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Zeichnen der menschlichen Figur Betina Carvalho 2. Mastersemester HLA/LGK, Juli 2009

Zeichnen der menschlichen Figur · 2015. 8. 16. · 3 Gottfried Bammes, Die Gestalt des Menschen, URA-NIA Kunst und Gestaltung, 2008 4 Peter Jenny ist seit 1969 in der Lehre tätig,

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Zeichnender

menschlichen Figur

Betina Carvalho2. Mastersemester HLA/LGK,

Juli 2009

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort – Beweggründe zum Thema 3Mein Ziel mit dieser Arbeit 4Was ist einzigartig beim Zeichnen der menschlichen Figur? – Eine Sachanalyse 4Warum, wann, wie menschliche Figur zeichnen. 5

1. Die „Konturenlose Zeichentechnik“ 82. Zeichnen ab Kunstpostkarten 93. Zeichnen ab Modell 124. Das Problem der Perspektive 13

Zur menschlichen Proportionslehre 14Zusammenfassung 16Schlusswort 16Bilderverzeichnis 17Literaturverzeichnis 18Selbständigkeitserklärung 19

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«Macht es noch Sinn heute, zu Beginn des

neuen Jahrtausends und in einer Welt der Mi-

krochips, mit einem Stift und etwas Papier

kleine Figürchen aufs Papier zu bringen? Sind

es nicht naive Gemüter, die sich diesem Zeit-

vertrieb hingeben? Haben neben dem Internet

künstlerische Formen des Sehens (die nicht

den Anspruch erheben, Kunst zu sein) eine

Berechtigung?»1 So formuliert Peter Jenny eine Frage, die den Kern des Zeichenunter-richts trifft. Im Verlauf der Entstehung meiner Arbeit kam ich zum Schluss, dass ich diese Frage bedenkenlos mit einem „Ja“ beantwor-ten kann.

Es mag vielleicht Zufall sein, aber innerhalb von einem Jahr bekam ich drei Mal den Auf-trag, mit verschiedenen Gymnasialklassen die menschliche Figur zu zeichnen. Dieses Thema scheint aus mancher Sicht sehr aka-demisch und altmodisch zu sein, denn heute ist die Nachfrage nach neuen Kunstmedien und Methoden sehr prägnant. Die Lehrer sind ständig darum bemüht, auf dem neuesten Stand der Dinge zu sein. In allen Gymnasien die ich besucht habe, werden die aktuellsten Methoden einbezogen, die von computerge-nerierten Bildern zu verspielten Installationen aus „unkonventionellen“ Materialien reichen. Ausserdem bietet die Digitalkamera und die Magie von Photoshop eine vielseitige, nahe-zu grenzenlose Möglichkeit der Bilder-Pro-duktion.

Trotzdem wird figürliches Zeichnen von Hand immer noch im Unterricht angewendet und ist nicht wegzudenken von der gestalterischen Ausbildung. Geht man dabei nur einer Tradi-tion nach? Oder ist es auch eine sinnvolle, vielleicht sogar nötige Erfahrung und Berei-cherung?

1 Peter Jenny, Notizen zur Figuration, „Kindereien“, ETH Hönggerberg, Zürich, 2001

Wieso zeichnen wir Menschen?Jeder von uns hat schon mal Menschen ge-zeichnet. Zeichnungen von Menschen haben oft etwas Überraschendes, weil sie dasjeni-ge, was man sonst unbewusst sieht, verstärkt und ausdrucksvoller wiedergeben, wiederer-kennen kann. Die Zeichnungen liefern einen „Extrakt“ – das Witzige, oder das Verborgene, oder das Interpretierte. „Das Offene, Unge-naue und Angedeutete ermöglicht eine indivi-duelle Wahrnehmung; wer die angedeuteten Zeichen sieht, wird auf eigene Erfahrungen zurückgreifen müssen. Die Zeichnungen be-ginnen zu kommunizieren, sie machen uns neugierig, sie versuchen nicht zu überreden, sondern lechzen nach neuen teilnehmenden Augen, die wiederum eigene Gedanken zu entwickeln beginnen.“2

Ich kenne viele Leute, die sich nicht trauen, menschliche Figuren zu zeichnen. Es scheint ihnen wichtig zu sein, „genau“, abbildend zu zeichnen. Als Zeichner kann man hier nur schlecht die eigenen Fehler akzeptieren. Sie erreichen die Exaktheit nicht und das kann weh tun, denn der abgebildete Mensch ist nicht nur ein Objekt: Es ist eine andere Be-gegnung wenn ich einen Menschen zeich-ne als bspw. einen Tisch. Das Bewusstsein des Zeichners ist zwar beim Äusseren, bei der Form des abgebildeten Menschen. Es schwingt aber auch der Charakter des Men-schen mit, seine Stimmung, sein Stil. Die Teilnahme und Betroffenheit beim Zeichnen der menschlichen Figur ist ebenfalls sehr viel stärker. Aber sobald es einem gelingt, in ir-gend einer Form den Menschen darzustellen, in einer Form, die einen anspricht, dann ent-steht eine grosse Begeisterung und Erfüllung. Man ist stolz, etwas Komplexes, Schwieriges überwunden zu haben und man fühlt sich erfüllt von der Stimmung, die die Abbildung hergibt.

2 Peter Jenny, Notizen zur Figuration, „Das archetypi-sche Zeichnen“, ETH Hönggerberg, Zürich, 2001

Vorwort – Beweggründe zum Thema

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Mein Ziel mit dieser Arbeit

Ich verfolge mit dieser Arbeit mehrere Ziele:Ob ein Zeichner überhaupt gut zeichnen kann, wird oft an seinen Zeichnungen der menschlichen Figur gemessen. Denn man empfindet oft, wer die Form und die Dar-stellung des menschlichen Körpers erfasst, der kann möglicherweise alles andere auch zeichnen.

