Mobilität und demografische Entwicklung

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Umschlag

Band 07 Bernhard Schlag und Klaus J. Beckmann (Hrsg.)

Mobilität und demografischeEntwicklung

Mobilität und Alter

Eine Schriftenreihe der Eugen-Otto-Butz-Stiftung

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Die alternde Gesellschaft stellt neue Anforderungen an die Verkehrs-systeme. Es sind hohe Investitionen notwendig, um diese an die Mobili-tätsbedürfnisse älterer Menschen anzupassen und Mobilität als Teilder Daseinsvorsorge sicher zu stellen. Auch wenn die demografischenVeränderungen erst in Zukunft verstärkt wirksam werden, müssen sieschon heute in den Planungen berücksichtigt werden.

In diesem Buch begründen Wissenschaftler aus unterschiedlichenFachdisziplinen, warum es notwendig ist, Infrastruktur und Fahrzeugeim Straßen- und Bahnverkehr an den zukünftigen Mobilitätsbedarfanzupassen. Ihre detaillierten Analysen der Mobilitätsnachfrageberücksichtigen die unterschiedlichen Lebensumstände älterer Men-schen ebenso wie gesellschaftliche Entwicklungstendenzen, räumlicheVeränderungen und technische Neuerungen.

Konkrete Maßnahmen, mit denen das Verkehrssystem zukunftsfähiggestaltet werden kann, zeigt Teil 2 des Buches. Neben einem alters-gerechten Verkehrsraum, dem Auto der Zukunft und Fahrtrainings fürältere Autofahrer werden Lösungen für einen attraktiven ÖffentlichenVerkehr vorgestellt. Vorschläge zur Finanzierung einer barrierefreienVerkehrsinfrastruktur vervollständigen die Überlegungen zur Umset-zung der Maßnahmen.

Für bessere Zugänglichkeit barrierefreie PDF-Datei verfügbar unter www.butz-stiftung.de

ISBN 978-3-8249-1757-0ISSN (Print) 1862-6432ISSN (Internet) 1862-6424

Erschienen bei TÜV Media

Eine Schriftenreihe der Eugen-Otto-Butz-Stiftung

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Band 07 Bernhard Schlag und Klaus J. Beckmann (Hrsg.)

Mobilität und demografischeEntwicklung

Mobilität und Alter

Eine Schriftenreihe der Eugen-Otto-Butz-Stiftung

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Bibliografische Informationen der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar.

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ISBN: 978-3-8249-1757-0

ISSN der Reihe:Print: 1862-6432Internet: 1862-6424

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Der vorliegende Buchtext ist im Internet unter der Adresse

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auch als PDF-Datei erhältlich. Wir stellen eine Version zur Verfügung, die barrierefrei zugänglich ist.

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Bitte senden Sie uns eine E-Mail zu, wenn Sie Anregungen oder Kritik zurGestaltung der PDF-Datei haben. Sie helfen uns damit, die Zugänglichkeitder Schriftenreihe weiter zu verbessern.

Kontakt: info@butz-stiftung.de

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1 Vorwort

Staatliche Organisationen benötigen zur Planung und Steuerung ihrer ordnungs- und strukturpolitischen Aufgaben – wie auch für alle ande-ren staatspolitischen Pflichten, wie z. B. zur Realisierung von Maßnah-men bei der sogenannten „Daseinsvorsorge“ – zuverlässige Daten aus der Bevölkerungsstatistik. Diese Daten liegen seit vielen Jahrzehnten für unser Land vor. Darüber hinaus sind über die Bevölkerungs-Pro-zess-Statistik Umfang und Struktur bei den einzelnen Jahrgangsko-horten quantitativ erfassbar.

Das chronologische Alter ist einer der einfachsten Parameter, der der Bevölkerungsstatistik entnommen werden kann und der den demo-grafischen Wandel unserer Gesellschaft beschreibbar und vorher-sagbar macht. Im sog. „Altersaufbau der Bevölkerung“ kann die de-mografische Historie eines Landes - als Ausgleichsstatistik zwischen Fertilität und Mortalität - beschrieben und eine Prognose der zukünfti-gen Altersstruktur gegeben werden.

Schon gegen Ende des 20. Jahrhunderts waren Anzeichen des soge-nannten „demografischen Wandels“ erkennbar. So war z. B. ab 1972 zu beobachten, dass die Sterberate über der Geburtenrate lag und die Lebenserwartung pro Jahrzehnt – bei gleichzeitig rückläufiger Ge-burtenrate – angestiegen ist. Während das im Jahre 1973 gegründete Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung diese Veränderungen sys-tematisch erfasst, wurden Forschungseinrichtungen geschaffen, so z.B. 1995 das Max-Planck-Institut für demografische Forschung, die den demografischen Wandel systematisch und grundlagenwissen-schaftlich erforschen. Zahlreiche gerontologische Arbeitsbereiche, die sich mit den Bedingungen des Alters und des Alterns beschäftigten, wurden an den Universitäten gegründet. Die Zahl der publizierten em-pirischen Arbeiten zu dieser Thematik nahm demzufolge beachtlich zu.

Das chronologische Alter kann mit sehr unterschiedlichen Verhaltens-bereichen im gesellschaftspolitischen Kontext in Verbindung gebracht werden. So war der ältere Kraftfahrer schon in den Anfängen des motorisierten Straßenverkehrs Gegenstand der Verkehrs- und Unfall-forschung. Seitdem die demografische Entwicklung zu einer starken Zunahme der „automobilen Bevölkerung“ im Lebensabschnitt der äl-teren und alten Kraftfahrer geführt hat, ist die Thematik nicht länger

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nur auf das Unfallgeschehen dieser Gruppe gerichtet, sondern hat sich auch im politischen Raum auf den gesamten Bereich von „Alter und Mobilität“ erweitert.

Da zu dem Analysebereich „Alter und Mobilität“ im deutschsprachigen Bereich die Literaturlage wie auch die empirisch gestützte Befundla-ge als defizitär bezeichnet werden musste, hat die Eugen-Otto-Butz-Stiftung das Thema bereits 2001 aufgegriffen und über mehrere Jahre schwerpunktmäßig subventioniert. Mit dieser Förderung sollten einer-seits vorliegende Befunde zu psychologischen, gerontologischen und verhaltensbezogenen Merkmalen von älteren Verkehrsteilnehmern in Übersichtsdarstellung aufgearbeitet, wie auch Untersuchungen geför-dert werden, die Mobilitätsbedürfnisse und Mobilitätseinstellungen äl-terer Mensch und deren Veränderung erfassen. Darüber hinaus sollte auch in Bereichen, in denen es ökonomisch realisierbar ist, die Defizit- bzw. die Disusehypothese des Alterns überprüft werden.

Mit dem Erscheinen des 7. Bandes der Buchreihe, der nochmals die gesamte Bandbreite der Thematik von „Alter und Mobilität“ dokumen-tiert, soll eine Zwischenbilanz des Förderschwerpunktes durch die Stiftung markiert werden. In diesem Band werden nicht nur neue Be-funde berichtet, es werden auch konkrete Anforderungen an die Ver-kehrssysteme beschrieben, die sich durch den demografische Wandel ergeben. Wegen der gesellschaftlichen Relevanz der Thematik wer-den weitere empirische Analysen aus verschiedenen Forschungsins-titutionen folgen. Bei solchen weiterführenden Untersuchungen soll-te nicht nur an bisherige Befunde angeknüpft werden. Es sollte auch berücksichtigt werden, dass das chronologische Alter zwar ein leicht zugänglicher statistischer Wert ist, aber zugleich einen Parameter dar-stellt, der verschiedene und vielleicht sehr bedeutsame Komponen-ten des Alterns nicht repräsentiert. Die gerontologische Forschung hat bereits auf weitere interessante Alterscharakteristika aufmerksam gemacht. So wird z. B. mit entsprechenden Analysetechniken nach biochemischen und molekularbiologische Markern geforscht, die das biologische Alter zu bestimmen versuchen. Auch das psychologische bzw. das soziale Alter könnten weitere Aufschlüsse der Beziehung zwischen Alter und verschiedenen Verhaltensbereichen ergeben. Wenn zukünftig solche differenzierten Altersparameter genutzt und in neue Untersuchungen einbezogen werden können, ist zu hoffen, dass die immer noch existierenden Artefaktbefunde zu Unterschieden zwi-schen jüngeren und älteren Probandengruppen, die durch unzuläng-

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liche Methoden entstanden sind, als nicht gültig verworfen werden können. Damit könnte auch die immer noch aktuelle Frage nach den „wahren“, alternsbedingten Veränderungen beantwortet werden.

Es ist ein Verdienst der Eugen-Otto-Butz-Stiftung, dass sie in be-sonderem Maße dazu beigetragen hat, das oben genannte Defizit an Übersichtsdarstellungen zu Merkmalen älterer Verkehrsteilnehmern, an neueren Befunden zu Mobilitätsbedürfnissen, aber auch an kon-kreten Vorschlägen zur Verbesserung der Mobilität älterer Menschen mit der nun auf 7 Bände angewachsenen Schriftenreihe zu beheben.

Wir wünschen der Publikationsreihe weiterhin eine an der Thematik „Alter und Mobilität“ interessierte Leserschaft und danken an dieser Stelle nochmals allen Herausgebern und Autoren für die geleistete Ar-beit!

