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1Stadt St.GallenStadtplanungsamt1Stadt St.GallenStadtplanungsamt
Vo n d e r K l a u s e z u r A r e n aDie räumliche Entwicklung der Stadt St.Gallen
2
In zwölf Schritten durch 1400 Jahre
Stadtgeschichte – von der Klause zur
Arena. Prägnant bringt die vorliegende
Broschüre die räumliche Entwicklung
der Stadt St.Gallen auf den Punkt.
Das Hochtal zwischen Rosenberg und
Freudenberg / Bernegg schafft die to-
pografische Basis der Stadtlandschaft,
der feste Schuttkegel am Fuss der
Mülenen-Schlucht inmitten von Moor-
land bot Gallus einen Ort, seine Klause
auf festem Boden zu errichten und
damit den Grundstein für St.Gallen zu
legen. Das Kloster ermöglichte die
Vo r w o r tBildung einer Stadt, die Schutz, Frei-
heit und Einkommen erlaubte und
es setzte Massstäbe in der abendlän-
dischen kulturellen Entwicklung.
Leinwandveredelung, Leinwandhandel
und Stickereiindustrie liessen die Stadt
florieren und sorgten für die äusserst
gute Vernetzung St.Gallens mit der
in- und ausländischen Handelswelt.
Diese Internationalität ist auch heute
spürbar, Bildungsinstitutionen unter-
stützen die weltweite Bekanntheit.
Eine erstaunliche Entwicklung für eine
Stadt, die weder über Seeanstoss
verfügt noch an römischen Heerstras-
sen liegt. Die Mobilität beeinflusst das
Gesicht der Stadt ebenso wie die wirt-
schaftliche Tüchtigkeit ihrer Bewoh-
nerinnen und Bewohner. So ist es
nicht überraschend, dass die grössten
räumlichen Veränderungen in den
letzten 150 Jahren stattfanden und das
Gesicht der Kernstadt prägen.
Nun stehen wieder neue Herausfor-
derungen an, die mit Engagement
und Energie angenommen werden –
St.Gallen entwickelt sich weiter!
Stadträtin Dr. Patrizia Adam
B e d e u t e n d e E l e m e n t e d e r
S i e d l u n g s e n t w i c k l u n g
Zweifellos ist die Entstehung und
die räumliche Entwicklung einer Stadt
eine diffizile Sache: Klima, Gelände-
form, Verkehrsbezüge, Wirtschaft,
politische Verhältnisse etc. Diese
Komplexität zu komprimieren, in ein-
fache, aber elementare Stufen zu
gliedern, ein Destillat herzustellen, ist
deshalb eine lohnenswerte Aufgabe.
Sie vermittelt überraschende Erkennt-
nisse, die sonst unter dem Haufen von
Fakten und Daten zu ersticken drohen.
Sie führt uns immer wieder zu den
Grundlagen zurück, beispielsweise zur
Geländeform und ihrer Entstehungs-
geschichte, deren Auswirkungen sich
bis in die feinsten Verästelungen der
Räumlichkeit unserer Stadt verfolgen
lassen. Selbstverständlich braucht
es den Gründerimpuls des Menschen,
hier zu wohnen, hier zu bauen, hier
heimisch zu werden. Es brauchte den
Willen, mit den nicht immer einfachen
Bedingungen des Ortes zurecht zu
kommen.
Die nachfolgende Zusammenstellung
in zwölf Abschnitten, mit Texten und
Bildern illustriert, zeigt die räumliche
Entwicklung der Stadt St.Gallen in
einer Rückführung auf wichtige und
einprägsame Elemente. Dabei sind
auch die 1918 fusionierten, ursprüng-
lich ländlichen Gemeinden Tablat im
Osten und Straubenzell im Westen
des Stadtzentrums mitberücksichtigt.
E i n l e i t u n g
3
1H o c h t a l u n d S i t t e r b e c k e nDie meisten Beschreibungen
der alten Stadt St.Gallen beginnen mit
der «Lage im Hochtal der Steinach,
das in südwest-nordöstlicher Richtung
verläuft». Dieses «Hochtal» (ca. 660 m
über Meer) liegt parallel zum Alpstein.
Es ist das unterste und letzte einer
ganzen Reihe solcher Paralleltäler, die
wellenartig gegen den Bodensee
verebben. Die beiden begrenzenden
Hügelzüge – im Süden der Freuden-
berg, die Bernegg und die Menzlen,
im Norden der Rosenberg – öffnen
sich nach Nordosten und erlauben
einen Durchblick zum Bodensee.