Offenheit für andere Herangehensweisen als die herkömmlichen ermöglicht jedoch, auch nicht-exaktes Zeichnen, nicht-„schönes“ Zeichnen gelten zu lassen. Es gibt unendlich viele Formen, wie man auf das Thema des figürlichen Zeichnens eingehen kann. Mich interessiert es, einen Weg zu erforschen, der nicht nur die begabten SchülerInnen glück-lich macht. Es wäre schön, wenn dadurch je-der einen Zugang zum figürlichen Zeichnen finden könnte – ohne Dauer-Frustration.

Meiner Meinung nach kann jede Methode nur ein „Sprungbrett“ für die Entfaltung der künst-lerischen Fähigkeiten sein. Eine Methode soll helfen, auf „Entdeckungsreise“ nach dem ei-genen Stil zu gehen. Ein weiteres Ziel ist es daher, ein kreatives, flexibles Ausdrücken zu unterstützen, Fantasie und Kreativität, Aus-druck, Spiel, Poesie und Witz des handge-zeichneten Bildes zu erwecken.

Als zusätzliches Ziel möchte ich eine Erwei-terung zum akademischen Zeichnenlernen erarbeiten. Ein Gottfried Bammes3 prägte die Zeichnenden lange mit seiner akademischen Zeichnungslehre, doch heute gibt es neue Impulse, die darüber hinaus gehen und neue Wege beschreiten, wie z.B. Peter Jenny4, der viel mehr einen Weg der Andeutung, des Ah-nens als den der vollendeten Zeichnung ver-

3 Gottfried Bammes, Die Gestalt des Menschen, URA-NIA Kunst und Gestaltung, 2008

4 Peter Jenny ist seit 1969 in der Lehre tätig, 1977 wurde er als Professor für gestalterische Grundlagen an der ETH Zürich berufen. Mit zahlreichen Veröffent-lichungen, u.a. „Bildrezepte“ machte er sich auch über die Schweiz und Europa hinaus einen Namen.

folgt. Diese neue Ausrichtung legt sich nicht fest auf naturalistische Darstellungsweisen, sondern öffnet Wege zu individuellerem Aus-druck.

Was ist einzigartig beim Zeichnen der menschlichen Figur? – Eine Sachanalyse

Vergleichen wir Zeichnen der menschlichen Figur mit dem Zeichnen von Tieren, Pflanzen, Landschaft oder Objekt/Architektur, dann kommen wir der Besonderheit des figürlichen Zeichens näher. Worauf muss man achten? Welche Elemente stehen im Vordergrund? In der Grafik auf der nächsten Seite wird dar-gestellt, wie vom einfachen Objekt über die Pflanze und das Tier bis zum Menschen eine Steigerung der Komplexität des Ausdrucks stattfindet. Jedes höhere Element beinhaltet auch die darunter liegenden, kulminierend im Menschen. Gleichzeitig nimmt die „Einmischung“ des Be-trachters zu. Je komplexer das Objekt, desto grösser die Aktivität, die Teilnahme von Be-trachter und Künstler.

Beim Mensch hat sein „Zustand“, der psychi-sche Moment, sein Befinden einen Einfluss auf die zeichnerische Darstellung. Persön-liche Empfindungen, Charme, Intimes ge-hören zum Gesamtausdruck einer Person. Darin liegt auch eine gewisse voyeuristische Faszination. Die menschliche Figur erzählt et-was, das man in sich selbst wiedererkennen könnte. Man blickt (gern?) in die persönlichen Zustände des Menschen. Da der Zeichner ebenso wie sein Modell selber Mensch ist, ist das Interesse und die anziehende Wirkung eigentlich unvermeidbar.

Um Interesse, Anerkennung und Sinn für das figürliche Zeichnen bei den SchülerInnen zu erwecken hilft es, die Unterschiede zwischen verschiedenen zeichnerischen Themen zu besprechen.

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Warum, wann, wie menschliche Figur zeichnen.

Warum:Durch das Zeichnen (sei es nun mit dem Finger im Sand oder in der Luft, sei es auf dem Papier oder mit jeder anderen denkba-ren Technik) erhalte ich viel mehr Kontrolle über die Wahrnehmung des Objekts, das ich abbilde, als wenn ich es bloss betrachte. Ich tauche gewissermassen in die Details ein, die das Objekt ausmachen: Konturen, Schat-ten, Bewegungen, Rundungen, Ausdehnung, Materialbeschaffenheit… Vom äusserlichen „betasten“ mit den Augen gehe ich dabei über zur Untersuchung und Wiedergabe der inneren Qualität. Ich „werde Blume“, in-dem ich die Blume zeichnerisch abbilde. Im

Zeichnen durchdringen, ergreifen, begreifen wir die Dinge intensiver. Das Zeichnen ist wie die eigene Handschrift: sehr individuell. Normalerweise kann kein anderer Mensch das Bild gleich aufs Papier bringen wie der Zeichner selbst. Und selbst er zeichnet kei-ne zwei Bilder identisch. Zeichnung ist etwas Lebendiges, Impulsives. Es hat mit dem Mo-ment zu tun, mit Spontanität. Wahrnehmung, Phantasie und Interpretation wandeln sich in körperliche Impulse und erzeugen Spuren auf einer Malfläche. Wahrgenommenes wird Ausdruck – Empfindungen werden zu Ausfor-mulierungen.

Die menschliche Gestalt ist sehr komplex, lie-fert die grösste Palette von Merkmalen und Informationen. Daran können verschiedene

Die Menschen haben Charme, Innigkeit, Cha-rakter, Persönlichkeit. Es sind einzigartige, nicht wiederholbare Individuen. Biographie, Geschichte, Ereignisse prägen den Ausdruck.Die Komplexität distan-ziert nicht den Zeichner/Künstler/Betrachter, son-dern sie fasziniert, weckt Interesse, Neugierde, Anteilnahme. Die Kulmi-nation aller Elemente führt zur grössten Nähe zum Objekt.