Univ. - Prof. Dr. Hartmut O. Häcker Wuppertal, im Nov. 2013

Vorsitzender des Kuratoriums der Eugen-Otto-Butz-Stiftung

11

AutorenverzeichnisProf. Dr.-Ing. Klaus J. Beckmann, Deutsches Institut für Urbanistik

GmbH, Zimmerstraße 13-15, 10969 Berlin, Tel.: +49(0)30 390 01 214, Fax: +49(0)30 390 01 216

beckmann@difu.de

Prof. Dr.-Ing. Manfred Boltze, Technische Universität Darmstadt, Verkehrsplanung und Verkehrstechnik, Petersenstraße 30, 64287 Darmstadt, Tel.: +49(0)6151 162025, Fax: +49(0)6151 164625

boltze@verkehr.tu-darmstadt.de

PD Dr.rer.nat. Arnd Engeln, Universität Tübingen, Sozial- und Wirt-schaftspsychologie, Schleichstraße 4, 72076 Tübingen; Tel.: +49(0)7071 29 72409, Fax: +49(0)7071 29 5899

arnd.engeln@uni-tuebingen.de; arnd.engeln@do-ux.de

Dr. Jürgen Gies, Deutsches Institut für Urbanistik GmbH, Zimmer-straße 13-15, 10969 Berlin, Tel.: +49(0)30 390 01 240, Fax: +49(0)30 390 01 216

gies@difu.de

Oliver Ivisic, M.A. HSG, Dammweg 30, CH-5000 Aarau, Tel.: +49 78 600 99 83(mobile)

oliver.ivisic@gmail.com

Dr.-Ing. Heiko Johannsen, Verein für Fahrzeugsicherheit Berlin e.V. c/o Technische Universität Berlin, Fachgebiet Kraftfahrzeuge, Gustav-Meyer-Allee 25, TIB 13, 13355 Berlin, Tel.: +49(0)30 692 057 210

Johannsen@Fahrzeugsicherheit-Berlin.de

Julia Moritz, Do UX GmbH, Mathildenstraße 28, 72072 Tübingen; Tel.: +49(0)7071 538897

info@do-ux.de; Julia.moritz@student.uni-tuebingen.de

Dipl.-Ing. Gerd Müller, Verein für Fahrzeugsicherheit Berlin e.V. c/o Technische Universität Berlin, Fachgebiet Kraftfahrzeuge, Gustav-Meyer-Allee 25, TIB 13, 13355 Berlin, Tel.: +49(0)30 692 057 211

Mueller@Fahrzeugsicherheit-Berlin.de

Dr. Sebastian Poschadel, Prospektiv GmbH, Gesellschaft für betrieb-liche Zukunftsgestaltungen, Kleppingstraße 20; 44135 Dortmund, Tel: +49(0)231 556 976 19, Fax: +49(0)231 556 976 30

poschadel@prospektiv-do.de

12

PD Dr. Joachim Scheiner, Technische Universität Dortmund, Fakul-tät Raumplanung, Verkehrswesen und Verkehrsplanung, August-Schmidt-Straße 10, 44221 Dortmund, Tel.: +49(0)231 755 4822, Fax: +49(0)231 755 2269

joachim.scheiner@tu-dortmund.de

Prof. Dr. Bernhard Schlag. Technische Universität Dresden, Verkehrs-psychologie, Hettnerstraße 1, 01062 Dresden, Tel.: +49(0)351 463 36510, Fax: +49(0)351 463 36513

schlag@verkehrspsychologie-dresden.de

Dipl.-Ing. Dipl.-Psych. Christoph Schulze, Technische Universität Dresden, Verkehrspsychologie, Hettnerstraße 1, 01062 Dresden, Tel.: +49(0)351 463 36701, Fax: +49(0)351 463 36704

Christoph.Schulze@tu-dresden.de

Prof. Dr.-Ing. Jürgen Siegmann, Technische Universität Berlin, Fach-gebiet Schienenfahrwege und Bahnbetrieb, Salzufer 17-19, 10587 Berlin, Tel.: +49(0)30 314 23314, Fax: +49(0)30 314 25530

jsiegmann@railways.tu-berlin.de

Prof. Dr. Annette Spellerberg, TU Kaiserslautern, Stadtsoziologie, Pfaf-fenbergstraße 95, 67663 Kaiserslautern, Tel.: +49(0)631 205 4854

spellerberg@ru.uni-kl.de

Prof. Dr. Wolfgang Stölzle, Lehrstuhl für Logistikmanagement, Uni-versität St. Gallen, Dufourstraße 40 a, CH-9000 St. Gallen, Tel.: +41(0)71 2247280, Fax: +41(0)71 2247315

wolfgang.stoelzle@unisg.ch

Prof. Dr. Hartmut Topp, topp.plan: Stadt.Verkehr.Moderation, Raaben-gasse 3, 67657 Kaiserslautern, Tel.: +49(0)631 8929108

topp.plan@t-online.de

Dr. Gert Weller, Technische Universität Dresden, Verkehrspsycholo-gie, Hettnerstraße 1, 01062 Dresden, Tel.: +49(0)351 463 36516, Fax: +49(0)351 463 36513

gert.weller@tu-dresden.de

13

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 9

Autorenverzeichnis 11

Inhaltsverzeichnis 13

Einleitung: Demografische Entwicklung und zukünftige Mobilität 21Bernhard Schlag und Klaus J. Beckmann

1 Zur Ausgangslage __________________________________ 212 Aufbau und Argumentation des Buches _______________ 253 Probleme älterer Menschen, Anforderungen an die Ver-

kehrsgestaltung und Lösungsmöglichkeiten: eine synopti-sche Übersicht _____________________________________ 30

4 Literatur ___________________________________________ 39

Entwicklungslinien der Mobilität im Alter – Bedingungen und Veränderungstendenzen 41Klaus J. Beckmann

1 Betrachtungsanlässe _______________________________ 412 Rahmenbedingungen für Mobilität im Alter _____________ 443 Zusammenhänge und Erklärungsmuster _______________ 474 Veränderungen des Mobilitätsverhaltens im Alter: Längs-

schnitt- und Kohortenbetrach tungen __________________ 504.1 Führerscheinbesitz im Alter __________________________ 554.2 Pkw-Verfügbarkeit __________________________________ 584.3 Wegeanzahl („Mobilitätsrate“) und Wegezwecke ________ 624.4 Wegeaufwände ____________________________________ 675 Handlungserfordernisse und Interventionen ____________ 716 Literatur ___________________________________________ 74

Soziale Lebenssituationen, Lebensstile und Mobilitätsanforderungen im Alter 77Annette Spellerberg

1 Einleitung __________________________________________ 772 Soziale Lebenssituationen älterer Menschen ___________ 803 Lebensstile und Mobilität ____________________________ 833.1 Lebensstile älterer Menschen ________________________ 843.2 Mobilitätsbedürfnisse einzelner Lebensstilgruppen _____ 87

14

4 Zusammenfassung _________________________________ 925 Literatur ___________________________________________ 936 Anhang ___________________________________________ 96

Soziale Teilhabe älterer Menschen: Ein Fokus auf Mobilität und Erreichbarkeit 101Joachim Scheiner

1 Einleitung _________________________________________ 1012 Hintergrund: Soziale Teilhabe im Kontext von

Mobilität und Erreichbarkeit _________________________ 1033 Sozialer Kontext I: Ressourcen und Restriktionen

sozialer Teilhabe ___________________________________ 1054 Räumlicher und verkehrlicher Kontext ________________ 1085 Sozialer Kontext II: Präferenzen _____________________ 1106 Zukünftige Entwicklungen __________________________ 1127 Handlungsmöglichkeiten ___________________________ 1148 Literatur __________________________________________ 116

Persönliche Veränderungen der Mobilität und der Leistungsfähigkeit im Alter 119Bernhard Schlag

1 Ändern sich Umfang und Art der Mobilität im Alter? ____ 1192 Verunglücken ältere Menschen im Straßenverkehr

häufiger? _________________________________________ 1233 Entwicklung der Leistungsfähigkeit älterer Menschen

in verkehrsrelevanten Parametern ___________________ 1284 Präventive Möglichkeiten zur Erhaltung von Mobilität

und Sicherheit im Alter _____________________________ 1365 Literatur __________________________________________ 139

Ergebnisse von Fahrversuchen mit älteren Pkw-Fahrern 145Gert Weller

1 Einleitung _________________________________________ 1452 Fahrversuche: Methodik ____________________________ 1472.1 Stichprobe _______________________________________ 1472.2 Strecke __________________________________________ 1482.3 Versuchsfahrzeug _________________________________ 1492.4 Auswertung des Blickverhaltens _____________________ 1492.5 Erhebung von Leistungsparametern im Labor _________ 1503 Ergebnisse der Labortests __________________________ 151

15

3.1 Exemplarische Unterschiede zwischen den Altersgruppen in physiologischen und kognitiven Tests _ 151

3.2 Sehschärfe: Visus 100 _____________________________ 1513.3 Gesichtsfeld ______________________________________ 1533.4 UFOV-Test, Selektive Aufmerksamkeit _______________ 1543.5 Visuelle Suche ____________________________________ 1553.6 Zusammenfassung der Befunde aus den Labortests ___ 1574 Ergebnisse der Fahrversuche _______________________ 1574.1 Auswertung der Innerorts-Situationen ________________ 1574.1.1 Beschreibung der Situationen _______________________ 1574.1.2 Blickverhalten beim Queren _________________________ 1604.1.3 Blickverhalten beim Rechtsabbiegen _________________ 1624.1.4 Unterschiede im Geschwindigkeitsverhalten __________ 1654.2 Blickverhalten und Geschwindigkeit auf Autobahnabschnit-

ten ______________________________________________ 1664.3 Zusammenhang zwischen Leistung im Labor und dem Fah-

rer- und Fahrverhalten ______________________________ 1715 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse _________ 1766 Literatur __________________________________________ 177

Trainierbarkeit der Fahrkompetenz im Alter 181Sebastian Poschadel

1 Einleitung _________________________________________ 1812 Alterskritische Funktionsveränderungen in Bezug

auf die Fahrkompetenz _____________________________ 1822.1 Visuelle Wahrnehmung und Verarbeitung visueller Informati-

onen _____________________________________________ 1832.2 Inhibition und Arbeitsspeicher (working memory) ______ 1862.3 Mehrfachtätigkeit __________________________________ 1872.4 Zusammenfassung alterskritischer (kognitiver) Funktions-

veränderungen in Bezug zur Fahraufgabe ____________ 1883 Kompensation ____________________________________ 1884 Möglichkeiten zum Erhalt und zur zeitlichen

