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niszenzen änderten nichts daran, dass Quintilians Erziehungsprogramm die domitia-nische Politik mit rednerischen Mitteln fortsetze.

Gleichsam als Korrektur dieses Negativbildes prüft Scarano Ussani im dritten Kapi-tel, ob Quintilian in der institutio oratoria auch die Möglichkeit nutze, auf Distanz zum Herrscher gehen oder sogar Kritik zu üben. Zu diesem Zweck untersucht Scarano Ussa-ni Quintilians Umgang mit dem in der Rhetorik bekannten Motiv der Tyrannis und des Tyrannenmordes. Die Tyrannis sei aus rhetorischer Sicht eine Straftat genau wie adul­terium und proditio. Als Kennzeichnen des Tyrannen stelle Quintilian die saeva crude­litas, die avaritia und die templorum eversio heraus9). Danke der Tyrann nicht freiwillig ab (pactum abolitionis), weil er das Schändliche seines Tuns erkenne, helfe nur der Tyrannenmord. Dieser sei, sofern die Tötung wissentlich und willentlich geschehe, ge-rechtfertigt (S. 93f). Seiner Fragestellung entsprechend interessiert Scarano Ussani vor allem die verbale Bekämpfung tyrannischer Tendenzen, die auch Quintilian nennt und als risikoreich für den Kritiker charakterisiert (S. 98f.). Wie die Lobesrede auf Alkaios im zehnten Buch der Institutio oratoria10) belege, verurteile der Rhetoriklehrer jede Art der Tyrannei und sehe ihre Bekämpfung als ethische Pflicht. Ein konkreter Bezug auf die Herrschaft des Domitian sei aber nicht festzustellen. Vielmehr bleibe die Tyrannei in der Institutio oratoria eine abstrakte und nicht auf eine bestimmte Person bezogene Bedrohung, obwohl – wie Scarano Ussani hervorhebt – Quintilian durchaus Anlass ge-habt hätte, sich zur Verfolgung und Tötung kritischer Intellektueller zu äußern. Nicht zu entscheiden sei, ob sich der Rhetoriklehrer aus Angst vor Repression oder aus Loyalität zu Domitian derart bedeckt halte. Scarano Ussani scheint zu letzterer Erklärung zu ten-dieren, wenn er, gleichsam als Quintessenz der bisherigen Betrachtungen Quintilians politische Haltung in der institutio oratoria wie folgt charakterisiert (S. 104):

“(…) l’intera opera era, in generale, ispirata a un indiscutibile lealismo e costruita in totale adesione alle scelte politiche di Domiziano, ma sopratutto (…) la sua imma-gine – almeno come risalta dalle pagine quintilianee – mostra di essere lontanissima da quella ‘tipica’ di un tiranno” (S. 104).

Die Beziehungen, die zwischen dem rhetorischen Lehrwerk und der domitianischen Machtausübung bestehen, sind in der Tat nicht zu leugnen und können, wie es Scarano Ussani vorführt, auch bei der Interpretation der rhetorischen Unterweisung Berück-sichtigung finden. Das Essay des Gelehrten aus Ferrara lädt insoweit zu weiterem Nachdenken über das Verhältnis von Rhetorik, Recht und Macht ein.

Universität Zürich Ulr ike Babus iaux

Tonia Wycisk , Quidquid in foro fieri potest – Studien zum römischen Recht bei Quintilian (= Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen, N. F. 57). Duncker & Humblot, Berlin 2008. 432 S.

Die bereits 2005/2006 bei Wolfgang Kaiser in Freiburg vorgelegte Dissertation untersucht die institutio oratoria Quintilians und die aus der quintilianischen Schule stammenden declamationes minores1)11auf ihren römisch-rechtlichen Gehalt. Die von

9) Quint. 9,3,48; Quint. 5,10,97. 10) Quint. 10,1,63. 1) Vgl. Wycisk, S. 25f. Zum juristischen Gehalt der declamationes vgl. ferner V. I .

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Wyscisk geleistete Analyse und Bestandsaufnahme orientiert sich an drei Fragen: „Welche Rechtsinstitute kommen bei Quintilian vor? Wie stellt Quintilian diese dar? Inwieweit entspricht das römische Recht in den rhetorischen Werken Quintilians der Rechtswirklichkeit?“ (S. 19). Dabei bezieht die Verf., wie schon der aus Quint. decl. min.1338,52) entliehene Titel des Werkes andeutet, eine vorsichtig optimistische Stel-lung hinsichtlich der Verlässlichkeit der rechtlichen Bezugnahmen im Werk Quinti-lians. Schon der Praxisbezug der Rhetorik, der bei den Deklamationen greifbar ist, und der den Hintergrund der Unterweisung in der institutio oratoria bildet, spricht in der Tat dafür, dass der Rhetor jedenfalls auch Beispiele verwendet, die an authentische Rechtsfragen anknüpfen oder solchen nachgebildet sind3). Wycisk hat erstmalig4) die Verwendung des römischen Rechts im Gesamtwerk Quintilians geprüft und stellt ihre Ergebnisse, die – wie sie betont hinsichtlich der Darstellung der Rechtslage keine Originalität beanspruchen (S. 20) – systematisch geordnet nach Rechtsgebieten und Rechtsinstituten dar. Diese Anordnung zeigt auf den ersten Blick, dass die rhetorische Erörterung den Schwerpunkt im Privatrecht, einschließlich des Zivilprozessrechts, setzt (S. 30–194). Aufgrund der verfahrensrechtlichen Bedeutung der Rhetorik im Strafverfahren5) kann ebenfalls nicht überraschen, dass das Strafrecht (S. 233–355) bei Quintilian mit deutlichem Abstand den zweiten Rang vor öffentlichen Recht und Sakralrecht belegt (S. 195–232).