Die Geländegestaltung ist im Tertiär
entstanden. Mit dem Rückzug der
Gletscher am Ende des Quartärs hat
sie einige durchaus wirksame Mo-
difikationen erhalten, die besonders
die Bodenbeschaffenheit des Tals
betreffen.
Diese Beschreibung trifft auf das
Zentrum und den Osten des heutigen
Stadtgebiets zu. Die westlichen
Stadtteile der ehemaligen Gemeinde
Straubenzell hingegen liegen in einer
völlig anders strukturierten, offeneren
Landschaft – einem Becken, durch-
zogen vom Einschnitt der Sitter. Diese
reicht von der Menzlen bis zum
Tannenberg und öffnet sich gegen
Westen ins Fürstenland (Richtung
Gossau). Der schmale Siedlungs-
bereich liegt hier nicht in einem engen
Tal sondern auf einer schmalen,
räumlich exponierteren Terrasse am
Rande eines tiefen Grabens.
U r s p r u n g
4
2S t e i n a c h u n d S i t t e r
Die Steinach ist das wichtigste
Gewässer im «Hochtal». Sie
durchbricht von Süden, von St.Geor-
gen, das parallele Talsystem mit einer
tiefen Schlucht (Mülenenschlucht).
Am Hangfuss wendet sie sich nach
Nordosten und fliesst Richtung
Bodensee, am Ende des Stadtgebie-
tes wiederum mit einer starken
Vertikalerosion (Galgentobel). Die
Stadt entstand also nicht an einer
grossartigen Wasserkulisse oder
an einer alten Handelsroute.
Die Wasserscheide zwischen der
Steinach- und der Sitterlandschaft liegt
auf der Westseite der Kreuzbleiche
identisch mit der Grenze des alten
Stadtgebiets. Als tiefer Graben ist die
Sitter wesentlich landschaftsprägender
als die Steinach. Sie zeigt einen mäan-
dernden Verlauf, der sich für die Über-
gänge der Verkehrswege, für Furten
oder Stege und Brücken besonders
eignete und grosse, fruchtbare Auen
bildete. Deshalb ist die Sitter in die-
sem Bereich nicht Grenzfluss sondern
liegt in der Mitte eines strategisch
wichtigen, früher stark befestigten
Gebietes. Ähnlich wie in der Mülenen-
schlucht bilden die spektakulären
Abbrüche im Sittergraben ein offenes
Buch der Landschaftsentwicklung,
ein geschütztes Geotop.
Eine Vielzahl von kleinen Bächen ent-
wässern die Abhänge von Rosenberg,
Freudenberg, Bernegg und Menzlen
senkrecht zum Tal. Das sind heute
noch räumlich wirksame Zäsuren im
Stadtgrundriss, geprägt durch die
begleitenden Hecken.
U r s p r u n g
5
3 K l a u s e u n d K l o s t e rDer primäre Impuls für die
Entstehung einer Siedlung in
dieser Landschaft ging von einem
ungehorsamen Mönch aus, dem heili-
gen Gallus. Statt mit seinen Mitbrü-
dern nach Italien weiterzuziehen, zog
er sich 612 oder im Frühjahr 613 in die
Einsamkeit des bewaldeten Steinach-
tals zurück und baute sich eine Klause:
gerade dort, wo die Steinach das Tal
erreicht und nach Osten weiterfliesst,
am Ausgang der Mülenenschlucht –
an einem sehr einprägsamen Ort. Um
die Klause und das Grab des Mönchs
entstand ein kulturelles, geistiges und
später auch politisches Zentrum, ein
bedeutendes Benediktinerkloster. Nach
und nach gliederte sich eine Siedlung
an. Bis ins 19. Jahrhundert entwickelte
sich das Kloster zu einer bedeutenden
Fürstabtei – mit damals einem der
grössten und bevölkerungsreichsten
Gebiet der Eidgenossenschaft.
Der Gründung der Stadt ging demnach
kein machtpolitischer Entscheid eines
Fürsten voraus (Bern, Fribourg); auch
die wirtschaftliche Nutzniessung spiel-
te vorerst keine entscheidende Rolle
(Zürich, Luzern); die Stadt entstand
auch nicht an einem wichtigen Ver-
kehrsweg (Basel, Winterthur).
Die Präsenz des ehemaligen Benedik-
tinerstifts im «Hochtal der Steinach»
ist immer noch gross. Als kulturelles
Gesamtwerk mit den wertvollen
Beständen der Stiftsbibliothek und des
Stiftsarchivs wurde es zum Weltkultur-
erbe der ersten Stunde ausgewählt.