Tiere und Menschen sind nicht statisch, können jeder-zeit einen neuen Ausdruck haben. Besitzen Gefühle und Intention.Zur abbildenden Qualität kommen auch innere Ele-mente wie Gefühle und psychische Zustände hinzu. Diese bewirken eine teilnehmende Aktivität des Künst-lers.

Tiere und Menschen sind nicht statisch, können jeder-zeit einen neuen Ausdruck haben. Besitzen Gefühle und Intention.Zur abbildenden Qualität kommen auch innere Ele-mente wie Gefühle und psychische Zustände hinzu. Diese bewirken eine teilnehmende Aktivität des Künst-lers.

Pflanzen, Tiere und Menschen haben eine organische, lebendige Bewegung in der Form. Sie wiederholt sich in der Natur nicht identisch.Die Abbildung ist noch immer stark abbildend, doch kommt schon eine gewisse Empathie hinzu.

Pflanzen, Tiere und Menschen haben eine organische, lebendige Bewegung in der Form. Sie wiederholt sich in der Natur nicht identisch.Die Abbildung ist noch immer stark abbildend, doch kommt schon eine gewisse Empathie hinzu.

Pflanzen, Tiere und Menschen haben eine organische, lebendige Bewegung in der Form. Sie wiederholt sich in der Natur nicht identisch.Die Abbildung ist noch immer stark abbildend, doch kommt schon eine gewisse Empathie hinzu.

Konturen, Form, Volumen, Licht-Schatten sind ein Hauptmotiv. Alle äusserlichen Gesetzmässigkeiten geben wichtige Zeichnungsinhalte her. Die Form ist beliebig wiederholbar. Betrachter und Künstler bleiben distanziert. In der Zeichnung wird dieser Umstand in der (rein) abbildenden Qualität umgesetzt.

Konturen, Form, Volumen, Licht-Schatten sind ein Hauptmotiv. Alle äusserlichen Gesetzmässigkeiten geben wichtige Zeichnungsinhalte her. Die Form ist beliebig wiederholbar. Betrachter und Künstler bleiben distanziert. In der Zeichnung wird dieser Umstand in der (rein) abbildenden Qualität umgesetzt.

Konturen, Form, Volumen, Licht-Schatten sind ein Hauptmotiv. Alle äusserlichen Gesetzmässigkeiten geben wichtige Zeichnungsinhalte her. Die Form ist beliebig wiederholbar. Betrachter und Künstler bleiben distanziert. In der Zeichnung wird dieser Umstand in der (rein) abbildenden Qualität umgesetzt.

Konturen, Form, Volumen, Licht-Schatten sind ein Hauptmotiv. Alle äusserlichen Gesetzmässigkeiten geben wichtige Zeichnungsinhalte her. Die Form ist beliebig wiederholbar. Betrachter und Künstler bleiben distanziert. In der Zeichnung wird dieser Umstand in der (rein) abbildenden Qualität umgesetzt.

Objekt/ArchitekturPflanze/

LandschaftTier Mensch

Beim Mensch hat sein „Zustand“, der psychische Moment, sein Befinden einen Einfluss auf die zeichnerische Darstellung. Persönliche Empfindungen, Charme, Intimes gehören zum Gesamtausdruck einer Person. Darin liegt auch eine gewisse voyeuristische Faszina-tion. Die menschliche Figur erzählt etwas, das man in sich selbst wiedererkennen könnte. Man blickt (gern?) in die persönlichen Zustände des Menschen. Da der Zeichner ebenso wie sein Modell selber Mensch ist, ist das Interesse und die anziehende Wirkung eigent-lich unvermeidbar.

Das eben beschriebene mit den SchülerInnen zu besprechen und von anderen zeichneri-schen Aufgaben zu unterscheiden hilft, Interesse, Sinn und Anerkennung für das figürliche Zeichnen zu erwecken.

Warum, wann, wie menschliche Figur zeichnen.

Warum:Durch das Zeichnen (sei es nun mit dem Finger im Sand oder in der Luft, sei es auf dem Papier oder mit jeder anderen denkbaren Technik) erhalte ich viel mehr Kontrolle über die

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formale Elemente des Zeichnens wie zum Beispiel das genaue Sehen und Beobachten oder das übertragen von Volumen und Raum in Strich, Fläche oder Farbe geübt werden. Man lernt vielfältig umzuformulieren, das Ge-sehene zu abstrahieren, dreidimensionales Volumen auf das Papier zweidimensional übertragen zu können. Im Zeichenunterricht wird Objektivierung und Abstraktion gestärkt, aber auch Ausdruck, Gestaltung und Inter-pretation.

Wann:Jeder Mensch ist seiner Gestalt, seinem Aus-sehen, seiner Körperlichkeit am nächsten. Zu jeder Zeit, in jeder Altersstufe beschäftigt sich der Mensch damit. Speziell Jugendliche sind oft sehr beschäftigt mit sich selbst, insbesondere mit der Entwicklung ih-res Körpers, da in diesem Alter sehr grosse Veränderungen stattfinden. Der emotionale und persönliche Be-zug zum menschlichen Körper kann bei Tätigkeiten wie dem Zeichnen von menschlichen Figuren auf eine natür-liche, indirekte Weise angesprochen und behandelt werden. Deshalb kann es diesen jungen Menschen helfen, gewissermassen von aussen sich den Veränderungen an sich selbst zu begegnen. Die Lust nach einer be-sonderen Form von Identifizierung kann da-bei als Motivation und als Reiz für eine künst-lerische Auseinandersetzung dienen.

