterdrückte Ausdrucksmöglichkeiten

    ausleben will. Selfies macht man einfach, weil man es kann. Also aus genau dem

    gleichen Grund, aus dem auch die Maler der Renaissance die antike Tradition der

    Selbstporträts wieder aufgenommen haben.

    O-Ton Dorit Schäfer

    Da kamen viele Sachen zusammen. Einmal ..., dass ... der Spiegel zu einem weit

    verbreiteten Produkt geworden ist. Der flache Glasspiegel, der in Venedig hergestellt

    worden ist und der im 15. Jahrhundert zu Tausenden Exemplaren ... in ganz Europa

    verbreitet worden ist. ... Man muss auch dazu immer sagen, dass der Künstler für

    sich selbst ... das preiswerteste Modell ist. Der, der immer anwesend ist, der, den

    man in verschiedenen Positionen zeigen kann, das ist man selber.

    Atmo

    auf der Oberbaumbrücke, Stimmen und Straßenmusik

    Sprecherin 1

    Auf der Oberbaumbrücke über der Spree, die Kreuzberg und Friedrichshain

    verbindet, haben im Rahmen der OpenAirGallery 2016 100 Künstler ihre Werke

    ausgestellt. Der Deutsch-Iraner Kani Alavi hat auf einer etwa 20 Quadratmeter

    großen Leinwand, die er auf dem Boden ausgelegt hat, Porträts von vorbeigehenden

    Menschen gezeichnet.

    O-Ton Kani Alavi auf Musik

    Ich hab in den letzten zwei Stunden 60 Porträts gemalt. Auf großer Fläche. Da sind ja

    unterschiedliche Ausdrucksformen, die ich in meinen Porträts zeige. Will ich gerne

    die … Gesichtsausdrücke den Menschen einfach vermitteln.

  • 7

    Es wurde oft gesprochen, was willst du jetzt zeigen? Hab ich gesagt, ich will Eure

    Gefühle zeigen. Und es war natürlich interessant für mich, dass ich nur Köpfe gemalt

    habe, die Porträts von Menschen, die durch Zufall hier vorbei gehen. Einmal blick ich

    drauf auf deren Gesichter und kommt dann direkt auf meine Leinwand, und jetzt hab

    ich vor, mein Porträt auf diese Fläche (zu) malen. Unter 60 Porträts eins ist meins.

    Sprecherin 1

    In der Tradition große Meister will Kani Alavi sein Konterfei in der Masse der

    Gesichter verstecken. Er hat einen Spiegel ausgepackt und beginnt, sich selbst auf

    dem letzten freien Flecken der Leinwand zu zeichnen. An seinem allerersten

    Selbstporträt hat er sich mit 19 versucht, aber schnell wieder aufgegeben.

    O-Ton Kani Alavi

    Ich fand mich nicht so interessant. Das Gesicht war mir zu einfach. Und ich wollte

    eigentlich genauso wie Rembrandt und Künstler, die bekannt waren, genauso wie

    die, oder Michelangelo z.B., die Bilder gemalt haben, die so interessant waren, und

    so konnte ich nicht malen,... so hab ich dann aufgehört und nicht weiter mich

    porträtiert.

    Sprecherin 1

    Bevor man sich selbst porträtieren könne, müsse man ein wenig gereift sein, meint

    Kani Alavi, menschlich wie künstlerisch.

    O-Ton Kani Alavi

    Wenn du dich mit deiner Kunst auseinandersetzt, das sind ja deine Gefühle, dann

    wirst du dich im Laufe der Zeit viel mehr kennen lernen. Dieser Prozess ist für

    längere Zeit. Wenn du tatsächlich ein Selbstporträt malst, hast du dich

    auseinandergesetzt über die Jahre. Und dann gehst du ran und versuchst, dich

    darzustellen.

  • 8

    Sprecher 1

    Da wir immer noch nicht genau wissen, was nun eigentlich dieses „Ich“ ist, muss

    alles getan werden, um das „Ich“ immer gründlicher und tiefer zu erkennen. Denn

    das „Ich“ ist das größte und verschleiertste Geheimnis der Welt.

    Sprecher 2

    Max Beckmann

    O-Ton Kim Kardashian I think, to be honest, Girls, they take a lot of nude selfies.

    Sprecherin 1

    Wenn Kim Kardashian in Talkshows herumerzählt, dass junge Mädchen heutzutage

    häufig Nacktfotos von sich machen, verrät sie längst kein Geheimnis mehr. Als Model

    und Reality-TV-Star hat sie schließlich dazu beigetragen, diesen Trend zu begründen

    und zu befeuern. Sie inszeniert ihr Leben als permanente Performance und hat sich

    damit zur Kultfigur stilisiert. Anders als viele junge Frauen versucht sie gar nicht, den

    Empfängerkreis für ihre Selfies zu begrenzen, sondern verstreut sie, wo sie nur kann,

    auf ihrer Homepage, auf Facebook, auf Instagram, auf Twitter.

    O-Ton Kim Kardashian

    If I see a photo, I know exactly where I was, what I was doing, what I was wearing,

    who did my makeup, like everything. ... I look back and think: Oh God, why would I

    complain about feeling fat? I like the way I looked then, so it taught me to be a little

    bit easier on myself.

    Sprecherin 1

    Sie könne sich noch an jedes ihrer Selfies erinnern, wo sie es geschossen hat, was

    und welches Makeup sie damals getragen habe, plaudert Kim Kardashian. Und sie

    schaue auf jedes Bild gern zurück und denke, mein Gott, wie konnte ich mich damals

    nur für zu dick halten, ich sah doch toll aus, ich sollte nicht so streng mit mir sein:

  • 9

    Jeder Augenblick ein Spaß, festgehalten in einem Selfie, mit dessen Hilfe man ihn

    wieder hervorholen und noch einmal feiern kann. So stellt Kim Kardashian ihren

    Lebensstil öffentlich zur Schau und weltweit nehmen Millionen von Teenagerinnen

    teil. Sie imitieren alles, von den Posen bis zu den Klamotten. Soweit geht die 15-

    jährige Noufa aus Berlin nicht, die eine deutsche Mutter und einen libanesischen

    Vater hat. Auf ihrem Smartphone hat sie zwar eine App installiert, die ihr jedes

    Posting von Kim Kardashian gleich anzeigt. Aber bei Selfies hat sie ihren eigenen

    Stil.

    O-Ton Noufa

    Ich könnt’ mir schon gut vorstellen, … dass es so um die 1000 sind. (lacht) Wenn ich

    gerade finde, dass ich gut aussehe, oder ich ein schönes Oberteil anhabe, oder

    meine Haare gerade gut sitzen, dann mach ich einfach ein Selfie. … ich nehm das

    dann als Profilbild, z.B. auf Whatsapp. Also meistens mach ich Selfies … für mich.

    Sprecherin 1

    Noufa sammelt und ordnet ihre Selbstporträts auf ihrem Smartphone. So kann sie

    sich selbst beim Erwachsenwerden zuschauen.

    O-Ton Noufa

    Gestern erst hab ich ein Bild von mir gefunden von vor zwei Jahren. Da hatte ich

    glatte Haare und ich hab das damals gemacht und ich weiß, ich fand das toll. Und

    wenn ich mir das jetzt angucke, dann seh ich so klein aus. Ich seh einfach so extrem

    jung aus, das hab ich damals so gar nicht gesehen. Dass ich mich so verändert

    habe, das ist schon irgendwie krass.

