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XIV. KABBALA UND KRYPTOLOGIE: BLAISE DE VIGENÈRE Über das Leben von Blaise de Vigenère (1523-1596) sind nur wenige Details bekannt. Nach einem mehrjährigen Studium an der Universität von Paris, das er anscheinend ohne Abschluß beendete, übte Vigenère eine Vielzahl unterschiedli- cher Tätigkeiten aus: Er wirkte u. a. als Diplomat, Historiker, Sekretär, Lehrer, Archäologe, Alchimist und Kabbalist. Mit fünfzig Jahren trat er als Schriftsteller und Übersetzer an die Öffentlichkeit und setzte damit die auf seinen Reisen (Ita- lien, Deutschland, Niederlande) und durch seine Lektüren gewonnenen Kenntnis- se in eigene literarische Werke um. Vigènere fertigte u. a. die erste französische Übersetzung von Torquato Tassos Gerusalemme liberata und Übertragungen der Psalmen an. 1 Als Schriftsteller interessierte er sich insbesondere für Magie, Al- chemie 2 und die Kabbala, die er in der Nachfolge des italienischen Gelehrten Giovanni Pico della Mirandola mit der christlichen Religion zu harmonisieren suchte. Zu seinen wichtigsten Quellen gehören die kabbalistische Textsammlung Sohar des Moshe ben Shem Tov de Leon (ca. 1250-1305), die Schrift De occulta philosophia von Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486-1535) und das Werk von Johannes Trithemius (1462-1516). Im Traité des chiffres spiegelt sich Vigenères Privilegierung der geschriebenen gegenüber der gesprochenen Sprache wider, die er u. a. mit der figurativ-imitativen Seite der Buchstaben be- gründet. 3 –––––––––––– 1 Vigenère übersetzte aus dem Lateinischen, dem Hebräischen, dem Alt- und Neugriechischen, dem Altfranzösischen und dem Italienischen; vgl. GORRIS (1994), S. 78, und SARAZIN (1997), S. 93. Zu Vigenères Tätigkeit als Übersetzer vgl. die Beiträge von BURIDANT (1994), CHAVY (1994) und GORRIS (1994). 2 Posthum (1618) wurde Vigenères alchemistische Schrift Traité du feu et du sel (Abhandlung vom Feuer und vom Salz) veröffentlicht. Zur Bedeutung von Alchemie und Kabbala im Werk Vigenères vgl. SECRET (1964) und MATTON (1994). 3 VIGENÈRE (1586), S. 43; vgl. auch FUMAROLI (1981), S. 34. Brought to you by | New York University Authenticated | 216.165.126.139 Download Date | 5/31/14 11:02 PM

Von der Antike bis zum Barock () || XIV. KABBALA UND KRYPTOLOGIE: BLAISE DE VIGENÈRE

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XIV. KABBALA UND KRYPTOLOGIE: BLAISE DE VIGENÈRE

Über das Leben von Blaise de Vigenère (1523-1596) sind nur wenige Details bekannt. Nach einem mehrjährigen Studium an der Universität von Paris, das er anscheinend ohne Abschluß beendete, übte Vigenère eine Vielzahl unterschiedli-cher Tätigkeiten aus: Er wirkte u. a. als Diplomat, Historiker, Sekretär, Lehrer, Archäologe, Alchimist und Kabbalist. Mit fünfzig Jahren trat er als Schriftsteller und Übersetzer an die Öffentlichkeit und setzte damit die auf seinen Reisen (Ita-lien, Deutschland, Niederlande) und durch seine Lektüren gewonnenen Kenntnis-se in eigene literarische Werke um. Vigènere fertigte u. a. die erste französische Übersetzung von Torquato Tassos Gerusalemme liberata und Übertragungen der Psalmen an.1 Als Schriftsteller interessierte er sich insbesondere für Magie, Al-chemie2 und die Kabbala, die er in der Nachfolge des italienischen Gelehrten Giovanni Pico della Mirandola mit der christlichen Religion zu harmonisieren suchte. Zu seinen wichtigsten Quellen gehören die kabbalistische Textsammlung Sohar des Moshe ben Shem Tov de Leon (ca. 1250-1305), die Schrift De occulta philosophia von Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486-1535) und das Werk von Johannes Trithemius (1462-1516). Im Traité des chiffres spiegelt sich Vigenères Privilegierung der geschriebenen gegenüber der gesprochenen Sprache wider, die er u. a. mit der figurativ-imitativen Seite der Buchstaben be-gründet.3

–––––––––––– 1 Vigenère übersetzte aus dem Lateinischen, dem Hebräischen, dem Alt- und Neugriechischen,

dem Altfranzösischen und dem Italienischen; vgl. GORRIS (1994), S. 78, und SARAZIN (1997), S. 93. Zu Vigenères Tätigkeit als Übersetzer vgl. die Beiträge von BURIDANT (1994), CHAVY(1994) und GORRIS (1994).

2 Posthum (1618) wurde Vigenères alchemistische Schrift Traité du feu et du sel (Abhandlung vom Feuer und vom Salz) veröffentlicht. Zur Bedeutung von Alchemie und Kabbala im Werk Vigenères vgl. SECRET (1964) und MATTON (1994).

3 VIGENÈRE (1586), S. 43; vgl. auch FUMAROLI (1981), S. 34.

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Französischer Text aus: BLAISE DE VIGENÈRE: Traicté des chiffres ou secrètes manières d’écrire. Paris 1586. Fol. 131-134.

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Um nun zu den Chiffren zu kommen, so hängt, wie auch bei der Schrift im allge-meinen, ihre ganze Erscheinung von drei Unterschieden ab, nämlich von der Form der Buchstaben, sodann von ihrer Ordnung, ihrem Zusammenhang und ihrer Position und schließlich von ihrem Wert und ihrer Kraft. Die Form und die Gestalt bestehen in Grundlinien und Farben, denn alle beide machen den Unter-schied aus, so als ob man ein rotes A an die Stelle eines schwarzen setzen wollte und so weiter: Hier ist nur von der Form die Rede, sowohl der Form der allge-meingebräuchlichen Buchstaben als auch der zum Vergnügen gebildeten, die sich dann auf alle erdenklichen Arten verwenden lassen; die an den Höfen geübte Pra-xis ist ungefähr diejenige, die wir oben beschrieben haben. Diese war bei den Hebräern jedoch nicht gebräuchlich, die sich in dieser Hinsicht der Buchstaben ihrer eigenen gemeinsamen und offenkundigen Sprache für alle Arten von Ge-heimschriften bedienten, die auf dunkle Weise die verborgenen Geheimnisse ihres Gesetzes

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auszudrücken strebten, dort, wo wir die Buchstaben einfach nur benutzen und sie mit den weltlichen Dingen entweihen. Sie besitzen im übrigen verschiedene Ar-ten, die sich alle von sechs Hauptverfahren herleiten: nämlich Ethbas oder Um-stellung der Buchstaben; Themurah, ihre materielle Vertauschung; Ziruph, forma-le Kombinationen und Wechsel, also wenn sie aus ihrer eigentlichen Position in eine andere versetzt werden; Ghilgul, eine Zahlenquote; Notarikon, d. h. einen Buchstaben oder eine Silbe als ein Wort betrachten und umgekehrt; Gematrie, eine Entsprechung von Maßen und Proportionen. Diese Vielfalt rührt, wie die Kabbalisten und sogar Rabbi Moyse Gerundense4 sagen, daher, daß Gott Moses das Gesetz in ungeordneten und wirren Buchstaben gegeben hat, so daß man es von allen Seiten her lesen konnte, von rechts, von links, vorwärts, rückwärts, von oben nach unten, von unten nach oben, wie schon gesagt worden ist, und sich jeder daraus einen anderen Sinn bilden konnte. Das ist die wahre Steganographie,5die Trithemius6 nachahmen wollte; nichtsdestotrotz zeigte Gott Moses die eigent-liche Lesart und den wahren Sinn, die dieser mündlich nur an die siebzig San-hedrin des geheimen Rates weitergab,7 so wie auch diese es von Hand zu Hand an andere weiterreichten. Die erste Art nun unterteilt sich in zwei weitere: die eine durch Entsprechung der Zahlen, die andere durch Metathesis8 und Umstellung von Buchstaben, Silben und ganzen Wörtern aus ihrer eigentlichen Ordnung, Ab-folge und Position heraus, woraus sich ein neuer Sinn ergibt, der im Zusammen-hang der Schrift verborgen ist. Entsprechung der Zahlen bedeutet, daß