Verlängerung der Fahrkompetenz bei älteren Fahrern __ 1904.1 Kognitive Plastizität im Alter ________________________ 1904.2 Beste Trainingsergebnisse werden erreicht,

wenn genau die Fähigkeit an sich trainiert wird ________ 1914.3 „Testing the Limits“: Bis zu welchem Ausmaß lassen

sich Multitasking-Fähigkeiten bei Älteren trainieren? ___ 1924.4 Grundlagenbasierter Trainingsansatz für ein

Fahrtraining älterer Fahrer __________________________ 193

16

5 Fahrtraining für ältere Fahrer im Realverkehr __________ 1945.1 Forschungsdesign des Fahrtrainings für ältere Fahrer __ 1945.2 Vorgehen _________________________________________ 1955.3 Hauptergebnisse des Fahrtrainings __________________ 1966 Zusammenfassung und Ausblick: Fahrtraining für

ältere Fahrer ______________________________________ 2017 Literatur __________________________________________ 207

Anpassung von Kraftfahrzeugen an die Anforderungen älterer Menschen auf Basis von Unfalldaten 211Heiko Johannsen und Gerd Müller

1 Unfallgeschehen __________________________________ 2111.1 Verletzungen älterer Fahrzeuginsassen _______________ 2121.2 Typische Unfallsituationen älterer Fahrzeugführer ______ 2182 Seniorengerechte Fahrzeuge ________________________ 2223 Fahrerassistenzsysteme ____________________________ 2254 Passive Sicherheit _________________________________ 2325 Aktuelle Diskussion in Bezug auf die Zulassung von Kraft-

fahrzeugen _______________________________________ 2346 Zusammenfassung ________________________________ 2357 Literatur __________________________________________ 236

Auto der Zukunft für Ältere? 239Arnd Engeln und Julia Moritz

1 Mobilität im Alter __________________________________ 2392 Mobilitäts- und sicherheitsrelevante

Veränderungen im Alter ____________________________ 2402.1 Sensorische Fähigkeiten ___________________________ 2402.2 Kognitive Fähigkeiten ______________________________ 2422.3 Motorische Fähigkeiten ____________________________ 2422.4 Einfluss von Krankheiten und Medikamentenkonsum __ 2432.5 Mobilitätsbezogene Bedürfnisse _____________________ 2433 Gestaltung von Kraftfahrzeugen _____________________ 2463.1 Ergonomie des Fahrzeugs __________________________ 2463.2 Fahrerunterstützungssysteme _______________________ 2474 Pilotstudie zur Mobilität im Alter _____________________ 2524.1 Methodik _________________________________________ 2534.2 Ergebnisse _______________________________________ 2545 Fazit: Auto der Zukunft für Ältere? ___________________ 2626 Literatur __________________________________________ 263

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Anpassung des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs an die Anforderungen älterer Menschen 267Jürgen Siegmann

1 Anforderungen älterer Menschen an den ÖV __________ 2682 Das System Öffentlicher Verkehr (ÖV) ________________ 2693 Details einer altersgerechten ÖV-Gestaltung __________ 2714 Der ältere Fahrgast im Zug __________________________ 2895 Besondere Anforderungen an Busse,

Stadt- und Straßenbahnen __________________________ 2906 Sicherheitsaspekte und Zuverlässigkeit

bei Nutzung des ÖV _______________________________ 2927 Zukünftige Entwicklung und Finanzierung ____________ 2948 Fazit für den öffentlichen Verkehr ____________________ 2959 Literatur __________________________________________ 296

Anpassung des Straßenverkehrs an die Anforderungen älterer Menschen: Infrastruktur und Straßenraumgestaltung 299Hartmut Topp

1 Anpassung für wen? Design für Alle! _________________ 299 2 Tempo 30 als stadtverträgliches Regellimit ____________ 300 3 Grundsätzliche Gestaltungs- und

Anpassungsprinzipien ______________________________ 301 4 Trennprinzip, Bordstein, Mischprinzip ________________ 303 5 Städtebauliche Bemessung von

Hauptverkehrsstraßen ______________________________ 307 6 Shared Space und Begegnungszonen _______________ 308 7 Verkehrssicherheit versus Leistungsfähigkeit __________ 313 8 Knotenpunktformen und -elemente __________________ 313 9 Ältere Menschen zu Fuß unterwegs __________________ 31510 Ältere Menschen und das Fahrrad ___________________ 31911 Barrierefreiheit und Orientierung _____________________ 32112 Soziale Sicherheit und Kriminalprävention ____________ 32213 Fazit _____________________________________________ 32114 Literatur __________________________________________ 325

Berücksichtigung der Belange älterer Verkehrsteilnehmer in der Straßenverkehrstech nik 327Manfred Boltze

1 Einleitung _________________________________________ 3272 Grundanforderungen _______________________________ 329

18

3 Lichtsignalanlagen _________________________________ 3303.1 Allgemeines ______________________________________ 3303.2 Entwurf des Signalprogramms ______________________ 3313.3 Knotenpunktentwurf _______________________________ 3353.4 Steuerungsverfahren _______________________________ 3373.5 Technische Ausführung ____________________________ 3373.6 Qualitätsmanagement ______________________________ 3384 Straßenmarkierungen und Beschilderung _____________ 3394.1 Straßenmarkierungen ______________________________ 3394.2 Beschilderung ____________________________________ 3434.3 Qualitätsmanagement ______________________________ 3455 Individuelle Leit- und Informationssysteme ___________ 3465.1 Allgemeines ______________________________________ 3465.2 Endgeräte ________________________________________ 3475.3 Informationsinhalte ________________________________ 3486 Zusammenfassung und Ausblick ____________________ 3497 Literatur __________________________________________ 351

Visuelle Barrierefreiheit – Besondere Herausforderung an die Verkehrsinfrastruktur 353Christoph Schulze

1 Einleitung _________________________________________ 3532 Einordnung visueller Barrierefreiheit __________________ 3543 Merkmale kontrastreicher Gestaltung ________________ 3564 Herausforderungen kontrastreicher Gestaltung ________ 3614.1 Umsetzung der definierten Kennwerte _______________ 3614.2 Grenzen der definierten Kennwerte __________________ 3624.3 Beeinflussung durch weitere Anforderungen __________ 3645 Erweiterung zur visuellen Barrierefreiheit______________ 3655.1 Erweiterung des Kontrastverständnisses _____________ 3665.2 Erweiterung durch zielorientierte

Anforderungsdefinition _____________________________ 3686 Ausblick __________________________________________ 3707 Literatur __________________________________________ 372

Demographic Challenges for the Transportation Industry 373Wolfgang Stölzle und Oliver Ivisic

Zusammenfassung: Herausforderungen der demografischen 373 Entwicklung für die Transportwirtschaft

19

1 Relevance of Demographic Changes for the Transportation Industry __________________________________________ 374

2 Demographic Factors of Influence on the Transportation Industry in DACH – Ageing Framework _______________ 376

3 Main Demographic Propositions for the Transportation In-dustry in DACH ___________________________________ 382

3.1 Human Resources in the Transportation Industry ______ 3823.1.1 Conditions of Employment in the

Transportation Industry _____________________________ 3823.1.2 Challenge: Demand for Labour in the Transportation Indust-

ry due to the Demographic Development _____________ 3833.1.3 Approach: Structural Alteration of Engagement

of Personnel in the Transportation Industry ___________ 3843.2 Consumption and the Transportation Industry

according to the Demographic Development __________ 3863.2.1 Youth and Aged Consumer Behaviour ________________ 3863.2.2 Challenge: Demographic Consumption Effects

on the Transportation Industry ______________________ 3873.2.3 Approach: Transportation Service Adaption due to Demo-

graphic Changes __________________________________ 3893.3 Ageing and Public Indebtedness as Determinants

for the Transportation Industry ______________________ 3903.3.1 Public Indebtedness _______________________________ 3903.3.2 Challenge: Impact of Ageing on Public Indebtedness

and Effects on the Transportation Industry ____________ 3913.3.3 Approach: Adjustment of the Transportation Industry

to Causes of Demography and Public Indebtedness ___ 3934 Implications for Further Research ____________________ 3935 Bibliography ______________________________________ 395

Anpassung der Verkehrsinfrastrukturen für ältere Menschen: Analyse von Finanzierungskonzepten 397Jürgen Gies

1 Einführung ________________________________________ 3972 Anforderungen älterer Menschen an die Verkehrsinfrastruk-

turen _____________________________________________ 3963 Verkehrsinfrastrukturen (auch) für ältere Menschen ____ 4003.1 Gesetzliche Bestimmungen und Handlungsrahmenbedin-

gungen ___________________________________________ 3983.2 Beispiele für den Handlungsbedarf zur Herstellung barriere-

freier Verkehrsinfrastrukturen ________________________ 404

20

4 Finanzierungskonzepte _____________________________ 4064.1 Aufteilung der finanziellen Verantwortung für Verkehrsinfra-

strukturen ________________________________________ 4074.2 Finanzierung barrierefreier Verkehrsinfrastrukturen _____ 4094.3 Weiterentwicklung der Finanzierungskonzepte ________ 4155 Resümee _________________________________________ 4196 Literatur __________________________________________ 419

21

Einleitung: Demografische Entwicklung und zukünftige Mobilität

Bernhard Schlag und Klaus J. Beckmann

1 Zur Ausgangslage

In allen Ländern vollzieht sich weltweit ein Wandel der Bevölkerungs-struktur hin zu einem steigenden Anteil älterer Menschen. Insbeson-dere in den Industrieländern ist die am stärksten wachsende Alters-gruppe die der 80-jährigen und älteren Menschen. Gleichzeitig steigen der Führerscheinbesitz und die Verfügbarkeit eines Pkw innerhalb die-ser Altersgruppe weiter an. Diese Entwicklung wird Auswirkungen auf die Mobilitätsstruktur und auf die Verkehrssicherheit haben.