    Sprecherin 1

    Auf den meisten Bildern lächelt sie in die Kamera. Ein Filter mit Weichzeichner lässt

    ihren Teint makellos aussehen. Die schwarze Hornbrille, hinter der von schwarzem

    Eyeliner umrahmte braune Augen leuchten, ist stets frisch geputzt.

  • 10

    Ihre langen, welligen, dunklen Haare hat sie oft lässig über die linke Schulter

    geworfen. Wenn sie sich so gestylt hat, könnte die Schülerin glatt als Angelina Jolies

    kleine Schwester durchgehen, oder als Model.

    O-Ton Noufa

    Man kann so einen Moment festhalten und man kann sich daran erinnern. Und ich

    meine, man wird auch nicht schöner. Und wenn man dann eines Tages alt ist, dann

    kann man sich wenigstens noch daran erinnern, wie man mal ausgesehen hat. Dann

    kann man dann sagen, so schön war ich, so hübsch war ich.

    Sprecherin 2

    In gewissem Sinne habe ich mich durch das Werk „enthüllt“, um Aspekte eines

    Innenlebens zu zeigen, die zerbrechlich sind.

    Sprecher 2

    Die schottische Musikerin Annie Lennox über das Cover ihres Albums „Bare“, auf

    dem sie sich 1984 nackt, aber mit weißer Kreide bedeckt, statuengleich präsentierte.

    O-Ton Dorit Schäfer

    Bei den beiden amerikanischen Künstlern Warhol und Mapplethorpe, etwa eine

    Generation Unterschied, ist eines festzustellen, dass sie eine obsessive

    Beschäftigung mit sich selber gemacht haben und mit unterschiedlichen

    Rollenspielen. Sie haben einen großen Hang zur Verkleidung und einen großen

    Hang, auch ihre Sexualität in diesen Verkleidungen immer wieder zu ändern, und

    dieses Rollenspiel, was jeder von uns macht, künstlerisch zu zeigen. Bis dahin, dass

    sie zum Teil lächerliche Bilder von sich machen. ... Ob das jetzt die Marilyn Monroe

    Frisur ist, dieses toupierte blonde Haar bei Warhol oder ob Mapplethorpe so tut, mit

    dramatisch verzogenem Gesicht so tut, als ob er ein Straßenverbrecher ist und mit

    einem Messer, das er hält, dabei ist, den Betrachter gleich in Stücke zu schneiden,

    dass sind überzogene, dramatische, theatralische Inszenierungen des eigenen

    Selbst, wo der Künstler schon zum Schauspieler wird.

  • 11

    Sprecherin 1

    Was traut ihr mir zu? Wer oder was bin ich? Mann oder Frau oder beides ein

    bisschen? Der Kuratorin Dorit Schäfer von der Kunsthalle Karlsruhe gefällt vor allem

    die Ironie, mit der solche Fragen in den Selbstporträts aufgeworfen werden.

    Derartige Rollenspiele kann heute jeder mit dem Smartphone selbst inszenieren. Die

    Vanity-Fair-Autorin Nancy Jo Sales berichtet in ihrem Buch „American Girls“ von

    Teenagern, die sich zum Sex im virtuellen Raum verabreden. Dabei tauschen sie

    Fotos ihrer intimsten Körperregionen aus, die sie sorgsamst arrangieren. Aber sie

    treffen sich nie im wahren Leben. Je mehr sie sich auf diese Weise mit sich selbst

    beschäftigten, desto mehr machten sie sich zu ihrem eigenen Modell, schlussfolgert

    Nancy Sales und desto weniger, so meint sie, würden sie sich selbst wirklich

    kennenlernen. Die Mitgliederzahlen solcher Communities sind in den vergangenen

    Jahren rasant gestiegen.

    Sprecher 1

    Ich knipse, also bin ich.

    Sprecher 2

    Stefan Trinks, Kunsthistoriker

    Sprecherin 1

    Zweideutiges, Fragendes, Ironisierendes bleibt beim Selfie eher die Ausnahme,

    beobachtet der Leipziger Blogger und Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich.

    O-Ton Wolfgang Ullrich

    Für mich haben Selfies auch sehr viel zu tun mit diesen anderen typischen Medien

    der Kommunikation, die im Smartphone-Zeitalter groß geworden sind, die emoticons,

    die emojis, alles Zeichen, mit den versucht wird, sehr knapp Emotionen,

    Gefühlslagen ... zum Ausdruck zu bringen.

  • 12

    Sprecherin 1

    Emoticons stammen aus der Welt der Zeichen und der Piktogramme. Ihr ältester und

    immer noch berühmtester Vertreter ist das gelbe Smiley, das weltweit verbreitet ist

    und weltweit verstanden wird. Inzwischen gibt es davon Hunderte Varianten: weinend

    zum Beispiel oder wutschnaubend mit Dampf aus den Nasenlöchern, cool mit

    Sonnenbrille oder verliebt mit Herzchen als Augen. Praktischerweise sind sie alle

    schon wie Schriftzeichen auf jedem modernen Smartphone vorinstalliert, so dass

    man seine Mitteilungen auch ohne Wort verschicken kann.

    O-Ton Wolfgang Ullrich

    Und so würde ich auch viele Selfies verstehen, da bringt man sein Gesicht auch in so

    eine übertriebene Pose, die besonders albern oder witzig oder traurig aussieht, ...

    und damit ist das Bild, das man von sich schickt, so eine Art von lebendigem oder

    natürlichen Emoticon. Und erfüllt auch die Funktion von so einem emoticon, auf eine

    schnelle, plakative Weise anderen mitzuteilen, wie es einem gerade geht.

    Sprecherin 1

    Das gelingt erstaunlich gut und erstaunlich missverständnisfrei. Und zwar nicht nur

    unter Freunden, die sich gut kennen und auch im realen Leben öfter über den Weg

    laufen. Sondern auch unter Menschen, die Tausende Kilometer voneinander entfernt

    in völlig unterschiedlichen Kulturen leben, sich aber regelmäßig und ausschließlich in

    digitalen Sphären begegnen.

    O-Ton Wolfgang Ullrich

    Ich finde es eher überraschend, dass ... hier vielleicht das erste Mal glückt, was man

    sich gerade in der klassischer Moderne hier im Westen gewünscht hatte, nämlich

    dass es Bildsprachen gibt, die kulturübergreifend sind, die unmissverständlich sind.

    Man hat ja auch darauf gehofft, kulturelle Missverständnisse zu überwinden, indem

    man auf Bilder setzt, denn Sprache muss man erst lernen und hat so viele

    Zwischentöne und ist so missverständnisträchtig und in gewisser Weise scheint sich

    mir diese Utopie ... jetzt damit zu verwirklichen.

  • 13

    Ich habe nicht den Eindruck, wenn ich auf Blogs gehe, die von Leuten aus der

    arabischen oder der asiatischen Welt gemacht werden, dass es da so grundsätzlich

    andere Codes oder andere Bildtypen gibt, sondern dass sich das als globales Idiom

    etabliert hat.