–––––––––––– 4 Hinter diesem Namen verbirgt sich möglicherweise der berühmte jüdische Philosoph Moses ben

Maimon (1138-1204), der, auch unter dem Namen Maimonides bekannt, zu den bedeutendsten jüdischen Gelehrten des Mittelalters zählt. Nach der Eroberung Córdobas durch die Almohaden floh er mit seiner Familie nach Ägypten und wirkte als Arzt am Hof von Sultan Saladin. Sein philosophisches Hauptwerk, aus dem Vigenère hier zitiert, trägt den Titel Führer der Unschlüs-sigen (1995).

5 Steganographie (aus griech. steganos/verdeckt und graphein/schreiben): Geheimschrift, meist auf der Basis von Intexten.

6 Der gelehrte Benediktinerabt Johannes Trithemius, eigentlich Johannes Heidenberg bzw. Johan-nes Zeller (1462-1516), verfaßte neben zahlreichen anderen Werken auch ein Handbuch zur Steganographie (Steganographia, ca. 1500). Die Schriften Trithemius’ stellen eine wichtige Quelle für Vigenères Traicté des chiffres dar. Zu Trithemius vgl. SECRET (1964), S. 157-159, und CULIANU (2001), S. 235-253.

7 Der Sanhedrin (vom griech. synedrion/Versammlung, Rat) oder Hohe Rat war die oberste politi-sche und religiöse Instanz der Juden.

8 Metathese: Lautumstellung innerhalb eines Wortes oder bei etymologisch verwandten Wörtern.

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die Buchstaben zweier Wörter nach ihrem Wert dieselbe Summe ergeben, wie man es in der folgenden Tafel sehen kann. Beispielsweise die Buchstaben von hebr. Metattron9, wovon wir weiter oben gesprochen haben,10 und einer der heili-gen Namen, hebr. Sadai, ergeben jeweils 314, so daß man sie oft austauscht und ein Wort als das andere deutet.

In Nachahmung der Hebräer haben auch die Griechen ihre Buchstaben als Zahlen verwendet; damit ihr Iota, das dem Iod entspricht, ebenfalls die zehnte Stelle ein-nehmen kann, dort, wo es nur die neun ist, haben sie aus diesem Grund in ihr Alphabet den Buchstaben �"(Sigma) für die 6 eingefügt […]

–––––––––––– 9 Metattron: Name eines Engels in der jüdischen Tradtion; vgl. SCHOLEM (1965), S. 43-55. 10 VIGENÈRE (1586), S. 25f.

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Um die Tausender darzustellen, verwenden sie die Großbuchstaben in derselben Reihenfolge, woran hinreichend offenbar wird, daß sie viele Dinge von den Heb-räern übernommen haben, außer daß die Kleinbuchstaben mit einem Accent ai-gu11 versehen sind.

Ebenfalls in Nachahmung der Hebräer besitzen sie eine fast gleiche Art der A-rithmantie12 wie die zuvor besprochene, nämlich Wahrsagerei aus den den Buch-staben entsprechenden Zahlen, die nach allgemeiner Ansicht zum ersten Mal von Pythagoras13 entdeckt worden ist; seine Tradition ist nichts anderes als eine wahre hebräische Kabbalistik, die sich auf diese Passage aus dem Buch der Weisheit stützt: Omnia in numero, pondere, et mensura disposuisti:14 Dem widersprechen noch nicht einmal Aristoteles und Ptolemäus,15 die gerne zugeben, daß die Buch-staben auf geheimnisvolle Weise bestimmte Zahlen in sich tragen, daß die

–––––––––––– 11 Accent aigu: französische Benennung des Betonungszeichens Akut. 12 Arithmantie: Form der Wahrsagung aufgrund von Zahlen, die eine Person bestimmen und sich

z. B. aus ihrem Namen oder ihrem Geburtsdatum ergeben. 13 Pythagoras von Samos: griechischer Denker (um 570 v. Chr.-um 500 v. Chr.), der die Zahl als

bestimmendes Prinzip in die Philosophie einführte. 14 Du hast allem, was ist, seinen Platz zugewiesen aufgrund von Zahl, Maß und Gewicht (Buch der

Weisheit 11, 22). 15 Aristoteles (384 v. Chr.-322 v. Chr.): griechischer Philosoph; Ptolemäus (um 100-um 160):

griechischer Mathematiker und Astronom.

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Eigennamen von Personen, König- und Kaiserreichen, Städten und Republiken insgeheim etwas über ihr Los und Geschick aussagen, wie man in diesen Versen von Terenz16 sehen kann, die die praktische Anwendung zeigen:

Et nomina tradunt ita literis peracta, Haec ut numeris pluribus, illa sint minutis; Quondoque subibunt dubiae pericla pugnae, Maior numerus quà steterit, favere palmam; Praesagia lethi minima patere summa. Sic et Patroclum Hectorea manu perisse: Sic Hectora tradunt cecidisse mox Achilli.

Und sie lehren, daß Namen so in Buchstaben formatiert seien, Daß diese eine größere Zahl enthalten, jene eine geringere, Daß, wenn sie die Gefahren eines ungewissen Kampfes auf sich nähmen, Dort, wo die größere Anzahl sei, die Siegespalme winke, Die Vorzeichen des Untergangs bei der geringsten ständen. So sei Patroklos durch die Hand Hektors zugrundegegangen, So, lehren sie, sei Hektor bald danach durch Achill getötet worden.

Wenn man nämlich die Namen von zweien nimmt, die miteinander ein Duell austragen und Mann gegen Mann kämpfen wollen, so wird derjenige, bei dem die Buchstaben seines Namens der Berechnung nach diejenigen der Gegenseite über-treffen, den Sieg davontragen, wie es Hektor geschah, der Patroklos tötete und danach von Achilles getötet wurde.17 Denn die Buchstaben des Wortes εκτωρ

ergeben zusammen 1225, nämlich ε 5, κ 20, τ 300, ω 800 und ρ 100, während die von πατροκλοξ, obwohl größer in der Anzahl, nur 871 ergeben, auf folgende Weise: π 80, α 1, τ 300, ρ 100, ο 70, κ 20, λ 30, ο 70, ξ 200. Das gleiche gilt für Hektor und Achilles, denn αχ�λλευ! ergibt genau 1276, wie man an den Zahlen dieser Buchstaben sehen kann. Einige wollten daraus schlußfolgern, daß es ein schlechtes Vorzeichen für eine Ehe ist, wenn die Buchstaben des Vor- und Fami-

–––––––––––– 16 Vigenère meint hier nicht den römischen Komödiendichter Terenz, sondern Terentianus Maurus

(wahrscheinlich Ende des 2. Jhs. n. Chr.), der als Autor eines in Versen verfaßten Grammatik- und Rhetoriklehrbuches (De litteris, de syllabis, de metris) überliefert ist, das erstmals 1497 im Druck erschien. Das Beispiel findet sich auch in Etienne Tabourots ebenfalls im 16. Jahrhundert erschienenen Bigarrures.