Zur Aufrechterhaltung der Mobilität der alternden Gesellschaft sind er-hebliche Anpassungserfordernisse des Verkehrssystems erforderlich. Auch die Bundesregierung betont: „Der Mobilitätsbereich ist von den Folgen des demografischen Wandels … besonders betroffen. Die Si-cherung der Mobilität als Teil der Daseinsvorsorge gehört zu den we-sentlichen Herausforderungen des demografischen Wandels“ (Deut-scher Bundestag, 2013). Voraussetzung für gezielte Maßnahmen ist eine detaillierte Analyse der Nutzeranforderungen. Erst die Identifikati-on von Mobilitätshindernissen erlaubt die bedarfsorientierte Ableitung von Lösungen zur Überwindung dieser Barrieren und Hemmnisse. Ziel ist es im Sinne des resilience engineering, die Bewältigbarkeit von An-forderungen auch bei veränderter Leistungsfähigkeit sicherzustellen, im Verkehr also die sichere Erreichbarkeit gewünschter Ziele mit vor-handenen Mitteln.

Auch wenn demografische Veränderungen zum Teil erst langfristig für Raum- und Verkehrssysteme wirksam werden, müssen sie frühzei-tig berücksichtigt werden, da Planung, rechtliche Sicherung, Finan-zierung und bauliche Anpassung der Infrastrukturen lange Zeiträume benötigen – also heutige Planungen schon zukünftige demografische Gegebenheiten zur Entscheidungsgrundlage machen müssen.

Im Rahmen der Diskussionen um Auswirkungen demografischer Ver-änderungen auf Mobilität und Verkehr geht es gleichermaßen um die

22

Auswirkungen auf die quantitative Verkehrsnachfrage, deren räumliche Verteilung sowie deren Aufteilung auf die verschiedenen Verkehrsmit-tel, letztlich um die Konsequenzen für Konzeption, Finanzierung und Bereitstellung von Verkehrsinfrastrukturen und Betriebsangeboten. Schlagworte wie „Schrumpfung“, „demografische Alterung“, „struktu-relle Alterung“ infolge der überwiegenden Abwanderung junger qua-lifizierter Menschen aus strukturschwachen Räumen sowie „Entfall des Schülerverkehrs“ als betriebssichernde Basisnachfrage im Öf-fentlichen Personennahverkehr dünn besiedelter Räume zeigen den Handlungsbedarf. Diesem stehen Erwartungen auf technische, aber auch organisatorische und soziale Innovationen sowie elektronische Dienste gegenüber, die insbesondere auch älteren Menschen zugute-kommen könnten.

Mit der Alterung der Gesellschaft sind erhebliche Anpassungserfor-dernisse des Verkehrs(angebots)systems erforderlich. Dies gilt glei-chermaßen in Regionen, die hinsichtlich der Bevölkerungsanzahl abnehmen oder stagnieren, wie auch in wachsenden Regionen, da der Anteil der älteren Menschen unter den Verkehrsteilnehmern in al-len Teilräumen zunimmt. Dabei ist aber davon auszugehen, dass äl-tere Menschen in Zukunft insgesamt mobiler sein werden. Räumlich und zeitlich disperse Nachfragemuster werden zunehmen, was ver-änderte Anforderungen an die Gestaltung von Angeboten im ÖPNV auslöst. Auch dehnen sich Aktionsräume infolge der motorisierten Mobilitätsmöglichkeiten aus. Dies hat zum einen erweiterte Wahl-möglichkeiten zur Folge, bedingt aber längerfristig eine Schwächung der Nachfrage im wohnungsnahen Bereich und damit eine Aufgabe und Ausdünnung entsprechender Nutzungsangebote wie Läden oder Dienstleistungsbetriebe im „Nahraum“ (vgl. Beckmann, in diesem Band).

Heterogenität zeigt sich auch im individuellen Bereich im höheren Lebensalter verstärkt. Sie betrifft die Unterschiedlichkeit der psycho-physischen Leistungsfähigkeit kalendarisch gleich alter Menschen (biologisches oder funktionales Alter) ebenso wie ihre soziale und ökonomische Lebenslage. Verschiedenartigkeit und Disparitäten im Lebenslauf können sich im Alter in günstiger wie in ungünstiger Wei-se kumulativ auswirken. Neben der materiellen Lebensgrundlage sind dabei auch Bildung und sozialer Status zu berücksichtigen. Biogra-phisch über den Lebenslauf wirksame soziale Ungleichheit hat einen erheblichen Einfluss auf das Ausmaß sozialer Einbindung und damit

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auch auf die Chancen gesellschaftlicher Teilhabe (vgl. Kricheldorff & Tesch-Römer, 2013).

Auch wenn es eine Reihe von Beispielen gibt, bei denen Gestaltungs-prinzipien verwirklicht sind, die die Teilhabe älterer Menschen fördern, fehlt es in weiten Teilen der Verkehrssysteme bisher an der Berück-sichtigung relevanter Kriterien einer altengerechten Gestaltung. In vielen Bereichen jedoch kann eine Gestaltung für Ältere allen nutzen und zu einem „Design für alle“ werden. „Universal design“, „design for all“, „inclusive design“ (Müller, 2003) oder „transgenerational design“ (Pirkl, 1994) folgen der zentralen Idee einer Gestaltung für die gesamte Bevölkerung ohne bestimmte Zielgruppen auszuschließen. Prinzipien eines solchen universalen Produktdesign sind beispielsweise:

„1.  Equitable use – the design is useful and marketable to people with diverse abilities.

2.  Flexibility in use – the design accommodates a wide range of indivi-dual preferences and abilities.

3.  Simple and intuitive to use – use of the design is easy to under-stand, regardless of the user’s experience, knowledge, language, skill or current concentration level.

4.  Perceptible information – the design communicates necessary in-formation effectively to the user, regardless of ambient conditions or the user’s sensory abilities.

5.  Tolerance for error – the design minimises hazards as the adverse consequences of accidental or unintended actions.

6.  Low physical effort – the design can be used efficiently and effec-tively with a minimum of fatigue.

7.  Size and space for approach and use – appropriate size and space is provided for approach, reach, manipulation, and use regardless of user’s body size, posture or mobility.“ (Coleman et al., 2003, S. 13)

Allerdings finden sich Kriterien einer altengerechten Gestaltung gera-de im Verkehrsbereich nicht selten auch in einem Widerspruch zu bis-her höher gewichteten Gestaltungszielen. So ist für ältere Menschen

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regelmäßig die Erreichbarkeit wichtiger als die Geschwindigkeit, über-schaubare Einfachheit besser als eine zu komplexe Vielfalt, Gleichmä-ßigkeit und Handlungssicherheit wichtiger als schnelle Wechsel, die für Jüngere besonders anregend wirken können.

Das heutige Verkehrssystem altengerecht zu gestalten, erfordert ei-nen erheblichen Investitionsbedarf vor allem bei der kommunalen Verkehrsinfrastruktur. Bis zum Jahr 2030 müssen nach Analysen des DIFU (Eberlein et al., 2012) ca. 53 Mrd. Euro investiert werden, um Barrierefreiheit und auf diesem Wege eine altengerechte Infrastruk-tur zu schaffen. Der weitaus größte Teil des Investitionsbedarfs fällt dabei beim öffentlichen Personennahverkehr sowie bei Straßen und dem Wohnumfeld an. Allein in kommunalen Verkehrssystemen wird der entsprechende Investitionsbedarf bis 2030 auf ca. 28 Mrd. Euro geschätzt. Bisher sind laut DIFU-Umfrage, in der 400 Städte und Gemeinden befragt wurden, nur 63 % der Zugänge des öffentlichen Personennahverkehrs barrierefrei, bei Straßen und Wohnumfeld 50 % und bei den Gebäuden 20 %.

Investitionsbedarf für eine altengerechte Anpassung von Infrastruktur

Abbildung 1: Altengerechter Umbau der Infrastruktur: Investitionsbedarf der Städte und Gemeinden (Quelle: Eberlein et al., 2012, S. 11)

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2 Aufbau und Argumentation des Buches

Der vorliegende Band analysiert die demografische Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die zukünftige Mobilität in zwei Teilen, einem ersten Teil, in dem gesellschaftliche Entwicklungstendenzen und zen-trale Forschungsergebnisse zum Thema zusammengefasst werden (Kapitel 2. bis 6.), und einem zweiten Teil, in dem es um verkehrsbe-zogene Handlungsoptionen und Interventionsmöglichkeiten in einer Gesellschaft mit einer alternden Bevölkerung geht (Kapitel 7. bis 15.). Die Deskription der Mobilität und ihrer Veränderungen im Zuge des demografischen Wandels, Mobilitätsanforderungen auf der Grundlage der sozialen Lebenssituation und von Zielsetzungen wie Erreichbar-keit (access) und sozialer Teilhabe (inclusion) auch im Alter werden im ersten Teil ebenso behandelt wie die Veränderung der Vorausset-zungen aufseiten der alternden Menschen selbst. Darauf aufbauend geht es im zweiten Teil des Buches um Notwendigkeiten und konkre-te Möglichkeiten einer Anpassung der Verkehrsinfrastruktur und der Fahrzeuge, sowohl im Straßen- wie im Bahnverkehr, um Möglichkei-ten zur Umsetzung von Forderungen nach Barrierefreiheit und um ihre Finanzierung sowie um die gesellschaftliche Unterstützung der Adap-tationsleistungen der älteren Menschen selbst.