Ein vollständiger Bericht der verschiedenen Einzeluntersuchungen, die Wycisk in ihrer Monographie aneinanderfügt, kann im Rahmen einer Besprechung nicht geleistet werden. Die Rezension muss sich darauf beschränken, die wichtigsten Institute, die behandelt werden, zu nennen und einzelne Analysen herauszugreifen, bevor allgemein zur Methode und zu den Ergebnissen, die Wycisk im fünften Kapitel unter dem Titel „Schlussbemerkungen“ (S. 356–362) zusammenfasst, Stellung zu nehmen ist.

1. Wycisk hat ihre Darstellung der Rechtsthemen in Quintilians Werk systematisch nach Rechtsinstituten geordnet und kommt damit dem juristischen Leser entgegen. Gleichzeitig tritt durch diese Anordnung hervor, wie sich rednerische und juristische Schwerpunktsetzung unterscheiden: Im Privatrecht überwiegt bei Quintilian das Fa-milienrecht (S. 103–181), gefolgt vom Personenrecht (S. 30–64), dem Obligationen- (S. 70–103) und Erbrecht (S. 153–181), während die für den Juristen wichtige Rechts-

Langer, Declamatio Romanorum, 2007, 60. Leider nicht berücksichtigt hat Wycisk für die Publikation die Übersetzung von D.R. Shackle ton Bai ley, Quintilian, The lesser declamations, 2 Vol., 2006, die auch gegenüber Winterbottom zu Neuinterpre-tationen gelangt.

2) Quint. decl. min. 338,5 Nonnumquam etiam de rebus permittitur dicere nobis il­la ratione, quia scholastica controversia complectitur quidquid in foro fieri potest; in foro prohoemium aliquando ducitur ex rebus, si iam singulae actiones praepositae sint, iam causam iudex noverit (…).

3) Ausdrücklich keine Stellung beziehen will die Verf. zur umgekehrten und eben-falls sehr umstrittenen Frage, inwieweit die Rhetorik die Jurisprudenz beeinflusst hat, vgl. Wycisk, S. 21.

4) Vgl. Nachweise bei Wycisk, S. 20 Fn. 10. Wichtig auch J . Dingel , Schola-stica materia, Untersuchungen zu den Declamations minores und der Institutio orato-ria Quintilians, 1988. Weitere Nachweise zum Stand der Forschung bei Langer, cit. Anm. 1, 17–30.

5) R .A. Bauman, The ,Leges iudiciorum publicorum‘ and their Interpretation in the Republic, Principate and Later Empire, in: ANRW II.13, 1980, 103–233 mit D. Nörr, ZRG Rom. Abt. 99 (1982) 464–466.

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gebiete wie das Sachen- (S. 64–70) und das Zivilprozessrecht (S. 182–194) den Redner offenbar nur am Rande interessieren.

Der rednerische Eklektizismus wird auch innerhalb der zitierten Rechtsgebiete deutlich: Von den familienrechtlichen Materien behandelt der Redner vor allem di­vortium und repudium (S. 114–126) sowie die in den Rechtsquellen unklar bleiben-de Beendigung6) der patria potestas durch Abdikation (S. 130–144). Im Personen-recht liegen die Schwerpunkte auf der Infamie (S. 32–34), den Einschränkungen der Handlungsfähigkeit durch furor und luxuria (S. 37–48) sowie auf Fragen der Sklaverei (S. 48–64). Von den Vertragstypen des Obligationenrechts interessieren den Redner vorrangig depositum (S. 80–91) und societas (91–98); im Erbrecht be-handelt er vor allem die Einschränkungen der Testierfähigkeit, speziell für Frauen (S. 157–163) und die querela inofficiosi testamenti (S. 172–175). Im Strafrecht ist eine Konzentration auf besonders skandalträchtige Delikte festzustellen: Von den Privatdelikten findet bei Quintilian vorrangig die actio iniuriarum (S. 238–245) Er-wähnung, während bei den öffentlichen Delikten die anrüchigen Materien adulte­rium, lenocinium und stuprum (S. 249–276) sowie die Tötungsdelikte (homicidium, veneficium und parricidium, S. 276–306) überwiegen. Im öffentlichen Recht neh-men Fragen der Tyrannis, vor allem der Tyrannenmord, den breitesten Raum ein (S. 195–208).

2. Um die Methode, mit der Wycisk vor allem die aus Quintilians Schule stam-menden declamationes minores analysiert, näher zu kennzeichnen, seien im Folgen-den drei Teiluntersuchungen aus Privat- und Strafrecht herausgegriffen, in denen der Redner eine (angebliche) gesetzliche Regelung nicht nur zitiert7), sondern auch im Rahmen der Rede auslegt und anwendet8).

a. Ein erster Themenkreis betrifft die manumissio von Sklaven. Wycisk stellt fest, dass Quintilian zwar verschiedene förmliche Freilassungsformen anspricht (S. 51–53), sich aber vor allem mit den formlosen prätorischen Freilassungen beschäftigt, die in zwei verwickelten Sachverhalten (decl. min. 340 und decl. min. 342 ancilla in ar­chipiratae nuptias missa) vorgeführt werden9).

Die erste mit novicius praetextatus überschriebene decl. min. 340 zitiert einlei-tend eine Rechtsvorschrift mit den Worten: Qui voluntate domini in libertate fue­rit, liber sit. Anlass der Deklamation ist der Fall eines Sklavenhändlers, der einen

6) Grundlegend M. Wurm, Apokeryxis, Abdicatio und Exheredatio, 1972, bes. 24–39, 64–77.

7) Gesetzeszitate bei Quint. decl. min. 245; 249; 250; 251; 254; 264; 265; 266; 270; 272; 273; 274; 275; 276; 277; 278; 279; 280; 282; 284; 285; 289; 293; 296; 297; 299; 303; 304; 305; 308; 311; 314; 317; 320; 323; 324; 329; 331; 333; 334; 337; 340; 341; 342; 345; 346; 347; 348; 349; 351; 357; 358; 359; 360; 361; 362; 365; 366; 370; 371; 372; 373 ; 374.