17 Bezugspunkt ist eine von Homer in der Ilias berichtete Episode aus dem Trojanischen Krieg: Der Grieche Patroklos, Freund des Achill, nimmt in dessen Rüstung an der Schlacht teil und wird von dem trojanischen Königssohn Hektor getötet, der wiederum der Rache des Achill zum Opfer fällt.

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liennamens der Frau an Wert diejenigen des Mannes übertreffen, so als ob sie ihn beherrschen sollte; aber der Glaube daran liegt bei den Autoren, denn es handelt sich um ungewisse Dinge, die nicht immer Erfolg haben, wenn kein anderer Kunstgriff hinzukommt, wie man es an griech. Karthago und griech. Rom sieht; Karthago, das von den Römern besiegt wurde, überragt an Zahl bei weitem den Namen Rom. Das soll jedoch nicht heißen, daß es keine großen Geheimnisse und Rätsel in den Zahlen gibt, wie man es auch in Kap. 13 der Apokalypse sehen kann: Derjenige, der Verstand hat, soll die Zahl des Tieres berechnen, denn es ist die Zahl eines Menschen, seine Zahl ist 666. Wer Verstand hat, der berechne die Zahl des Tieres; denn es ist die Zahl eines Menschen, und seine Zahl ist sechs-hundertundsechsundsechzig, worauf sich genau μαομετι! oder μοαμετι! bezieht: denn μ ergibt 40, α 1, ο 70, μ 40, ε 5, τ 300, ι 10, ! 200. Andererseits ergibt das Wort #���$!, in dem sich vier Vokale und zwei Konsonanten finden, 888, gemäß diesen Versen der Sibylle:

Vier Vokale hat er und zwei Konsonanten von Ewig lebenden Engeln, die ganze Zahl erkläre ich aber, Acht Einer, ebensoviele Zehner dazu Und acht Hunderter. Denn ι macht 10, η 8, σ 200, ο 70, υ 400, ! 200, was insgesamt die oben erwähn-ten 888 ergibt.18

–––––––––––– 18 Vgl. HAUBRICHS (1969), S. 53f.

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Was die andere Art der hebräischen Ziffern anbetrifft, die auf Metathesen und Anagrammen beruht, so handelt es sich dabei um Umstellungen von Buchstaben und manchmal auch Silben. Das folgende Beispiel aus unzähligen anderen kann demonstrieren, wie es funktioniert und die seltsamen Geheimnisse offenbaren, die sich im Zusammenhang mit der heiligen Schrift, der hebräischen Sprache und den hebräischen Buchstaben zeigen, deren die anderen nicht fähig sind. Das erste Buch der Genesis, Bresit, hat sechs unterschiedliche Buchstaben, die auf die sechs Tage hinweisen, in denen Gott das ganze Räderwerk der Welt vollendete. Die ersten drei Buchstaben Bra bedeuten er erschuf; nimmt man aus dem ganzen Wort den Buchstaben beth weg, bleibt resit übrig, das heißt Anfang.

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Französischer Text aus: BLAISE DE VIGENERE: Traité des chiffres ou secrètes manières d’écrire. Paris 1586, Fol. 255-260.

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Um nun zum dritten Punkt der Chiffren zu kommen, der von der Ordnung, der Abfolge und der Position der Buchstaben abhängt, deren Bedeutung sich je nach den verschiedenen Anordnungen ändert, so werde ich hier Kunstgriffe präsentie-ren, die allein darauf beruhen; da es nicht notwendig ist, Unterschiede bei der Figur oder der Farbe zu machen, so werden die Bemerkungen alle ähnlich sein, zu Punkten, Sternen, Blättern und überhaupt allem, was es in der Natur geben mag, und außerdem allem, was sich der menschliche Geist an Fantastischem ausdenken kann. Es ist nun gewiß wahr, daß eine solche Seite wie die hier ausgebreitete nicht mehr als hundert oder hundertzwanzig brauchbare Buchstaben enthalten kann: Aber da es in wichtigen Angelegenheiten nicht darum geht, sich in der Sprache auszubreiten, sondern sich so weit wie möglich zu beschränken, kann diese Anzahl genügen, um genügend Sinn zu vermitteln. Auf jeden Fall kommt es darauf an, alles nur unter einem Vorwand, der am geeignetsten erscheint, zu wie-derholen und zu verschleiern; also etwa in seinem Brief den offenbaren Wortlaut zu benutzen: Ich schicke Ihnen Gestalt und Anordnung des Himmels wegen der und der Konstellation und ähnliche Dinge, um den Verdacht zu tilgen, daß es sich

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um Schrift handelt. Darüber hinaus gibt es denn – nach dem, was hier zu sehen ist – etwas, das dem Angesicht des Himmels in einer klaren und heiteren Nacht, ge-schmückt mit Sternen in unterschiedlichen Konstellationen und Positionen, so wie selbst die Astrologen ihre Gestirne beschreiben, mehr ähnelt? Denn man soll nur ja nicht glauben, daß sie ganz ohne jedes Geheimnis und jeden Sinn so kühn an-geordnet worden sind, wie es auch der ägyptische Rabbi Moses in Buch 2, Kap. 2019 seines Weisungsbuches schreibt: Alle diese Dinge bestehen aus einem Grund, den wir nicht kennen und weder sind sie vergebens noch zufällig, ebenso-wenig wie die Venen in den Körpern der Tiere, sondern sie sind so, daß die einen dick, die anderen fein sind und von der Absicht der Anpassung bestimmt werden. Auch bei den Nerven gibt es Verschiedenheit etc. Und doch heißt es im 147. Psalm: Er zählt die Sterne und benennt sie alle mit Namen; das heißt, daß er um ihre Zahl weiß und ihre Kräfte, Eigenschaften und Wirkungen kennt. Was bei ihrem Schöpfer gar nicht weiter ungewöhnlich ist, denn schließlich hat ein Sterb-licher wie Hipparchos20 es dennoch versucht, vermittels einiger von ihm erfunde-ner Instrumente: Er hat auch eine gottlose Sache gewagt, für die Nachwelt die Sterne zu zählen und die Sterne nach einer Regel darzulegen, und sich Instrumen-te erdacht, durch die er die Stellung und die Größe der einzelnen bezeichnete. So hat er, wie er sagt, einen zu seiner Zeit neugeborenen Stern entdeckt, der nun zu denen hinzugefügt wurde, die es vorher schon gab. Das führte ihn und einige an-dere nach ihm zu der Ansicht, daß unsere Seelen nach diesem Leben in Sterne verwandelt

–––––––––––– 19 MOSE BEN MAIMON (1995), 2, 20. 20 Hipparchos von Nikaia (um 194 v. Chr.-um 120 v. Chr.), griechischer Mathematiker und Astro-

nom, der u. a. ein Verzeichnis der Fixsterne anlegte.

