M. E. Beutel · Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Psychische Störungen und Psychotherapieeffekte in der funktionellen BildgebungFunctional neuroimaging in psychotherapy research
Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch -
Gesundheitsschutz 2006 · 49:749–758
DOI 10.1007/s00103-006-0005-9
Online publiziert: 27. Juli 2006
© Sprin ger Me di zin Ver lag 2006
Traditionell erfolgte die Behandlung
psychischer Erkrankungen in Deutschland
entweder mit psychotherapeutischen
Mitteln in der psychotherapeutischen
und psychosomatischen Versorgung
oder vorwiegend medikamentös in der
psychiatrischen Versorgung. Der Aufstieg
der biologischen Psychiatrie begann mit
der Entwicklung von Psychopharmaka,
die eine effektive Behandlung von Stö-
rungen ermöglichten, die mit psycho dy-
namischen Interventionen allein nicht
hin reichend zu therapieren waren (z. B.
Halluzinationen, schwere Depressionen).
Nach der Entdeckung von Neurotrans-
mittern, die das Interesse an den bio-
logischen Funktionsabläufen des Ge-
hirns weckte, herrschten lange Zeit
reduktionistische Modelle vor, die an-
nahmen, mentale Zustände könnten
durch die bloße Kenntnis der Transmitter
und ihrer Rezeptoren erklärt werden.
Eine weitere Einengung erfolgte mit
dem Versuch, die Ursache psychischer
Erkrankungen allein auf Basis genetischer
Anlagen oder physischer Schädigungen zu
erklären, ohne hier Umwelt- und vor allem
Beziehungserfahrungen zu beachten. Aber
auch die umgekehrte Sichtweise, dass
Umwelt- und Beziehungserfahrungen
mentale Zustände und psychische
Erkrankungen allein erklären können,
kann als reduktionistisch angesehen wer-
den. Es kam zu der heute noch fort-
wir kenden Spaltung zwischen sog. so-
matischen (meist medikamentösen)
Behandlungen, die direkt auf das Gehirn
wirken, und rein psychologischen Thera-
pien, die vermeintlich wenig greifbare
Effekte haben (dass sich der Patient
„bes ser fühlt“ etc.). Dies führte dazu,
dass psychotherapeutische Ansätze
weit gehend außerhalb der Psychiatrie
entwickelt wurden und biologische
Befunde wiederum kaum Eingang in
die psychotherapeutische Weiterbildung
fanden. Seit einigen Jahren beginnt
nun aber die Psychotherapie nicht nur
in der psychosomatischen, sondern
auch in der psychiatrischen Ausbildung
und Versorgung an Stellenwert zu
gewinnen [1].
Die kognitiven Neurowissenschaften
haben seit den 1990er-Jahren eine ein-
drucksvolle Palette an Forschungsansätzen
und -ergebnissen erbracht [2]. Die Grün -
de für ihre rasante Entwicklung lagen
in der Interdisziplinarität der Ansätze
(Neurobiologie, Psychologie, Genetik,
Molekularbiologie etc.) und der tech-
no logischen Entwicklung, v. a. in bild-
gebenden Verfahren (PET, MRT; s. [1]).
Die kognitiven Neurowissenschaften
verfolgen das ambitionierte Ziel, die
biologischen Mechanismen zu verstehen,
die mentaler Aktivität (Wahrnehmung,
Gedächtnis, Sprache, Affektregulation
etc.) zugrunde liegen, angefangen von der
molekularen Ebene bis hin zu größeren
neuronalen Netzwerken.
Die neuen neurowissenschaftlichen
Ansätze wecken zunehmend das Interesse
auch der Psychotherapeuten. Die Reak-
tionen variieren von Skepsis, etwa der
Befürchtung, es könne mit ihnen der
Reichtum psychoanalytischer Erkenntnis
verloren gehen, bis hin zur unkritischen
Akzeptanz, verbunden mit der Hoffnung,
endlich „harte“ wissenschaftliche Belege
für die eigenen therapeutischen Modelle
zu finden.
Der Nobelpreisträger Kandel [3, 4]
stellte folgende 4 Postulate zum Verständ-
nis des Zusammenspiels zwischen men-
talen Vorgängen, Hirnfunktionen sowie
genetischen und psychosozialen Einflüs-
sen auf:
1. Alle mentalen Prozesse leiten sich
aus Aktivitäten des Gehirns ab.
Ent sprechend können Verhaltens-
störungen auch als Störungen
der Hirnfunktionen angesehen
werden.
2. Gene und ihre Proteinprodukte
sind wichtige Determinanten
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der Verbindungen zwischen den
Neuronen und ihren Funktionen.
3. Lernen ruft Veränderungen der
Genexpression (Ablesen von
Genen, Proteinsynthese) hervor.
Psychosoziale Erfahrungen und
genetische Anlagen sind daher
eng miteinander verknüpft: Da
stets nur ein kleiner Teil der Gene
abgelesen wird, hängt es von psycho-
sozialen Lernerfahrungen ab, wie
die genetische Ausstattung eines
Individuums letztlich wirksam
wird. Als Beispiel für die Plastizität
des Gehirns nennt er Studien, die
zeigen, dass bereits ein mehrwöchiges
motorisches Training bei Affen zu
Veränderungen der rezeptorischen
Felder in der Großhirnrinde führen.
4. Wenn Lernen einen messbaren
Einfluss auf das Gehirn hat, dann
führt auch eine erfolgreiche Psycho-
therapie zu messbarer Veränderung.
Daher postuliert er: „Soweit
Psychotherapie … effektiv ist und
Langzeitveränderungen im Verhalten
bewirkt, geschieht dies durch
Lernen, durch ... Beeinflussung
der Genexpression, die die Stärke
synaptischer Verbindungen
verändert, und durch strukturelle
Veränderungen, die das anatomische
Muster der Verbindungen zwischen
Nervenzellen des Gehirns verändern“
([3], S. 457, Übers. d. Verf.).
> Psychoanalytiker und Psychotherapeuten sollten sich in interdisziplinären Arbeitsgruppen mit neurobiologischen Methoden und Ergebnissen auseinander setzen
Kandel plädierte dafür, dass sich Psy -
choanalytiker und Psycho thera pe ten
innerhalb inter diszi pli närer Arbeits-
gruppen mit neurobiologischen Methoden
und Ergebnissen auseinander setzen.
Da er das psychoanalytische Modell
als „die kohärenteste und intellektuell
befriedigendste Sichtweise der Psyche“
erachtete, sah er eine wesentliche Rolle
psychoanalytischer Therapeuten darin, als
„kenntnisreicher Tutor“ das eigene Wissen
in die Erforschung der Beziehung zwischen
Psyche und Gehirn einzubringen. In der
Tat mehren sich Arbeiten, die versuchen,
die Kluft zwischen biologischen und
psychotherapeutischen Ansätzen zu
überbrücken (zusfd. [1], [3, 4, 5, 6]).
Es soll im Folgenden zunächst ein
Überblick über die bildgebenden Ver-
fahren, ihre methodischen Grundlagen
und über die für die Psychotherapie re-
le vanten Forschungsansätze gegeben
werden. Es werden aktuelle Studien
zur Veränderung von Hirnfunktionen
durch Psychotherapie dargestellt und
abschließend die Befunde im Hinblick
auf ihre Aussagekraft und den möglichen
Stellenwert bildgebender Verfahren in
der Psychotherapieforschung kritisch
diskutiert.