    Sprecherin 1

    Auf globale Verständlichkeit konnte ein Albrecht Dürer allenfalls in gebildeten Kreisen

    bauen, obwohl die für ihn relevante Welt noch viel übersichtlicher war und sich auf

    die damalige christliche Hemisphäre beschränkt haben dürfte. In der war es bis zum

    Anfang des 16. Jahrhunderts ein Sakrileg, sich dem Blick des Betrachters so frontal

    auszusetzen, wie er es im „Selbstbildnis im Pelzrock“ tat, und dabei auch noch

    genauso frontal zurückzublicken. Diese Perspektive hatten seine Malerkollegen bis

    dahin für den Sohn Gottes reserviert.

    O-Ton Dorit Schäfer

    Das Selbstbildnis von Dürer ..., das heute in der Alten Pinakothek hängt: ... Er ist 28

    Jahre alt und er zeigt damit, das, was ich mache als Schöpfer, ich bin ein

    künstlerischer Schöpfer und ich setze mich in vielen äußerlichen Dingen den

    Erscheinungsbildern von Christus gleich, das hat natürlich etwas von einem

    großartigen Selbstbewusstsein. ... Das ist ein unglaublich selbstbewusstes Bild.

    Sprecherin 1

    Nicht nur, weil sich da ein Mensch fast gottgleich präsentierte. Sondern weil sich

    Dürer so in einen Stand erhob, der ihm nach landläufiger Meinung gar nicht zustand

    als Künstler. Denn Künstler galten damals als einfache Handwerker. Dürer aber

    beanspruchte für sich die Rolle eines Intellektuellen, der neue, unbekannte

    Sichtweisen eröffnete. Er war schließlich gleichzeitig Mathematiker und dieses Fach

    machte gerade zu seinen Lebzeiten große Fortschritte und schickte sich an, die Sicht

    auf die Welt zu verändern. Ohne freilich Philosophie und Theologie den Rang von

    Königsdisziplinen unter den Wissenschaften streitig machen zu wollen. Dürer blieb

  • 14

    stets ein gottesfürchtiger Mann. Er wollte seinem Schöpfer nahe kommen, nicht an

    seine Stelle treten. Dürer wollte Grenzen verschieben, nicht aufheben.

    Sprecher 1 Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am

    Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.

    Sprecher 2

    Exodus Kapitel 20, Vers 4+5

    Sprecherin 1

    Wer heute Selfies macht, überschreitet ständig Grenzen, ohne noch darüber

    nachzudenken. Die Zeit ist kaum noch eine Grenze, weil das Bild in

    Sekundenschnelle gemacht werden kann. Die Verbreitung übers Internet und soziale

    Netzwerke ist ohnehin grenzenlos. So wie Gott einst überall gegenwärtig schien,

    kann sich der Mensch heute globale Omnipräsenz verschaffen, wenn er will.

    O-Ton Christoph Wulf

    Man könnte sagen, dass das Selfie gegen ein uraltes Gebot der monotheistischen

    Religionen verstößt, sich nämlich kein Bild von Gott und im übertragenen Sinne vom

    Menschen zu machen.

    Sprecherin 1

    Nicht nur die Religionen Abrahams, sagt der Berliner Anthropologe Christoph Wulf,

    propagierten das Gottes- und Selbstbildnisverbot. Schon die Philosophen der Antike

    hatten dieses Tabu gekannt. Seine berühmteste Ausformulierung findet sich für Wulf

    im Mythos des Narziss, der eines Tages im Wasser sein Spiegelbild erblickte und

    sich darin verliebte. Ohne die Hoffnung, dass seine Liebe je erwidert werden könnte,

    starrte er den Rest seines Lebens in sein Ebenbild.

    O-Ton Christoph Wulf

    Die theologische Weisheit, dass das Machen von Bildern ... erst mal von Gott, aber

    auch von anderen Menschen und auch von einem selbst, ein äußerst

  • 15

    problematischer Prozess ist, ist völlig klar, ... und ich denke, beim Selfie ist die

    Tendenz wirklich, das Bild an die Stelle vom Menschen zu setzen. ... Hier, beim

    Selfie geht es darum, sich möglichst viele Bilder von einem selbst zu machen. ... Das

    ist natürlich eine bestimmte Form von Religions-Anthropologie, die ich da zum

    Ausdruck bringe, aber ich glaube, das hat seine Bedeutung.

    Sprecherin 1

    Denen, die heute Tag für Tag Millionen Selfies knipsen, ist diese Botschaft entweder

    unbekannt oder einfach egal. Doch diese Leichtigkeit schlägt schnell um in

    Leichtfertigkeit. Nur wenige denken darüber nach, dass ihnen eine besonders

    extrovertierte Selbstdarstellung irgendwann einmal peinlich sein könnte. Dass z.B.

    ein potentieller Arbeitgeber Jahre später ein freizügiges Selfie im Netz finden könnte,

    wenn sie sich gerade bei ihm bewerben. Christoph Wulf würde den Menschen am

    liebsten zu mehr Vorsicht raten, aber er erwartet nicht, dass sie auf ihn hören.

    O-Ton Christoph Wulf

    Das ist ein Merkmal der heutigen Zeit, wir müssen uns alle inszenieren. Wir müssen

    uns, anders gesprochen, verkaufen damit wir ankommen. Wir werden zur Ware, das

    muss man so deutlich sagen. Der Kapitalismus hat da nicht angehalten, es wird alles

    verkauft, es geht ja der ökonomische Blick in alle Bereiche des menschlichen

    Lebens. Und beim Selfie gibt es diese Widerspiegelung, man sieht sich selbst, ist auf

    sich selbst zentriert. Das ist einerseits etwas, was den Menschen Freude macht, sie

    inszenieren sich gerne, ... das ist die positive Seite, wenn man so will. Das hat

    natürlich auch andere Seiten, dass wir uns dauernd selbst manipulieren. Das Selfie

    scheint mir das zum Ausdruck zu bringen. Wir haben dauernd den Anspruch an uns,

    zu gefallen und sichtbar zu sein.

    Sprecherin 1

    Ist der Mensch einmal in den Selfie-Kosmos eingetreten, muss er immer neue Bilder

    posten, meint Christoph Wulf. Muss immer wieder zeigen: ich bin hier. Ich bin immer

    noch da. So wertet man sich auf, macht sich und sein Leben interessant.

  • 16

    O-Ton Christoph Wulf

    Wir müssen das alle tun,... dass man das Leid nicht zeigt, Schmerz nicht zeigt, weil

    das natürlich nicht zum Hauptmerkmal des modernen Menschen gehören soll.

    Das passt nicht. Das Selfie hat schon als Medium die Funktion, glückliche Menschen

    zu zeigen, oder Menschen, die sich gut inszenieren.

    O-Ton Lutz Prechelt

    Oh, Selfies lügen natürlich schon, aber ... aus meiner Sicht ist ein Grund, warum die

    Selfies so viel Zulauf haben, dass Sie ein Exemplar sind nicht nur von Selbstporträt,

    sondern von Selbstrepräsentation.

    Sprecherin 1

    Für den Informatiker Lutz Prechelt gilt ähnlich wie für den Anthropologen Christoph

    Wulf die alte Weisheit: The medium is the message.