Im zweiten Kapitel beschreibt Klaus J. Beckmann Entwicklungslinien der Mobilität im Alter vor allem anhand der Erhebungen zur Mobilität in Deutschland (MiD). Ältere Menschen werden in Zukunft einen deut-lich höheren Anteil an allen Verkehrsteilnehmern ausmachen als dies noch für die heute alte Generation gilt, einmal wegen der demogra-fischen Entwicklung mit mehr alten und weniger jungen Menschen, zum anderen aber auch, weil – wie sich bereits heute abzeichnet – der im Alter regelmäßig anzutreffende lebensgeschichtliche Rückgang der Anzahl der Wege und der gefahrenen Kilometer/Jahr bei zukünftigen Alterskohorten weit weniger deutlich ausfallen wird als bei bisherigen Kohorten. Aus der Betrachtung dieser Entwicklung im gesellschaftli-chen Kontext leiten sich vielfältige Anpassungsnotwendigkeiten der Verkehrsinfrastruktur ab.

Annette Spellerberg geht auf Mobilitätsanforderungen im Alter im Zu-sammenhang mit sozialen Lebenssituationen und Werthaltungen ein und analysiert Reagibilitäten. Sie betont die soziale, individuelle und auch mobilitätsbezogene Heterogenität im Alter. Unter den Senioren entwickeln unterschiedliche Lebensstilgruppen auch unterschiedliche

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Mobilitätsanforderungen, je nach materiellen und sozialen Ressour-cen, räumlicher Situation und Pkw-Verfügbarkeit.

Joachim Scheiner beschreibt die Zusammenhänge zwischen Mobi-lität und Erreichbarkeit (access) auf der einen und sozialer Teilhabe (inclusion) auf der anderen Seite. Er schließt eine historische Perspek-tive ein, zeichnet Umrisse einer im Zuge des demografischen Wandels veränderten Stadt der Zukunft und benennt Probleme der Verwirkli-chung einer „Stadt der kurzen Wege“.

In den Kapiteln 5 bis 7 geht es um individuelle Bedingungen aufseiten des alternden Menschen. Einen Überblick über die vielfältigen per-sönlichen Veränderungen der Mobilität und der Leistungsfähigkeit im Alter gibt Bernhard Schlag im fünften Kapitel. Alterskorrelierte Verän-derungen der Wahrnehmung sowie regelmäßige kognitive und moto-rische Entwicklungen stellen den Hintergrund dar, auf dem veränderte Anforderungen an die physische und soziale Lebensumwelt entste-hen, denen mit Anpassungen der Infrastruktur und der gesellschaft-lichen Institutionen und Normen Rechnung zu tragen ist. Im höheren Lebensalter fällt eine Vielzahl sensomotorischer Handlungen zuneh-mend schwer, vor allem wenn gleichzeitig kognitive Anforderungen zu erfüllen sind. Durch langjährige Übung und Erfahrung werden erwar-tungskonforme Anforderungen hingegen in aller Regel gut bewältigt.

Bevor die Argumentationskette „Psychophysische Veränderungen der Leistungsfähigkeit im Alter – Anforderungen an die Gestaltung der Verkehrsumwelt – Anpassung der materiellen und sozialen Strukturen“ vor allem aus ingenieurwissenschaftlicher Sicht weiter konkretisiert wird, teilen die beiden folgenden Beiträge zunächst die individuelle Perspektive: Wie wirken sich die regelmäßigen persönlichen Verän-derungen der Leistungsfähigkeit im Alter bei der Verkehrsteilnahme aus? Sind diese Veränderungen in ihren Auswirkungen kompensier-bar und eventuell durch gezieltes Training auszugleichen? Gert Wel-ler berichtet über aufwendige Fahrversuche mit älteren Autofahrern und stellt die Ergebnisse in Beziehung zu Labortests. Die Leistungen aktiver älterer Autofahrer in unterschiedlichen perzeptiven, kognitiven und motorischen Leistungstests im Laborversuch fielen durchgängig ungünstiger aus als bei einer Vergleichsgruppe aus Fahrern mittleren Alters. Diese Unterschiede machten sich bei Fahrversuchen im Real-verkehr jedoch kaum bemerkbar. Dieses Ergebnis stimmt überein mit den Befunden von Poschadel et al. (2012), nach denen ein schlechtes

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Abschneiden älterer Autofahrer bei Labortests und ärztlichen Unter-suchungen kein guter Prädiktor für eine schlechte Fahrkompetenz ist. Zum Teil sind die Älteren in der Lage, Schwächen auszugleichen, zum Teil verstehen sich diese Ergebnisse jedoch auch vor dem Hin-tergrund, dass im Straßenverkehr – anders im Labor – ein „testing the limits“ nicht möglich, somit kritische Grenzbereiche, in denen eine normale Leistungsfähigkeit nicht mehr ausreicht, im Realverkehr nur sehr selten erreicht werden. Simulatorstudien könnten hier die Lücke zwischen experimenteller Variierbarkeit und Kontrollierbarkeit auch komplexer Fahrbedingungen (im Labor bzw. Simulator) und hoher ex-terner Validität (der Fahrversuche) schließen. Allerdings müsste dazu die im Alter häufiger auftretende Simulatorkrankheit mit verbesserten Simulatoren beherrscht werden.

Die Studien von Sebastian Poschadel können eindrucksvoll belegen, dass Fahrkompetenzen auch im höheren Lebensalter gezielt trainier-bar sind. Dies eröffnet eine Perspektive jenseits der Diskussion um eine altersbezogene Begrenzung der Fahrerlaubnis (siehe auch Po-schadel et al., 2012). Gerade für ältere Autofahrer und Autofahrerin-nen, die längere Zeit nicht aktiv gefahren sind, kann ein solches Trai-ning unmittelbar hilfreich sein. Eine solche zeitliche Zession ist häufig anzutreffen, wenn z. B. der Ehemann, der bisher (warum auch immer) häufiger der Fahrzeuglenker war, (wie statistisch zu erwarten) früher verstirbt, das Auto ebenso wie die Fahrerlaubnis der Frau jedoch vor-handen sind und das Lebensumfeld auf die Nutzung des Autos abge-stellt ist. Einige Stunden eines gezielten Fahrtrainings können in dieser Situation einerseits die Fahrkompetenzen auffrischen und andererseits die Angst vor dem selbstständigen Fahren nach langer Unterbrechung mindern – und damit der Witwe helfen, den gewohnten Lebensstil und Aktionsraum weitgehend zu erhalten.

In den folgenden Kapiteln, dem zweiten Teil des Bandes, geht es um unterschiedliche gesellschaftliche und infrastrukturelle Anpassungs-erfordernisse im Verkehrsbereich, mit denen den Herausforderungen der demografischen Entwicklung begegnet werden kann, und um de-ren konkrete Umsetzung.

Heiko Johannsen und Gerd Müller stellen Anpassungsoptionen für Kraftfahrzeuge dar, mit denen den spezifischen Unfallverursachungs-problemen älterer Autofahrer begegnet werden kann. Ein Auto der Zu-kunft ist in diesem Sinne ein Fahrzeug, das den Anforderungen älterer

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Nutzer gerecht wird und damit auch Komfort- und Sicherheitsvorteile für andere Altersgruppen aufweist, sodass ein negatives Labeling als „Seniorenfahrzeug“ nicht trifft.

Fahrzeuge sollten nicht nur Rücksicht auf Probleme von Nutzergrup-pen nehmen und diese, wenn möglich, ausgleichen helfen, sondern sie müssen vor allem auch deren Bedürfnissen entgegenkommen. Auf der Grundlage von Erhebungen mobilitätsbezogener Bedürfnisse älterer Menschen bestimmen Arnd Engeln und Julia Moritz Anforde-rungen an altersgerechte Verkehrsmittel. Welche materiellen, sozialen und psychologischen Bedürfnisse älterer Nutzer muss im Besonderen ein „Auto der Zukunft“ erfüllen?

Werden die Bahn und der öffentliche Verkehr den Anforderungen älte-rer Menschen in besonderem Maße gerecht? Jürgen Siegmann stellt entsprechende Potenziale des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs (ÖV) ebenso dar wie seine Anpassungsmöglichkeiten und -notwen-digkeiten, um attraktiv für in Zukunft noch weniger als heute an dieses Verkehrsmittel gebundene, wahlfreie ältere Menschen zu sein. Anhand einer typischen ÖV-Reise von Haus zu Haus stellt er Probleme und konkrete Lösungsmöglichkeiten in den unterschiedlichen Phasen der Reisekette dar.

Eine Vielfalt von altersgerechten Anpassungsmöglichkeiten des Stra-ßenraums betrachtet Hartmut Topp konkret und detailgenau. Während viele Planungsgrundlagen für eine barrierefreie Nutzung von Straßen-verkehrsanlagen bereits vorliegen, mangelt es vielerorts an der Um-setzung. Neue Gestaltungsvarianten wie shared space und Begeg-nungszonen werden eingeschlossen. Eine altengerechte Verkehrswelt ist demnach weniger komplex und selbsterklärend, dies auch durch Standards und Routinen, sie ist zeit- und fehlertolerant sowie barrie-refrei. Im Mittelpunkt steht dabei die Geschwindigkeit der Verkehrs-abläufe, die dem erhöhten Zeitbedarf älterer Menschen zukünftig weit besser Rechnung tragen muss.

In ähnlicher Weise besteht in der Straßenverkehrstechnik ein Umset-zungsdefizit bei der Berücksichtigung der Belange älterer Verkehrs-teilnehmer. Auch hier liegen in weiten Teilen passende Regelwerke vor, deren Umsetzung vor Ort allerdings nicht nur aus finanziellen Gründen manchmal vor Schwierigkeiten steht. Allerdings stehen ebenso An-passungen beispielsweise der Vorgaben zu den Querungszeiten an

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Lichtsignalanlagen (LSA) an die Gehgeschwindigkeiten älterer Men-schen noch aus. Allein dieses Beispiel zu den Umlaufzeiten an LSA zeigt, wie deutlich sich Verkehrsabläufe durch die notwendigen An-passungen verändern werden. Manfred Boltze behandelt in diesem Kapitel neben LSA vor allem Straßenmarkierungen und Beschilderun-gen sowie individuelle Leit- und Informationssysteme.