Techniken funktioneller Bildgebung (Neuroimaging)
In den vergangenen 2 Jahrzehnten wurde
ein breites Spektrum an Techniken
entwickelt, um die Beziehung zwischen
Psyche und Gehirn auf verschiedenen
Skalen räumlicher und zeitlicher Auflösung
zu untersuchen, d. h. von der molekularen
Ebene (z. B. Autoradiographie) bis zu einer
räumlichen Auflösung von mehreren
Millimetern (PET, MRT) bzw. von einer
zeitlichen Auflösung im Bereich von
Millisekunden (Elektroenzephalogramm,
EEG; Magnetenzephalogramm, MEG)
bis hin zu Sekunden (fMRT) oder länger
(PET) [7].
Der Begriff der funktionellen Bild-
gebung vereint verschiedene Techniken,
die die Hirnaktivität einer untersuchten
Person während einer kognitiven,
emotionalen oder Verhaltensaktivität er-
fassen. Ihnen zugrunde liegt die Tatsache,
dass mentale Aktivität mit neuronaler
Aktivität und regionaler Hirnperfusion
korreliert. Diese ist wiederum eng mit einer
Zu- oder Abnahme der metabolischen
Aktivität in den betreffenden Hirnregionen
verknüpft.
PET. PET (Positronen-Emis sions to mo-
graphie) beruht auf einer Besonderheit des
radioaktiven Zerfalls bestimmter Isotope,
bei dem schließlich der Zusammenprall
eines Elektrons und eines Positrons zu
deren Auslöschung (Annihilation) und
zur Aussendung zweier Gammaquanten
führt. Diese werden exakt in einem Winkel
von 180° emittiert, so dass Detektoren,
die einander genau gegenüberliegend
auf einem kreisförmigen Rahmen be-
festigt sind, das Zerfallsereignis bei Ko-
inzidenzschaltung orten können. Mit tels
aufwändiger Algorithmen ent stehen auf
diese Weise Kartographien der Hirn regio-
nen mit quantitativ erfassten Messwerten
der jeweiligen Tracerkonzentrationen.
Da diese Technik quantitative Messwerte
der Gehirnaktivität liefert, wurde sie als
Goldstandard der funktionellen Bild-
gebung angesehen. Ihre Anwendung wird
jedoch durch den Gebrauch radioaktiver
Substanzen, hohe Kosten (Notwendigkeit
eines Zyklotrons und eines Isotopenlabors)
und eine begrenzte zeitliche Auflösung (in
der Spanne von Sekunden bis Minuten)
eingeschränkt. PET kann auch genutzt
werden, um chemische/molekulare Hirn-
charakteristika (z. B. Rezeptordichte und
Bindung von Pharmaka) zu messen [8].
Dies kann z. B. für die Entwicklung neuer
pharmakologischer Ansätze nützlich
sein.
fMRT. Die funktionelle Kern spin to mo -
graphie/Magnetresonanztomo gra phie
(fMRT) beruht darauf, dass Protonen der
Körperflüssigkeit entlang der Längsachse
eines starken magnetischen Feldes an-
geordnet werden. Radiofrequenzsignale
lenken diese Anordnungen aus und er-
zeugen Signale, die von den magne ti-
schen Eigenschaften des spezi fi schen
Zielgewebes abhängen. Da Körper struk-
turen unterschiedliche magnetische
Eigenschaften aufweisen (z. B. abhängig
vom Wasser- oder Fettgehalt), kann
die strukturelle MRT hoch aufgelöste
Bilder des Gehirns erzeugen, die in der
klinischen Routine genutzt werden, um
Abnormalitäten festzustellen. Die häufig
eingesetzten funktionellen Techniken
der BOLD- (Blood Oxygen Level Depen-
dent-)Bildgebung beruhen darauf, dass
sich die magnetischen Eigenschaften
sauerstoffreichen und sauerstoffarmen
Blutes voneinander unterscheiden: Wird
eine bestimmte Region des Gehirns
aktiviert, erhöht sich dort der Blutfluss, es
kommt lokal zu einem vorübergehenden
Anstieg des sauerstoffreichen und einem
Abfall des sauerstoffarmen Blutes (da die
Zufuhr höher ist als der Verbrauch). Die
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Zusammenfassung · Abstract
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M. E. Beutel
Psychische Störungen und Psychotherapieeffekte in der funktionellen Bildgebung
Zu sam men fas sung
Erst in jüngster Zeit werden zunehmend
funktionelle bildgebende Verfahren in der
Psychotherapieforschung ein gesetzt.
Es soll ein Überblick über die Verfahren,
methodischen Grundlagen und für die
Psychotherapie relevanten Forschungs-
ansätze der Bildgebung mit funktioneller
Kernspintomographie (fMRT) und Posi-
tro nen-Emissionstomographie (PET)
gegeben werden. Aktuelle Befunde zu
Veränderungen von Hirnfunktionen durch
Psychotherapie werden dargestellt und
im Hinblick auf ihre Aussagekraft und
den möglichen Stellenwert bildgebender
Verfahren in der Psychotherapieforschung
kritisch diskutiert. Nachgewiesen wurden
systematische Veränderungen der Aktivie-
rung bestimmter Hirnregionen nach erfolg-
reicher psychotherapeutischer, kognitiv-
behavioraler und psychodynamischer
Behandlung von Zwangsstörungen,
Depressionen, Phobien, Panik und Border -
line-Persönlichkeitsstörungen, die teils
Veränderungen nach psychopharmakolo-
gi scher Therapie ähnelten, sich teils aber
auch deutlich unterschieden. Damit ist
die traditionelle Trennung zwischen
pharmakologischen Verfahren, die „auf
das Gehirn wirken“, und psychologischen
Verfahren, die bewirken, dass sich „der
Patient besser fühlt“, obsolet. Verfah ren der
funktionellen Bildgebung haben sich so
weit entwickelt, dass sie genutzt werden
kön nen, um Fragen zu untersuchen, die
von großer Bedeutung für Psychothera-
pien sind, v. a. Fragen zu den biologischen
Grundlagen psychischer Störungen, zur
Plastizität neuronaler Netzwerke sowie
zu Veränderungsmechanismen und
Prognosefaktoren von Psychotherapie etc.
Schlüs sel wör ter
Psychotherapieforschung · Funktionelle
Kernspintomographie (fMRT) · Positronen-
Emissionstomographie (PET) · Wirksamkeit
Functional neuroimaging in psychotherapy research
Abstract
Only recently has functional neuroimaging
been used increasingly in the context
of psychotherapy research. Based
on a literature survey, procedures,
methodological underpinnings and
paradigms relevant for psychotherapy
research are explored regarding functional
magnetic resonance imaging (fMRI) and
positron emission tomography (PET).
Current studies on changes of brain
functions and potential mechanisms
are presented based on obsessive-
compulsive disorders, depression,
phobia, panic and borderline personality
disorders. Findings and implications are
discussed regarding the use of functional
neuroimaging in psychotherapy research.
Systematic changes of brain activation
were demonstrated following successful
psychotherapy, partially resembling and
partially differing from those induced
by psychopharmacological treatments.
Thus the traditional split between
pharmacological procedures „acting on
the brain“ and psychological procedures
making the patient „feel better“ has been
rendered obsolete. Procedures of functional
neuroimaging have been developed to such
an extent that they can be used to study
issues of great relevance for psychotherapy,
e. g. biological underpinnings of psychiatric
disorders, plasticity of neural networks,
mechanisms of change and prognostic
factors of psychotherapy, etc.
Keywords
Psychotherapy research · Functional
magnetic resonance imaging (fMRI) ·
Positron emission tomography (PET) ·
Effectiveness
hämodynamische Reaktion signalisiert
mit einer Verzögerung von 4–6 Sekunden
nach Stimulation einen Anstieg der
neuronalen Aktivität [1].