    O-Ton Lutz Prechelt

    So ziemlich jede Lebensäußerung, wo ich als Person mit auftauche, könnte man als

    Selbstrepräsentation betrachten. Wenn ich etwas spreche, bin ich stimmlich präsent,

    wenn das, was ich sage, meine Meinung ist, bin ich als Persönlichkeit präsent, wenn

    ich eine Unterschrift leiste, ist das eine Selbstrepräsentation, nämlich meiner

    Identität, usw. usw. ... Und vieler dieser Selbstrepräsentationen, die wir bis jetzt

    verwendet haben, z.B. Handschrift und Unterschrift, sind verhältnismäßig arm,

    verhältnismäßig schmalbandig, da steckt nicht sehr viel drin von mir.

    Sprecherin 1

    Das Medium Selfie schränkt für Lutz Prechelt die Menschen nicht ein, sondern

    erweitere ihre Ausdrucksmöglichkeiten – schon allein auf Grund seiner technischen

    Beschaffenheiten.

    O-Ton Lutz Prechelt

    Das Selfie ist jetzt plötzlich eine Möglichkeit, die schnell und einfach geht, nichts

    kostet, leicht verfügbar ist, wie ich eine viel reichhaltigere Selbstrepräsentation

    anfertigen kann.

  • 17

    Wo meine Stimmung und ein Teil meines Körperzustands direkt abgebildet werden.

    Und ich glaube, dass das Bedürfnis, solche Selbstrepräsentationen weiterzugeben

    an andere, ein Treiber sind, warum Selfies so populär geworden sind.

    Sprecherin 1

    Für den Informatiker ist diese Entwicklung noch längst nicht am Ende angelangt,

    vielleicht nicht einmal an ihrem Höhepunkt.

    O-Ton Lutz Prechelt

    Da geht technisch einiges, also die Frage, ob man holografische Wiedergabe schafft,

    ist noch interessant. ... Dass man in die Luft ein dreidimensionales Bild projizieren

    kann, um das man sozusagen rumlaufen kann und das sich dann perspektivisch

    verändert. Wenn sich das genügend hoch treiben lässt technologisch, kann man

    damit Telepräsenz realistisch machen, und wenn Sie es dann noch schaffen, die

    Tonwiedergabe so hinzukriegen, dass der Ton wirklich aus dem Mund dieses

    projizierten Bildes zu kommen scheint, was, wenn Sie fest aufgestellte Lautsprecher

    haben, heute schon möglich ist. Das ist noch nichts für den portablen Bereich so

    richtig, aber man weiß im Prinzip, wie man so etwas machen kann, dann stoßen wir

    noch mal ein Tor auf zu neuen Dimensionen von Nutzen, ... wo man also tatsächlich

    die persönliche Nähe eines Menschen annähern.

    Sprecherin 1

    Noch ist die Übertragungstechnik nicht so weit, aber sie wird kommen, und Selfie-

    Macher sind es gewohnt, Verbreitungswege zu wechseln. Medien-affine Jugendliche

    haben Snapchat für sich entdeckt. Über diesen Dienst lassen sich Fotos und kurze

    Videos blitzschnell verbreiten, sind aber für den Empfänger nur wenige Sekunden

    sichtbar und werden dann wieder gelöscht. Auch wenn es immer Hacker geben wird,

    die solche Dateien wieder herstellen können, sinkt die Gefahr, dass einem peinliche

    Posen oder Grimassen oder anderen Bilder, die man später bereut, immer wieder

    vorgehalten werden. Immer mehr User machen sich Gedanken, was sie verschicken

    und was nicht.

  • 18

    O-Ton Noufa

    Nacktbilder. Ich will dieses Risiko gar nicht eingehen, dass das rumgeschickt werden

    könnte. Also ich würd das nicht machen. Wenn mein Freund mich anbetteln würde,

    ich würde immer nein sagen. Ich mein, wer’s machen möchte, bitte, aber ich mach

    das nicht. Ich hätte viel zu große Angst vor den Folgen. Wenn man sich jetzt z.B.

    trennt oder Streit hat, dass man das dann einfach rumschickt. Oder selbst wenn der

    Typ oder die Freundin das bloß ihren Freundinnen zeigt, oder seinen Kumpels, das

    ist doch demütigend.

    Sprecherin 1

    Ewig, sagt Noufa, habe sie sowieso nicht vor, Selfies zu produzieren.

    O-Ton Noufa

    Ich denke, dass man ab einem gewissen Alter zu reif dafür ist. Also mit 30 denk ich,

    dass ich dann nicht unbedingt noch so viele Selfies machen werde. Vielleicht mal

    eins mit ein paar Freunden, aber dann auch wirklich nur, wenn man gerade gute

    Laune hat, dass man unter Freunden ist und dann ne Erinnerung hat.

    Sprecherin 1

    Auch da lässt sie Grimassen oder alberne Gesten eher weg.

    O-Ton Noufa

    Ich achte darauf, dass es natürlich aussieht, ... als wär es jetzt gerade so ganz

    nebenbei gemacht worden. Und nicht, dass man sich irgendwo extra hinstellt. Es

    sieht schon blöd aus, wenn man da rumhüpft.

    Sprecherin 1

    Wolfgang Ullrich hat seine Professur für Kunstgeschichte in Karlsruhe aufgegeben,

    um sich als freier Autor, Kurator und Blogger mit der Geschichte des Kunstbegriffs

    und mit modernen Formen des Ausdrucks zu beschäftigen.

  • 19

    O-Ton Wolfgang Ullrich

    Für mich besteht der kategoriale Unterschied darin, dass Selfies wie viele andere

    Bildertypen in den sozialen Medien primär zu verstehen sind über die Funktion, dass

    sie Teil von Kommunikation sind und zwar einer Live-Kommunikation. ... Dahinter

    steht die Idee, ich teile jemand anderem mit, hier bin ich gerade, mir geht es gerade

    so, ich denke gerade an dich. ... Es sind so Status-Meldungen im weitesten Sinne.

    Fast alle Selfies gehen in dem Moment auf, in dem sie gemacht und gesendet und

    von der anderen Seite angeschaut und vielleicht kommentiert oder beantwortet oder

    weitergeleitet werden.

    Sprecherin 1

    Der Blick auf Abertausende von Selfies beeinflusst auch Wolfgang Ullrichs Sicht auf

    künstlerische Selbstbildnisse.

    O-Ton Wolfgang Ullrich

    Ich finde, dass man an der Geschichte des Selbstporträts sehr schön sehen kann,

    wie sich Begriffe von Künstlertum ändern, die Selbsteinschätzung von Künstlern. Mal

    sehen sie sich eher als Opfer der Gesellschaft, als Außenseiter, dann sind sie eher

    stolz, weil sie Teil eines irgendwie auch mächtigen Milieus sind. Wann definieren sie

    sich über materielle Erfolge? Wann definieren sie sich eher darüber, ausgestoßen zu

    sein? Das kann man wunderbar ablesen und das wird durch die Inszenierung

    gesteigert, diese jeweilige Rolle und Selbsteinschätzung, insofern ist diese Gattung

    ja auch so spannend.