Wie:Bekannte „Gurus“ der akademischen Malerei wie Jeffrey Camp5, Tom Flint6 oder Jenö Barc-say7 benutzen vielfach Umrisslinien als Grund-lage, die dann weiterbearbeitet und gefüllt werden. Verständlich ist daher, dass eine üb-liche Definition von Zeichnung etwa so aussieht:

5 Camp, Jeffrey, Zeichnen lernen, Otto Maier Verlag, Ravensburg, 1982

6 Flint, Tom, Anatomie für Künstler, Gondrom, London, 2002

7 Barcsay, Jenö, Anatomie für Künstler, RVG Inter Book Verlagsgesellschaft, Stuttgart, 1996

„Nach der klassischen Auffassung betont eine Zeichnung im engeren Sinne die Umrisslinien eines Motivs. Diese Linien können mit Hilfe von weiteren Strichen (Schraffuren) ergänzt werden um einen räumlichen Eindruck zu erzeugen.“8 Linien und Konturen sind also nach dieser Auf-fassung das grundlegende Element einer Zeich-nung. Als Folge davon stützen sich gewöhnliche Zeichnungsbücher auch oft auf eine Methode des Zeichnens, die mit dem Umriss beginnt. Da-bei werden zuerst die Konturen definiert und auf eine einfache Form reduziert. Schritt für Schritt werden dreidimensionale Elemente hinzugefügt: Vertiefung, Volumen, Schattierung etc. Komplizierter ist es dann, feine Einzelheiten und Details hinzuzufügen. Meistens trifft der ungeübte Zeichner nicht gleich die richtigen

Proportionen und Formen und so beginnt ein mühsamer Kampf mit Stift und Radiergummi. Denn jede Linie definiert eine klare Aussage und wenn sie nicht haargenau platziert wird, ist die Verformung ziemlich störend. Eine in-tensive Auseinandersetzung mit der Anato-mie und die ganze Proportionslehre wäre in diesem Zusammenhang unentbehrlich, um zufriedenstellende Resultate zu erreichen. Es gibt darüber ausführliche Arbeiten von Bammes, Barcsay und Flint. (Ein Beispiel auf nächste Seite).Eine weitere Methode ist der Ansatz, mit Flä-chen statt Linien zu arbeiten. Gottfried Bam-

8 http://de.wikipedia.org/wiki/Zeichnung_(Kunst) 10.05.09

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mes benutzt eine Art „Stempelmethode“, in der erkannte menschliche Grundformen zu-sammengefügt werden, so dass durch neue Zusammensetzungen der Einzelelemente die menschliche Figur in ihren Variationen erkannt werden kann. Bestimmt ist dies eine wertvolle Übung, doch diese „Krücken-Zeich-nungsmethode“ erweist sich deutlich als be-schränkt und erfüllt noch nicht den erwarteten Anspruch beim Zeichnen der menschlichen Figur.

Mit dickem Pinsel oder breiter Kreide kann man auch flächig zu arbeiten beginnen. Es werden keine oder kaum Konturen verwen-det, die Umrisse bilden sich durch die Grenze der Flächenelemente. Diese Technik erfordert einiges an Können, da die gesetzten Elemente absolut sind. Man kann nichts verschieben, höchstens ergän-zen und erweitern. Auch ist gegenüber einer Umrisszeichnung nicht mehr viel Raum für Ausarbeitungen. Die gefüllten Räume behin-dern teilweise den Zeichner in der Verfeine-rung und Detaillierung. Die Methode eignet sich daher besser für die Malerei.

Da in der Gymnasialstufe die Zeit für Zeichen der menschlichen Figur beschränkt ist und die Schüler und Schülerinnen relativ wenig daran üben können, sollten die Ziele nicht gerade auf perfekt akademische Zeichnungen ge-richtet sein. Objektiv exakte Wiedergabe der menschlichen Figur ist anspruchsvoll und be-darf viel Übung und Erfahrung. Für den Laien können ästhetischen Erfahrungen auch um-fassend sein, wenn die Abbildungen von der Welt nicht nur „naturalistisch getreu“ sind. Der Zeichner „betastet“ die Dinge mit den Augen

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und gibt ihnen eine individuelle Aussage, die expressiver oder eindrücklicher werden kann, als die gegebene Natur selbst. Peter Jenny sagt: „Die Augen können kaum alles erfassen, sie benötigen immer Phantasie“9 Die Phan-tasie, die Kreativität, Produktion, Teilnahme, Erweiterung, Bereicherung sind auch wich-tige fördernde Elemente für die ästhetische Sensibilisierung des Individuums und wie Georg Peez erwähnt, gleichermassen wich-tig für die Stärkung der Persönlichkeit.10 Ich finde es wichtig, dass alle Schüler angstlos experimentieren und probieren, entdecken können – ohne verkrampfte Ansprüche auf scheinbare Perfektion. 1. Die „Konturenlose Zeichentechnik“

Im Folgenden stelle ich einen selbst erforsch-ten Weg, die „Konturenlose Zeichentechnik“, vor. „Konturenlos“ bedeutet dabei nicht, dass Konturen sozusagen verboten sind, sondern dass sie bloss als eines der Ergebnisse die-ser Technik im Verlauf des Zeichnens entste-hen. Es ist ein Weg, quasi aus dem Chaos heraus zu zeichnen.

Denn der Einstieg in figürliches Zeichnen soll eher befreiend und unbefangen sein. Dies wird in der konturenlosen Zeichentechnik so erreicht, dass nicht gleich mit etwas Konkre-tem begonnen wird, denn dies ist für viele ungeübte SchülerInnen sowieso kaum zu erreichen. Die Zeichnung soll nicht zuerst im Kopf entstehen, sondern im Material und aus den Hand-, Arm- und Körperbewegungen. Al-lein der Rhythmus der Linien auf dem Blatt führt zu einem reichen Hintergrund, der vie-le verborgene Bilder, Formen und Konturen enthält.