> Bildgebende Verfahren können genutzt werden, um z. B. biologische Ursachen psychischer Störungen zu untersuchen
Die fMRT ist für den Einsatz in Psycho-
therapiestudien sehr vielversprechend.
Da sie nicht-invasiv ist und keine radio-
aktiven Substanzen benötigt, ist eine
wiederholte Anwendung möglich, was
Vergleiche von Hirnfunktionen vor und
nach Psychotherapie ermöglicht. Beim
Einsatz der fMRT ist jedoch eine Reihe
von Einschränkungen zu berücksichtigen.
Sie betreffen das Verfahren selbst,
die Auswahl der Probanden und das
experimentelle Design [1] und sind im
Folgenden aufgeführt:
F Der Scanner ist sehr laut, was z. B.
den Einsatz auditorischer Reize
begrenzt,
F die Notwendigkeit, völlig still
in einer engen Röhre zu liegen,
kann den Einsatz bei bestimmten
Patientengruppen limitieren
(Klaustrophobie, agitierte Patienten),
F um Kopfbewegungen zu begrenzen,
dürfen die untersuchten Personen
nicht sprechen. Dies begrenzt die
Spanne möglicher Reaktionen und
die Kommunikation während der
Untersuchung,
F aus Sicherheitsgründen werden alle
Personen ausgeschlossen, die Metall
an oder in ihrem Körper tragen.
Bildgebende Studien erlauben es z. B.,
spezifisch induzierte Affekte zu messen
oder kognitive Funktionen zu prüfen. Um
die neuronale Aktivität zu bestimmen,
die mit einer spezifischen Aufgabe ein-
her geht, wird gewöhnlich eine Akti vie-
rungsbedingung (Aufgabe) mit einer
Kontrollbedingung, die der Ruhezustand
sein kann, verglichen. Häufig wird eine
zusätzliche Aufgabe gestellt, die die glei -
chen, nicht-essenziellen sensomotorischen
Aspekte (z. B. visuelle Wahrnehmung,
Lesen, Knopfdruck) wie die Akti vie-
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rungs aufgabe enthält, sodass diese nicht
relevanten Aspekte (durch ihre Subtrak-
tion von den Aktivierungen durch die
spezifische Aufgabe) kontrolliert werden
können.
Die methodischen Probleme werden
komplexer, wenn es um Vergleiche vor
und nach einer psychotherapeutischen
Behandlung geht. Vielfältige Störeinflüsse
betreffen u. a. Unterschiede im zere bra-
len Blutfluss allgemein (z. B. Ver än de-
rungen im Hämatokrit, im Verlauf des
menstruellen Zyklus). Die Wiederholung
einer experimentellen Aufgabe zu
einer späteren Gelegenheit mag nicht
vertretbar sein, nachdem Probanden
über das Experiment aufgeklärt worden
sind. Vergleiche von Scans vor und nach
Psychotherapie können auch durch die
Adaptation an die künstliche Scanner-
umgebung (enge Röhre, Lautstärke
etc.) und an die Aufgabe erschwert
wer den. Daher müssen vergleichbare
Kon troll personen ebenfalls zu beiden
Gelegenheiten untersucht werden. Da
die fMRT stets nur Momentaufnahmen
der Gehirnfunktion liefert, ist es nicht
einfach zu entscheiden, inwieweit diese
klinische Verbesserungen spiegeln und
ob daraus Schlussfolgerungen über Wirk-
mechanismen gezogen werden können.
Wie bei allen Studien zu den Ergebnissen
von Langzeitbehandlungen können im
Intervall zwischen den Messungen Ver -
än de rungen (z. B. Medikation, Gesund-
heitszustand) eintreten, die beobachtete
Unterschiede schwer interpretierbar
machen.
Farbaufnahmen des Gehirns aus
bild gebenden Studien können sehr
rea li täts getreu wirken; projiziert auf
hoch aufgelöste strukturelle Bilder des
Gehirns, können sie beim Betrachter
den Anschein der Objektivität und
Konkretheit hervorrufen, der schwerer
in Frage zu stellen sein mag als verbale
Symptombeschreibungen. Diese Bilder
sind jedoch keine detailgenaue Widergabe
dessen, was im Gehirn geschieht, sondern
„nur eine Visualisierung von wichtigen
mathematischen und statistischen
Ana lysen aufgrund einer großen Zahl
von Bildern …“ ([8], p 1). Im Prinzip
werden zahlreiche aufeinanderfolgende
Aufnahmen, nachdem sie korrigiert
worden sind (z. B. nach verschiedenen
Zeitpunkten der Aufnahme, Bewegungen
des Pro banden, Auflösung) gemittelt und
an hand eines Gehirnatlanten standar-
disiert. Die Gehirnaufnahmen wer-
den unter Aktivierungs- und Kontroll-
bedingungen und/oder zwischen Pa tien-
ten und Kontrollpersonen ver gli chen.
Die Erstellung von Aufnah men, ihre Ver-
arbeitung und Analyse ist eine kom plexe,
extrem zeit auf wän dige, kostenträchtige,
berechnungs inten sive Prozedur und
erfordert ein mu lti dis zi pli näres Team
aus Physi kern, Sta tis tikern, Psychologen,
Ärz ten, Neurowissenschaftlern etc. mit
spe zifischem Training in Phy sik, Elektro-
technik, Statistik, Neuro wissen schaften
und Neuroanatomie (cf. [8]).
Für die Psychotherapieforschung relevante Methoden der Erkundung affektiver und kognitiver Reaktionen in der funktionellen Bildgebung
Mit Hilfe der funktionellen Bildgebung
wurden und werden zahlreiche neuro-
psychologische Funktionen untersucht
und getestet. Stets wird hierbei zusätzlich
zur Testaufgabe eine Kontrollaufgabe
mit den gleichen sensomotorischen oder
kognitiven Anforderungen, die sich nur
bzgl. der Zielfunktion unterscheidet, als
Vergleichszustand genutzt. Die folgenden
Methoden haben sich für die Erkundung
affektiver Reaktionen mittels funktionel-
ler Bildgebung als nützlich erwiesen. Sie
werden gemeinsam mit ausgewählten
Ergebnissen zu psychischen Störungen,
die für Psychotherapieforschung wichtig
sind, vorgestellt.
Darbietung mimischer Affektausdrücke
Die sog. Primäraffekte Furcht, Freude,
Ärger etc. lassen sich nach be stimm-
ten, diskreten mimischen Ausdrucks-
merkmalen zu ver lässig unterscheiden.
Die meisten diesbezüglichen Studien
verwenden eine Serie standardisierter
Bilder, die durch Ekman und Friesen [9]
erstellt und in verschiedenen Kulturen
validiert wurden. Am konsistentesten
wurde die Aktivierung der Amygdala als
Reaktion auf furchtsame (und weniger
konsistent auf ärgerliche) Gesichter
demonstriert. Diese Befunde stimmen
mit Tierexperimenten über die zentrale
Rolle der Amygdala bei Furcht überein
sowie mit Beobachtungen bei Patienten,
die nach bilateralen Amygdalaläsionen
eine verminderte Fähigkeit besaßen,
Furcht zu erleben. Interessanterweise
zeigten psychophysiologische Studien bei
Psychopathen ebenfalls eine verminderte
Amygdalaaktivität gegenüber furchtsamen
Ge sichtern [10]. Diese Befunde aus
der funktionellen Bildgebung sind für
die Psychotherapie relevant, da eine
Affektdysregulation als Kernmerkmal
bestimmter psychopathologischer Stö-
rungen von einer verminderten Fähig-
keit begleitet sein kann, mimischen
Affektausdruck zu dekodieren. Mimischer
Affektausdruck spielt eine wesentliche
und weitgehend unbewusste Rolle bei
der Ausbildung des affektiven Austauschs
zwischen Patient und Therapeut [11].