    O-Ton Dorit Schäfer

    Rembrandt, also der Künstler, der am meisten Porträts von sich gefertigt hat, ... hatte

    einen riesigen Kostümfundus mit unglaublichen Gewändern aus Pelz, aus Seide, aus

    unterschiedlichen Jahrhunderten, orientalische Kostüme, verschiedene Schwerter,

    Waffen, was auch immer, das waren Kostüme, die er verwendet hat für seine

    Modelle, er hat ja viele, viele sakrale Gemälde geschaffen und v.a. viele Motive aus

    dem Alten Testament, wo er mit Hilfe dieser Kostüme auch die historische Zeit, in der

    seine Bilder spielten, mit darstellen wollte. Und diese Kostüme hat er selber

    verwendet, hat sie selber angezogen.

  • 20

    Sprecherin 1

    Und sich dann gemalt. Ungefähr 80 Selbstporträts Rembrandts sind bekannt,

    Gemälde, Zeichnungen, Radierungen. Angefertigt hat er wahrscheinlich noch mehr,

    denn Röntgenuntersuchungen seiner Werke zeigen, dass der Meister viele später

    wieder übermalte. Auf seinen Selbstbildnissen ist er mal eindeutig zu erkennen, mal

    schlüpft er in Rollen wie die des Apostels Paulus. Die Zeitgenossen und auch die

    Nachwelt hat er damit irritiert. Bis ins 19. Jahrhundert bekam er kaum bessere

    Kritiken als heute Kim Kardashian. In Katalogen wurden ihm seine burlesken Züge

    vorgeworfen, die seltsamen Haartrachten kritisiert oder ganz allgemein die Rohheit

    seiner Selbstbildnisse moniert, erzählt Dorit Schäfer. Erst in der aufkommenden

    bürgerlichen Gesellschaft wollen die Kunstsachverständigen bei ihm eine Suche

    nach dem eigenen Ich erkennen.

    O-Ton Dorit Schäfer

    Bei Rembrandt ist es nun so gewesen, dass er sich in einer so empfindsamen

    Physiognomie dargestellt hat, aber auch in unterschiedlichen Stimmungen, ängstlich,

    leidend, klagend, erstaunt, er hat auch die Physiognomie der verschiedenen

    Empfindungen immer wieder am eigenen Gesicht ausprobiert, dass man ganz lange

    gedacht hat, es ist eine sehr starke psychologische Beschäftigung mit dem eigenen

    Selbst. Heute geht man davon aus, dass das eher eine romantische Sicht ist auf

    Rembrandt, ... denn man weiß, dass diese Ausdrucksstudien damals auch eine

    große Modewelle gewesen sind, ... und dass er damit eine große Einnahmequelle

    hatte.

    Sprecherin 1

    Die Gesetze des Marktes, die Erwartungen der Umwelt, die gesellschaftlichen

    Konventionen – das Umfeld für künstlerische Selbstporträts war und ist nicht so

    grundverschieden von dem, in dem Selfies entstehen, meint Wolfgang Ullrich. Nur

    dass Künstler damit natürlich viel professioneller umgingen.

  • 21

    Was aber nicht verwundern könne, das Selfie sei nun mal ein Medium des Alltags,

    offen für jeden, auch für Amateure und Dilettanten.

    O-Ton Wolfgang Ullrich

    Ich war auf einem Symposium letztes Jahr ... in Venedig und da waren mehrere so

    kulturkonservative Redner und lustiger Weise hatten drei von denen dasselbe Chart

    bei einer Powerpoint-Präsentation, links das Selbstbildnis von Dürer, im Pelzrock, wo

    er in christusgleicher Position da sich malt, mit ernstem Gesicht, mit durchdringenden

    Blick, also der erhabene große Künstler schlechthin und daneben haben sie dann

    irgendein Selfie gezeigt, wo ein junges Mädel mit Kulleraugen und aufgerissenem

    Mund und rausgestreckter Zunge sich fotografiert hat, um zu zeigen, welchen

    Kulturverfall es seit Dürer gegeben hat. Und das ist für mich völlig absurd, solche

    Bilder so in Beziehung zu setzen. Man hat das Selfie aus dem Kontext gerissen ...

    und überlädt es mit Ansprüchen, die es nicht hat.

    Sprecherin 1

    Das Selfie will gar nicht anders sein als profan.

    Montage auf Musik:

    Sprecherin 2

    Ich lichte meinen Hintern ab und habe ein Belfie.

    Sprecher 1

    Ich drehe ein Selfie-Video und habe ein Velfie.

    Sprecherin 2

    Ich fotografiere Haare für ein Helfie.

    Sprecher 1

    Ich posiere nackt und produziere ein Nelfie.

    Sprecherin 2

    Ich inszeniere mich nackt mit meinem Partner und schaffe ein Relfie.

  • 22

    Sprecherin 1

    Mit ihren Selfies, Belfies und Relfies wollen die Absender sich der Welt zur Schau

    stellen. Der Künstler Kani Alavi will dagegen in Selbstporträts seine Geheimnisse

    malen, auch und gerade die, die er selbst noch gar nicht kennt.

    O-Ton Kani Alavi

    Ich hab irgendwann mal ein Bild gemalt, und dann hatte ein … Käufer von mir …

    interpretiert, wie ich in diesem Bild meine Gefühle gezeigt hab und er hat

    herausgefunden: Die Augen, in diesem Zeitraum warst du bestimmt glücklich, warst

    du mit vielen Menschen zusammen, hast denen Gefühle gegeben, dass die auch

    glücklich werden. Deine Augen leuchten und da hast du das so dargestellt.

    Sprecherin 1

    Momentan sind alle seine Selbstbildnisse verkauft. Doch Kani Alavi kann sich nicht

    einfach hinsetzen und beliebig neue produzieren.

    O-Ton Kani Alavi

    Du musst dich in eine Stimmung versetzen und versuchen, so weit zu kommen, dass

    du sagst, heute male ich mein eigenes Selbstbildnis. Und sonst wird es nicht richtig

    gut laufen. ... Du musst wirklich diese Zeitspanne herausfinden, auch entdecken, du

    kannst nicht jederzeit sagen, jetzt geh ich mal ran und mal ich mich. Das geht nicht.

    Du musst diese Zeit erwischen. Manchmal ist es nachts, zwei, drei Uhr morgens

    vielleicht, dann stehst du auf und sagst, jetzt möchte ich gern versuchen. Aber das ist

    nicht so, dass es dann gleich kommt, … kann sein in zwei Tagen, kann sein, dass es

    zehn Jahre dauert.

    Sprecherin 1

    Kani Alavis bekanntestes Gemälde heißt „es geschah im November“ und ist auf

    einem Mauersegment in der Berliner East Side Gallery ausgestellt. Vor einem blauen

    Hintergrund teilt sich die weiße Betonmauer und eine Flut von Gesichtern strömt

    hindurch.

  • 23

    Auf einer Leinwand-Variante dieses Bildes hat er auch sein Selbstporträt versteckt.

    Bis jetzt hat diese Version noch nie ausgestellt. Aber falls sich sein großer Traum

    erfüllt und aus der East-Side-Gallery einmal ein Museum wird, möchte er es dort

    aufhängen.

    Sprecher 1

    Ich lebe in meiner Haut wie in meinem Haus. Ich weiß, es gibt schönere Haut, feinere

    Haut und robustere Haut. Aber ich fände es widernatürlich, sie gegen meine zu

    tauschen.

    Sprecher 2

    Primo Levi

    O-Ton Walter Smerling

    Die Bilder sind alle heimlich entstanden. Und sie sind versteckt worden. Manche

    Aufseher oder Bahnarbeiter haben sie mitgenommen und nach dem Krieg wurden

    sie wiederentdeckt.