Der konkrete Vorgang sieht so aus: Mit dem Kugelschreiber wird – am besten ohne abzu-

9 Peter Jenny, Notizen zur Figuration, „Einbildungskraft“, ETH Hönggerberg, Zürich, 2001

10 Georg Peez, „Einführung in die Kunstpädagogik“, Kon-sens im Fach - der Bezug zur ästhetischen Erfahrung, Verlag W. Kohlhammer, 2008, S. 26 - 30.

setzen – in grosszügigen, ungezielten Bewe-gungen auf dem Papier herumgefahren. Dann gehen die grossen, blattgreifenden Striche langsam in kleinere Bewegungen über.Allmählich entstehen verschiedene gestalt-lose dunklere Stellen, Strichvariationen und Richtungen.

Ganz schnell ist dabei auch die Phantasie angeregt. Die Schüler und Schülerinnen be-ginnen, Figuren, Gesichter, Monster etc. in den Bildern zu entdecken, die ständig ver-schwinden und neu entstehen.

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Mit ein paar deutlichen Eingriffen kann man sie präzisieren und erweitern. Allerdings be-steht die Gefahr, dass man auf keine klare ästhetische Form mehr achtet. Es herrscht vorerst deutlich eine spielerische, witzige Ar-beitsstimmung. Und die Ergebnisse sind nicht unbedingt „Werke“ die man gross ausstellen möchte.

Hier ist keine Farbigkeit gefragt, es müssen eher Hell/Dunkel-Spiele oder Verdichtungen wahrgenommen werden. Der Kugelschreiber, im Vergleich zu Filzstift, fliesst besser. Blei-stift zeichnet zu schwach, Kreiden und Kohle haben nicht immer dieselbe Strichintensität und tendieren zu Flächenzeichnungen. Mit dem Kugelschreiber ist die Konzentration vie-ler gleichartiger Striche an einem Ort – und nicht durch Druck oder Farbmenge – eigent-lich eine sehr lustige, wirksame zeichnerische Erfahrung.

Weisses Papier, z.B. Grösse A3, ist sehr geeignet. Grosse freie Bewegungen sind so ausführbar, es gibt die Möglichkeit, helle Bereiche auszusparen und dunkle Bereiche intensiver zu bearbeiten. Am grossen Blatt kann man länger und differenzierter auspro-bieren.

2. Zeichnen ab Kunstpostkarten

Selbstverständlich gehört zum Zeichen der menschlichen Figur die Auseinandersetzung mit der menschlichen Figur. Gliedmassen, Proportionen, Positionen, Volumen sind eini-ge Stichwörter zum Thema. Alle diese Punkte treten gleichzeitig auf und stellen hohe An-sprüche an den Zeichner.

Begonnen ha-ben wir damit, eine Fotogra-fie oder einen Kunstdruck ab-zuzeichnen. Hier ist der grösste Teil der Abstrak-tion schon ge-schehen, man muss nur noch „nachmachen“, „kopieren“. Die abstrahierte Version des Drucks verrät, wie der Papierbogen „funktioniert“, auf dem ge-arbeitet wird, wie Volumen in Flächen „über-setzt“ werden können, denn die zweidimen-sionale Abbildung ist bereits vollzogen. Das Bildobjekt ist schon in Formen, die im Prinzip nur noch dunkle und helle Flächen bilden, aufgelöst.

Ich habe für meine Schüler mehrere Kunst-postkarten von Skulpturen in schwarzweiss ausgesucht und verteilt. Hautpsächlich ging es mir dabei um das Erleben und Beobach-ten des Flächenhaften und der Hell/Dunkel-Elemente. Daneben ergab sich natürlcih auch ein kleiner Einblick in die Kunstgeschichte.

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Fotografien aus Zeitschriften waren mir zu bunt (zu schwierig für den Beginn), ausser-dem zu sehr auf Ausschnitte beschränkt. Für den Beginn war mir wichtig, dass man die ganze menschliche Figur aufnehmen kann.

Die Übung mit den Postkarten sieht folgen-dermassen aus: Man beginnt zuerst, wie vorhin beschrieben wurde, mit dem Kugel-schreiber – am besten ohne abzusetzen – in grosszügigen, ungezielten Bewegungen auf dem Papier herumzufahren. Dann überträgt

man aus dem grossen, blattgreifenden Strich, die ganze Länge der Postkartenfigur auf das eigene Bild. Langsam in kleinere Bewegun-gen konzentrierend „teilt“ man die Figur in Kopf und Körper. Danach wird der Hüftbe-reich betont. Mit derselben Technik wie vorhin werden die dunklen und hellen Flächen von der Kunstpostkarte auf das Blatt übertragen. Die Zeichnungsbewegungen sollen immer sehr fliessend und unbeschwert bleiben. Die Konturen dürfen ständig neu definiert wer-den und sollen nicht festgelegt sein und zu

schnell übertönen. Man versucht sogar, sie zu „vergessen“ und akzentuiert nur dunkle Flecken und Formen. Man kann sehr lange und ausführlich daran arbeiten. Durch inten-sives Zeichnen kann ein Bereich sogar ganz zugedeckt schwarz werden, bspw. der Hinter-grund, damit das Objekt „im Licht steht“.

In den schon eingangs erwähnten Praktika habe ich erlebt, dass die SchülerInnen, je länger sie zeichneten, mehr und mehr Wand-lungen und Lebendigkeit entstehen liessen.

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Manche trauten sich, vollkommen dunkle Motive oder Umgebungen zu gestalten, und dies beschränkte sich nicht auf Konturen. Es handelt sich hier um einen sehr ungewohnten Vorgang bei Jugendlichen, da Zeichnungen selten mit dunklen Strichen bedeckt sind. Ex-treme Beispiele wiesen nur noch kleine Licht-flecken auf, bspw. an einem Arm oder einem Bein. Das war für mich ein Schlüsselerlebnis, dass diese Technik den Schülern grösstmög-liche Freiheit gibt. Die Angst vor zeichneri-schen Fehlern verschwand, auch wenn die Abbildungen nicht genau waren.