Das International Affective Picture
System (IAPS) [12] liefert einen stan dar-
disierten Satz visueller Stimuli, die nach
den Dimensionen der Valenz und der
Aktivierung gut charakterisiert sind,
um Emotionen hervorzurufen. Andere
standardisierte Bilder (z. B. Adult Attach-
ment Projective Test) [13] eignet sich zur
Erfassung von Bindungsmustern. Videos
sind sehr starke Reize, um emotionale
Reaktionen wachzurufen. Mit wachsender
Komplexität der Reize wird es jedoch
zunehmend schwieriger, gemessene
Veränderungen der Hirnaktivierung
auf beobachtbare, spezifische Stimulus-
merkmale zu beziehen.
Guided Imagery
Der Gebrauch von Skripten mit ange-
leiteter Vorstellung (Guided Imagery)
ermöglicht es, idiosynkratische Reize
anzuwenden, die auf die spezifischen
biographischen Erfahrungen oder Ängste
des Probanden ausgerichtet sind, was auf
der anderen Seite aber Vergleiche zwischen
Probanden schwierig macht. Zum Beispiel
wurde in Studien zur posttraumatischen
Belastungsstörung (PTSD) vor der fMRT-
Untersuchung ein Skript entwickelt,
das traumabezogene Erfahrungen als
mentales Bild [14] oder Schilderung
präsentierte [15]. Verglichen mit nicht-
traumatischen Stimuli [14] und normalen
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Kontrollpersonen [16] beobachteten diese
Autoren einen vermehrten Blutfluss in
limbischen Systemen (rechte Amygdala,
Zingulum) und im posterioren visuellen
Kortex (Visualisierung), aber eine ver min-
derte frontale Aktivierung (z. B. Brocas-
Region). Levin et al. [15] interpretierte
Letz teres als Hinweis darauf, dass trau-
ma tische Ereignisse bei PTSD als wie-
derkehrende sensorische oder affektive
Fragmente gespeichert werden, die nicht
symbolisiert und als verbal kohärente
Narrative repräsentiert wurden. Es ist
aber zu beachten, dass Skript- oder
vor stellungsgesteuerte Methoden der
Stimmungsinduktion weniger kontrolliert
und ihre Ergebnisse daher schwieriger
zu interpretieren sind, als dies für die
Darbietung mimischer Affektausdrücke
der Fall ist. Stimmungsinduktion [17, 18]
wurde nicht nur mit solchen individuellen,
sondern auch mit allgemeiner gefassten
Skripten mit einer spezifischen Valenz
erfasst.
Wortlisten
Wortlisten werden seltener als mimische
Affektausdrücke, Bilder oder Filme zur
Auslösung affektiver oder kognitiver
Reaktionen eingesetzt. In einer PET-
Studie zeigten Isenberg et al. [19] jedoch,
dass eine linguistische Bedrohung die
Amygdala beidseits aktiviert (negative
Wörter wie „Verfolgung“ verglichen mit
neutralen wie „Tabelle“). Der Gebrauch
von Wörtern hat den Vorteil, dass sie
präzise Stimuli sind: Sie sind für bestimmte
Störungen oder psychische Konflikte
spezifisch einsetzbar und erleichtern
damit den Vergleich zwischen Patienten
und Kontrollpersonen.
Klassische Konditionierung
Klassische Konditionierung ist ein
zentraler Mechanismus beim Lernen
von Furcht und Vermeidung (z. B. bei
Panikstörung, Phobie oder PTSD). Eine
Reihe von PET-Experimenten [20] ergab
eine Amygdalaaktivierung gegenüber
Gesichtern, die mit einem aversiven
Stimulus (lautem Lärm) präsentiert
wurden. Bei Gesichtern mit gleichem
Ausdruck, auf deren Darbietung aber
kein Lärm folgte, traf dieses nicht zu.
Interessanterweise kam es auch dann
zur Amygdalaaktivierung, wenn die je-
weiligen Gesichter nicht bewusst wahr-
genommen wurden (kurzzeitige Prä sen-
tation unterhalb der bewussten Wahr-
nehmungsschwelle). Dass zuvor gelernte
aversive Stimuli aufgrund direkter
neuronaler Verbindungen zwischen
Thalamus und Amygdala auch unbewusst
verarbeitet werden, öffnet den Zugang
für Studien zum unbewussten Lernen (cf.
[4]).
Damit eine Konditionierung eintritt, ist
es nicht einmal erforderlich, den aversiven
Stimulus auch wirklich zu erfahren;
allein seine Erwartung kann die oben
genannte Gehirnaktivität hervorrufen.
In fMRT-Studien zeigten Probanden
eine Amygdalaaktivierung als Reaktion
auf einen spezifischen Stimulus (z. B.
eine bestimmte farbige Form), von dem
sie erwarteten, dass ihm ein elektrischer
Schlag folgen würde – obgleich dieser
tatsächlich aber nicht auftrat [21].
Psychotherapie und Gehirn
Obgleich verschiedene psychobiologische
Ergebniskriterien in der Psycho thera-
pieforschung angewandt wurden (z. B.
Thyroxinspiegel [22], Veränderungen im
REM-Schlaf [23]), kamen hier Verfahren
der funktionellen Bildgebung bis heute
vergleichsweise wenig zum Einsatz. Im
Folgenden sollen entsprechende Studien
näher vorgestellt werden.
In einer häufig zitierten Studie be-
handelten Baxter et al. [24] jeweils 9 Pa-
tienten mit Zwangsstörungen (Obses-
sive Compulsive Disorder, OCD) mit
Fluoxetin (einem Serotonin-Wieder-
aufnahme-Hemmer, SSRI) bzw. mit Ver-
haltenstherapie (Expositions- und Re-
ak tionsverhinderungstechniken). Ein-
ge schlossen wurden auch 9 gesunde
Vergleichspersonen. PET-Analysen
wurden vor und nach der Therapie
im mittleren Abstand von 10 Wochen
durchgeführt. In ihren Hypothesen folgten
die Autoren der verbreiteten Annahme,
dass der Nucleus caudatus (N. caudatus)
bei OCD den „grüblerischen“ Output
des orbitofrontalen Kortex unzureichend
filtert. Die Aktivierung des N. caudatus
führt zu einer Hemmung anderer Teile
der Basalganglien (Globus pallidus), was
wiederum eine verminderte Hemmung
des Thalamus bedingt, der nicht nur
durch den orbitofrontalen Kortex akti-
viert wird, sondern umgekehrt auch
den frontalen Kortex aktiviert. Auf diese
Weise wird – laut Baxter et al. – ein sich
selbst verstärkender Kreislauf zwischen
orbitofrontalem Kortex, N. caudatus
und Thalamus geschaffen, der schwer zu
durchbrechen ist.