8) Ohne Zitat einer Regelung sind Quint. decl. min. 244; 246; 247; 248; 252; 253; 255; 256; 257; 258; 259; 260; 261; 262; 263; 267; 268; 269; 271; 281; 283; 287; 288; 290; 291; 292; 294; 295; 298; 300; 301; 302; 306; 307; 309; 310; 312; 313; 315; 316; 318; 319; 321; 322; 325; 326; 327; 328; 330; 332; 335; 336; 338; 339; 343; 344; 350; 352; 354; 355; 356; 363; 364; 367; 368; 369.

9) Ausführlich zu beiden Texten B. S i rks , Juridical rationality in Rhetorics: the Roman Law in the Minor Declamations ascribed to Quintilian, nos 340 and 342, in: Istituto Milanese di diritto romano (Hg.), Atti del III seminario romanistico Gardesa-no, 1988, 331–359. Weitere Lit. bei Wycisk, S. 53–58.

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Sklaven, um die Zollgebühr zu sparen10), in einer toga praetexta an den publicani vorbei geschmuggelt hat. Die Deklamation, die den Standpunkt des Sklaven einnimmt, beginnt (status finitionis) mit einer sehr weitherzigen Definition des in libertate esse voluntate domini: Nos finimus ita: ‚voluntate domini in libertate est qui ius libertatis usurpavit domino volente‘ (decl. min. 340,1). Diese wird mit typischen Argumenten der Statuslehre begründet, bis der Rhetor zu dem Ergebnis gelangt, in libertate sei schon quisque caret forma servitutis (decl. min. 340, 4). Kunstvoll ist das abschlie-ßende Argument für diese Auslegung:

decl. min. 340,4 Non enim legum lator putavit etiam eos qui a dominis fuga abessent esse in libertate? Quod colligo scripto eius: ‘qui voluntate domini in libertate fuerit’: apparet aliquos et non voluntate domini in libertate esse: quod si verum est, potest in libertate esse etiam qui liber non est.

Der Redner will also aus dem Zusatz voluntate domini herauslesen, dass in libertate fuisse auch für die Sklaven gelten könne, die gegen den Willen ihres Herrn, also z. B. auf der Flucht, in Freiheit seien. Ziel dieser spitzfindigen Argumentation ist es, die quaestio parteiisch umzuformen: Da es nicht darum geht, die Freilassung und die Frei-heit des Sklaven festzustellen, sondern den Zustand des in libertate esse, verschiebt sich die Argumentation ganz auf das tatsächliche Verhalten von Sklave und Herr, d. h. die Anlegung der toga praetexta. Von der eigentlichen Rechtsfrage gelangt der Redner damit zur Argumentation aus den Fakten11), d. h.: Atqui hic puer non tantum pro libero sed etiam pro ingenuo est: praetextatus fuit (…) In summa velim ostendere totum tuum comitatum: quis habitus servorum fuit? (decl. min. 340,6–7) Mit dieser Vorbereitung kann das entscheidende Argument des Herrn, er habe den Sklaven nicht freilassen, sondern nur den Zoll sparen wollen, schnell entkräftet werden: Saepius eadem dicenda sunt (etiam gratulamur si invito te liber sit): liberum esse noluisti, sed in libertate esse voluisti. Nihil interest qua causa hoc feceris (…) (decl. min. 340,8). Hinzukommt, dass das Motiv des Herrn, den Sklaven am Zoll vorbeizuschmuggeln nicht ehrenwert war und – damit schließt die aequitas-Erwägung am Ende der decla­matio ab –, der Sklave, wenn er zum Herrn zurückkehrt, das Schlimmste zu befürchten hat (decl. min. 340,11f.).

Wycisk bescheinigt diesem Fall Wahrscheinlichkeitswert, da er in ähnlicher Weise auch von Sueton erwähnt werde (S. 53f.)12). Die rechtliche Würdigung des Redners, insbesondere das Argument, der Sklave könne ohne Freilassungswillen des Herrn die Freiheit erlangen, hält sie dagegen für nicht vereinbar mit dem römischen Recht (S. 57). Eine derart weitherzige Auslegung des Merkmals in libertate fuisse findet sich auch bei dem von Wycisk als „sehr unrealistisch“ (S. 55) bezeichneten Konstellation in decl. min. 34213). In dieser Deklamation haben Piraten den Sohn einer Familie gefan-gen und verlangen als Lösegeld die Verheiratung der Tochter mit dem Piratenkapitän. Anstelle seiner Tochter sendet der Vater eine als Freie verkleidete Sklavin, die den

10) Zur Nichtdeklaration vgl. G. Kl ingenberg , Commissum, Der Verfall nicht-deklarierter Sachen im römischen Zollrecht, 1977, 62–65 mit 62 Fn. 5 zur Stelle.

11) Vgl. dazu Quint. 7,6,7 non erunt hic separatae quaestiones, ‘an quisquis, an hic’, quia nullum potest adferri argumentum contra scriptum vehementius eo, quod in lite est, sed hoc tantum, an ne servandae quidem civitatis causa. ergo aequitate et voluntate pugnandum. (…).

12) Vgl. Suet. gramm. 25,9. 13) Vgl. bereits S i rks , cit. Anm. 9, 347f.

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Piratenkapitän heiratet und später beerbt. Als sie später reich zurückkehrt, verlangt der Eigentümer die Erbschaft heraus. Wie der Redner selbst ausdrücklich betont: Si­miles quaestiones sunt priori divisioni, eadem finitio (decl. min. 342,1). Unterschiede bestehen aber hinsichtlich der Motivation des Sklaveneigentümers, die in decl. min. 340 unehrenhaft, in decl. min. 342 ehrenhaft ist, was durch die Wahl der geschädigten Personen (publicani vs. pirates) herausgestellt wird14). Dennoch gelangt der Redner auch hier zu dem Ergebnis, dass die Sklavin die Freiheit erlangt habe:

decl. min. 342,10: Num dubium est quin hoc votum tuum fuerit, ut matronam appprobaret, ut filiam tuam approbaret? Noluisti eam in libertate esse de qua nihil magis timebas quam ne illa tibi tamquam ancilla remitteretur? Quamquam etiamsi remissa esset, iam tamen tua voluntate in libertate fuisset.