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werden. Darauf kommt Mohammed am Anfang seines Korans zurück, bei der Erzählung von der schönen jungen Dame, die in den leuchtenden Tagesstern ver-wandelt wurde, nachdem die beiden Engel Aroth und Maroth ihr die Art und Weise, in den Himmel zu kommen, erklärt hatten und sie nicht wieder hinunter wollte, nachdem sie einmal dorthin gelangt war.21 Aber noch passender ist diese Passage aus dem Lukas-Evangelium 10: Freut euch aber, daß eure Namen im Himmel geschrieben sind, das heißt im Buch des Lebens. Dies wird durch die Traditionen der Mekubalisten und Magier bestätigt, die besagen, daß die ganze Natur nur ein schönes Buch und Verzeichnis ist, in dem die Wunder des Schöp-fers in schönen, gut lesbaren Buchstaben geschrieben stehen, die sogar im Him-mel lesbar sind, zumindest von denjenigen, die sie kennen. Der Herzog Pico della Mirandola macht daraus einen Artikel in der 74. seiner Fragen,22 in denen er es unternimmt, mit Relationen und Zahlen zu antworten: Ob alles am Himmel be-schrieben und bezeichnet ist – wem ist es, selbst wenn er es weiß, erlaubt zu le-sen? Und nach ihm Agrippa im 2. Buch seiner Occulta Philosophia, Kap. 51. So wird diese himmlische Schrift der Sterne bei den Kabbalisten, Chetab Malachim, Schrift der Engel genannt:23 Daher ist sie weder müßig noch zufällig; wie die Position der Figuren auf einem Schachbrett denen nichts bedeutet, die nichts da-von verstehen, wohl aber den guten Spielern, die keine Figur bewegt sehen kön-nen, ohne sofort zu begreifen, worauf es hinausläuft; ebenso ist es mit der Anord-nung der Sterne und ihren unterschiedlichen Positionen in so vielen

–––––––––––– 21 Die beiden Engel Harut und Marut werden nur in Sure 2, 102 des Korans erwähnt, doch rankt

sich eine Vielzahl von Legenden um sie, zu denen auch die oben von Vigenère wiedergegebene gehört; vgl. DER KORAN (2005), S. 92.

22 Der italienische Humanist und Philosoph Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494) veröffent-lichte 1486 eine Sammlung von 900 Thesen zu religiösen und philosophischen Fragen: PICO DELLA MIRANDOLA (1973), S. 77.

23 „Die wahren Charaktere der Himmel aber sind die Schrift der Engel, die bei den Hebräern die Schrift der Malachim heißt, mit welcher am Himmel alles geschrieben und bezeichnet ist für je-den, der zu lesen vermag.“ AGRIPPA VON NETTESHEIM (1987), S. 334. Zur verschlüsselten Stern-schrift siehe auch ERNST (2008), S. 76f.

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verschiedenen Räumen, daß es unmöglich ist, sie zu zählen; so unendlich viele Aspekte und Figuren werden auf diese Weise gebildet. Darauf bezieht sich auch, was die Kabbalisten sagen: Daß die Schrift der Engel sich in der Höhlung des Himmels befindet, die wir von hier aus sehen können, und die Schrift des aller-höchsten Gottes auf der nach außen gewölbten Rückseite, außerhalb der sinnli-chen Welt im äußeren Teil, wenn man es so nennen darf, wo die Gottheit ihren Sitz hat, auf dem Thron seines En-Soph24 oder der Unendlichkeit. Was sich kei-nesfalls an den Moses überreichten Gesetzestafeln zeigt,25 die innen und außen beschrieben und von beiden Seiten lesbar sind, denn die innere Seite ist von allen zu lesen und die äußere durch göttliche Offenbarung nur von Moses und denjeni-gen, denen der Prophet davon Mitteilung machen wollte. Hier nun zwei Beispiele für diesen Kunstgriff: Das erste ist ein sternenübersäter Himmel, der dem Thema des 19. Psalmes Ausdruck verleiht.

Die Himmel an allen Orten erzählen den Menschen von der Macht Gottes: Die große, weite Welt

Verkündet in allen Teilen Das Werk seiner Hände.

–––––––––––– 24 Ensoph: nach der Lehre der Kabbala das Eine, Absolute, dessen Kontraktion die zehn göttlichen

Emanationen (Sefiroth) hervorbrachte, aus denen wiederum die Welt entstand. 25 Vgl. Ex 31, 18.

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Jede dieser Schriften hängt im übrigen nur von der Anordnung der Sterne, der Punkte oder ähnlicher Zeichen ab, die an Stelle der Buchstaben stehen, und von ihrer Anordnung und Position; daher tut die Verschiedenartigkeit der Figuren oder der Farben nichts zur Sache. Wenn sich dies auf unzählige Art und Weise umformen läßt, so liegt das Geheimnis in dem Gitter, das man gleich sehen kann: Es besteht aus zwanzig nach unten verlaufenden Spalten und Intervallen, die der Reihenfolge nach mit Zahlen versehen sind, und aus sechzehn quer verlaufenden, die jene in 320 Quadrate oder Kämmerchen unterteilen. In ihnen sollen die Noten ihren Platz finden, die die Buchstaben darstellen, dem numerierten Alphabet auf der linken Seite und der jeweils erforderlichen Anordnung entsprechend. Weil sich in allen sechzehn Quadraten jeder der zwanzig Spalten – in den einen mehr, in den anderen weniger, in manchen überhaupt nicht – nicht mehr als fünf Noten unterbringen lassen, da es nur fünf Unterschiede der Positionen gibt, kann dieses ganze Gitterverfahren nicht mehr als hundert Buchstaben umfassen; so muß man zu Wiederholungen greifen, um zu vervollständigen, was man schreiben will. Man braucht also eine dünne Kupferplatte oder auf jeden Fall Papier, das man so markiert, wie dieses Gitter ist: alle Quadrate zum Teil leer, außer den Quadraten mit Zahlen und Großbuchstaben, so daß nur noch die Linien bleiben, um die Quadrate voneinander zu trennen. Es versteht sich, daß man zwei gleiche

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braucht, eines für sich, das andere für den Korrespondenzpartner. Dann geht man so zu Werke, daß man die Punkte derart anordnet, wie man es in diesem Quadrat sehen kann, welches die ganze Kunst offenbart, denn für das übrige gilt das glei-che.

Nämlich die Ecke links oben für den ersten Buchstaben in jedem Quadrat, so wie es hier markiert ist; die Ecke rechts oben für den zweiten Buchstaben; die Mitte für den dritten; die Ecke links unten für den vierten und die rechts unten für den fünften. Wenn dies geschehen ist, lege man das mit einem Gitter versehene Me-tallplättchen sehr genau auf einen Bogen Papier gleicher Größe und befestige es so gut, daß es sich nicht bewegt, denn dies ist von ganz besonderer Wichtigkeit. Dann markiere man im Quadrat der ersten Spalte, das dem Buchstaben entspricht, den man darstellen will, einen Punkt in der linken oberen Ecke. Um beim Thema zu bleiben: Rechts vom ersten Buchstaben, der ein L ist, setze man in dem Quad-rat, das dem E entspricht, in derselben Spalte noch einen anderen Punkt rechts

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oben; in das, welches dem S entspricht, einen Punkt in der Mitte; in dem Quadrat des C einen Punkt in der linken unteren Ecke und ein I auf der rechten Seite für den fünften Buchstaben dieser Spalte. Wenn dies geschehen ist, geht man zur zweiten Spalte und fährt auf die gleiche Weise, wie man es hier mit schwarzer Farbe in dem Gitter markiert sieht, der Reihe nach bis zur zwanzigsten fort, den Buchstaben entlang, die die verborgenen Punkte, ganz so wie man will, darstellen. Aber alles dies läßt sich genauso einfach oder noch einfacher mit einem derarti-gen Gitter ausführen, das auf Ölpapier gezeichnet ist und durch das man bequem hindurchsehen kann, um zu verschlüsseln und zu entschlüsseln. Dann ist es auch nicht notwendig, mehr als eine Linie zu markieren, wodurch man geräumigere und weniger verworrene Quadrate erhält.