Bildbeispiele aus dem Unterricht

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| Bild Nr. 17|

| Bild Nr. 18|

| Bild Nr. 16|

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| Bild Nr. 21|

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Nun wagt man den Schritt, direkt ab Men-schenmodellen zu zeichnen. Die entwickelte Zeichnungstechnik von vorher soll nun die weiteren Übungen unterstützen. Man beginnt mit einem in ein grosses Tuch gehüllten, ste-henden Modell. Der Vorteil daran ist: Man sieht vereinfacht die groben Proportionen des Men-schen. Die Verhältnisse zwischen Kopfgrösse zu Körperlänge und -breite können zeichne-risch geübt werden. Die Hüfthöhe ist dabei auch schon ein deutlicher Anhaltspunkt.

Das muss man nicht präzis bearbeiten. Eher kurz, dafür mehrfach, das heisst, mehrere Modelle aus verschiedenen Perspektiven und Stellungen zu zeichnen, am besten auf dem-selben Blatt Papier. So hat man am Schluss etwa zehn bis zwölf Figuren auf einem Blatt.

Nach und nach, von Übung zu Übung, wird das Modell enthüllt. Zuerst vielleicht ein Arm, dann Kopf, ein Bein etc. bis die Person ganz sichtbar wird.

3. Zeichnen ab Modell

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| Bild Nr. 22|

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Der Schwierigkeitsgrad wird weiter gesteigert mit der Veränderung der Position z.B. sitzend. Später auch liegend, kauernd, verknäuelt, oder aktiv, etc.

4. Das Problem der Perspektive

Aufgrund der räumlichen Verhältnisse sitzen die Zeichnenden oft sehr nah am Modell. Da-raus entstehen schwierige Perspektiven, de-ren Verzerrung schwer zu erkennen ist. Um dies besser wahrnehmen zu können, habe ich die folgende Übung dazu genommen:Mithilfe einer Videokamera, die direkt an ei-nen Beamer angeschlossen ist, wird ein Mo-dell ganz aus der Nähe mit einem Weitwinkel-objektiv auf ein grosses Papier projiziert. Ein Schüler zeichnet nun mit einem sehr dicken Filzstift alle m ö g l i c h e n Konturen nach. Das können Körperkontu-ren sein, aber auch Kleider-falten oder Hintergrund-objekte. Wenn die Videopro-jektion abge-schaltet wird, sieht man die Verzehrungen noch besser, und dass im Zeichnen die Proportionen sehr relativ sind, (im Gegensatz z.B. zum Modellieren, wo die Proportionen in der Regel absolut sind).

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| Bild Nr. 26|

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Das Problem der menschlichen Proportio-nen wird hier absichtlich gegen Schluss the-matisiert. Im Zusammenhang mit der kontu-renlosen Zeichen-Technik hat sich gezeigt, dass die Kenntnisse über die menschlichen Proportionen erst nach einigen Übungen notwendig und interessant sind. Zu Beginn kann man beim Beobachten eines Modells natürliche Formen intuitiv aufnehmen. Erst wenn die anfänglichen Schwierigkeiten beim zeichnerischen Umsetzen des Beobachteten auftreten, werden die Merkmale und Verhält-nisse des menschlichen Körpers studienreif.

Die meisten Zeichnungsschulen machen es aber umgekehrt: Sie geben die „mathemati-schen“ Angaben zu Beginn, als Vorausset-zung zum Zeichnen.11 Doch intellektualisierte Schemata beschränken die spontanen zeich-nerischen Impulse. Sie sind tendenziell nicht freilassend und kreativ, weil sie sehr prägend sind. Trotzdem sind sie sehr lehrreich. Bei-spiele aus der Kunstgeschichte enthalten auch Informationen über die Wahrnehmung der menschlichen Proportionen. Nicht je-des Beispiel ist für das Zeichnen ein Vorbild. Dennoch ist es wertvoll, sie zu untersuchen, weil sie den Blick erweitern und Ansichten der künstlerischen Impulse der jeweiligen Epoche erläutern.

Ein paar kurzgefasste Beispiele: Die Höhe der ägyptischen Figur war 18 Mal das Mass des mitt-leren Fingers,12 oder die griechische Skulptur, die eine Grösse von 7 1/2 Kopflängen aufwies.13

11 Dazu gehören die vielen Zeichenbücher, die einem akademischen Stil nachstreben. Ein gutes Beispiel: „Zeichnen und Malen“ von Brian Bagnall, Falken-Verlag Gmbh, 1993, S. 94 - 109

12 Hathor und Amenophis III., aus dem Grab des Königs in Theben-West (18. Dynastie, ca. erste Hälfte 14. Jh.v.Ch.)

13 Skulptur von Polyklet, der „Speerträger“, 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts v.Ch.

Im Mittelalter dienten die menschlichen Pro-portionen als Mass für den Bau von Ka-thedralen14 und die-se Zuwendung zum Geist ig-Gött l ichen kehrte die Plastik und Skulptur von natura-listischen Darstellun-gen prägnant ab.

In der Renaissance machte Leonardo da Vinci aufschlussreiche Bilder zu den menschlichen Proportionen und brachte u.a. das Verhältnis zwischen Körper- und Armlänge in ein Quadrat und das Verhältnis zwischen Gliedmassen und Körpermitte in einen Kreis hinein.15

14 Kirchengrundriss nach menschlichen Proportionen, Ende 15. Jh., nach Francesco di Giorgio Martini.

15 Leonardo da Vinci, Proportionen der menschlichen Figur, 1485 - 1490. Federzeichnung, 34 x 24 cm. Gal-leria dell‘ Academia, Venedig.