Tatsächlich verringerte sich die
Stoff wech selaktivität im rechten Kopf
des N. caudatus (gemessen mit radio-
aktiv markierter Glucose) sowohl nach
erfolgreicher Behandlung mit Fluoxe tin
als auch nach erfolgreicher Verhaltens-
therapie. Diese Aktivität war vor Be-
hand lungsbeginn bei den Personen mit
Zwangsstörungen höher als bei den
Kontrollpersonen. Bei Letzteren verän-
derte sie sich im Lauf der Studie nicht. Für
die Reliabilität der Befunde spricht, dass
eine Replikationsstudie in der gleichen
Arbeitsgruppe zu den gleichen Ergebnissen
kam [25]. Die Zusammenfassung der
Daten aus beiden Studien zeigte, dass
nach erfolgreicher Behandlung mit
Verhaltenstherapie oder Fluoxetin auch
eine verminderte Aktivierung des linken
N. caudatus festzustellen war.
In einer SPECT- (Single Photon Emis -
sion Computed Tomography, ähn lich
PET-)Studie fanden Martin et al. [26] bei
depressiv Erkrankten eine er höhte
Aktivierung der rechten Basalganglien
nach Behandlung mit interpersonaler
Psychotherapie oder Venlafaxin (ei nem
SSRI). Weitere Effekte unter schie den sich
aber zwischen den beiden Behandlungs-
regimen: Nach interpersonaler Therapie
kam es zur Zunahme der Aktivierung
im rechten posterioren Zingulum; nach
antidepressiver Medikation im rechten
temporalen Kortex.
Eine PET-Studie von Brody et al. [27]
zeigte metabolische Auffälligkeiten in
einer Gruppe von 24 schwer depressiven
Patienten (höherer präfrontaler und
geringerer temporaler Metabolismus,
verglichen mit der gleichen Zahl an
Kontrollpersonen). Diese Auffälligkeiten
normalisierten sich nach 12-wö chi ger
Behandlung (interpersonale Psycho-
therapie oder pharmakologische Behand-
lung).
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> Ergebnisse bildgebender Verfahren stellen die traditionelle Trennung zwischen pharmakologischen und psychologischen Interventionen in Frage
In einer anderen PET-Studie verglichen
Furmark et al. [28] bei Sozialphobikern
Veränderungen des regionalen zerebralen
Blutflusses (rCBF) bei der Angst indu-
zierenden Aufgabe, eine öffentliche
Rede zu halten, jeweils vor und nach
Be handlung. 18 zuvor unbehandelte
Personen wurden zufällig entweder einer
9-wöchigen kognitiven Verhaltenstherapie
oder einer Medikation (SSRI-Citalopram)
bzw. einer Kontrollgruppe auf der Warte-
liste zugewiesen. Die Autoren fanden
nach der Behandlung eine signifikante
Abnahme der Aktivität in der Amygdala,
dem Hippokampus und benachbarten
Regionen sowie in Regionen, die kogni tive,
emotionale, behaviorale und physiolo-
gische Reaktionen auf Bedrohung
vermitteln. Zusätzlich zeigten Thera-
pie responder ausgeprägtere Blutfluss-
änderungen als Non-Responder, und
die Abnahme des limbischen Blut-
flus ses sagte auch die Besserung in
der Einjahreskatamnese voraus. Die
Interpretation der Befunde ist durch
die kleine Zahl an Probanden (6 pro
Bedingung) erschwert, was möglicherweise
nicht zuließ, unterschiedliche Wirkpfade
der Psychotherapie und Medikation zu
ermitteln.
Bei Spinnenphobikern [29] kam es
bei der Präsentation von Spinnen im
fMRT (jeweils im Vergleich zu „neu-
tralen“ Schmetterlingen) nach einer
erfolgreichen Behandlung nicht mehr zu
der anfänglichen Aktivierung lateraler
präfrontaler Areale. Dies werteten die
Autoren als Indiz dafür, dass die intensive
gedankliche Auseinandersetzung mit
dem gefürchteten Objekt und die damit
verbundenen Vorstellungen, Phantasien
und Erinnerungen ausblieben.
Eine PET-Studie von Mayberg et al.
[30] zeigte, dass Patienten mit einer Major
Depression, die auf Fluoxetin oder Placebo
ansprachen, eine vermehrte Aktivierung
des posterioren Zingulums und des
präfrontalen Kortex aufwiesen. Die
Patienten, die auf Fluoxetin respondierten,
zeigten zusätzliche Aktivierungen in
limbischen und Hirnstammstrukturen
(nach vs. vor Behandlung). Die Autoren
spekulierten, dass Placebo den Kortex
beeinflussen kann (top down), während
Fluoxetin spezifisch auf limbische und
Hirnstammstrukturen (bottom up) wirk-
te. Das Placebo bestand in dieser Studie
aus der Aufnahme auf eine Station ohne
eine spezifische pharmakologische oder
psychotherapeutische Behandlung und
kann daher eher als eine supportive
Behandlung betrachtet werden.
Auch die aktuellste PET-Studie aus
der Arbeitsgruppe um Mayberg [31]
zeigte unterschiedliche Veränderungen
der Gehirnaktivierung je nachdem,
ob depressive Patienten mit kognitiver
Verhaltenstherapie oder mit Antidepressiva
(SSRI) behandelt wurden: Das Ansprechen
auf eine Verhaltenstherapie war mit
einer Zunahme des Metabolismus im
Hippokampus und dorsalen Zingulum
sowie mit einer verminderten Aktivierung
in dorsalen, medialen und ventralen
Bereichen des Frontalhirns assoziiert. Ein
Ansprechen auf Fluoxetin ging hingegen
mit einer Zunahme der Aktivierung
im Frontalhirn und einer Abnahme im
Hippokampus und subgenualen Zingulum
einher. Diese Befunde interpretierten
die Autoren als Indiz für spezifische
Veränderungen zerebraler Pfade durch
eine kognitive Verhaltenstherapie oder
Medikation.
In den oben berichteten Studien wur -
den vorwiegend die Effekte einer Ver-
hal tenstherapie untersucht. Ähn liche
Effekte sind aber auch nach psy cho dy-
namischen Behandlungen vergleichbarer
Wirksamkeit zu erwarten. In der Arbeits-
gruppe von Silbersweig (Cornell University,
Weil Medical College) wird gegenwärtig
eine Studie zur affektiven und behavioralen
Dysfunktion und den damit assoziierten
neuronalen Netzwerken bei Patienten
mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen
durchgeführt. Zur Behandlung bedienen
sie sich der psychodynamischen oder der
dialektisch-behavioralen Psychotherapie
(in Kollaboration u. a. mit Kernberg und
Clarkin).
Mit Hilfe des oben beschriebenen
Wortparadigmas untersuchten wir die
Affektverarbeitung bei Borderline-Pa-
tienten. Worte mit negativen Kon no-
tationen wurden spezifisch ausgewählt,
um Themen und Konflikte zu reprä sen-
tie ren, die für die Borderline-Psycho-
pathologie charakteristisch sind (z. B.
Verlassenwerden, Zurückweisung). Posi-
tive und neutrale Worte wurden sorg fältig
gematcht. Die Wörter wurden im Kontext
einer Aufgabe gezeigt, die intermittierend
eine Inhibition der Reaktionen erforderte.
In einer sog. Go-Nogo-Aufgabe wurden
Probanden instruiert, jedes Wort zu lesen
und eine Taste zu drücken, außer wenn
die Worte in Kursivschrift erschienen.
Dieses Design ermöglichte es, präfrontale
Verhaltenssysteme, Verhaltensreaktionen
sowie die limbische emotionale
Responsivität und ihre Interaktionen zu
prüfen. Es erlaubt, folgende Hypothesen
zu prüfen:
a. Bestimmte Bedeutungen sind bei
den Patienten im Vergleich zu
Kontrollpersonen mit einer erhöhten
limbischen Aktivierung (in Regionen,
die Reaktionen auf Bedrohung
vermitteln) assoziiert.
b. Die Inhibition von Impulsen ist
bei den Patienten am stärksten
beeinträchtigt, wenn ein negativer
Affekt hervorgerufen wird (längere
Reaktionszeiten, höhere Anteile von
Fehlern, höhere Hirnaktivitätsmaße
in bestimmten Regionen der
Mittellinie des Frontalhirns, die der
Selbstregulation dienen).