U r s p r u n g
6
4 S t a d tDie Siedlung beim Kloster
wuchs in nördlicher Richtung
auf den trockenen Ablagerungen der
Steinach. Anfänglich liessen sich
Pilger und Handwerker nieder, dann
auch Kaufleute. Die Gassen orientie-
ren sich wie Jahrringe am Kloster-
bezirk. Auch für die Entwicklung der
kleinen Siedlung beim Kloster zur
mittelalterlichen Stadt war ein wich-
tiger Impuls notwendig: ein wirtschaft-
licher dieses Mal, der Leinwandhan-
del. Die Stadt verselbständigte sich
im Hochmittelalter und wurde freie
Reichsstadt. Innerhalb der Stadtgren-
zen gab es fortan eine reichsunabhän-
gige Abtei und eine reichsunabhängige
Bürgerschaft. Kloster und Rathaus
standen einander auch baulich gegen-
über. Nach dem Ungarneinfall Mitte
des 10. Jahrhunderts erhielt die Stadt
den ersten Befestigungsring, der dann
nach dem Stadtbrand von 1418 nach
Norden erweitert wurde.
Die Stadt reichte im ausgehenden
Mittelalter vom Hangfuss des Rosen-
bergs im Norden bis zum Hangfuss
der Bernegg im Süden. St.Gallen war
eine vergleichsweise kompakte und
dichtbesiedelte Stadt. Das Korsett
der Stadtbefestigung aus dem 15. Jahr-
hundert blieb mangels militärisch-
strategischer Bedeutung der Stadt bis
ins 19. Jahrhundert bestehen: keine
barocken Bastionen oder andere
komplexen Verteidigungsanlagen ent-
standen. Zudem wurden die feuchten
Gebiete der Talsohle – zum Bauen
ohnehin ungeeignet – wirtschaftlich
genutzt und spielten eine bedeutende
Rolle im Leinwandgewerbe.
A l t e S t a d t
7
5W e g e , F u r t e n u n d S t r a s s e nDie wichtigen Landstrassen
mieden den offenen, sumpfigen Talbo-
den und führten am Hangfuss entlang
in beide Haupthimmelsrichtungen:
nach Zürich am Fusse des Rosen-
bergs, ins Appenzeller Hinterland
entlang der Menzlen, nach Rorschach
am Abhang des Freudenbergs und
die St.Jakob-Strasse / Langgasse, am
Geländeknick des östlichen Rosen-
bergs entlang Richtung Arbon. Diese
prägnante Wegführung ist ein bedeu-
tender Faktor in der Stadtentwicklung
und bis heute räumlich wirksam als
städtebauliche Hauptachsen, als Orien-
tierungslinien für die Quartierbildung.
Dieses Netz der Landstrassen erfuhr
in den Jahren nach der Trennung
zwischen Gemeinden und Staat (1830)
einen umfassenden Ausbau. Beste-
hende Strassen wurden begradigt und
erweitert (Rorschacher Strasse und
Teufener Strasse), andere neu gebaut
(Speicher-, Martinsbrugg- und Rehe-
tobelstrasse).
Daneben gibt es wichtige Spuren älte-
rer Verbindungen, Wege, die steile Auf-
stiege nicht scheuten und möglichst
direkte Verbindungen über die Hügel
oder über den Graben der Sitter
suchten. Die bekannteste, die «Kon-
stanzer Strasse», soll auf der ganzen
Strecke nur etwa vier Kilometer
von der Luftlinie abweichen. Auf dem
Gebiet der ehemaligen Gemeinden
Straubenzell und Tablat entstanden an
den Schlüsselstellen Häusergruppen
oder Weiler, oft verbunden mit grossen
Gasthöfen und Fuhrhaltereien: Kerne
späterer Quartierentwicklungen.