    Sprecherin 1

    Walter Smerling vom Verein Kunst und Kultur in Bonn hat in diesem Winter der

    deutschen Öffentlichkeit zum ersten Mal eine sehr ungewöhnliche Sammlung von

    Selbstporträts gezeigt. Im Rahmen der Ausstellung „Kunst aus dem Holocaust“ hat er

    Selbstbildnisse aus Konzentrationslagern präsentiert. Sie stammen aus der

    Gedenkstätte Yad Vashem in Israel, wo sie aber nur sehr selten gezeigt werden, weil

    sie einen fast surrealen Überlebenswillen zeigen und damit unrealistisch wirken

    können, obwohl an ihrer Echtheit kein Zweifel besteht.

    O-Ton Walter Smerling

    Derjenige, ... der etwas ausdrücken will, der hat es gemacht wenn er die Kraft dazu

    hatte. Und das ist eben das Bemerkenswerte, dass diese Menschen, die den Tod vor

    Augen haben, dennoch sich das ausdrücken, das Individuum. Leute mit eigener

    Meinung, die man zwar auf das Unmenschlichste, unvorstellbar Grauenhafteste

    behandeln kann, aber die sagen, mein Menschsein und meine Seele, meine

  • 24

    Kreativität, das kann mir niemand nehmen. Es ging darum, auch ein schönes Bild zu

    haben von sich selber.

    Sprecherin 1

    Die wenigen Gefangenen, die im Konzentrationslager gemalt haben, waren fast alle

    künstlerisch vorgebildet, einige sogar bekannte Maler. Andere waren, als sie

    deportiert wurden, noch zu jung gewesen, um auf eine Kunstakademie zu gehen,

    hatten sich aber schon im Elternhaus oder in der Schule darauf vorbereitet. Die

    Historiker von Yad Vashem haben jede Biografie mit Hilfe von Zeitzeugen und

    Dokumenten rekonstruiert. Walter Smerling deutet die Selbstporträts als Versuch, die

    zerstörten Lebensentwürfe nicht aufzugeben.

    O-Ton Walter Smerling

    Die Porträts sind alle auch unter künstlerischen Gesichtspunkten, ich will nicht sagen

    hochwertig, aber man sieht in Anführungsstrichen schöne Gesichter, der Versuch,

    den Porträtierten positiv darzustellen. Dem entnimmt man nicht unbedingt die

    furchtbare Situation, in der er sich befindet. Ich könnte mir vorstellen, weil es darum

    ging, auch ein Bildnis für die Zeit nach dem Leben, also für die Nachwelt zu erhalten.

    Sprecherin 1

    Ilka Gedó hat das Ghetto von Budapest überlebt und später als Grafikerin Weltruhm

    erlangt.

    O-Ton Walter Smerling

    Sie war ja eigentlich noch eine junge Frau, als das Bild entstand, aber sie sieht sehr,

    sehr alt aus. So eine verschwommene Gestalt, ein nicht klar erkennbares Gesicht

    „Seltsam in Nebel zu wandern, kein Mensch kennt den andern, jeder ist allein“, fällt

    einem da ein. Sie war gerade mal 23 Jahre alt, hat sich hier als alte Frau porträtiert,

    das verschattete Gesicht, die trüben Augen, die hängenden Schultern, da denkt man

    an Ermüdung, an Niedergeschlagenheit. ... 1.24 Sie hat ... diesen Stil nach dem

    Krieg weiter fortgesetzt.

  • 25

    Sprecherin 1

    In den Ghettos und Konzentrationslagern waren die meisten Künstler auf einfachste

    Mittel angewiesen.

    O-Ton Walter Smerling

    Sie haben sehr viele Bleistiftzeichnungen, wir haben natürlich überwiegend ganz

    kleine Formate, also 30 mal 20 Zentimeter oder 30 mal 40, ... man hat mit

    Kartoffelscheiben gemalt.

    Sprecherin 1

    Keines dieser Selbstporträts nimmt die Realität des Lagers auf. Keines zeigt die

    Menschen so halbverhungert, so verdreckt und erniedrigt, wie sie waren.

    O-Ton Walter Smerling

    Zum Beispiel Joseph Kowner, der macht ein Selbstporträt in einer sehr expressiven

    Sprache. Es ist 1941 in Lodz entstanden, Litzmannstadt, man sieht schon

    Traurigkeit, das Gesicht ist abgemagert, aber ... er bringt etwas Farbe ins Gesicht,

    aber das verbirgt nicht seinen traurigen Blick. Ein nachdenklicher, trauriger Blick,

    aber, wie soll ich sagen, in der Bildfläche strahlt ... so eine optimistische Apokalypse

    aus. Also, ich male heute noch ein farbiges Bild, selbst wenn morgen die Welt

    untergeht. Und das ist so stark und positiv, wie er hier mit den Farben jongliert, die

    grün und violett einerseits farbig ist und andererseits eine melancholische Stimmung

    vermittelt. ... Du siehst den Tod, du siehst die Leidenden, die Hungernden und du

    bist einer von denen und porträtierst dich jetzt in dieser Situation, aber willst deine

    positive Lebenshaltung und deinen Stolz und in gewisser Hinsicht Unabhängigkeit

    und deine Stärke zum Ausdruck bringen, aber auch die Traurigkeit , diese

    Ausweglosigkeit, in der du dich befindest. Und dieses Selbstporträt bringt das für

    mich auf intensivste Weise rüber, und zwar alleine durch den Blick der Augen. Der

    Blick sagt alles: Ich bin ein Mensch und ich habe ein Würde und die Würde ist

    unantastbar.

    Musik

  • 26

    O-Ton Dorit Schäfer

    Wenn es Zusammenhänge gibt zwischen Selbstporträt und Selfie, dann ist es der

    Wunsch des Menschen, sein eigenes Bild in die Welt zu setzen und damit auch der

    Sterblichkeit etwas entgegen zu halten. ... Jedes Selbstporträt und jedes Selfie ist ein

    Statement, ein Statement dafür, dass man in der Welt ist und sich behaupten will in

    der Welt. Und das ist etwas zutiefst menschliches, was das Selbstporträt und das

    Selfie gemeinsam haben.

    Sprecherin 1

    Kim Kardashian macht das auch neuerdings mit einem Buch. An den drei Seiten des

    Buchschnitts fällt ein grauer Mittelteil auf, in dem man normalerweise Fotos erwarten

    würde. Aber tatsächlich enthält das ganze Buch nichts als Fotos. Die grau

    gekennzeichneten Seiten sollen anzeigen, dass hier die Nacktaufnahmen platziert

    wurden. Damit kein christlich-fundamentalistischer Teenager etwas sieht, das für

    Kinderaugen nicht bestimmt ist, und die Eltern womöglich Verlag und Autorin

    verklagen.

    Montage auf Musik:

    Sprecher 1

    Kim Kardashian im kleinen Schwarzen auf rotem Teppich.

    Sprecherin 2

    Kim Kardashian mit Ehemann Kanye West und Sohn auf dem Weg zum Strand.

    Sprecher 1

    Kim Kardashian im Bad, mal mit Dessous, mal ohne.