Wycisk hält einen derart weitgehenden favor libertatis für eine rhetorische Erfin-dung, denn „es war wohl nicht Sinn des Ediktes, den Eigentümern eine Sklaven-befreiung aufzudrängen, die sie nie beabsichtigt hatten“ (S. 57)15). Zwar knüpfe die zitierte Vorschrift an die lex Iunia an, dem prätorischen Edikt fehle jedoch die für die Argumentation des Redners wichtige Unterscheidung von in libertate fuisse und liberum esse (S. 56f.)16). Die Verf. bezieht damit Stellung in einem seit langem schwe-lenden Streit um die Authentizität der Gesetzeszitate in rhetorischen Schriften17). Das Meinungsspektrum reicht dabei von einer stillschweigenden Übernahme der rheto-rischen Zitate für die Rekonstruktion der rechtlichen Regelung18) bis hin zu der für diesen Fall auch von ihr befürworteten Annahme, es handele sich um eine erfundene Regelung, die in ihrer Formulierung an die lex Iunia anknüpfe (S. 56f.). Letzteres ist sicherlich ein plausibler Ansatz, wenn man, wie auch Wycisk andeutet (S. 56f.), die Eigenarten der rhetorischen Textgattung berücksichtigt: Da declamationes der Übung dienen, liegt es einerseits nahe, sich möglichst realitätsnah an bestehende Gesetze an-zulehnen, andererseits sind die zu behandelnden Gesetze dem didaktischen Zwecke anzupassen19). Ähnliches muss für die zu prüfenden Sachverhalte gelten, so dass die fehlende Realitätsnähe des Piratenfalls noch kein Argument gegen die Plausibilität der behandelten Rechtsprobleme darstellt20). Bekanntlich treiben Übungsfälle auch in der modernen Ausbildung teilweise Stilblüten.

Neben dieser allgemeinen Erwägungen zum Charakter der rhetorischen Unterwei-sung bleibt aber die Möglichkeit zu prüfen, ob nicht auch die Rechtsquellen ein viel-schichtigeres Bild zulassen, als dies die vielfach harmonisierende Darstellung der Li-

14) Zur voluntas des Vaters vgl. Wycisk, S. 57. 15) Vgl auch Si rks , cit. Anm. 9, 356f. 16) Zum Verhältnis des Textes zur lex Iunia vgl. Lit. bei Wycisk, S. 56f. Den Ver-

such, einer Rekonstruktion des Gesetzes unternimmt zuletzt M. Bales t r i Fuma-ga l l i , Lex Iunia de manumissionibus, 1985.

17) Dazu Lit. bei Wycisk, S. 20f. 18) So v. a. R . Dül l , Bruchstücke verschollener römischer Gesetze und Rechts-

sätze, in: Studi Volterra I, 1971, 113–139. 19) Grundlegend hierzu bereits H.E. Di rksen , Ueber die, durch griechische und

lateinische Rhetoren angewendete, Methode der Auswahl und Benutzung von Bei-spielen römisch-rechtlichen Inhalts, in: F.D. Sanio (Hg.), H.E. Dirksen’s Hinter-lassene Schriften zu Kritik und Auslegung der Quellen … I, 1871 254–280; ferner J . Dingel , cit. Anm. 4, 5f., gleichsinnig D. Nörr, Texte zur lex Aquilia, jetzt in: T.J . Chius i /W. Kaiser /H. -D. Spengler, Historia Iuris Antiqui I, 1701, 1708f.

20) Vgl. auch Si rks , cit. Anm. 9, 358, der eine didaktische Vereinfachung vermu-tet.

appp...?

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teratur, auf die sich Wycisk gestützt hat (vgl. S. 20), zulässt. So finden sich in Ulpians Ediktskommentar durchaus Anhaltspunkte dafür, dass das Kriterium in libertate fuisse nicht unbedingt den Freilassungswillen des Herrn berücksichtigt21):

D. 40,12,10 Ulp. 55 ad ed.: Quod autem diximus “in libertate fuisse” sic est acci-piendum non ut se liberum doceat is, qui liberale iudicium patitur, sed in possessione libertatis sine dolo malo fuisse. quid sit autem “sine dolo malo fuisse”, videamus. nam Iulianus ait omnes, qui se liberos putant, sine dolo malo in libertate fuisse, si modo se pro liberis gerant, quamvis servi sint. (…)

Der Editskommentar definiert in libertate fuisse – übrigens genau wie die der Red-ner im Gegensatz zu liberum fuisse – als in possessione libertatis sine dolo malo fu­isse. Wie das Zitat Julians zeigt, fallen damit alle Sklaven unter diese Bestimmung, die sich ohne Arglist als Freie geriert haben. Für die im Edikt zur Vorbereitung des Freiheitsprozesses vorgesehene controversia, utrum ex servitute in libertatem petatur an ex libertate in servitutem22) könnten die Ausführungen des Redners in decl. min. 340 und 342 mithin durchaus den rechtlichen Vorgaben entsprechen.

b. Ein umgekehrtes Beispiel für die gesetzestreue Zitierweise des Redners in der Übungsrede findet Wycisk in den rhetorischen Bezugnahmen auf die Gewinn- und Verlustverteilung in der societas omnium bonorum (S. 91ff.), wie sie vor allem in der decl. min. 320 diskutiert wird. Die Deklamation beginnt mit der knappen Nennung der Regel: Sociorum communia sint damna et lucra. Grundlage ist ein Fall23), in dem von zwei Gesellschaftern einer die Heimatstadt verlassen hat. Als die civitas in einen Krieg eintritt, wird dekretiert, dass die Güter der Abwesenden beschlagnahmt werden können, wenn sie nicht zu einem Stichtag zurückkehren. Da der eine Gesellschafter nicht rechtzeitig zurückkehrt, wird die Hälfte des gemeinschaftlichen Vermögens kon-fisziert. Er verlangt bei seiner Rückkehr die Hälfte des verbliebenen Vermögens her-aus. Ziel der Deklamation ist es, dieses Begehren zu begründen und den naheliegenden Einwand des verbliebenen Gesellschafters, der andere habe den Verlust verschuldet und entsprechend allein zu tragen, zurückzuweisen.