So sind die als Buchstaben dienenden Punkte für das oben erwähnte Thema in einem sternenübersäten Himmel versteckt, der vorgegebenen Anordnung folgend. Falls sich hier oder auch bei dem nachfolgenden Baum ein Fehler finden sollte, nämlich, daß sie nicht unmittelbar den Buchstaben entsprechen, kann dies auf eine fehlerhafte Abbildung zurückzuführen sein, die sie nicht so gut herauszuar-

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beiten wußte, wie es nötig gewesen wäre. Das gilt auch für das Gitterwerk, das sich mit den Maßstäben der Buchdruckerkunst nur sehr schwer so exakt bilden läßt wie von Hand mit Lineal und Zirkel. Aber diese Figuren genügen, um die Art und Weise zu veranschaulichen, ähnlich wie das Modell eines Gebäudes.

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Auf dieser anderen Tafel, die die Form eines Lorbeerbaums hat, dessen Beeren als Buchstaben fungieren – die Blätter sind nur als Schmuck hinzugefügt, so als ob sie als Nullen dienen sollten – ist die Anordnung eine etwas andere, nämlich in Form eines Kreuzes, wie wir es gewöhnlich zu machen pflegen, von oben nach unten, von links nach rechts und schließlich in der Mitte, so wie es hier zu sehen ist.

Wenn die Kammern oder Quadrate etwas geräumiger wären als die des Gitters hier unten, könnte man in den vier Ecken einen Buchstaben hinzufügen, was neun für jedes Quadrat und hundertzwanzig je Seite ergeben würde. Die solcherart plazierten Beeren ergeben die drei Verse des Psalms 103:

Auf, meine Seele, lobe Gott in allen Dingen, Und alles was, in mir ruht, Lobe seinen allerheiligsten und vollkommenen Namen.

Dieser Gegenstand wird auf verborgene Weise durch den Lorbeerbaum mit seinen Früchten und Blättern ausgedrückt.

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Französischer Text aus: BLAISE DE VIGENERE. Traité des chiffres ou secrètes manières d’écrire. Paris 1586. Fol. 267-275.

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An dieser Stelle ist auf einige noch raffiniertere Kunstgriffe einzugehen, die mit der von den Kabbalisten so genannten Gematrie zusammenhängen, ein zweifellos von Geometrie herstammendes korrumpiertes Wort. Sie verstehen darunter jedoch auch die Arithmetik, ohne welche die Geometrie nicht existieren kann, ebenso wenig wie die Maße und Figuren ohne die Zahlen. Die Arithmetik, die einfacher und formaler ist, läßt sich auch ohne Geometrie betreiben, die materieller und gröber ist, wie man am Vergleich der Figuren mit den Zahlen sieht; ja, wie das Wort und die Schrift nicht ohne einen Gedanken existieren können, der ihnen vorausgeht, während der Gedanke durchaus ohne Wort und Schrift da sein kann. Es wäre vielleicht besser gewesen, diesen beiden Disziplinen gemeinsam eher den Namen der zweiten, d. h. der Geometrie, zu geben, da er modern ist, als den Na-men der ersten, also der Arithmetik, denn Platon rühmt die Geometrie so sehr im siebten

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Buch vom Staatswesen, daß er sie die Erkenntnis des Immerseienden nennt.26 An einer anderen Stelle schreibt er, darin dem folgend, was Plutarch in der zweiten Frage im achten Buch des Gelages der Sieben Weisen anführt,27 daß Gott sie be-ständig ausübt: Darauf legt er dar, daß Lykurgos28 die arithmetische Proportion aus Lakedämonien verbannt hat, um dort statt dessen die Geometrie einzuführen; durch sie zeigt er eine heftige Verwirrung in der Bevölkerung an, die sich aus einer Zahl zusammensetzt und daher die Gleichheit betrifft, in der jeder Herr ist wie die Made im Speck: Wir, die Menschen des Alltags, geschaffen, von Früchten zu leben, / (sagt Horaz), Sind wie Penelopes windige Freier und wie die Jugend / An Alkinoos’ Hof ….29 Die Geometrie betrifft den Verstand, denn sie beruht auf dem Unterschied zwischen längeren und kürzeren Linien: Dies deutet auf die Autorität hin, die die großen und edlen Leute, die Ehre, Rat und Voraussicht be-sitzen, über den wirren Haufen eines unwissenden und rohen Pöbels haben soll-ten, dessen größter Teil lasterhaft, ausschweifend, vermessen und voreilig ist und nur die Gleichheit sucht: Es gibt nichts Ungerechteres und Schädlicheres für einen Staat. Aus diesem Grund entzieht Gott sie allen Dingen, soweit [sie es zulassen und] es möglich ist, und beachtet in seinem Bereich den Wert und die Würde auf geometrische Weise, alles nach seiner Vernunft vollendend. Platon beschreibt daher mit dem Mehr und Weniger nicht nur die Materie, wie es ihm Aristoteles nachsagt, sondern auch die Formen und alle Zusammensetzungen aus beiden, entsprechend ihrem Grad an

–––––––––––– 26 Vgl. PLATON (2003), VII, 527 b. 27 Die Frage lautet bei dem griechischern Schriftsteller Plutarch (um 45-um 125): „In welchem

Verstande sagt Plato, daß Gott immer Geometrie treibe?“; vgl. PLUTARCH (1911), S. 291. Der Satz, daß Gott ständig Geometrie treibe, ist von Platon nicht überliefert; vgl. GIGON und ZIM-MERMANN (1975), S. 135; vgl. OHLY (1982), S. 1-42.

28 Lykurg(os): historisch nicht belegter Gesetzgeber von Sparta, dessen ‚Biographie’ Plutarch aus den über ihn kursierenden Legenden zusammensetzte.

29 Das Zitat stammt aus den Epistulae des römischen Dichters HORAZ (2000), I, 2.

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Substanz und Vollkommenheit. Kein Geringerer als Pythagoras hat vor ihm das gleiche mit den geraden und ungeraden Zahlen gemacht, Empedokles30 mit dem Dichten und dem Dünnen, die er unter die Urgründe faßt. In Nachahmung dazu haben die Kabbalisten mit Hilfe der bereits genannten Gematrie kunstreiche Ge-heimschriften aufgestellt, die sich einerseits auf die Zahl von Punkten und ande-rerseits die Länge der Linien stützen, die danach auf verschiedene Art und Weise verborgen werden. Aber um nicht in eine zu weitläufige Untersuchung dieser Linien einzutreten, werden wir uns hier mit acht Unterschieden begnügen, deren jeder wechselseitig als zwei Buchstaben dient. Sie unterscheiden sich durch ge-wisse kleine Zeichen und geheime Vermerke, die sich nur schwer entdecken las-sen, aus Furcht, es könne ein Verdacht über die Täuschung aufkommen. Dies versuchen wir, am meisten zu vermeiden, u. a. dadurch, daß die drei oder vier längsten Linien stellenweise gekürzt werden, mit so geringem Abstand, daß er nur zur Hälfte an den geringsten der Zwischenräume herankommt, die zwischen den Linien verbleiben, die ebenso als Buchstaben dienen wie die Linien, ihrem jewei-ligen Maß entsprechend. Das gleiche läßt sich durch Abstände zwischen den Punkten erreichen, die sich in Sternen, Dreiecken, Vierecken, Rauten, Kreisen, ähnlichen Buchstaben und überhaupt auf alle der Phantasie entspringende Weise darstellen lassen, ohne Unterschied der Figur, der Farbe oder der Position, die hier keine Rolle spielen, nur die Zahlen und die Maße. Hiervon werden wir Beispiele

–––––––––––– 30 Empedokles (5. Jh. v. Chr.), griechischer Philosoph, der das Sein auf eine Mischung der vier

Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft zurückführt.