Barrierefreiheit ist bisher vor allem mit der Gestaltung für körperlich-motorische Einschränkungen (z. B. rollstuhlgerecht) verknüpft. Ergo-nomische Anpassungen werden seit vielen Jahren auch in der Pla-nung von öffentlichen Außenräumen sowie der Verkehrsinfrastruktur berücksichtigt. Auch gibt es detaillierte Vorgaben zur gezielten Gestal-tung taktiler Merkmale für Blinde. Ein vergleichsweise neues Thema ist die visuelle Barrierefreiheit, die Christoph Schulze an vielen Beispielen konkretisiert. Während Auslöser vor allem die Belange Sehbehinderter waren, versteht sich die hohe Bedeutung visueller Barrierefreiheit vor dem Hintergrund der teilweise starken sensorischen (und im Verkehr eben besonders: visuellen) Einschränkungen mit zunehmendem Alter.

Wie können sich die Transportindustrie und der Güterverkehr auf die Herausforderungen des demografischen Wandels einstellen? Wolf-gang Stölzle und Oliver Ivisic analysieren Trends für Deutschland, Ös-terreich und die Schweiz. Demografische Veränderungen werden zu einer geänderten Nachfrage führen und darüber zu veränderten Wa-renströmen. Spezifische Probleme können sich gerade in diesem Feld auch mit längerer, teilweise hoch beanspruchender Berufstätigkeit bis zum 67. Lebensjahr (oder darüber hinaus) ergeben.

Who pays the bill? Die betrachteten Anpassungen vor allem der Ver-kehrsinfrastruktur werden Kosten verursachen. Jürgen Gies analysiert Finanzierungskonzepte, die geeignet wären, die Anpassungskosten im Zuge des demografischen Wandels zu tragen. Damit mündet die Diskussion um die zukünftige Mobilität einer alternden Gesellschaft in die nicht nur in Deutschland begonnene Debatte um die zukünftige Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur.

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3 Probleme älterer Menschen, Anforderungen an die Verkehrsgestaltung und Lösungsmög-lichkeiten: Eine synoptische Übersicht

In einem synoptischen Überblick werden auf den nächsten Seiten re-gelmäßige Entwicklungen im Alter mit Möglichkeiten verbunden, die-sen im Verkehrsgeschehen Rechnung zu tragen. Zugleich werden da-mit wesentliche praktische Ergebnisse der folgenden Buchbeiträge in kurzer (und keineswegs abschließender) Form zusammengefasst. Ne-ben den Kapiteln dieses Bandes haben in diese synoptische Übersicht unter anderem Ergebnisse und Überlegungen aus Eby et al. (2009), Schlag (2008), Berry (2011), FIS (2013) sowie den EU-Projekten Safer Mobility for Elderly Road Users (SaMERU) und Growing Older, stAying mobiL (GOAL) Eingang gefunden. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass eine deutlich zunehmende Anzahl und ein noch deutlicher wach-sender Anteil älterer Menschen im Verkehrsgeschehen Anpassungs-leistungen auf allen Ebenen erforderlich machen.

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Als Herausgeber danken wir allen Autorinnen und Autoren ganz herz-lich für ihre fundierte, engagierte und innovative Arbeit. Genauso danken wir allen Reviewern, die die Arbeit der Autoren auf kollegiale Weise unterstützt und zur Qualität der Beiträge beigetragen haben. Für die kompetente Redaktion aller Beiträge und ihre immer präzise und hilfreiche Korrekturarbeit danken wir Sabine Mierswa und Barbro Rönsch-Hasselhorn. Ein besonderer Dank gebührt der Eugen-Otto-Butz-Stiftung, Wuppertal, die die Arbeit an diesem Buch großzügig unterstützt hat.

4 LiteraturBeckmann KJ (2013) Entwicklungslinien der Mobilität im Alter – Bedingungen und

Veränderungstendenzen. In diesem Band.

Berry C (2011) Can older drivers be nudged? How the public and private sectors can influence older drivers’ self-regulation. London: RAC Foundation.

Coleman R, Lebbon C, Clarkson J & Keates S (2003) From margins to mainstream. In: Clarkson J, Coleman R, Keates S & Lebbon C eds. Inclusive Design. Design for the whole population Pp 1- 29. London: Springer.

Deutscher Bundestag (2013) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Oliver Kaczmarek, Ute Kumpf, Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD – Drucksache 17/11860 – Zukunft der Mobilität – Entwicklung der Mobilitätsforschung des Bundes. Berlin: Heenemann. (Bundestag Drucksache 17/12119, 17. Wahlperiode, veröffentlicht am: 18. 01. 2013).

Eberlein M & Klein-Hitpaß A (2012) Altengerechter Umbau der Infrastruktur: Investiti-onsbedarf der Städte und Gemeinden. Berlin. (Difu-Impulse, 6/2012).

Eby WD, Molnar LJ & Kartje PS (2009) Maintaining Safe Mobility in an Aging Society. Boca Raton: CRC Press, Taylor & Francis.

FIS – Forschungs-Informations-System für Mobilität, Verkehr und Stadtentwicklung des BMVBS (2013) Wissenslandkarte Mobilität älterer Menschen. Verfügbar unter:

http://www.forschungsinformationssystem.de/servlet/is/399136/?clsId0=276646&clsId1=0&clsId2=0&clsId3=0 (28.7.2013).

GOAL – Growing Older, stAying mobile (2013) Transport needs for an aging society. Action plan, 1st draft. Verfügbar unter: http://www.goal-project.eu/(28.7.2013).

Kricheldorff C & Tesch-Römer C (2013) Altern und soziale Ungleichheit. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 46(4):304-305.

Mueller J (2003) Universal products in the US. In: Clarkson J, Coleman R, Keates S & Lebbon C eds. Inclusive Design. Design for the whole population Pp 318–335. London: Springer.

Pirkl JJ (1994) Transgenerational design. Products for an aging population. New York: Van Nostrand Reinhold.

Poschadel S, Falkenstein M, Rinkenauer G, Mendzheritskiy G, Fimm B, Worringer B, Engin T, Kleinemas U & Rudinger G (2012) Verkehrssicherheitsrelevante Leistungs-

40

potenziale, Defizite und Kompensationsmöglichkeiten älterer Autofahrer. Bremer-haven: Wirtschaftsverlag NW (Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Mensch und Sicherheit, Heft M 231).

SaMERU – Safer Mobility for Elderly Road Users (2013) European Community, Direc-torate General for Mobility and Transport. Verfügbar unter: http://www.sameru.eu/(28.7.2013).

Schlag B ed. (2008) Leistungsfähigkeit und Mobilität im Alter. Köln: TÜV Media. (Schrif-tenreihe Mobilität und Alter der Eugen-Otto-Butz Stiftung, Band 3).

Schlag B (2013) Persönliche Veränderungen der Mobilität und der Leistungsfähigkeit im Alter. In diesem Band.

41

Entwicklungslinien der Mobilität im Alter – Bedingungen und VeränderungstendenzenKlaus J. Beckmann

1 Betrachtungsanlässe

Mobilität stellt im Zusammenspiel mit relativ statischen Raumstruk-turen die gesellschaftlichen Teilnahmemöglichkeiten der Menschen jeden Alters – damit also Inklusion – sicher. Versorgungsmöglichkeiten werden gleichermaßen beeinflusst wie Möglichkeiten zu sozialen Kon-takten und zur Sicherung der wirtschaftlichen Grundlagen von Privat-haushalten. Mobilitätsoptionen und deren Wahlmöglichkeiten beein-flussen damit wesentliche Merkmale von örtlicher Lebensqualität (vgl. Mollenkopf, 1999, S. 135 ff.).

Bei der Gestaltung und Beeinflussung von Raumstrukturen und Ver-kehrssystemen müssen im Sinne der Sicherung von Teilhabe und Teil-nahme („Inklusion“) vor allem auch Bevölkerungsgruppen Beachtung finden, die in ihren individuellen Mobilitätsmöglichkeiten physisch, insbesondere sensorisch und motorisch, psychisch, finanziell, aber auch hinsichtlich der Einbindung in soziale Netzwerke eingeschränkt und benachteiligt sind, d. h. Personen, die körperliche Einschränkun-gen haben, Fahrzeuge nicht mehr sicher selbst lenken können bzw. wollen, kein eigenes Fahrzeug haben und keine Bekannten zur Mit-nahme oder zum Mitbringen von Einkäufen ansprechen können (vgl. Beckmann et al., 2005b). Dazu gehören gehäuft Menschen älter als 65 Jahre – heute noch das Regelalter des Ausscheidens aus dem Erwerbsprozess – und darunter besonders die Hochaltrigen über 80 Jahre. Letztere werden in den Jahren 2030 bzw. 2060 voraussichtlich 7 % bzw. 14 % gegenüber heute 4 % der Gesamtbevölkerung aus-machen.

Veränderungen der Aktivitäten-, Mobilitäts- und Verkehrsnachfrage-muster ergeben sich nicht nur durch demografische Veränderungen, sondern auch durch veränderte Wohnstandortpräferenzen und Wohn-standortwechsel („Wanderungen“) alter Menschen, aber auch durch die Pluralisierung von Haushaltsstrukturen und Lebensstilen (vgl. Spellerberg, in diesem Band). Infolge eigener Biografien und Lebens-erfahrungen sowie veränderter Handlungsmöglichkeiten sind die „zu-

42

künftigen Alten“ nicht die „heutigen Alten“ oder gar die „Alten von gestern“. Kohorteneffekte können Alterungseffekte überlagern. Dabei scheint die Abwanderung aus Städten zu Gunsten eines Verbleibens stark reduziert. So sind städtische Mobilitätsangebote auch im Alter zunehmend bedeutsam.