Zu diesem Zweck hebt der Redner zunächst die aequitas der zitierten Regel her-vor, indem er die Gewinn- und Verlustteilung aus der brüderlichen Verbundenheit der Gesellschaft erklärt (decl. min. 320,4)24). Nach Wycisk wird dieser Topos der Brüder-lichkeit auch in anderen declamationes25) bemüht und beschreibt die Beteiligung am Gesellschaftsvermögen „allgemein verständlich und populär“ (S. 94). Er findet sich auch in den Rechtsquellen26). Übereinstimmung zwischen dem römischen Recht kon-

21) Anders S i rks , cit. Anm. 9, 356: „All juridical sources demand an explicit vo-luntas on the part of the master to give the slave his or her freedom in an informal way.“ So bereits M. Wlassak , Die prätorischen Freilassungen, ZRG Rom. Abt. 26 (1905) 367–431, 374f. Insoweit könnten sich aber die Voraussetzungen des Edikts von der lex Iunia unterscheiden, wie M. Wlassak , loc. cit. 378 Fn. 1 erwägt. Un-klar Wycisk, S. 56f.

22) O. Lenel , Das Edictum perpetuum, 31927 (Nachdr. 1985), 384–386.23) Vgl. auch Wycisk, S. 91. Eine plausible Begründung für das Konfiskationsge-

setz liefern H.W. Nelson/U. Manthe , Gai Institutiones III.88–181, 1999, 313: „Ein Gesellschafter, der eine Geschäftsreise unternommen hatte, war, als (…) die Va-terstadt durch Krieg bedroht wurde, nicht in der Lage gewesen, sich rechtzeitig für den Militärdienst zu melden.“

24) Hierzu D. Nörr, Rechtskritik in der römischen Antike, 1974, 37 mit Fn. 160. 25) Vgl. Nachweise bei Wycisk, S. 94f. 26) Vgl. D. 17,2,63 pr. Ulp. 31 ad ed., vgl. dazu auch Wycisk, S. 94.

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statiert Wycisk auch mit Blick auf den einleitenden Rechtssatz: sociorum comunia sint damna et lucra, der sich in ganz ähnlicher Form in Ulpians Ediktskommentar finde, D. 17,2,52,4 Ulp. 31 ad ed. (S. 96).

Man kann an dieser Stelle bedauern, dass Wycisk den begonnenen Vergleich zwi-schen D. 17,2,52,4 Ulp. 31 ad ed. und der decl. min. 320 nicht weiter verfolgt. Gerade wenn man die juristische Wahrhaftigkeit der rhetorischen Ausführungen prüft, springt die Parallelität ins Auge, die zwischen den bei Quintilian angeführten Beispielen und den bei Ulpian gebildeten Fällen besteht.

decl. min. 320,10 Quid si etiam poenae id genus est quod casus attulit? Sane enim feramus hanc tuam finitionem, ut damnum credamus esse fortuitam rerum amissionem (…) quid fortuito accidit? bellum. quid fortuito accidit? ignorantia mea. non est tale quale si in furto deprehensus quadruplo damnatus essem. (…) Nam si naufragium fe-cissem, diceres: ‘vitio tuo; navigabas enim’, et si spoliatus essem a latronibus, diceres: ‘vitio tuo; parum diligenter custodiebas.’

In der Passage geht es darum, den Vorwurf des verbliebenen Gesellschafters, der andere habe durch seine Abwesenheit den Verlust verschuldet, als unerheblich zu entkräften. Zu diesem Zweck formuliert der Redner einen entsprechenden Einwand, wenn der Verlust durch Schiffbruch oder einen Raubüberfall eingetreten ist. Beide Beispiele müssen, wie die Formulierung (diceres) und die Zielsetzung der Argumen-tation zeigt (Widerlegung), anerkannte Fälle der gemeinsamen Gefahrtragung sein. Diese Überlegung wird durch die Lektüre des Ulpiantextes bestätigt:

D. 17,2,54,2 Ulp. 31 ad ed.27): Quidam sagariam negotiationem coierunt: alter ex his ad merces comparandas profectus in latrones incidit suamque pecuniam perdidit, servi eius vulnerati sunt resque proprias perdidit. dicit Iulianus damnum esse commu-ne ideoque actione pro socio damni partem dimidiam adgnoscere debere tam pecuniae quam rerum ceterarum, quas secum non tulisset socius nisi ad merces communi no-mine comparandas proficisceretur. sed et si quid in medicos impensum est, pro parte socium agnoscere debere rectissime Iulianus probat. proinde et si naufragio quid periit, cum non alias merces quam navi solerent advehi, damnum ambo sentient: nam sicuti lucrum, ita damnum quoque commune esse oportet, quod non culpa socii contingit. [Fettschrift U.B.]

Der Ausgangsfall ist hier der bei Quintilian an zweiter Stelle auftauchende räu-berische Überfall auf einen Gesellschafter. Dieser Verlust ist nach Julians Autorität zwischen den Gesellschaftern zu teilen28). Dasselbe soll für den Fall gelten, dass ein Gesellschafter beim Schiffstransport einer üblicherweise auf dem Wasser transportier-ten Ware, Schiffbruch erleidet. In verkürzter Form taucht genau dieses Motiv auch in der decl. min. 320 auf.

Die angedeutete Übereinstimmung zwischen der rhetorischen Motivbildung und dem juristischen exemplum bietet Anlass, über das Verhältnis der beiden Texte zuein-ander zu spekulieren: Welchen Hintergrund hat die Abwesenheit des Gesellschafters in der decl. min. 320? Wäre hier nicht auch an eine Reise zu Gesellschaftszwecken zu denken, wie sie bei Julian hervorgehoben wird29)? Sind diese Übereinstimmungen zufällig oder greifen Quintilian und Julian auf eine gemeinsame Tradition zurück?