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geben, mit deren Hilfe sich noch andere bilden lassen. Überdies besitzt diese Er-findung größere Annehmlichkeit als das zuvor erwähnte Gitterwerk, sowohl, weil es mehr Inhalt aufnehmen kann, als auch, weil ihm noch eine andere kunstvolle Art des Chiffrierens entstammt, die noch geheimer als die anderen ist und die man am wenigsten vermutet. Hier nun eine Abbildung der Linien, die als Buchstaben dienen, je nach ihrer Länge oder Kürze, die auch für die Zwischenräume bestim-mend sind.

Der Gebrauch dieser Tafel und der damit zusammenhängenden Kunstgriffe be-steht demnach darin, wie man erkennen kann, mit einem kleinen genauen Zirkel zunächst einen Punkt am Beginn der Linie, wo man derart chiffrieren möchte, zu

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markieren. Es wäre nicht schlecht, diesen Punkt ganz leicht mit Kohle zu setzen, um eine größere Geradheit zu erzielen, denn diese ist hier von besonderer Wich-tigkeit; später läßt sich der Punkt mit weicher Brotkrume wieder entfernen. Von diesem Punkt aus beginne man nun mit einem der Schenkel des Zirkels Maß zu nehmen und den anderen so weit auszustrecken, wie die Linie reicht, die als der Buchstabe dient, den man darstellen möchte: Dann messe man ebenso den Raum ab, der zwischen der ersten und der zweiten Linie entsprechend dem Buchstaben, auf den er hindeuten soll, frei bleiben muß, denn diese Zwischenräume dienen, wie bereits ausgeführt, ebenso als Buchstaben wie die Linien, mit denselben Ab-messungen. So läßt sich ein Gegenstand in einem Zug darstellen, indem man die erste Linie als ersten Buchstaben nimmt, den ersten Zwischenraum als zweiten Buchstaben, die zweite Linie als dritten, den zweiten Zwischenraum als vierten und so weiter. Oder man verfolgt den Gegenstand nur in den Linien und behält die Zwischenräume einem weiteren Sinn vor wie bei den eckigen Buchstaben mit doppelter Bedeutung. Wenn am Ende einer Linie eine Lücke bleibt, die den Buchstaben nicht darstellen kann, der dort ausgedrückt werden soll – sei es nun durch Linien oder durch Zwischenräume –, kann man einen Punkt oder ein Komma setzen, um den Korrespondenzpartner davon in Kenntnis zu setzen. Da nun aber die Buchstaben hier zu zweien miteinander verbunden sind und man sich leicht täuschen und den einen für den anderen halten könnte, läßt sich dem durch

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einen Schnitt der Linie auf folgende Weise Abhilfe verschaffen: Wenn der erste Buchstabe gemeint ist, läßt man die Linie ganz; wenn der zweite gemeint ist, schneidet man sie in der Mitte durch und läßt einen ganz kleinen Raum frei, so wie hier: . Was die Zwischenräume anbetrifft, läßt man sie ganz leer, wenn man den ersten Buchstaben meint, und wenn der zweite gemeint ist, setzt man einen kleinen Strich, der den Lücken der Linien entspricht, auf folgende Weise: . – . Es läßt sich besser erkennen an folgendem Bild, in welchem die-ser Gedanke ausgedrückt ist: Ne faites à autruy ce que vous ne voudriez qu’on vous fist [Behandle niemanden so, wie Du nicht behandelt werden möchtest].

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Anstelle der Linien kann man auch Punkte, Sterne oder ähnliche Zeichen verwen-den, wie oben schon gesagt wurde: Wenn sie den ersten der beiden Buchstaben darstellen, genügt es, ein einzelnes Zeichen zu setzen; wenn der zweite gemeint ist, muß man zwei direkt nebeneinander setzen. Diese Art des Schreibens hat als besonders geheim zu gelten, denn auf jeden Fall, auch wenn man in den Verdacht der Geheimschrift gerät, wird man annehmen, daß es die Punkte oder Sterne sind, die als Buchstaben dienen wie in den anderen zuvor, wo es der Umfang der Li-nien und der Zwischenräume ist, der diese Wirkung erzielt. Die Punkte werden nur zu dem Zweck gesetzt, sie vom Ganzen zu unterscheiden.

Alle diese Erfindungen erscheinen lächerlich, wenn sie bekannt geworden sind, aber diejenigen, die den Trick nicht kennen, halten sie für ein nicht geringes Wunder und für beinahe unbegreifbar. Von solcher Art ist der größte Teil der seltensten und auserlesensten Geheimnisse: Dies ist einer der Hauptgründe, der verhindert, daß sie enthüllt werden. Zu welchem Zweck also, könnte man nun fragen, stelle ich sie derart zur Schau? Und zu was (so könnte ich darauf antwor-ten), sollen sie gut sein, wenn sie verschlossen sind wie ein verzauberter Schatz, der niemandem Nutzen bringt? Gleichwohl ist dies eine ambivalente Frage, die unentschieden hin und her schwankt und sich sowohl zur einen als auch zur ande-ren Seite neigen kann; deshalb kann jeder nach Belieben verfahren, ganz nach seinem Gutdünken, aber davon später mehr. Indessen hier nun einige Beispiele

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mit Punkten, Sternen und anderen Arten der Verhüllung, die alle von diesen Län-gen und diesen Abmessungen abhängen. Zunächst einmal ein Beispiel mit Punk-ten und folgendem Satz: De la mesme mesure que vous mesurerez les autres, se-rez vous aussi mesurez / Wie Ihr die anderen meßt, so werdet Ihr gemessen werden. Dabei muß man wissen, daß man bei den Abmessungen vom zweiten Punkt ausgehen muß, wenn zwei vorhanden sind, um den zweiten Buchstaben anzuzeigen. Gleichwohl kann sich dies nach dem Willen und Belieben jedes ein-zelnen ändern, ebenso wie auch die Stellung der Buchstaben, die wir mit Absicht so angeordnet haben, daß die Buchstaben, die am häufigsten in der Schrift zu finden sind, durch die kürzesten Linien und Räume ausgedrückt werden, und die anderen, die seltener vorkommen, durch die längsten, damit man mehr über den Gegenstand erfährt, wenn der zur Verfügung stehende Platz geringer ist. Man könnte auch noch die Zwischenräume mit Buchstaben, Noten und Zahlen füllen, um damit einen zweiten Sinn für sich zu bilden oder den ersten in einem Zug weiterverfolgen, indem man diese Buchstaben hintereinander mit den Linien und den Zwischenräumen verbindet, um noch mehr Verwirrung zu stiften. Hier nun die Figur, die den oben angegebenen Satz enthält.

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Was die Punkte betrifft – aber dies geschieht auf anderem Wege –, so gibt es Leu-te, die sie in einer Geheimschrift aus umgestellten Buchstaben verstreuen, in der Art der lückenhaften, fragmentarischen Texte des Festus31 und anderer verstüm-melter Autoren, wie man es im folgenden sehen kann. Hinsichtlich der Buchsta-ben handelt es sich der Einfachheit halber um das zweite Alphabet auf der Seite 222 und hinsichtlich der Punkte um folgendes:

–––––––––––– 31 Sextus Pompeius Festus (2. Jh. n. Chr.): römischer Grammatiker. Seine Schrift De verborum

significatu, Auszug eines lexikographischen Werkes gleichen Titels von Verrius Flaccus, ist nur fragmentarisch überliefert.