    Sprecherin 2

    Kim Kardashian versprüht ihre neue Duftkollektion.

    Sprecher 1

    Kim Kardashian und Hillary Clinton – wer Star ist und wer Fan ist nicht erkennbar.

  • 27

    Sprecherin 1

    Etwa 50 Millionen Dollar verdient Kim Kardashian im Jahr: Mit ihren Büchern,

    Fernsehauftritten, einer eigenen Duft-Kollektion und Modeschauen. Das Feuilleton

    rümpft darüber gern die Nase. Wenn dagegen ein Selbstporträt von Gerhard Richter

    für ein paar Millionen bei Sotheby’s unter den Hammer kommt, wundert sich niemand

    mehr. Bis auf einen: Gerhard Richter. Der aktuell am höchsten gehandelte Maler hat

    die Preise für seine Werke schon mehrfach öffentlich als aberwitzig eingestuft. Kim

    Kardashian nimmt strahlend lächelnd alles, was sie kriegen kann.

    O-Ton Kani Alavi

    Ob du glücklich bist oder traurig bist, … diese beiden Dinge kannst du ohne weiteres

    nutzen. … Ich hab angefangen zu malen, mein Selbstporträt darzustellen, auf

    Leinwand, auf Papier. Für mich war früher die Voraussetzung ... die klassische

    Malerei, ... die Regelung war immer exakt beschrieben, die Proportion, die Tiefe, die

    ganze Farbkomposition und die musst du dann einhalten. Bei jedem bekannten

    Künstler war das immer so, bei Da Vinci, Rembrandt oder Michelangelo. Dann aber

    … nach 10 oder 15 Jahren hast du dann eine andere Phase. Dann willst du dich

    befreien, dann lässt du die Pinsel viel mehr schwingen. Ich brech die Regeln, ich

    nehm nicht die Farben, wie sie kombiniert werden sollten. Das mach ich nicht und

    das ist alles so ein bisschen wild. Die Farbe, das muss nicht unbedingt genau die

    Hautfarbe sein, … darüber hinaus mach ich von dieser Hautfarbe, die gewisse

    Farbtöne hat, mach ich eine völlig andere Farbe, meinetwegen dunkelblau oder

    dunkelgrün. Mit diesen Farben hat man eine neue Form geschaffen und darüber

    hinaus eine neue Stimmung.

    Und die Linien, die Konturen musst Du nicht unbedingt exakt malen. … Das ist dann

    eine andere Phase. Und dann kommst du dann nach fünf Jahren noch mal und

    versuchst, dich diesmal so modern darzustellen, dass so abstrahiert wird, dass

    keiner dich leicht verstehen kann, außer dir selbst.

    Sprecherin 1

    Auch Kim Kardashian legt beim Selfiemachen Wert auf gutes Handwerk.

  • 28

    O-Ton Kim Kardashian

    I think lighting is everything. ... Angle is everything.

    Sprecherin 1

    Auf gutes Licht komme es an. Und natürlich darauf, dass das Smartphone im

    richtigen Winkel gehalten werde, damit sich die Perspektiven nicht verschieben und

    die Proportionen nicht mehr stimmen. Sie habe sich das alles selbst beigebracht.

    O-Ton Kim Kardashian

    And a lot of it has to do with how you crop it. If you don’t like something on your body

    you just crop it.

    Sprecherin 1

    Später bei der Bildbearbeitung müsse man die Kunst des Weglassens beherrschen.

    Alles, was am Körper nicht gefällt, schneide sie einfach weg. Über allem aber steht

    für Kim Kardashian eine eherne Grundregel: Kein Selfie-Stick. Sich so eine

    Teleskopstange ans Smartphone montieren, das Gerät dann einen Meter oder noch

    weiter weg halten und per Fernbedienung auslösen, das ginge dann doch gegen die

    Berufsehre. Da entstünden dann Bildräume, die man niemals schaffen könne nur mit

    einer Armlänge Bewegungsradius. Das wäre Schummelei.

    O-Ton Noufa

    Erst mal … der Hintergrund. Ich find’s wichtig, dass der nicht so übertrieben ist, auch

    ein schöner Hintergrund ist, Felder, Wiesen. Aber dass man doch mehr auf die

    Person dann achtet. 4.20 Wenn ich zu Hause sitze und ich ein Selfie machen

    möchte, dann mach ich natürlich auch zuhause ein Selfie und geh dafür nicht extra

    raus. … Die meisten meiner Selfies sind tatsächlich mit Freunden, oder auch mit nem

    Haustier. Ne Bekannte von mir, die ist jetzt 22, die macht immer noch dieses

    Duckface. … Ich find’s nicht toll, … dieses Duckface ist so kindisch, … wenn man so

    ’ne Schnute zieht, wie so ’ne Ente eben. (lacht) Meistens lächle ich auf Selfies.

  • 29

    Mir ist es immer wichtig, dass ich einen Filter drauf habe, weil so ein Filter

    verschönert das Ganze noch mal und dann sieht man vielleicht den einen Pickel auf

    der Nase nicht und die Sommersprossen sind dann vielleicht nicht so doll zu sehen.

    Dann halt noch der Winkel, dass man das nicht von unten macht und auch nicht von

    oben, manchmal halt ich’s halt gerade, so vor, meistens auch so leicht angeschrägt.

    Oder halt, dass man nur die Hälfte des Gesichtes sieht, das machen ja jetzt auch

    alle.

    Sprecherin 1

    Was das Selfie eigentlich ist, ob Medium oder Bildgattung, ob vorübergehende

    Modeerscheinung oder kommende Kunstform, darüber streiten die Experten. Aber

    sie sind sich einig, dass das Phänomen sich weiter entwickeln und ausdifferenzieren

    wird. Es könnte noch mehr zu einem Alltagswerkzeug werden. Schon bald,

    prophezeit der Informatiker Lutz Prechelt, könnte man es nutzen, um die eigene

    Identität nachzuweisen, zum Beispiel am Geldautomaten.

    O-Ton Lutz Prechelt

    Wenn man ein Bewegtbild überträgt, als Video wäre das etwas, was recht schwierig

    zu fälschen ist, insbesondere noch, wenn gleichzeitig ein Sprachsignal kommt, wenn

    ich etwas sage, was dann lippensynchron sein muss, so dass sich das potenziell

    eignet für Authentisierungszwecke.

    Sprecherin 1

    Die lippensynchrone Botschaft wäre so etwas Ähnliches wie eine Geheimzahl oder

    ein PIN-Code.

    O-Ton Lutz Prechelt

    Wenn mein Gegenüber entsprechende Daten hat, entweder, wenn es eine Person

    ist, die mich gut genug kennt oder wenn es ein Automat wäre, der über biometrische

    Daten verfügt, also zum Beispiel die Geometrie meines Gesichts und eine

    Stimmprobe hat von mir, dann wäre die Kombination all dieser Faktoren, ein

  • 30

    bewegtes Gesicht plus gleichzeitige Stimmprobe, eine verhältnismäßig schwierig zu

    verfälschende und zu umgehende Authentisierungsmethode.

    Sprecherin 1

    Alle großen Kreditkartenunternehmen denken schon darüber nach, ob und wo sie

    Foto- oder Video-Selfies nutzen können. Amazon hat sogar schon ein

    entsprechendes Patent angemeldet. Für Kunden hätte das den Vorteil, dass sie sich

    überall identifizieren und bezahlen könnten, nicht nur dort, wo ein Automat oder ein

    Kartenlesegerät installiert ist. Sie müssten allerdings ihr Smartphone dabei haben.