27) Vgl. dazu K. -H. Misera , Zur Gefahrtragung bei der römischen societas, in: H. -P. Benöhr /K. Hackl /R. Knüte l /A. Wacke , Festgabe Kaser zum 80., 1986, 202f.; zuletzt J . -D. Harke , Societas als Geschäftsführung und das römische Obliga-tionensystem, TR 73 (2005) 43–66, 62f.

28) Vgl. auch D. 17,2,52,3 Ulp. 31 ad ed. 29) Zur notwendigen Voraussetzung der Verlustteilung erklärt dies J . -D. Harke ,

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Auch wenn diese Überlegungen wahrscheinlich nur zu Hypothesen führen, könnten sie doch helfen, die von Wycisk gestellte Frage nach der Verlässlichkeit der rhetori-schen Überlieferung für die römische Rechtslage zu präzisieren: Es nicht nur zu unter-suchen, ob die declamationes das römische Recht getreu abbilden, sondern ob Redner und Juri sten bei einer Norm von einheitlichen Voraussetzungen ausgehen. Eine Ant-wort hierauf erhält man nicht nur aus der jeweils überlieferten Gesetzesfassung oder Rechtsnorm, sondern auch aus dem Vergleich des Fallmaterials, das als exemplum für die Entscheidung anderer Fälle herangezogen wird.

Berücksichtigt man die Beispielskette in decl. min. 320, so wird man auch zu einer von Wycisk abweichenden Bewertung der rednerischen Geschicklichkeit gelangen. Wycisk bemängelt, dass der für den abwesenden Gesellschafter sprechende Redner seine Ausführungen mit den Worten beendet: hoc habent gravissimum damna, quod vix ulla sine paenitentia sunt. ergo tunc quoque si vitio meo factum esset, si lege vetere, damna tamen communia erant. Das Argument sei „ungeschickt und scheint im Wider-spruch zu stehen“ zu den vorherigen Ausführungen (S. 98). Sieht man den Satz dagegen als Zuspitzung der angeführten Beispiele an, so geht es dem Redner um eine parteiische Definition des Begriffes damnum. Wenn er es „als das Schlimmste an Verlusten“ an-sieht, „dass es kaum welche ohne Reue“ gebe, so gibt es keinen Grund, den abwesenden socius die Verlustteilung zu verweigern, weil er den Schaden herbeigeführt hat. Im Gegenteil: Wie der Schlusssatz der Deklamation ironisch herausstellt, wäre der Verlust sogar bei einem klaren Verschulden des abwesenden Gesellschafters30) zu teilen. Erst recht muss dies – so die stillschweigende Schlussfolgerung – für den Fall gelten, in dem der Gesellschafter von der Konfiskation durch nachträgliches Gesetz überrascht wurde.

c. Ein drittes und letztes Beispiel sei dem Strafrecht entnommen. Wycisk hebt her-vor, wie beliebt die Delikte adulterium, lenocinium und stuprum für die rhetorische Übung waren (S. 249). Nicht nur die declamationes sondern auch die institutio ora­toria enthielten häufige Bezugnahmen auf den Ehebruch (adulterium), da dieser dem Redner erlaube, plastische exempla zu formulieren (S. 249f.)31). Aus diesem Fragen-kreis sei die auch in den Juristenschriften häufiger behandelte Frage herausgegriffen, unter welchen Voraussetzungen der Ehemann die ehebrecherische Frau töten durfte (ius occidendi). Nach allem, was über die lex Iulia de adulteriis bekannt ist, gestattete sie nur dem pater familias32), nicht aber dem Ehemann33), die beim Ehebruch ertapp-te Frau straflos zu töten. Lediglich der Ehebrecher konnte vom Ehemann unter be-

cit. Anm. 27, 63: „Voraussetzung ist nur, daß die Schäden lediglich deshalb entstan-den sind, weil der Gesellschafter in Ausführung des Gesellschaftsvertrages tätig war.“

30) Vitium ist hier in der Tat wohl mit culpa gleichzusetzen, vgl. die Überlegungen von Wycisk, 98 Fn. 607. Der untechnische Begriff dient auch hier der parteiischen Färbung der Darstellung.

31) Einzelheiten zu Quint. 5,9,14; Quint. 7,36 und Quint. 7,3,9 bei Wycisk, S. 250. 32) Dazu grundlegend A.M. Rabel lo , Il ‘ius occidendi iure patris’ della ‘lex Iu-

lia de adulteriis coercendis e la ‘vitae necisque potestas’ del paterfamilias, in: Atti del seminario romanistico Internazionale Perugia, 1972, 228–242; weitere Lit. bei Wy-cisk, S. 251.

33) Nachweise dazu bei G. Rizze l l i , Lex Iulia de adulteriis, 1997, 11f. mit Fn. 17; O. Robinson , Quintilian and Adultery, in: M. Schermaier / J .M. Rainer /L .C. Winkel , Festschrift Mayer-Maly, 2002, 631–638, 633f. Zur Rekonstruktion der lex Iulia de adulteriis vgl. E .C. Green/A.D.E. Lewis , in: M.H. Crawford , Roman Statutes II, 1996, 781–786.