A l t e S t a d t
8
6 B l e i c h e n , M ü h l e n u n d Ä c k e rDer Leinwandhandel hat die
Entwicklung der Siedlung zur unabhän-
gigen und wirtschaftlich bedeutenden
Stadt gefördert. In der Stadt wurde
das auf dem Land produzierte Leinen
verarbeitet: gewalkt, gebleicht, gefärbt,
für den Verkauf hergerichtet und ge-
handelt. Die Bleichen lagen ausserhalb
der Stadtmauern, wie Teppiche zwi-
schen den alten Strassen. Der flache
und sumpfige Talboden eignete sich
gut. Regelmässige Wassergräben für
das Bewässern des Leinens ergaben
eine besondere Landschaftsstruktur,
die später das Grundmuster für die
Parzellierung der Stadterweiterung lie-
ferte. Da diese Bleichen der Gemein-
de gehörten, war nach der Umstruk-
turierung der Wirtschaft und mit dem
zunehmenden Bedarf nach Bauplätzen
eine einheitliche Quartierplanung
möglich. Die Anlage der Bleichen hatte
direkten Einfluss auf die Entwicklung
des Stadtgrundrisses: Die Regel-
mässigkeit des Bewässerungssystems
kam dem Wunsch nach geradlinig an-
gelegten Quartieren entgegen.
Im Gegensatz zur freien Stadt waren
die Bewohner der ländlichen Gebiete
im heutigen Stadtperimeter dem Klos-
ter verpflichtet und erhielten von ihm
die Lehen zur Bewirtschaftung des
Landes. Um St.Gallen dominierte der
Getreideanbau, der die Grundver-
sorgung der Stadt sicherstellte. Allein
in Straubenzell gab es zu Beginn
der Neuzeit 37 grosse Hofgüter, deren
Erträge in den Lehenbüchern auf-
gelistet wurden. Von der günstigen
Lage am fliessenden Wasser zeugt
die verhältnismässig grosse Zahl von
Mühlebetrieben.
A l t e S t a d t
9
7Q u a r t i e r eMit der Änderung der politi-
schen und sozialen Strukturen
und dem verstärkten Wachstum der
Bevölkerung begann an der Schwelle
des 19. Jahrhunderts die Entwicklung
der Stadt ausserhalb der Befestigung:
Die neuen «Quartiere» wurden in
möglichst regelmässigen «Carrés»
geplant. Strenge Baureglemente
sorgten für ein harmonisches Gesamt-
bild und ein «städtisches Aussehen» –
als bewusst gesetzten Kontrast zur
Altstadt, die damals als staubig,
verwinkelt und altmodisch empfunden
wurde. Die regelmässig angelegten
Strassengevierte übernahmen Elemen-
te aus der Struktur der Bleichen.
Während auf der Westseite die neuen
Quartiere direkt an die Altstadt an-
schlossen und ein regelmässiges
Muster bildeten, blieben auf der Ost-
seite die Grundflächen als Allmend
bestehen, ergänzt mit wichtigen Kul-
tur- und Bildungsbauten. Die Grösse,
Dichte und Regelmässigkeit der neuen
Wohngebiete stellt die modernste
städtebauliche Quartier-Ausprägung
der damaligen schweizerischen Städte-
landschaft dar.
Ein weiterer entscheidender Schritt in
der Entwicklung ist die Erschliessung
der Abhänge des Rosenbergs und der
Bernegg. 1883 wurde die «Bestras-
sung» des Rosenbergs beschlossen.
Dieser Beschluss setzte den Impuls
zur Bebauung des Rosenbergs –
als Südhang bevorzugt mit den Villen
der neuen Unternehmerschicht,
während am Abhang gegenüber enge
Parzellen für den Bau von Arbeiter-
häusern ausgeschieden wurden.
19. J a h r h u n d e r t
10
8 E i s e n b a h nStellvertretend für die vielen
bedeutenden Infrastruktur-
leistungen des 19. Jahrhunderts, die
hier nicht alle gewürdigt werden
können, steht der Bau der Eisenbahn
(1856 eröffnet) und die technischen
Pionierleistungen wie die Über-
brückung des Sittergrabens und die
Überwindung der starken Steigung
im schwierigen Gelände des Galgen-
tobels zwischen Rorschach und
St.Gallen. Mit der Bahnlinie kommt
ein neues städtebauliches Element im
regelmässigen Siedlungsmuster ins
Spiel. Die Lage der Altstadt mit ihrer
Ausdehnung von Hangfuss zu Hang-
fuss stellte ein schwieriges Hindernis
dar, und just an der engsten Stelle
des Tales behinderte der Hügel
St.Leonhard die geradlinige Strecken-
führung. Die Eisenbahnlinie liegt
deshalb diagonal im Tal.
Mit dem Bahnhof entstand ein attrak-
tiver Gegenpol zur Altstadt mit Rat-
haus und Markt. Der Bau der Eisen-
bahn erschloss der Stickereiindustrie
die Exportmöglichkeiten und war
der bedeutendste Faktor für den wirt-
schaftlichen Aufschwung in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Bedingt durch die enge Topografie
zieht sich das Bahnareal in die Länge.