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Nehmen wir zum Beispiel diesen Satz von Pythagoras: Ne faites rien qui vous puisse offenser [Tut nichts, was euch beleidigen könnte]. Aber Obacht: Den Punk-ten, die die zweiten Buchstaben darstellen, muß ein z vorangehen, das ans Ende der anderen Buchstaben angehängt wird, nicht zählt und zu nichts anderem dient, als zu unterscheiden, welcher der beiden Buchstaben gemeint ist: Wenn der erste gemeint ist, braucht man sie nicht: b q r . . u b q g z . . . . u q b e r . . . i c e z . . . . . d i u g g z . . e r q b g z . . f.

Aber um zu unserem Gegenstand zurückzukehren, hier noch einmal der glei-che Satz von oben: Wie Ihr die anderen meßt etc. durch Sterne verhüllt. Da sie mehr Platz einnehmen als die Punkte, muß man eine Möglichkeit finden, mit ei-nem einzigen auszukommen, ohne sie zu verdoppeln, etwa, indem man bei den Sternen für die zweiten Buchstaben den Strich in der Mitte etwas verlängert und bei den Sternen für die ersten Buchstaben alle vier Striche, die acht Strahlen erge-ben, gleich lang läßt, wie man hier sehen kann. Aber das kann auf unterschiedli-che Weise variiert werden; man kann die Sterne der zweiten Buchstaben etwas größer machen als die der ersten oder nur sechs Strahlen anstelle von acht nehmen oder auch umgekehrt oder ähnliche geheime Zeichen verwenden, die kaum auffal-len.

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Die Schrift, die nun folgt, ist mit ihren Verbindungen und Rundungen der syri-schen nachempfunden und beruht ebenfalls auf der Abmessung der Längen; gleichwohl gibt es nur vier Arten, die mittels der zusammengerollten Kreise am Ende jeder Linie jeweils auf vierfache Weise variieren können, nämlich zwei Arten von Kreisen oberhalb und zwei unterhalb der Linien, jeweils mit Punkt in der Mitte und ohne, wie man es in diesem Alphabet sehen kann.

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Im übrigen lautet das Thema der folgenden Tafel: Peu sont encor cogneuz les secrets de nature [Wenig erst sind die Geheimnisse der Natur bekannt].

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Auf dem gleichen Kunstgriff beruht diese Chiffrierung in Gestalt eines Mauer-werks aus bossierten32 Quadern in vier verschiedenen Längen, deren jede auf vierfache Weise variiert, zwei ohne Punkte und zwei mit einem Punkt in der Mit-te, mit einer Linie auf der rechten Seite oder mit zweien, wie man es bei diesem Alphabet sehen kann, bei dem die Vierecke am Ende der Linien, wo zwei Punkte sind, nur dazu dienen, diese auszufüllen.

Die folgende derart chiffrierte Figur enthält diese Wörter: Le plus fort bouleuard de tous autres est le nom du Seigneur douement inuoqué dessus nous, car il n’en faut pas abuser [Das stärkste Bollwerk von allen ist der von uns in geziemender Weise genannte Name des Herrn, denn er darf nicht mißbraucht werden]. In

–––––––––––– 32 bossieren: einen Stein grob bearbeiten.

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Nachahmung dazu lassen sich unzählige weitere Arten finden, von denen wir hier noch ein Beispiel geben, das anders verfährt.

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Man kann außerdem anstelle dieser Abmessungen, sowohl der Linien als auch der Zwischenräume, dem anderen Zweig der Gematrie folgen und Schwünge in un-terschiedlicher Zahl gebrauchen – wovon weiter oben in bezug auf Punkte schon die Rede war –, die eine große Ähnlichkeit mit einer armenischen Schrift aufwei-sen, welche reich an solchen Grundstrichen ist. Das Alphabet könnte ungefähr so aussehen: Um zwei verbundene Buchstaben unterscheiden zu können, sind die einen oben geschlossen wie m und n und die anderen unten wie ein u.

Was die Trennung der Buchstaben anbetrifft, so wird sie durch einen größeren Abstand zwischen beiden bewirkt, wie bei diesem Gegenstand zum Beispiel, der in diesen aufeinanderfolgenden Buchstaben enthalten ist: Man muß geheimhalten, was selten ist.

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Resümee

Nachdem schon in der Antike Methoden der Geheimschrift entwickelt wurden, die im Mittelalter eine starke Ausdifferenzierung erfuhren, kommt es in der Frü-hen Neuzeit, wie gerade auch das Beispiel von de Vigenère zeigt, zu einer regel-rechten Hausse auf dem Feld des kryptographischen und kryptologischen Schrift-tums. Ähnlich wie gegenwärtig in Zeiten des Internet verlangte die neue Technik des Buchdrucks mit ihren ungeahnten Möglichkeiten einer weltweiten Verbrei-tung von Informationen nach Beschränkungen und Kanalisierungen im Datenaus-tausch. Hinzu kommt in concreto der zunehmende diplomatische Schriftverkehr in den politischen Beziehungen der europäischen Nationalstaaten, der als Kataly-sator auf die Entwicklung von Geheimschriften einwirkt. Sieht man einmal von dem 1466/67 erschienenen Traktat De componendis cifris von Leon Battista Al-berti ab, in dem bereits eine bewegliche Chiffrierscheibe implementiert ist, so nimmt eine wichtige Pionierstellung in der Herausbildung von Kodierungsformen Johannes Trithemius, Abt des Klosters Sponheim und literarisch produktiver Hu-manist, ein, dessen Polygraphia 1518 und dessen Steganographia 1606 erschie-nen ist.

Eine Methode, die Trithemius33 vorführt, basiert darauf, daß in einem sonst nicht suspekten Text nur selektive Buchstaben die geheime Zweitaussage konsti-tuieren. Dieses Verfahren ist nicht absolut neu, sondern in der Technik des Notar-ikons vorgebildet, wie sie in der Trithemius bestens bekannten Kabbala praktiziert wird. Weiterhin besteht eine enge Affinität zur Gattung des Gittergedichts, in dem bestimmte Buchstaben des Basistextes einen neuen Metatext, den sog. Intext, generieren. Trithemius war schließlich ein großer Verehrer des Hrabanus Maurus, dem er eine Vita gewidmet hat, in der er auch auf den Liber de laudibus sanctae crucis Bezug nimmt.34 Es ist bemerkenswert, unter welchen besonderen Perspek-tiven Hrabanus Maurus als Schöpfer von Figurengedichten in der Renaissance rezipiert wird. Man vernachlässigt den theologischen Gehalt seines Werkes und begreift ihn als Formartisten und in gewisser Weise auch als Autorität in Fragen der Kryptographie, zumal er sich in der Nachfolge des Bonifatius auch mit diesem Gegenstand befaßt hat. Einen besonderen Typus von Kodierung stellt bei Trithe-mius die Verwendung eines Nomenklators dar, der die Buchstaben des Alphabets bestimmten semantisch aufeinander abgestimmten Wörtern zuordnet, die eine unverfängliche Aussage ergeben. In dem verschlüsselten Text steht das einzelne Wort jedoch jeweils für einen Buchstaben, der wieder Teil einer Buchstabense-quenz ist, die in toto den Geheimsinn ausformuliert.

Der Einfluß des Trithemius auf spätere geheimschriftliche Traktate ist kaum zu überschätzen. Nach Giovanni Battista della Porta, dessen Werk De fvrtis lite-rarvm notis, vvlgo’ de ziferis libri III im Jahr 1563 in Neapel erschien, ist es gera-de Blaise de Vigenère, dessen Traicté des chiffres, ov secretes manieres d’escrire(Paris 1586) sich, nicht zuletzt durch markierte Intertextualität, in die Nachfolge –––––––––––– 33 Zu Trithemius als Kryptologem vgl. STRASSER (1988), S. 29-63. 34 MPL 107, Sp. 85.