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stimmten Voraussetzungen getötet werden34). Dagegen scheint Quintilian, wie Wycisk herausarbeitet, sowohl in der institutio oratoria und auch in den declamationes von einem generellen Tötungsrecht des Ehemanns auszugehen (S. 252)35). Er zitiert näm-lich mehrfach eine Regelung mit den Worten: adulterum cum adultera liceat occide­re36) bzw. adulteros liceat occidere37). Besonders illustrativ ist in diesem Zusammen-hang die Mordanklage gegen den Ehemann in decl. min. 347. Er hatte seine Ehefrau sowie deren neuen Ehemann als Ehebrecher erschlagen, weil die Frau auf das Gerücht von seinem Tode vertrauend einen neuen (und jüngeren) Ehemann geheiratet hatte. Die Deklamation, die den Standpunkt des angeklagten Ehemanns vertritt, bestreitet zunächst die Wirksamkeit der zweiten Ehe und betont dann, dass der Irrtum über sein Ableben nichts daran ändere, dass beide, die Ehefrau wie der neue Ehemann, Ehe-brecher seien: Mihi ad defensionem hoc satis est: licuit (…) adulteri tamen fuerunt etiamsi ignoraverunt. (decl. min. 347,3)38). Genau wie beim favor libertatis stellt sich mithin die Frage, ob der Redner, der in seinem Gesetzesreferat über die Juristenschrif-ten hinauszugehen scheint, ein fiktives Gesetz zitiert. Wycisk äussert sich zu recht vorsichtig und schließt reale Gesetze als Vorlage für Quintilian nicht aus39):

„Dieses hier verwendete ‚generelle‘ Tötungsrecht muss jedoch nicht zwangsläu-fig auf der rechtlichen Unkenntnis oder der ‚künstlerischen‘ Phantasie Quintilians beruhen. So wird teilweise auf die Existenz früherer Gesetze, die dem Ehemann ein Tötungsrecht zubilligten, hingewiesen (…)“40).

Auch für dieses Problem lässt sich erkennen, dass ein engerer Vergleich zwischen Quintilians Werk und den juristischen Quellen möglicherweise hilfreich gewesen wä-re. Zwar gehen die Juristen ganz offenbar von der Strafbarkeit des Mannes aus, der seine Ehefrau beim Ehebruch getötet hat. Bei Papinian findet sich aber das Zitat zweier Reskripte41), die Nachsicht gegenüber dem Ehemann üben, der seine Frau beim Ehe-bruch überführt und im Affekt getötet hat42). Zwar sichern die kaiserlichen Entschei-

34) Vgl. auch Wycisk, S. 251. 35) Zum adulterium bei Quintilian vgl. allgemein O. Robinson , cit. Anm. 33.36) Wycisk, S. 250 Fn. 170. Zentral in decl. min. 244 adultera a marito exule occi­

sa; decl. min. 277 praegnas adultera; decl. min. 335 infamis in novercam vulneratus; decl. min. 347 und decl. min. 379 dives a parasito sacrilego reus caedis.

37) Wycisk, S. 250 Fn. 171. Zentral in decl. min. 279 dives speciosi adulter; 284 adulter sacerdos.

38) Weitere Beispiele bei Wycisk, S. 250–255.39) Vgl. Wycisk, S. 255, die v. a. auf griechische Vorbilder hinweist. Allgemein

zur Bedeutung des griechischen Rechts für die römische declamationes U.E. Paol i , Droit Attique et droit romain dans les rhéteurs latins, RHD 31 (1953) 175–199, jetzt in: ders ., Altri studi di diritto greco e romano, 1976, 79–101.

40) Wycisk, S. 252. 41) D. 48,5,39,9 Pap. 36 quaest. Imperator Marcus Antoninus et Commodus filius

rescripserunt: „si maritus uxorem in adulterio deprehensam impetu tractus doloris interfecerit, non utique legis Corneliae de sicariis poenam excipiet“. nam et divus Pius in haec verba rescripsit Apollonio: „ei, qui uxorem suam in adulterio deprehensam occidisse se non negat, ultimum supplicium remitti potest, cum sit difficillimum iustum dolorem temperare et quia plus fecerit, quam quia vindicare se non debuerit, puniendus sit. sufficiet igitur, si humilis loci sit, in opus perpetuum eum tradi, si qui honestior, in insulam relegari“. Auf den Text verweist auch O. Robinson , cit. Anm. 33, 636 mit Fn. 54.

42) Zu der rhetorischen Inspiration des Reskripts des Pius vgl. V. Marot ta , Mul-ta de iure sanxit, 1988, 192f.

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dungen dem Ehemann keine Straffreiheit zu. Sein Leben wird aber „geschont“, indem er zu lebenslanger Zwangsarbeit bzw. zur relegatio verurteilt wird43), d. h. gerade nicht die an sich verwirkte Strafe der lex Cornelia de sicariis erleidet44). Mit dieser Prämisse wäre zu erwägen, ob nicht das generelle ius occidendi in der rhetorischen Darstellung nur als pointierte Ausdrucksweise für die relative Verschonung des Mannes verstan-den werden könnte. Genau wie oben für den Freiheitsprozess wäre mithin auch hier näher zu prüfen, ob die Rechtsquellen nicht doch Erklärungsmuster bereithalten, die die rechtliche Darstellung in der rhetorischen Übung als haltbar erscheinen lassen, wenngleich vielleicht manches rechtliche Detail ungenau dargestellt und manche Tat-sache übertrieben und unrealistisch gewählt ist. Dass Wycisk diese Dimension des Vergleichs nicht einbezogen hat, wird man ihr angesichts der Fülle der Texte und der Vielfalt der behandelten Rechtsinstitute nicht zur Last legen, zumal sie ihren Ansatz insoweit selbst begrenzt hat (S. 20). 3. Insgesamt wird man auch dem differenzierten Urteil, das Wycisk am Ende ihres Werkes über die Verwendung des Rechts in Quintilians Schriften fällt, folgen kön-nen. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass der Rhetoriklehrer neben fiktiven oder aus der griechischen Tradition stammenden Vorschriften auch das zu seiner Zeit gelten-de römische Recht heranzieht (S. 357). Zur Erklärung verweist sie erneut auf den unterschiedlichen Blickwinkel, unter dem sich der Redner im Vergleich zu den Ju-risten mit dem römischen Recht beschäftigt (S. 360f.). Dies bedeute, freilich nicht, dass die Romanistik an den Lehrbüchern der Rhetorik vorbeigehen sollte: Zwar sei der Rhetoriklehrer kein „objektiver Gewährsmann des [sc. zu seiner Zeit] geltenden Rechts“ (S. 362), könne aber ein „Gefühl für die Gerichtspraxis und Rechtswirklich-keit“ seiner Zeit vermitteln.