Zur menschlichen Proportionslehre

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| Bild Nr. 29|

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Page 15: Zeichnen der menschlichen Figur · 2015. 8. 16. · 3 Gottfried Bammes, Die Gestalt des Menschen, URA-NIA Kunst und Gestaltung, 2008 4 Peter Jenny ist seit 1969 in der Lehre tätig,

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Dieser Bezug des Kör-pers zu geometrischen Elementen wurde in mys-tischen Kreisen schon immer sehr ernst genom-men. U.a. der Goldene Schnitt wurde vielerorts bewusst eingesetzt.16

Selbst im 20. Jahrhun-dert stützte sich Le Cor-busier auf das Prinzip des Goldenen Schnitts, welches er den Propor-tionen seiner Wohnbau-ten zugrunde legte.17

Dazu noch die Beiträge von Gottfried Bammes,

Tom Flint, Jeffrey Camp, John Rynes, Jenö Barcsay u.a. die eine wichtige Stellung in der akademischen Zeichnungsmethode beka-men.

Bammes liefert eine reiche Forschung zu allen Inhalten des figürlichen Zeichnens: Skelett, Mus-kelbau, Aktivitäten, Körperpositionen, Kleidung, etc. Dies gibt einen umfassenden Überblick über die Gesetzmässigkeiten des Körpers.Aus alldem habe ich folgende grundsätzliche

16 Der Mensch ist im Ganzen, wie in seinen Teilen in der Sext, also in der Proportion 5:8 gegliedert. Gleichzeitig tritt das Fünfeck als Erkennungszeichen des Goldenen Schnittes auf.

17 Le Corbusie „Der Modulor“, 1951. Le Corbusier hat dabei für die Körpergrösse von 1,829m Massreihen errechnet, die er in seiner Wohnbauten einfliessen lies.

Angaben zu den Proportionen zusammenge-fasst und für die weiter oben beschriebenen Zeichnungsübungen verwendet. Diese Ver-hältnisse können natürlich individuell ergänzt und erweitert werden, je nach Anforderung und Fähigkeit der SchülerInnen:

Folgende Verhältnisse werden im Unterricht direkt am eigenen Körper erfahren und ge-messen.

Die Hüfte als Mitte zur Körperlänge- Das Verhältnis 1:7 zwischen Kopf und -

KörperDas Verhältnis 1:1 zwischen Körperlänge -

und Länge der ausgestreckten ArmeDas Verhältnis 1:1 für Hand und Gesichts- -

längeDas Verhältnis 1:1 für Fuss und Kopflänge- Das Verhältnis 1:1 für Schulterbreite und -

Oberarm

Die genannten Angaben enthalten aber nur ungefähre Masse. Keine Länge ist exakt; man entwickelt eher ein „Gefühl“ für harmonische Zusammenhänge. Denn man soll nicht ver-gessen, dass die perspektivische Verzerrung ein kostbares Element der Zeichnung ist. Ein anderer wichtiger Punkt ist, dass kein Mensch dem anderen gleicht – sie sind keine Serien-Puppen. Der Unterschied zwischen Mann und Frau, Jung und Alt, Europäer, Asiaten, Afrika-ner, zwischen Familien, Geschwistern und in-dividuellen Typen kann auch eine Zeichnung bereichern. Und nicht zuletzt sollte man ge-rade beim Zeichnen viel mehr Interpretation,

sehr viel mehr „ei-gene Handschrift“ erlauben.

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Zusammenfassung

Der menschliche Körper bietet eine ausge-sprochene Vielfältigkeit an Form, aber auch an individuellen „Zuständen“ und Möglich-keiten. Figürliches Zeichnen ermöglicht das Kennenlernen des komplexen menschlichen Körpers und dessen Ausdruckskraft. Es fusst auf dem Vertrautesten und Nahesten eines Menschen, das trotzdem nicht begreifbar zu sein scheint. Verborgenes, Intimes, Indviduel-les erlauben einen witzigen, voyeuristischen, phantasievollen Blick.

Zeichnungen leben sehr stark in der Skizzen-haftigkeit. Ihre Genialität liegt in der Sponta-nität. Sie haben nicht den Anspruch, „perfekt“ oder „steril“ zu sein. Sie sind impulsiv – da sie nie genau vorgeplant werden können; und sie sind einmalig – wie die Handschrift einer Per-son. Mit einer „Konturenlosen Zeichentech-nik» der menschlichen Figur werden diese wichtigen Elemente konsequent unterstützt. Die Methode und der Aufbau der Zeichnun-gen beruhen auf unbeschwerten, locke-ren Strichen, die anfänglich gar keine klare Form hergeben müssen und nur allmählich sich „kristallisieren“, bis Konturen, Volumen und Schattierungen präzis hervortreten. Die Formen und Proportionen werden nach und nach präziser ausgearbeitet.

Schlusswort

Im Zentrum dieser Arbeit steht der Wunsch, eine Aktivität zu unterstützen, die Bewegung und Offenheit im kreativen Prozess ermög-licht. Ich möchte eine „Zeichnung der Gesten“ hervorheben, in der Hand, Herz und Auge viel komplexer und umfangreicher sind. Ein Spiel mit verborgenen Begabungen und subtilen Wahrnehmungen.

Daran entwickelt sich eine Kritzelkultur, die aus der Unschärfe in die Schärfe geht. Sie hat jedoch den Anspruch, Wege zur eigenen Zeichnung einzuleiten. Im Sinne von Peter Jenny: Es ist eine Art des Selbstgesprächs, das nicht auf das Produkt, sondern auf den Prozess zielt. Es gibt darin kein „richtiges“ oder „falsches“ Zeichnen oder versteifte An-sprüche.