Mit fMRT zeigte sich in einer vorläufigen
Auswertung bei den Patienten im Ver-
gleich zu den Kontrollpersonen ent-
sprechend den Hypothesen eine ver-
min derte frontale hemmende Netz-
werk aktivität während der Verhaltens-
inhibitionsaufgabe und eine vermehrte
Amygdalaaktivierung verbunden mit
einer affektiven Dysregulation [32].
In einer weiteren fMRT-Studie in
Zusammenarbeit mit Silbersweig und
Stark (Bender Institute of Neuroimaging,
Gießen) wurden Panikpatienten mit einem
ähnlichen Design vor und nach einer 4-
wöchigen stationären psychodynamischen
Kurzpsychotherapie untersucht (im
Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen).
Erste Auswertungen zeigten bei den Pa-
tienten hypothesenkonform eine ver-
mehrte limbische Aktivität bei be droh-
lichen Wörtern, die sich aber nach erfolg-
Leit the ma: Körper, Psyche, Spiritualität
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reicher Therapie zurückbildete (zusfd.
[32]).
Im Unterschied zu den aktuellen
fMRT-Aktivierungsstudien verglichen
die vorliegenden PET-Studien in der
Regel den Ruhemetabolismus von
Psy cho therapiepatienten mit dem
Metabolismus medikamentös be han-
delter Patienten. Dass sich hierbei nicht
durchgängig – wie bei Goldapple et
al. [31] – systematische Unterschiede
zwischen pharmakologischen und
psychotherapeutischen Behandlungen
fanden, könnte als Hinweis auf eine „ge-
meinsame Endstrecke“ der induzierten
Veränderung interpretiert werden. Es
ist aber ebenso vorstellbar, dass phar ma-
kologische Behandlungen und Psycho-
therapie ähnliche neuronale Netze auf
unterschiedlichen Pfaden ansprechen.
Die meisten der oben zitierten Studien
haben eine Reihe methodischer Be schrän-
kungen, die diese Vergleiche in ihrer
Aussagekraft beschränken: Grup pen-
zuweisung wurde durch Behand lungs-
präferenzen der Patienten bestimmt
[31], und schwerere Fälle fanden sich in
der Psychotherapiegruppe [27]. In einer
weiteren Studie gab es keine gesunde
Kontrollgruppe [26]. Die implementierte
Psychotherapie war für eine angemessene
Behandlung zu kurz (z. B. 6 Sitzungen
IPT für MDD) [26].
Zusammengefasst zeigen die bis he-
rigen Studien, dass nach einer pharma-
kologischen Behandlung (SSRI) oder nach
einer Psychotherapie Veränderungen im
Hirnstoffwechsel und in verschiedenen
Transmittersystemen zu beobachten
sind. Die Veränderungsmuster sind je-
doch im Vergleich der Studien nur zum
Teil konsistent. Durchgängig wurden
aber größere Veränderungen bei den
Respondern als bei Patienten, die nicht auf
die Behandlung ansprachen, beobachtet.
Mögliche Konsequenzen für die Psychotherapie
Zeiträume
Wie könnte man sich Veränderungen
von Hirnaktivierungsmustern durch
Psychotherapie vorstellen? Nach dem
Modell von Posner [33] liegen diesen
Veränderungen Vorgänge zugrunde, die
zeitlich innerhalb von Millisekunden
ablaufen, aber auch bis zu Jahren umfassen
können. So benötigen Verschiebungen
der Aufmerksamkeit nur wenige Milli-
sekunden; die beachteten Funktionen
werden – zum Nachteil der nicht beach-
teten – verstärkt aktiviert. Beispiel ist
die Verschiebung von Aufmerksamkeit
zu negativen Affektzuständen, die bei
Depressiven automatisch geschieht.
Das Priming, d. h. die Einstimmung auf
bestimmte Reizkonstellationen und die
Aktivierung assoziativer Netzwerke (was
die Verarbeitung von Reizen beschleunigt),
erfolgt in einem Zeitraum von Sekunden
bis Minuten. Neuronale Pfade verändern
sich durch Übungen innerhalb von Minu-
ten bis Tagen; beispielsweise entwickelt
sich eine kontrollierte Verarbeitung, die
Aufmerksamkeit und kortikale Akti vie-
rung beansprucht, hin zu einer auto ma -
ti sie rten Bearbeitung, die weniger Auf-
merk samkeit beansprucht und an andere
(subkortikale) Hirn regionen gebunden ist.
Wochen bis Monate erfordert die Bildung
neuer Assoziationen. Beispiel sind die
Veränderungen sensorischer Areale
durch den verstärkten oder verminderten
Gebrauch von Extremitäten. Wochen bis
Monate werden auch für das Regellernen
und damit für Veränderungen von
Strukturen, d. h. beispielsweise mentaler
Repräsentanzen von Objektbeziehungen,
benötigt. Persönlichkeitsmerkmale reifen
und verändern sich innerhalb von Jahren
in der Entwicklung.
> Man wird zunehmend verstehen, welche therapeutischen Interventionen auf welcher Strukturebene des Gehirns erfolgreich sind
Vermutlich erfordern daher auch ein-
greifende Veränderungen durch eine
Psychotherapie längere Zeiträume. Hin-
zu kommt, dass (wie schon aus der
Gedächtnisforschung bekannt) zahlreiche
funktionelle zerebrale Systeme, ähnlich
wie in konstruktivistischen Theorien
vorhergesagt, auf „Neuartiges“ in der
Wahr nehmung mit einer gewissen
Träg heit und „Zurückhaltung“ reagie-
ren und bekannte bzw. gewohnte und
da mit weitgehend angstfreie Wahrneh-
mungs invarianten bevorzugen. Dies
geschieht so lange, bis – vermutlich mit
einem Aufwand an affektiver Beteiligung
– eine Erweiterung des Erfahrungsraumes
hingenommen wird [6]. Wird Neuartiges
jedoch in überwältigender, traumatischer
Weise erfahren, so sind die zerebralen
Funktionen in ihrer Adaptationsfähigkeit
und -bereitschaft überfordert. Es kommt
zum Rückzug aus der Beziehung und zur
Aufgabe der Exploration der Umwelt. Eine
Erweiterung der Wahrnehmungsfähigkeit
hinsichtlich der eigenen Person und der
Möglichkeiten, mit anderen in Beziehung
zu treten, erfordert daher ein fein
abgestimmtes therapeutisches Vorgehen,
das sowohl die Unterforderung der
Aufmerksamkeitsleistung als auch die
traumatische Überflutung mit neuen
Reizen vermeidet.
Wirkmechanismen
Man wird zunehmend unterscheiden
lernen, welche therapeutischen Inter-
ven tionsmöglichkeiten auf welcher
funktionell-anatomischen Strukturebene
erfolgreich sind. So spricht einiges für
die Annahme [31], dass Psychopharmaka
Prozesse in phylogenetisch alten mit-
tel liniennahen Strukturen, wie z. B. im
Hirnstamm und Mittelhirn, günstig
und nachhaltig beeinflussen können,
was Veränderungen in biologischen
Grundmustern der Hirnfunktion bewirkt
(z. B. Veränderung der Angstbereitschaft,
der Fluchtreflexe, des Schlafverhaltens,
der Intentionalität, des affektiven
Grund tonus, im „Belohnungssystem“
usw.). Die psychodynamische Psy cho-
thera pie und lerntheoretisch orien tier-
te The ra pieverfahren können hinge-
gen vor allem (frontal) kortikale über-
grei fen de Mechanismen von Hem-
mung, Disinhibition und Steuerung
beeinflussen.