Der Güterbahnhof liegt auf einer
schmalen landschaftlichen Rinne. Das
lang gezogene Siedlungsband gegen
Westen erhält durch die Bahnhöfe
Haggen, Bruggen und Winkeln eine
attraktive Bahnverbindung zum
Zentrum.
1 9 . J a h r h u n d e r t
11
9StickereiDie wirtschaftliche Blüte zwi-
schen 1870 und 1914 führte die
Stadtentwicklung an die Grenzen.
Die Abhänge des Rosenberges und
der Bernegg wurden für die Über-
bauung erschlossen, im einen Fall für
Unternehmervillen in parkartigen
Anlagen, im andern für einfache, eng
gestellte Arbeiterhäuser. Um 1900
war das Stadtgebiet praktisch über-
baut. Es begannen Verhandlungen zur
Eingemeindung der beiden Nachbar-
gemeinden Tablat im Osten und
Straubenzell im Westen. Die Einge-
meindung wurde 1918 vollzogen.
Im Stadtbild war der Reichtum und die
Bedeutung der Stickerei auch bau-
lich deutlich spürbar: Für die besonde-
ren Bedürfnisse des wichtigsten
Erwerbszweigs etablierte sich ein
besonderer Typ von Geschäftshaus
mit einer «Pfeilerarchitektur», die
eine grossflächige Befensterung
statisch ermöglichte – Tageslicht für
Nachstickerei und Konfektionierung
der bestickten Stoffbahnen. St.Gallen
blieb Handelsstadt. An der Produktion
der Stickerei war die ganze Region
beteiligt.
Die monofunktionale Ausrichtung der
Wirtschaft wurde während der Zeit
des ersten Weltkriegs und der nach-
folgenden allgemeinen wirtschaft-
lichen Entwicklung der Stadt und ihrer
Region zum Verhängnis und bescherte
eine langandauernde Wirtschaftskrise.
Grosse Überbauungsprojekte und
wichtige Infrastrukturvorhaben ver-
schwanden in der Schublade.
19. J a h r h u n d e r t
12
An der Baustruktur in St.Fiden bei-
spielsweise ist die Bedeutung als
äbtisches Verwaltungszentrum heute
noch gut ablesbar. Um diese Sied-
lungskerne herum gruppierten sich
kleinere Weiler und Häusergruppen,
etwa «Am Bach», der Steinach, mit
wasserbezogenen Gewerbebetrieben
(St.Fiden) und frühindustriellen Pro-
duktionsstätten (St.Georgen).
Der Siedlungsbereich ausserhalb der
Innenstadt ist nicht nur ein langge-
zogenes Band, wie es auf den ersten
Blick den Anschein hat, sondern ein
lebendiges An- und Abschwellen der
Bebauung, mit grossen landschaftli-
chen und freiräumlichen Zäsuren.
Der Einfluss der wirtschaftlichen Ent-
wicklung der Stadt macht sich gegen
1900 als Verstädterungsprozess
bemerkbar, besonders deutlich in
St.Fiden an der Rorschacher Strasse.
Ein Beispiel dafür ist auch das an
der Grenze zur Stadt gelegene Quar-
tier Lachen mit einer engen Siedlungs-
struktur und einer starken Durch-
mischung von Wohnen und Gewerbe.
2 0 . J a h r h u n d e r t D i e D ö r f e r Anders als andere Städte
wie etwa Basel oder Bern
entwickelte sich St.Gallen nicht in
konzentrischen Kreisen ausgehend
von einer Kernstadt nach aussen.
Drei alte Dörfer ausserhalb der Innen-
stadt mit entsprechenden baulichen
Einrichtungen – Kirche, Kirchhof, Schu-
len, Gasthof, kleine Gewerbegebiete
– gehören seit 1918 zum Stadtgebiet:
St.Fiden, Bruggen und St.Georgen.
Ihre landschaftliche Lage und ihre po-
litische, wirtschaftliche und bauliche
Entwicklung waren unterschiedlich.
10
13
M o b i l i t ä t Herausragendes Ereignis
im Bereich Infrastruktur des
20. Jahrhunderts ist sicher der Bau
der Autobahn. Wie überall im Zuge der
steigenden Mobilität ging dem bau-
lichen Grossereignis ein sukzessiver
Ausbau des Strassennetzes voraus.
Der Bau der Stadtautobahn brachte
eine wesentliche Entlastung des inner-
städtischen Verkehrsnetzes. Der Aus-
bau des öffentlichen Verkehrsnetzes
wurde vorangetrieben.