Der Sinn des Zeichnens strebt in erster Linie nach befreiender Ausdruckskraft, dazu nach Formulierung des Wahrgenommenen und nach Erreichen von Fertigkeiten. Es soll den SchülernInnen helfen, ihre eigene Formkraft zu finden, schliesslich auch weiterführende Zeichnungsideen zu entwickeln.

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Bilderverzeichnis

Titelblatt: Eigene Übung zum Unterricht.Nr 1: Gottfried Bammes. Aus „Arbeitsbuch für Künstleranatomie“.Nr 2: Tom Flint. Aus „Anatomie für Künstler“.Nr 3: Gottfried Bammes. Aus „Arbeitsbuch für Künstleranatomie“.Nr 4: Gottfried Bammes. Aus „Arbeitsbuch für Künstleranatomie“.Nr 5: Eigene Übungen zum Unterricht.Nr 6: Eigene Übungen zum Unterricht.Nr 7: Eigene Übungen zum Unterricht.Nr 8: Schüle- Arbeit - Gym. Laufen.Nr 9: Schüler-Arbeit - Gym. Laufen.Nr 10: Postkarte aus der Skulpturenhalle Basel: „Venus von Milo“ ca. 140 v.Chr. (Paris, Louvre).Nr 11: Eigene Übungen zum Unterricht.Nr 12: Detail, eigene Übungen zum Unterricht.Nr 13: Eigene Übungen zum Unterricht.Nr 14: Schüler-Arbeit - Gym. Laufen.Nr 15: Schüler-Arbeit - Gym. Laufen.Nr 16: Postkarte aus der Skulpturenhalle Basel: „Diskobol des Myron“ ca. 450 v.Chr. (Paris, Louvre).Nr 17: Schüler-Arbeit - Gym. Laufen.Nr 18: Postkarte aus der Skulpturenhalle Basel: Sog. „Venus Medici“, römische Kopie 3. Jh.v.Chr. (Florenz, Uffizien).Nr 19: Postkarte aus der Skulpturenhalle Basel: Auguste Rodin „Eva“ 1881 (München, Neue Pinakothek).Nr 20: Postkarte aus der Skulpturenhalle Basel: Sog. „Idolino“ ca. 400 v.Chr. (Florenz) Nr 21: Schüler-Arbeit - Gym. Laufen.Nr 22: Schüler-Arbeiten - Gym. Laufen.Nr 23: Schüler-Arbeit - Gym. Laufen.Nr 24: Eigene Übungen zum Unterricht. Nr 25: Schüler-Arbeit - Gym. Laufen.Nr 26: Schüler-Arbeit - Gym. Laufen.Nr 27: Schüler-Arbeit - Gym. Laufen.Nr 28: „Doryphoros“ (=Lanzenträger) von Polyklet. Paradebeispiel für den Kontrapost (mit Sand- und Spielbein). Aus Bildersammlung von Erich Schäfer, HGK/FHNW.Nr 29: Kirchengrundriss nach menschlichen Proportionen von Francesco di Giorgio Martini, Ende des 15. Jh. Aus Bildersammlung von Erich Schäfer, HGK/FHNW.Nr 30: „Vitruvmann“ Proportionszeichnung von Leonardo da Vinci. Aus Bildersammlung von Erich Schäfer, HGK/FHNW.Nr 31: Hathor und Amenophis III, aus dem Grab des Königs von Theben-West. 18.Dynastie, 14. Jh v. Chr. Aus Bildersammlung von Erich Schäfer, HGK/FHNW.Nr 32: Proportions-Kanon von Neufert und Agrippa von Nettesheim. Anfang des 15. Jh. Aus Bildersammlung von Erich Schäfer, HGK/FHNW.Nr 33: „Der Modulor“ von Le Corbusier, 1951. Aus Bildersammlung von Erich Schäfer, HGK/FHNW.Nr 34: John Raynes, aus „Figürliches Zeichnen“, Seite 14.Nr 35: Gottfried Bammes, aus „Studien zur Gestalt des Menschen“, Seite 23.Nr 36: Schüler-Arbeit - Gym. Laufen.

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Literaturverzeichnis

– Grünewald Dietrich Hrsg., «Kunst entdecken – Oberstufe», Cornelsen Verlag, Berlin, 2009

– Klant Michael und Walch Josef Hrsg., «Grundkurs Kunst 1 - Malerei, Grafik, Fotografie», Bildungshaus Schulbuchverlage, Braunschweig, 2002

– Jenny Peter, Notizen zur Figuration, ETH Hönggerberg, Zürich, Erste Auflage 2001

– Peez Georg, „Einführung in die Kunstpädagogik“, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart, 2008

– Bammes Gottfried, Die Gestalt des Menschen, URANIA Kunst und Gestaltung, 2008– Bammes Gottfried, Die neue Grosse Zeichenschule, Tosa-Verlag, 2000– Bammes Gottfried, Arbeitsbuch zur Künstleranatomie, Buchverlag Otto Maier,

Ravensburg, 1993

– Camp Jeffrey, Zeichnen lernen, Otto Maier Verlag, Ravensburg, 1982

– Flint Tom, Anatomie für Künstler, Gondrom, London, 2002

– Barcsay Jenö, Anatomie für Künstler, RVG Inter Book Verlagsgesellschaft, Stuttgart, 1996

– Bagnall Brian, „Zeichnen und Malen“ Falken-Verlag Gmbh, München, 1993

– Gollwitzer Gerhard, Zeichenschule für Begabte Leute, Otto Maier Verlag, Ravensburg, 1964

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Selbständigkeitserklärung

Ich erkläre hiermit, dass ich diese Arbeit selbständig durchgeführt und keine anderen als die angegebenen Quellen, Hilfsmittel und Hilfspersonen beigezogen habe. Alle Textstellen in der Arbeit, die wörtlich oder sinngemäss aus Quellen entnommen wurden, habe ich als solche gekennzeichnet.