Informationsverarbeitung
Oft als unwissenschaftlich abgetan,
haben auch unbewusste Prozesse neue
Aufmerksamkeit gefunden [34]. Viele
Neurowissenschaftler [33, 35] kommen
– in Analogie zur psychoanalytischen
Auffassung – zu dem Ergebnis, dass ein
Großteil des mentalen Lebens außerhalb des
Bewusstseins stattfindet; der intentionalen
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Steuerung unterliegt somit der kleinere
Teil des Psychischen. Allerdings umfasste
Freuds Konzeption des Unbewussten
nicht nur die abgewehrten oder ver-
dräng ten Anteile sowie unbewusste
Triebimpulse, sondern auch unbewusste
Anteile des Ich, die seine Arbeitsweise
ausmachen, und vorbewusste Anteile,
die durch Aufmerksamkeit bewusst
werden können. Die abgewehrten Anteile
folgen nach der klassischen Konzeption
dem Primärprozess, der am Lustprinzip
orientiert ist, die vorbewussten Anteile
hingegen dem Sekundärprozess, der das
Realitätsprinzip repräsentiert.
Diese Auffassungen sind aber nur
zum Teil mit neurowissenschaftlichen
Konzeptionen kompatibel. Wir wis sen
aus zahlreichen Studien, dass kogni tive
Verarbeitungsschritte (z. B. Hand lungs-
planung) teilweise unbewusst verlaufen.
Wir können die Arbeitsschritte unseres
Gehirns nicht bewusst nachvollziehen;
dennoch entwerfen bewusste Prozesse
häufig eine nachträgliche Begründung, die
uns das Gefühl von Handlungskontrolle
gibt. Dies mag im Sinne des Primär-
prozesses als wunschbestimmt gedeutet
werden. Andererseits zeigt beispielsweise
das vielfach experimentell bestätigte
Modell von Le Doux [36], dass die un-
bewusste Informationsverarbeitung we-
sent liche adaptive Funktionen besitzt
und trotz ihrer Ungenauigkeit und
mangelnden Beeinflussbarkeit eine
Ge fah renerkennung und -abwehr er-
möglicht, die auf bewusstem Wege erst
stark verzögert stattfinden würde. So
erfolgt die Erkennung und Abwehr
von Gefahren unbewusst direkt über
sensorische Informationen, die die
Amygdala erreichen, bevor eine bewusste
Bewertung (durch die Großhirnrinde)
durchgeführt werden kann. Bei sehr
kurzen (unterschwelligen) Reizen lässt
sich sogar eine emotionale Reaktion ohne
bewusste Wahrnehmung des aversiven
oder Gefahrenreizes nachweisen. Von
neurobiologischer Seite werden inzwischen
verschiedene unbewusste Prozesse
unterschieden, die an die Intaktheit sehr
spezifischer Hirnstrukturen gebunden
sind. Nimmt man die Anregungen von
Kandel [4] auf, so ergeben sich vielfältige
Ansätze zur Differenzierung unbewusster
Prozesse.
Behandlungskonzepte
Nach psychodynamischen Behandlungs-
konzepten erfolgt ein Zugang zu un-
bewussten Konflikten durch freie Asso-
ziation. Diese Sichtweise ist mit neuro-
biologischen Modellen neuronaler
Netz werke kompatibel. Diese stellen
ein Potenzial für die Reaktivierung
bereit. Einige moderne Theorien, z. B.
die Chaostheorie und die Synergetik,
veranschaulichen die oft für das Be-
wusst sein nicht nachvollziehbaren
Vektoren und „Anziehungskräfte“ in
den neuronalen Potenziallandschaften
[6]. Da implizite Beziehungsmuster dem
bewussten Erinnern und Erleben nicht
direkt zugänglich sind, ist ihre Aktivierung
Voraussetzung für die Modifikation. In
psychoanalytischen Therapien liegt ein
wesentlicher Fokus auf der Reaktivierung
von Objektbeziehungsmustern in der
Übertragung. Aus dieser Sicht sind das
Enactment (früher mit dem negativ kon-
no tierten Begriff des Agierens bezeichnet)
von Patienten und der therapeutische
Umgang damit wichtige Motoren des
therapeutischen Fortschrittes. Die Be to-
nung der Wichtigkeit der thera peutischen
Beziehung entspricht neueren Befunden
zur Bedeutung von Beziehungen für
die Selbstregulation. Das Phänomen
der Übertragung als zentrales Axiom
psychoanalytischer Metapsychologie ist
mit neurobiologischen Vorstellungen
durchaus vereinbar, wenn man es
approximativ definiert als Beeinflussung
der aktuellen Wahrnehmung (von Be-
ziehungen) durch Erwartungen, die
aus Erfahrungen (in früheren Bezie-
hungen) generiert werden. Gemäß
diesem projektiven Grundmuster der
erfahrungsbasierten „Vereinfachung“
(„Man sieht nur, was man kennt“) arbeitet
auch unser Sensorium, z. B. das visuelle
System.
Klarifikation, Konfrontation und
Deutung werden als zentrale Mittel und
Techniken psychoanalytischer Therapien
angesehen. Neurowissenschaftlich kommt
damit die Interaktion zwischen dem
impliziten und expliziten Gedächtnis
ins Spiel mit der Möglichkeit zur
Modifikation von Reaktionen des lim-
bischen Systems durch höhere kortikale
Regionen. Inwieweit der Mensch, wie
einige Neurowissenschaftler glauben
belegen zu können, seinen früh erwor-
benen limbisch verankerten durch und
durch emotional motivierten Verhal-
tens- und Erlebensgrundmustern ausge-
lie fert ist, ist aus psychoanalytischer
Perspek tive wohl noch nicht entschieden.
Gerade die neurobiologisch orientierten
Forschungsansätze der letzten Jahre
haben aber gezeigt (z. B. durch die Ent-
deckung der Neubildung kortikaler
Neurone im Erwachsenenalter), dass das
Gehirn in einer Weise über Plastizität
und funktionelle Variabilität verfügt, die
bislang nicht vermutet worden war.
Fazit
Die Verfahren der funktionellen Bild-
gebung sind so weit entwickelt, dass sie
zur Untersuchung und Beantwortung
von Fragen, die für Psychotherapien von
großer Bedeutung sind, genutzt werden
können. Die Neurowissenschaften haben
subjektive Erfahrungen als legitimes
Forschungsgebiet etabliert, und die
neueren neurobiologischen Ansätze
gewinnen durch die Integration kognitiver
und biologischer Zugangswege, durch die
vermehrte Beachtung von Emotionen
und auch durch die spektakulären
technologischen Entwicklungen für
Psychotherapeuten an Attraktivität.
Die hier nur skizzierte Umsetzung
neurobiologischer Ergebnisse in psycho-
therapeutische Ansätze sowie die von
Kandel empfohlene Anregung neurobio-
logischer Studien durch Psychoanalytiker
und Psychotherapeuten erfordern
einen intensiven inter dis ziplinären
Dialog. Dieser sollte Psycho therapeuten
motivieren, Modelle und Hypothesen
beizusteuern, die mit den im vorliegenden
Beitrag beschriebenen Methoden getestet
werden können.