Auswirkungen des demografischen Wandels ergeben sich damit auf• Verkehrsnachfrage (absolut, einwohnerspezifisch),• Verkehrsmittelwahl,• zeitliche und räumliche Verkehrsverteilung,• resultierende Raumstrukturen und Standortmuster, Raumwirt-

schaft, d. h. auf Attraktivität und Konkurrenzfähigkeit der Teilräume. Dabei lässt sich folgendes Fazit ziehen:

„1. Die Konsequenzen der Alterung für Verkehrsinfrastrukturen, Ver-kehrsbetrieb und Verkehrsmanagement sind nur differenziert und angemessen, d. h. langfristig tragfähig, zu berücksichtigen, wenn die Effekte – des „absoluten“ Alters, – der Zugehörigkeit zu Geburtsjahrgangskohorten, – des Geschlechts, – der Teilraumzugehörigkeit (großräumig, kleinräumig)

überlagert und gemeinsam berücksichtigt werden.

2. Effektive, effiziente, nachhaltige und „Strukturbrüche vermeiden-de“ Handlungskonzepte und Maßnahmen sind nur bei „integrier-ten Systemgestaltungen“ zu erreichen.

Notwendige Integrationsebenen sind dabei: – Zeithorizonte (kurz-, mittel-, langfristig), – Raum- und Verkehrssysteme, – Verkehrs-/Transportmodi, – physische und virtuelle Mobilität, – Personentransporte und Güter-/Dienstetransporte.

3. Generell erweitern sich die Mobilitätsoptionen älterer Menschen. Mobilitätsverhalten wird im Grundsatz auch im Alter „wahlfreier“, solange entsprechende Verkehrsinfrastrukturen und – vor allem auch öffentliche – Verkehrsangebote bereitgestellt werden kön-nen. Mit steigendem Alter, d.  h. mit möglichen Einschränkun-gen der physischen und psychischen, aber auch der finanziellen

43

Handlungsmöglichkeiten verengt sich aber die individuelle Chan-ce zur Ausschöpfung dieser Optionen.“ (Beckmann et al., 2005a, S.70)

In der Zwischenzeit haben die Wahlmöglichkeiten der Verkehrs-teilnehmer weiter zugenommen – z.  B. Anruf-Sammel-Taxen, Bür-gerbusse, Elektro-Pkw, Pedelec, standortgebundene und standor-tungebundene Leih-Fahrzeuge („Car-Sharing“), verkehrsbezogene Informations-, Buchungs- und Abrechnungssysteme. Außerdem ist das Bewusstsein der Verkehrsanbieter für Barrierefreiheit und für Erfordernisse der Inklusion verstärkt und Dienste für Alte  – Pflege-dienste, Mobilitäts-/Transportdienste, Besuchsdienste usw.  – in kommerzieller wie auch in ehrenamtlicher Form haben zuge- nommen.

Die prospektive Entwicklung hängt zudem unter anderem von folgen-den Fragen ab:

a) Differenziert sich das Mobilitätsverhalten der Alten (über 65 Jahre) und insbesondere auch der Hochaltrigen weiter aus und werden Mobilitätsroutinen (noch) angepasst  – unter anderem als Folge von

– „motorisierten“ Mobilitätsbiografien, – erweiterten motorisierten und nichtmotorisierten Verkehrs-mittelverfügbarkeiten (Pkw-Verfügbarkeit, Fahrrad-Verfüg-barkeit, Verbreitung von Pedelec, Besitz von ÖPNV-Dauer-karten/Mobilitätskarten …),

– neuen Informations- und Kommunikationsdiensten (Tele- Shopping, Tele-Dienste, Verkehrsangebots-Apps., kosten-optimierte Abrechnungssysteme) sowie

– neuen beruflichen Mobilitätszwängen durch weitere Berufs-tätigkeit im Alter?

b) Ergeben sich auch bei älteren Mitbürgern Tendenzen zum Fahr-zeugteilen, zur Intermodalität und zur Multimodalität oder sind eher über die Lebenszeit entstandene Mobilitätsroutinen stabil und dominant?

In der Analyse sind allerdings die einzelnen Wirkungsstränge der Ver-haltensbeeinflussung kaum getrennt zu analysieren. Dies sind unter anderem

44

• Effekte aus der gesellschaftlichen Diskussion um die Energiewende und um steigende Energiekosten,

• die Anforderungen des Klimaschutzes und deren Wirkungen auf indi-viduelle Mobilitätsstrukturen und Bevorzugungen von Verkehrsmitteln,

• die öffentliche Diskussion um „innovative“ Transportoptionen wie Car-Sharing, Bürgerbusse und damit um effiziente, nachhaltige und nebenwirkungsfreie Optionen zur Gestaltung der lokalen und regio-nalen Verkehrsangebotssysteme.

2 Rahmenbedingungen für Mobilität im Alter

Mit dem Ausscheiden aus dem Erwerbsprozess entfällt der Wege-zweck „Arbeit“ weitgehend. Damit sinkt die Häufigkeit der Außerhaus-Aktivitäten. Der Entfall der Arbeits-Aktivitäten und damit der Wege zum Arbeitsplatz wird zum Teil kompensiert durch eine Zunahme von• Versorgungsaktivitäten/-wegen („Einkauf“),• Aktivitäten und Wegen zur Beanspruchung von Dienstleistungen

(z. B. Ärzte, Gesundheitspflege),• Freizeitaktivitäten und -wegen (Besuch von Freunden, Besuch von

Naherholungsgelegenheiten, Nutzung von Sporteinrichtungen, Nutzung kultureller und gastronomischer Angebote),

• Begleitaktivitäten,• Wochenendreisen/-fahrten.

Wegen der unterschiedlichen Lage von Gelegenheiten verändern sich auch die Aktionsräume, d.  h. die Raumnutzungsmuster, auch wenn lange und habitualisiert genutzte Einrichtungen weiter besucht und genutzt werden. Dies gilt sogar häufig nach intraregionalen Umzügen im Rahmen eines Ausscheidens aus dem Erwerbsprozess, so dass „gewohnte“ Standorte sozialer Kontaktkreise, Freizeit- und Einkaufs-möglichkeiten auch vom neuen Wohnstandort aus genutzt werden. Ehe- und Lebenspartner sowie sonstige Haushaltsmitglieder organi-sieren mit der Veränderung der Zeitbindungen infolge des Ausschei-dens aus dem Arbeitsprozess ihre Aufgabenteilung im Haushalt sowie die Aktivitäten- und Raumnutzungsmuster zum Teil um.

Diese Veränderungen sind weder eindimensional, noch können sie unverändert von vorherigen Generationen auf heutige und zukünftige Alterskohorten übertragen werden. Es ergeben sich Abweichungen zwischen gleichen Lebensaltersphasen aus unterschiedlichen Zeit-querschnitten, z. B.:

45

• (Teil-)Erwerbstätigkeit nach der bisherigen Renten-/Pensionsgrenze durch Verschiebung der Altersgrenze auf 67 Jahre und Flexibilisierung der Grenzen, durch ökonomische Zwänge zur Teil-Kom pensation der Altersarmut, durch eine höhere physische und kognitive Leis-tungsfähigkeit in Verbindung mit dem steigenden Lebensalter,

• Veränderung von Haushaltsstrukturen und Lebensweisen im Alter bzw. in Bezug auf das Alter (neue Partnerschaften, Mehr-Generati-onen-Wohnen, Multilokalität),

• Veränderungen von Wohnstandorten mit dem Ausscheiden aus dem Erwerbsprozess oder in dessen Vorbereitung (Alters-Ruhesitz, Zweitwohnsitz),

• Bildungs- und Fortbildungsaktivitäten im Alter (Volkshochschulan-gebote, Senioren-Studium),

• vermehrte Freiwilligen-Dienste (Altenbesuche, Krankendienste, Vorlese- und Betreuungs-Patenschaften in Schulen, Patenschaften für Gründer-Unternehmen usw.).

Gleichzeitig ergeben sich dämpfende Wirkungen für die Ausweitung bzw. Substitution von Aktivitäten und zugehörigen Wege• durch tendenziell steigende Mobilitätskosten im Zusammenspiel

mit• steigenden Wohn- und Wohnnebenkosten sowie steigenden Le-

benshaltungskosten,• steigende Wahrscheinlichkeit von Altersarmut bzw. von beschränkten

Haushaltsmitteln in Verbindung mit steigenden Haushaltsbelastun-gen durch Gesundheitskosten, Kosten für Haus- und Pflegedienste,

• verstärkte Verfügbarkeit über elektronische Medien und individu-elle Informations- und Kommunikationsgeräte (PC, Smartphone, Handy).

Mit einer Tendenz zum bevorzugten Wohnen in Städten – gerade auch im höheren Lebensalter – wegen der Angebotsvielfalt, der Wahl- und Kontaktmöglichkeiten und der hochwertigen Erreichbarkeiten werden perspektivisch urbane Aktivitäten- und Mobilitätsmuster häufiger.

Dies bedeutet unter sonst gleichen bzw. ähnlichen Bedingungen:• eine (langfristig) reduzierte Pkw-Verfügbarkeit,• verbesserte ÖPNV-Erreichbarkeiten und eine steigende Verfügbar-

keit über ÖPNV-Zeitkarten,• vermehrte nichtmotorisierte Erreichbarkeiten und Nutzungsgele-

genheiten,

46

• möglicherweise steigende Tendenzen zur Nutzung von (Leih-) Fahr-zeugen statt Besitz von Fahrzeugen,

• verstärkte Intermodalität, d. h. Verkehrsmittelwechsel auf einzelnen Wegen zur Optimierung der Wegabwicklung (individuelle Erreich-barkeit, Zeit, Kosten),

• verstärkte Bereitschaft zu und Erfahrungen mit Multimodalität, d. h. mit situationsbezogenen Verkehrsmittelwahlen. (vgl. dazu auch Beckmann et al., 2006a).