Genau an diesem Punkt wird zukünftige Forschung ansetzen müssen, die zu prüfen hat, inwieweit die rhetorischen Schriften eine streitige forensische Argumentation und damit eine Rechtswirklichkeit transportieren, die in der justinianischen Kodifikation verloren gegangen ist. Dabei wird man freilich behutsam verfahren müssen, denn es bleibt letztlich offen, wie sich die Verbindung von Recht und Rhetorik bei Quintilian im Einzelnen gestaltet, ob also juristische Probleme nur rhetorisch aufbereitet werden oder ob der Blick des Rhetors auf das Gesetz auch mit einer anderen Fragestellung erfolgt als der des Juristen. Richtigerweise deutet Wycisk beide Möglichkeiten in ihren Schlussbetrachtungen an:

„Die Aussage Quintilians in DQ 338,5 … scholastica controversia complectitur quidquid in foro fieri potest ist also übertrieben. Allerdings kann ein offensichtlich erdachtes Thema nicht undifferenziert als juristisch wertlos abgetan werden; denn manchmal reflektiert das Gesetz, zu dem der Streitfall gebildet ist, ein tatsächliches rechtliches Verfahren, aber das Thema selbst ist so unwahrscheinlich oder trivial, dass die Verbindungen zu tatsächlichen Fällen nur sehr locker ist. Auch bieten die Schul-übungen viele Argumente, die auf dem Forum in ähnlich gelagerten Fällen vorgebracht werden können, und sie testen die rhetorischen Fähigkeiten eines Deklamators: je härter der Fall und je absurder, desto eher konnte für beide Seiten argumentiert werden und

43) Zu dieser Abschichtung der Strafen vgl. ausführlich R. Ri l inger, Humiliores – Honestiores, 1988, 187 und 189 sowie A. Met te -Di t tmann, Die Ehegesetze des Augustus, 1991, 64f.

44) Zur lex Cornelia de sicariis et veneficiis vgl. nur J . -L . Fer rary, in: Craw-ford , cit. Anm. 33, 749–753 Das Strafmaß ist im Einzelnen unklar. Zur Diskussion vgl. auch Ri l inger, cit. Anm. 43, 187f.

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musste der Redner alle Register ziehen, um zu überzeugen. Somit stellten die rhetori-schen Übungsfälle eine durchaus brauchbare Verbindung für das Forum dar“ (S. 361).

Insgesamt kommt Wycisk nicht nur das Verdienst zu, die Beziehungen von Rheto-rikunterricht und Rechtsanwendung erneut in Erinnerung zu rufen45). Sie legt vielmehr ein Kompendium zu Quintilians Werk vor, das den Leser nach heutigem Stand ver-lässlich über das römische Recht in Quintilians Werk informiert. Aus diesem Grund ist es allerdings umso enttäuschender, dass ein Quellenregister fehlt. Zwar hat die Verf. die Belegstellen aus Quintilian im Register aufgelistet, den Ort ihrer Behandlung aber unterschlagen. Dennoch wird die weitere Forschung zum Verhältnis von Rhetorik und römischen Recht mit Gewinn auf das Werk von Tonia Wycisk zurückgreifen.

Universität Zürich Ulr ike Babus iaux

Carol ine Humfress , Orthodoxy and the Courts in Late Antiquity. Oxford Univer-sity Press, Oxford 2007. XIV, 344 S.

Das hier zu besprechende Buch enthält wesentlich mehr, als der Titel verspricht. Geplant als Dissertation mit dem Gegenstand des beibehaltenen Titels, hat die Ver-fasserin sich mit bewundernswerter Gründlichkeit und Geduld in die Justizpraxis der Spätantike eingearbeitet und die dabei gewonnenen Ergebnisse in aller Ausführlich-keit zu präsentieren sich Raum und Zeit genommen1). Sie stellte nämlich fest, dass ihre hauptsächlich patristischen Quellen bisher weder von den Rechts- noch den Alt-historikern für die praktische Seite des damaligen Rechtswesens, den täglichen Kampf ums Recht, umfassend ausgewertet worden sind, bei allen Verdiensten, die sich etwa ein Ar tur S te inwenter 2) darum schon erworben hat. Dabei scheute sie sich nicht, auch auf all die anderen Quellen, insbesondere die Papyri und die juristischen Quellen gründlich einzugehen, soweit dies zur Bewältigung der erweiterten Aufgabe erforder-lich war. Hierbei ist ihr allerdings der eine oder andere Fehlgriff unterlaufen.

Die Arbeit ist, umrahmt von einer Introduction (S. 1–6) und einer Conclusion (S. 269–72), in drei Teile gegliedert: Forensic practitioners and the development of late Roman law (S. 7–132), worauf die Verf. also fast die Hälfte ihres Texts verwen-det hat; Forensic practitioners in the service of the late antique church (133–213); und schließlich der Hauptgegenstand: Orthodoxy, heresy, and the courts (215–268), wozu die Quellen nicht so reichlich fließen wie zu den vorbereitenden Teilen. Angehängt sind zwei alfabetische Verzeichnisse aller aus dem vierten bis sechsten Jahrhundert feststellbaren Anwälte des östlichen Reichsteils (S. 273–284), zusammen 152 (wozu noch Flavius Eutolmius Tatianus zu Beginn seiner Laufbahn hinzuzuzählen wäre3); und des westlichen (285–291), hier nur 84, wohl weil dieser Reichsteil dünner be-siedelt und weniger kultiviert war, auch die wortreicheren griechischen Kirchenväter sich hierzu nur selten äußerten. Es folgen eine Bibliography (S. 292–319), ein inte-

45) Vgl. aber auch das fast zeitgleich erschienene Werk von Langer, cit. Anm. 1. 1) Von ihr sind außerdem neun Aufsätze zum Umfeld ihres Themas erschienen,

aufgeführt S. 304f.; außerdem, gemeinsam mit ihrem Lehrer P. Garnsey, The Evo-lution of the Late Antique World, Cambridge 2001.

2) Dessen insoweit einschlägige Arbeiten sind auf S. 316 aufgelistet. 3) PLRE I 876–78 s. v. Tatianus 3.


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