Die Beachtung und Assimilation
neurowissenschaftlicher Ergebnisse
könnte Psychotherapeuten helfen, Be-
hand lungsentscheidungen, Strategien und
Zielsetzungen zu reflektieren, die bislang
als gesichert angenommen worden sind.
Ein umfassenderes Bild der biologischen
Grundlagen von Krankheitsbildern
könnte Behandlungsperspektiven und
Entscheidungen beeinflussen (z. B. die
Wahl der Behandlungsansätze, d. h. z. B.
Leit the ma: Körper, Psyche, Spiritualität
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ob Psychoanalyse, psychodynamischer
oder behavioraler Behandlungsansatz).
Zur Behandlung von Folgen psychischer
Traumata ist es bspw. wichtig zu wissen,
dass sie dauerhafte Veränderungen
bewirken können, nicht nur bzgl.
psychologischer Funktionen (z. B. bzgl.
Bindungsstilen), sondern auch im Hinblick
auf Hirnfunktionen und -strukturen.
Tierstudien in der neuro wissen-
schaftlichen Grundlagen forschung haben
gezeigt, dass Nager und andere Säugetiere
Bindungssysteme besitzen, die denen des
Menschen vergleichbar sind. Negative
Lebenserfahrungen in der frühen Ent-
wicklung (besonders vorzeitiges Ab-
stillen und Trennung) können bei
ihnen lebenslange Veränderungen
der Hirnstrukturen und -funktionen
hervorrufen. Diese Tiere zeigen ihr
gesamtes Leben über eine erhöhte
Vulnerabilität gegenüber allen Arten von
Stressoren, die durch eine permanente
Hypersensitivität der Hypothalamus-
Hypophysen-Nebennnierenrinden-Achse
und durch strukturelle Veränderungen des
limbischen Systems (z. B. vermindertes
Volumen des Hippokampus) vermittelt
wird. Obgleich Untersuchungen am
Menschen meist retrospektiv sind,
scheint es plausibel zu erwarten, dass
nach negativen infantilen Erlebnissen
und einem anhaltenden und massiven
Trauma im späteren Leben vergleichbare
Veränderungen im menschlichen Gehirn
eintreten. Die Unfähigkeit, traumatische
Ereignisse in ein kohärentes Narrativ
zu integrieren, kann als Folge einer
anhaltenden Stressreaktion außerhalb der
Kontrolle des Opfers angesehen werden
(vgl. [37]). Die Beziehungen zwischen
traumatischer Erfahrung, Kortisolfunktion
und Hippokampusvolumen werden
gegenwärtig eingehend untersucht [38].
Auch deuten neurophysiologische
Studien bei bestimmten Erkrankungen
auf ein Neurotransmitterungleichge wicht
hin, das einen kombinierten psy cho-
thera peu tischen und pharma kolo gi-
schen Ansatz rechtfertigt (z. B. bei OCD,
schwerer Depression, Impuls kontroll-
störung etc.). In vielen Fällen kann eine
pharmakologische Behandlung die
Psychotherapie erst ermöglichen oder
fördern [39]. Neurowissenschaftliche
Perspektiven können zur Behand lungs-
planung beitragen und Gelegenheit bieten,
psychotherapeutische (psychodynamische
und behaviorale) Hypothesen und Verän-
derungsprozesse zu überprüfen.
Einige grundlegende psychoanalytische
Annahmen wurden durch neuere neuro-
wissenschaftliche Befunde gestützt (z. B.
Ein fluss früher Erfahrung auf die Ent-
wicklung, unbewusste Verarbeitung).
Die funktionelle Bildgebung ermöglicht
es, den Einfluss negativer Erfahrungen
auf definierte Hirnstrukturen (z. B.
im limbischen System) darzustellen,
und eröffnet neue Wege zur Prüfung
psychotherapeutischer Hypothesen und
Modelle.
Zu den Problemen und Konflikt fel-
dern zählen vor allem die starre Grenz-
ziehung zwischen der biolo gi schen und
psychodynamischen Psychia trie (be-
züglich Institutionen, Forschungs finan-
zierung oder auch Berufs bio graphien).
Es besteht die Gefahr eines neuen Re-
duktionismus von mehreren Seiten:
Die Vorstellung, die Wirksamkeit von
Psychotherapie durch bildgebende und
andere neurowissenschaftliche Ver fah-
ren zu „beweisen“, erscheint ange sichts
der aktuellen, zunehmend reichen und
mehrdimensionalen psy cho thera peuti-
schen Prozess- und Ergebnis forschung
recht einseitig [5]. Brockman [40]
schreibt: „nachdem man eingeschätzt
hat, welcher Teil des Gehirns zugänglich
ist, kann man stärker biologisch infor-
mierte Interventionen machen … So
kann Psychotherapie … wissenschaftlich
sein“. Ottowitz et al. [41] empfehlen z. B.
„Veränderungen neuraler Netzwerke“
als geeigneten „Goldstandard“ für die
psychiatrische Diagnose, verbunden
mit der Hoffnung, die „unreliablen“
sub jektiven Angaben der Erkrankten
und ihrer Angehörigen nicht mehr als
Kernmerkmale der Diagnosestellung und
Behandlung verwenden zu müssen. Die
Autoren des Manifestes der Hirnforschung
im Heft „Geist und Gesundheit“ (6/2004)
sprechen die Hoffnung aus, dass die
Behandlung psychiatrischer Störungen
durch Medikamente, die selektiv auf
spezifische Nervenzellrezeptoren in spe-
zifischen Regionen des Gehirns zielen,
revolutioniert wird. Dies erinnert sehr
an das übliche Vorgehen in der Psycho-
therapie, d. h., die Konflikte werden
möglichst genau gemeinsam mit dem
Patienten ergründet und bearbeitet –
nur dass in dieser Vision ein gezielter
pharmakologischer Eingriff an die Stelle
der Psychotherapie und Beziehung zum
Patienten tritt. Bestehen bleibt auch das
Problem, die verschiedenen Ebenen
(molekular, intrapsychisch, interpersonal)
zu verknüpfen.
Zu den Chancen im interdisziplinären
Dialog zählt vor allem die Überwindung
der Trennung zwischen Psyche und Gehirn
bzw. psychologischer und somatischer
Behandlung. Bildgebende Studien ha-
ben gezeigt, dass Psychotherapie, wenn
sie wirkt, auch zu messbaren Verän-
derungen im Gehirn führt. Diese Verände-
rungen sind mit denen nach einer psy-
cho pharmakologischen Behandlung
vergleichbar. Validiert wurden bio-
psycho soziale Modelle der Entstehung
psychischer und psychosomatischer
Er kran kungen. Denkbar wird die
Diagnostik und Behandlung des
Aus falls/der Einschränkung spe zifi-
scher neuropsychologischer Funk tio-
nen (z. B. durch kognitives Training,
Aufmerksamkeit). Weitere Themen
betreffen die Vorhersage des Behand-
lungserfolges sowie die Mechanismen
therapeutisch induzierter Veränderungen.
Hier geht es um die Frage, wie implizite
Netzwerke hinreichend aktiviert werden
können, um die Rolle „korrektiver
emotionaler Erfahrung“ innerhalb und
außerhalb der Behandlung, um die
Frage nach der Intensität und Dauer
der Behandlung, die erforderlich ist,
um dauerhafte Veränderungen her-
vor zubringen, und um die Testung
psychotherapeutischer Hypothesen und
Konzepte.
Kor re spon die ren der Au tor
M. E. Beutel
Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Untere Zahlbacher Straße 8, 55131 MainzE-Mail: [email protected]
757Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 8 · 2006 |
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Leit the ma: Körper, Psyche, Spiritualität
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