Die Stadt expandierte in Jahren der
Hochkonjunktur ohne nennenswerte
räumliche Entwicklungsvorstellungen,
dominiert vom Dienstleistungssektor.
Nachdem in den 50er Jahren die
Lücken im Stadtgrundriss in der Art
der genossenschaftlichen Wohnsied-
lungen geschlossen wurden, verla-
gerte sich die Wohnbautätigkeit in den
60er und 70er Jahren an den Stadt-
rand im Osten (Stephanshorn, Achs-
len) und im Westen (Hinterberg, Bern-
hardswies, Engelwies).
In der Atempause der Rezession
erarbeitete die neu installierte Stadt-
planung zusammen mit der neuen
Bauordnung einen Zonenplan und ein
umfassendes Schutzkonzept für die
wertvolle Bausubstanz. Die stärkere
Verlagerung der Bautätigkeit auf Reno-
vationen und Umbauten, die Knappheit
des bebaubaren Stadtbodens erfor-
derten neue Ansätze für die räumliche
Entwicklung der Stadt. Sie lassen sich
unter dem Stichwort «Verdichtung»
subsummieren.
112 0 . J a h r h u n d e r t
14
D i e Z w i s c h e n s t a d t Auf Grund der räumlichen
Limitierung des St.Galler
Stadtgebiets durch die Topografie
mit den einschneidenden Flussläufen
und ihren stark bewaldeten Gräben
(Sitter, Goldach, Wattbach), mit den
nicht überbaubaren Abhängen der
Hügel auf der Südseite der Stadt
(Freudenberg, Bernegg, Menzlen) ist
eine ausufernde Siedlungsentwicklung
nicht möglich. Das besiedelte Stadt-
gebiet bleibt kompakt. Lediglich ein
schmales Siedlungsband im Westen
verbindet es mit eingezonten Ge-
bieten der Gemeinden Gossau und
Gaiserwald. In diesem Gemeinde-
dreieck hat sich in den letzten Jahren
eine Art «Zwischenstadt» gebildet,
bestehend aus publikumsintensiven,
grossflächigen Fachmärkten, Shop-
ping- und Freizeitzentren (Gründen-
moos und Säntispark) und Angeboten
der Autobranche. Das Fussballstadion
mit Shopping-Arena und IKEA Fach-
markt ist ein markantes Symbol für
diese Entwicklung.
Das Industrie- und Gewerbegebiet
Winkeln grenzt unmittelbar an jenes
der Gemeinde Gossau. Nicht nur hier
besteht ein grosses Potenzial für
die Entwicklung St.Gallens, auch im
Zuge der Innenverdichtung wird
sich das Erscheinungsbild von Stadt
und Region wandeln.
2 0 . J a h r h u n d e r t
12
15
N a c h w e i s e B i l d e r1–3 Höhenkurvenpläne (Vermessungsamt der Stadt
St.Gallen, Bearbeitung: Stadtplanungsamt 2015)4 St.Gallen und Umgebung, 1545, Holzschnitt, gilt
als älteste bildliche Darstellung der Stadt St.Gallen (Heinrich Vogtherr) 5 «Statt sanct Gallen und umligende Ort»,
um 1684/94; Ausschnitt (Johann Jakob Scherer zugeschrieben, Stadtarchiv St.Gallen)
6 Ansicht von Westen, «Statt St.Gallen gegen Abend», 1761, Radierung / Kupferstich, Ausschnitt (David Herrliberger, ZB, Grafische Sammlung)
7 St.Gallen, Panorama vom Freudenberg, 1896, Aus-schnitt, (Friedrich Hasselbrinck, Zentralbibliothek Zürich, Kartensammlung)
8 St.Gallen von Westen, Foto um 1886 (Stadtarchiv St.Gallen)
9 St.Gallen, St.Leonhard-Strasse «Oceanic», Post-karte um 1905 (Stadtarchiv St.Gallen)
10 St.Georgen, Ortseingang von Norden, Foto 2015, (Stadtplanungsamt)
11 Übersichtsplan 1977, St.Gallen St.Fiden, Neben- einander von Bahn und Autobahn im Stadtgrund-riss (Vermessungsamt der Stadt St.Gallen)
12 St.Gallen Winkeln, Gewerbe- und Industriezone, 2013 (Foto Hanspeter Schiess)
Inhalt: Edgar Heilig, Stadtplanungsamt
I m p r e s s u m
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