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des Trithemius einordnet.35 Zeitlich bietet der Traktat eine Brücke zu Tabourots 1588 publizierten Bigarrures, in denen eine Geheimschrift und Dichtung ver-knüpfende Kryptopoetik den Gegenstand des XXI. Buches bildet. Vigenères Aus-führungen bewegen sich, wohl stärker noch als dies bei Trithemius der Fall ist, im Bannkreis der kabbalistischen Mystik, deren Umgang mit der Thora nach sechs Methoden kategorisiert wird: drei sind kombinatorischer (Ethbas, Themurah und Ziruph), eine numerischer (Ghilgul), eine intextueller (Notarikon) und eine ge-matrischer (Gematria) Art. Als Ursache für die plurale Hermeneutik gibt Vigenère an, daß Gott Moses die Thora in einer labyrinthischen Schriftform übergeben hat, so daß man sie in alle Richtungen lesen konnte, von rechts und links beginnend, progredient und regredient, deszendierend und aszendierend mit jeweils differie-render Text- und Sinnbildung. Eben in dieser Polyphonie der Thora sieht Vigenè-re die ‚wahre Steganographie’ verwirklicht und damit das Vorbild, das Trithemius durch Chiffrierung und Dechiffrierung imitieren wollte: Durch Chiffrierung wird der Text mit einer zweiten, in der Tiefenschicht implantierten Sinnaussage aus-gestattet, während sich mittels Dechiffrierung dem Schriftkorpus dieser zweite, zur Geheimhaltung bestimmte Aussagenkomplex entlocken läßt. Trotzdem eröff-nete Gott Moses die wahre Lesart, welche er aber, wie schon bei den Pythagorä-ern als esoterische Praxis üblich, nur mündlich an die 70 Sanhedrin weitergab.

Als ein besonderes numerologisches Verfahren der Kabbala erwähnt der Fran-zose die Isopsephie, die darin besteht, daß man zwei heilige Namen oder zentrale Begriffe, deren Zahlenwert nach den Regeln der Gematrie als identisch erkannt wurde, auch semantisch aufeinander bezieht und daraus interpretatorische Schluß-folgerungen ableitet, die eine makrostrukturelle Vernetzung des gesamten im Fokus stehenden Textes voraussetzen.

Da die Griechen die Hebräer bei ihrer gematrischen Praxis nachgeahmt haben, entwickelten sie nach Vigenère auch die Arithmantie, die Wahrsagekunst aus Buchstaben, die synkretistisch mit der griechischen Zahlenontologie des Pythago-ras ebenso in Verbindung gebracht wird wie mit der jüdischen Ordo-Metaphysik in dem alttestamentlichen Buch der Weisheit (11,22). Einen speziellen Fall stellt die Onomatomantik dar, läßt sich doch aufgrund des Zahlenwerts von Personen-namen das zukünftige Schicksal der Betreffenden voraussagen, wie auch an anta-gonistischen poetischen Figuren wie Hektor und Patroklos demonstriert wird. Wenngleich Vigenère dieser numerologischen Onomatomantik keineswegs unkri-tisch gegenübersteht, unterstreicht er deren Bedeutung durch Hinweise auf die Symbolzahlen 666 in der Apokalypse (Kap. 13) und 888 in den Sibyllinen. Die gematrische Zahlendeutung unterwirft sich zugleich Metathesen und Anagram-men, d. h. greift in die Wortkörper ein, deren Buchstabenzahl entweder in Gänze gilt oder aufgespalten oder reduziert wird. So verweist das erste Wort der Genesis Bresit wegen seiner 6 Buchstaben symbolisch auf die 6 Schöpfungstage; reduziert auf die ersten 3 Lettern, bedeutet Bra kontextadäquat ‚er erschuf’; eliminiert man schließlich den ersten Buchstaben Beth, so ergibt das Restwort resit soviel wie ‚Anfang’.

–––––––––––– 35 Zu dem Verschlüsselungssystem Vigenères vgl. SCHUMAKER (1982), S. 110-126.

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Was nun die Ordnung, Abfolge und Position der in den antiken Kulturen nume-risch konnotierten Buchstaben anbelangt, so setzt Vigenère diese Faktoren mit der Konstellation der Sterne am Himmel in Verbindung und knüpft an die alten Vor-stellungen von der Himmelsschrift und vom Buch der Natur an. Bei der Himmels-schrift ist nach Vigenère nur die in der Höhlung des Himmels befindliche Schrift der Engel für die Menschen lesbar, nicht aber die göttliche Schrift auf der nach außen gekehrten Seite. Da die himmlische Schrift von der Konstellation der Ster-ne abhängt, welche ihrerseits wieder die Buchstaben repräsentieren, sind unzähli-ge Kombinationen möglich. Hier hilft nur ein bestimmtes Verfahren der Dekodie-rung, wenn man nämlich mit einem Gitter arbeitet bzw. eine Schablone auf das Ensemble der Bildzeichen projiziert. Da niemand bei solchen Himmelsbildern überhaupt nur an Texte denkt, erfolgt die Verschlüsselung effektvoll mit Hilfe von Himmelsausschnitten, in die Sterne als Stellvertreterzeichen für Buchstaben eingezeichnet sind, die durch ein Gitter in bestimmter Weise einander zugeordnet werden. Dasselbe gilt auch für arboristische Schemata, z. B. einen Lorbeerbaum, dessen Beeren via Umkodierung die Rolle von Buchstaben übernehmen. Andere Formen der ikonischen Kryptographie bedienen sich vielgestaltig graphischer Linien oder Punkte, wobei auch die Zwischenräume als Signifikanten fungieren, oder rekurrieren zur Verschlüsselung z. B. auf ein Mauerwerk aus Quadern, das bei der Code-Bildung und -Auflösung als Raster fungiert.

Wie festzuhalten ist, bindet Vigenère die Kryptologie stark an die kabbalisti-sche Mystik, legitimiert kryptographische Strategien nicht etwa mit pragmati-schen Argumenten politischer bzw. diplomatischer Notwendigkeit, sondern leitet sie aus kabbalistischen Theologumena wie z. B. der von Gott selbst verschlüssel-ten Himmelsschrift ab und verleiht ihnen damit höhere Weihen. In einer Epoche, in der viele literarische Formen zur Ikonisierung tendieren – nota bene das Fi-gurengedicht, die Hieroglyphik, der Rebus oder das Emblem – verwundert es gleichwohl, wie stark selbst die Geheimschrift bei Vigenère hin zum Bild drängt, so daß man von einer ikonistischen Kryptographie sprechen kann. Berühmt aber wurde Vigenère vor allem durch das lange Zeit als nicht-dechiffrierbar geltende sog. Vigenère-Quadrat, das auf einer polyalphabetischen Substitution basiert, die von einem Schlüsselwort gesteuert wird.

Vigenères Traktat gehörte nicht unbedingt in eine Geschichte der visuellen Li-teraturästhetik, wenn der Einfluß der Kryptographie auf die dichterische Praxis und die Poetiken der frühen Neuzeit nicht so immens groß wäre.36

–––––––––––– 36 Vgl. ERNST (2001) und (2005).

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Literaturhinweise

Ausgaben

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Referenztexte

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MOSE BEN MAIMON: Führer der Unschlüssigen. Hrsg. von JOHANN MAIER, übers. von ADOLF WEIß. Hamburg 1987.

GIOVANNI PICO DELLA MIRANDOLA: Conclusiones sive Theses DCCCC, Romae anno 1486 publice disputandae, sed non admissae. Hrsg. von BOHDAN KIESZKOWSKI. Genf 1973.

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Forschungsliteratur

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