    O-Ton Ai Weiwei

    I see European 19th century, 20th century. 21st century I don’t know. I think it’s very

    different century.

    Sprecherin 1

    Europa habe das 19. Jahrhundert bestimmt und auch das 20., aber was das 21.

    Jahrhundert betrifft, da hat Ai Weiwei seine Zweifel. Das werde wohl ganz anders

    geprägt werden, auch in der Kunst. Und es dürften sich Formen und Bildsprachen

    durchsetzen, die hierzulande bisher kaum anerkannt seien, pflichtet ihm Dorit

    Schäfer bei.

    O-Ton Dorit Schäfer

    Ich betrachte das Selfie als, lassen Sie uns mal Bildgattung sagen, ... die ich

    künstlerisch verwenden kann. Und die ich natürlich konzeptionell gut verwenden

    kann und zwar auf eine Art und Weise, wie ich noch keine andere Kunstgattung

    verwenden konnte, nämlich indem ich in einer Nanosekunde, übertrieben gesagt,

    mein Bild millionenfach in die Welt bringen kann. Und nicht nur millionenfach in die

    Welt, sondern auch global. ... AiWeiwei ist einer, der das Selfie tatsächlich zu einer

    künstlerischen Aussage gemacht hat. Der exzessiv Selfies von sich macht und das

    konzeptuell als autobiografische Äußerung in seinem Werk verankert.

  • 31

    O-Ton Ai Weiwei

    People would ask, why you are doing this. ... Everytime I make a move, I have to

    report to authority.

    Sprecherin 1

    Er müsse ohnehin jeden seiner Schritte in China den Behörden melden, erzählt Ai

    Weiwei, da könne er doch sein Leben auch der Öffentlichkeit zeigen, gelegentlich

    eben mit Hilfe von Selfies.

    O-Ton Ai Weiwei

    Ordinary people can’t bear this. They’d be crushed anyway.

    I think, I have a chance and I have a responsibility to speak out.

    O-Ton Dorit Schäfer

    Und zum anderen ist es so, dass seine Selfies sehr oft …künstlerisch genau

    durchkomponiert sind. Also, ... das eine Selfie, das er 2009 in Chengdou in einem

    Hotel gemacht hat, als er von der Polizei zusammengeschlagen und festgenommen

    worden ist, gemeinsam mit einem chinesischen Musiker.

    O-Ton Ai Weiwei

    The police tried to stop me and so they were beating me. I guess that is not so

    abnormal.

    O-Ton Dorit Schäfer

    Man sieht in diesem Selfie, dass er zusammen mit diesem Musiker von zwei

    Polizisten, ja, weggebracht wird und er schafft es gerade noch, mit dem Smartphone

    ein Selfie von sich zu machen. Er hält es über seinen Kopf und der Blitz erscheint wie

    ein Nimbus, wie ein Lichtschatten über ihm, man sieht die Spiegelung links und

    rechts und wenn man einigermaßen die sakrale Kunst oder die christliche Ikonografie

    der Kunstgeschichte Europas kennt, dann hat er eine Komposition gewählt, ... mit der

    er auf die Passion Christi anspielt. Er hat ein rotes T-Shirt an, das zerschlissen ist, in

    dem Löcher sind, er hat den Heiligenschein durch das Blitzlicht von dem Smartphone

    über sich, er wird von den Schergen, sage ich, von den chinesischen Polizisten, in

    der christlichen Passion waren es die Schergen, wird er begleitet, es ist eine

    Dreieckskomposition, die austariert ist.

  • 32

    Also so schnell und spontan er dieses gemacht hat, so sehr sieht man doch, dass er

    als Künstler genau wusste, in welchem Winkel er ... fotografieren musste.

    Sprecherin 1

    Für Ai Weiwei ist das Selfie wie für jeden anderen Nutzer in erster Linie ein Mittel der

    Kommunikation. Er teilt sich mit, persönlich wie künstlerisch, und unterscheidet gar

    nicht zwischen diesen beiden Bereichen. Und weil er ein politischer Mensch ist, sind

    seine Bilder eben oft auch politische Statements, umso mehr in Zeiten, in denen ihm

    die kommunistische Führung in Beijing Interviews verbietet.

    O-Ton Ai Weiwei

    If I don’t show my voice, I don’t act as I always believed and I think I’m dead already.

    Sprecherin 1

    Nach seiner Verhaftung in Chengdou fürchtete Ai Weiwei ganz real eine Zeitlang um

    seine Gesundheit und sogar um sein Leben.

    O-Ton Ai Weiwei

    I felt a headache and a pain in my head all the time. I thought I would go away and

    come to Germany for my exhibition while I feel the pain getting more severe. So I

    come to hospital and then I realize, after checking, that there is blood in my head.

    With the help of Munich University Hospital we did the surgery and it’s very

    successful.

    Sprecherin 1

    Weil seine Schmerzen immer schlimmer wurden, nachdem ihn die Polizisten auf den

    Kopf geschlagen hatten, nutzte er einen Aufenthalt in München, um sich in die

    Uniklinik zu begeben, wo ihm ein Blutgerinnsel aus dem Gehirn entfernt wurde.

  • 33

    Noch mit einer Drainage im Kopf postete er ein Selfie, auf dem er den blutgefüllten

    Schlauch zu einem Kreis verbog, so wie ihn Taucher mit Daumen und Zeigefinger

    formen, wenn sie unter Wasser anzeigen wollen, dass mit ihnen alles okay ist.

    O-Ton Dorit Schäfer

    Ich kann ein Selfie inszenieren, ich kann es auf einen bestimmten Zeitpunkt fixieren,

    ich kann es ganz bewusst in die Öffentlichkeit lancieren. ...Und dann wird das zu

    einem Kunstwerk. ... Das ist ein völlig neues Phänomen, das mit Sicherheit in der

    Kunst und gerade auch bei Konzeptkünstlern weiter bearbeitet werden wird. Da bin

    ich mir ganz sicher.

    O-Ton Kani Alavi

    Ich hab heute eins gemacht mit einem Kind. Ich hab mit ihr gemalt und dann hat sie

    gesagt, jetzt machen wir ein Foto. Und dann haben wir ein Foto gemacht. Das fand

    ich interessant, das Kind hat dadurch eine Anerkennung bekommen, mit einem

    bekannten Künstler oder nicht bekannten Künstler zusammen was gemalt hat und

    gleich hat es das festgehalten. Das fand ich ganz toll. … Sie konnte innerhalb kurzer

    Zeit ihr Kunstwerk ... an ihre ganzen Freunde verstreuen, und gleich haben es alle

    gesehen, fanden alle toll. Das ist Kunst.

    Musik

    Sprecher 2

    Hauptsache Ich – Von „Selfies“ und anderen Selbstbildnissen

    Von Regina Kusch und Andreas Beckmann

    Es sprachen: Henriette Nagel, Tristan Pütter, Bettina Kurth und Ecki Hoffmann.

    Regie: Philippe Bruehl

    Redaktion: Klaus Pilger

    Produktion: Deutschlandfunk 2016

    ENDE