Vor allem ist zu beachten, dass ältere Menschen – individuell abhängig u.a. von physischer und psychischer Leistungskraft, von Lebensbio-grafien, von Kontaktkreisen, von Finanzmittelverfügbarkeiten – unter-schiedliche Phasen der Teilnahme, d. h. Aktivitätenmuster durch Mo-bilität haben:• Phasen hoher Aktivität/Mobilität (heute zum Teil bis zum Alter von

80 Jahren),• Phasen teilweise reduzierter Aktivität/Mobilität (ab 75 Jahren),• Phasen stark verminderter Aktivität/Mobilität (zumeist erst ab etwa

85 Jahren).

Die Phase hoher Aktivität und Mobilität wird gestützt durch eine gute Gesundheit, durch z.T. hohen Wohlstand, aber auch durch Anforde-rungen eines lebenslangen Lernens und Arbeitens, eines sozialen und zivilgesellschaftlichen Engagements sowie einer steigenden Anpas-sungsfähigkeit der Menschen („Plastizität“). Einschränkungen resul-tieren aus gesundheitlichen Bedingungen, aber auch aus Armut und Vereinsamung (dazu Scheiner, in diesem Band).

Neben den individuellen Merkmalen sind vor allem auch die Auswirkun-gen von angebotsseitigen Merkmalen und Qualitäten wesentlich, wie• Pkw-Verfügbarkeit,• Handhabbarkeit von individuellen Verkehrsmitteln (Einparkhilfen,

Fahrhilfen, Lenkhilfen…),• Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln und deren Handhabbarkeit

(Einstiegshilfen, niveaugleiche Einstiege, Barrierefreiheit der Er-reichbarkeit von Haltestellen und Bahnsteigen usw.),

• Verkehrsregeln und deren Durchsetzung (Geschwindigkeitsbe-schränkungen, Bevorrechtigungen…),

• unterstützende Leit- und Informationseinrichtungen,• neue Verkehrsangebote mit Elektro-Pkw, Pedelec, standortgebun-

denem und standortungebundenem Car-Sharing.

47

Hinzu kommen möglicherweise mit Wohnungen integriert angebotene Dienste wie• Wohnungs-Service (Wartung, Wärme-, Energie- und Wasserversor-

gung, Betrieb der Gesamtanlagen; Wohnungsreinigung),• Haushalts-Service (Belieferung, Betreuung),• Informations-Kommunikations-Netze und Dienste (IKT) sowie• Mobilitätsdienste (Hol- und Bringdienste, Leih-Pkw, Leih-Fahrrä-

der, ÖPNV-Dauerkarten).

Dabei ändern sich zum Teil die Trägerschaften wie auch die Einbin-dung der Nutzer. So werden in „genossenschaftlichen Modellen“ viel-fach auch durch die Nutzer selbst Leistungen erbracht.

Das Umgehen mit technischen, betrieblichen, organisatorischen und infor-matorischen Innovationen wird durch die individuelle technische, räumli-che, modale Sozialisierung geprägt. Die Technikaffinität älterer Menschen wird sich absehbar in kaum mehr als einer Generation deutlich ändern.

Insgesamt stellen sich nach der qualitativen Bilanzierung der struk-turellen Veränderungen von Rahmenbedingungen für das individuelle Verkehrsverhalten u.a. folgende Fragen:• Wie werden sich Menschen, die in den nächsten 10 bis 20 Jahren

ins Alter hineinwachsen, hinsichtlich der Erwerbsbeteiligung, hin-sichtlich Aktivitätenmustern, Wohnstandortwahl, Verkehrsmittel-ausstattung, Verkehrsnachfrage und Verkehrsmittelwahl verhalten?

• Wie werden sich die Aktivitätenmuster verändern?• Wie wirken sich Veränderung der zeitlichen Flexibilität und der Fi-

nanzmittel- und Verkehrsmittelverfügbarkeit auf Aktivitätenmuster, Standortpräferenzen, Versorgungs- und Freizeitaktivitäten aus?

3 Zusammenhänge und Erklärungsmuster

Verkehrsverhalten hat – insbesondere hinsichtlich der Aktivitätenmus-ter und der Hauptaktivitätenstandorte – einen hohen Routinisierungs-grad. Dies gilt zum Teil auch hinsichtlich der Verkehrsmittelwahl und Wegewahl. Dennoch zeigen gerade selten ausgeübte Aktivitäten, sel-ten aufgesuchte Standorte/Teilräume wie auch die Verkehrsmittelwahl Merkmale bewusster Wahlen. Dies gilt in besonderem Maße bei Um-stellungen oder Umbrüchen zwischen Lebensphasen. Reflektiertes Entscheidungsverhalten ergibt sich insbesondere auch dann, wenn Entscheidungen erfolgen über

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• neue Wohnstandorte (Wohnstandortwahl),• neue Haupttätigkeitenstandorte (Arbeitsplatzwahl, Haupteinkaufs-

standortwahl…),• Verkehrsmittelausstattungen (Pkw-Kauf, Fahrrad-Kauf, Erwerb ei-

ner ÖPNV-Dauerkarte, Mitgliedschaft in Car-Sharing-Organisatio-nen),

• Verkehrsmittelwahlen  – insbesondere im Zuge seltener Standort- bzw. Wegeketten, im Zuge neuer Standortbereiche nach Wohns-tandortwechseln oder Wechseln anderer Haupttätigkeitenstand orte.

Zur Interpretation und gegebenenfalls Erklärung der Verhaltensent-scheidungen können verhaltenswissenschaftliche Erklärungsansätze herangezogen werden. Als in vielen Fällen – insbesondere für die Ver-kehrsmittelwahl – hilfreich hat sich die „Theorie des geplanten Verhal-tens“ von Ajzen (1991) (vgl. dazu auch Hunecke, 2008) erwiesen.

Nach der „Theorie des geplanten Verhaltens“ wird eine Verhaltens-absicht ausgebildet, wenn das intendierte Verhalten positiv bewertet wird („Einstellung“), wenn zudem angenommen wird, dass dieses Ver-halten wichtige andere Personen von der Person erwarten („subjekti-ve Norm“) und wenn dieses leicht auszuführen ist („wahrgenommene Verhaltenskontrolle“). Die Verkehrsmittelnutzung wird zudem durch emotionale und symbolische Bewertungen, d. h. Einstellungen gegen-über den Verkehrsmitteln beeinflusst: Autonomie, Status, Erlebnis und Privatheit (vgl. Hunecke, 2008).

Ein ähnliches Erklärungsmodell bietet das Norm-Aktivations-Modell von Schwartz (vgl. Hunecke, 2008), das auf den Konstrukten Prob-lemwahrnehmung, Bewusstheit von Handlungskonsequenzen, ökolo-gische Schuldgefühle und personale Normen beruht.

Den Erklärungsgehalt von Lebensstilen und sozialen Lebenssituationen für Mobilitätsverhalten – insbesondere im Alter – greift Spellerberg (in diesem Band) auf. Dabei ergibt sich ein relativ hoher Erklärungsgehalt für die Wahl von Aktivitäten- und Wegezielen (vgl. Hunecke & Schweer, 2006). Für die Verkehrsmittelwahl haben vor allem auch Mobilitätsstile, die Einstellungen zu Verkehrsmitteln abbilden, Erklärungsqualität.

Haustein et.al. (2008) weisen zumindest für die Verkehrsmittelwahl Äl-terer den Einfluss von Einstellungen nach. Dabei lassen sich folgende Faktoren als erklärungskräftig identifizieren:

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• wahrgenommene Fähigkeiten, den ÖPNV zu benutzen (ÖV-Auto-nomie),

• Pkw-Einstellung (Spaß- und Erlebnisfaktor, Unabhängigkeit),• Fuß-Einstellung (Bereitschaft und Freude, Gesundheit),• wahrgenommene Mobilitätserfordernisse.

Haustein und Stiewe (2010) erarbeiten danach clusteranalytisch Mobi-litätstypen älterer Menschen mit:• ÖV-Zwangsnutzer,• Pkw-Fixierte,• selbstbestimmt Mobile,• junge wohlhabende Mobile,die sich hinsichtlich der Verkehrsmittelnutzung für die verschiedenen Wegezwecke unterscheiden.

Für das Aktivitäten-, Raum-Zeit- und Verkehrsverhalten von älteren Menschen ist in der Folge davon auszugehen, dass im Zuge des voll-ständigen oder teilweisen Ausscheidens aus dem Arbeitsprozess Ak-tivitäten, Aktionsräume, Verkehrsmittelausstattungen und Verkehrs-mittelwahlen zumindest teilweise „rational“ umorganisiert werden und dass die Einstellungen und subjektiven Normen sowie die wahrge-nommene Verhaltenskontrolle dabei eine zentrale Rolle spielen. Dies gilt bei Wohnstandortwechseln entsprechend  – mit einem hohen Grad an habitualisierten Standort- und Verkehrsmittelnutzungen. Für die Umorganisation von Aktivitätenmustern, Aktionsräumen und Ver-kehrsmittelwahlen im Zuge schrittweise veränderter Ressourcenver-fügbarkeit und teilweise sinkender physischer und psychischer Leis-tungsfähigkeit erfolgen eher graduelle Anpassungen – häufig mit dem Ziel der Tradierung geübter Muster, Wahlen sowie Entscheidungen. Da Veränderungen mit psychischen Kosten verbunden sind, werden sie meist so lange als möglich zu meiden gesucht – und in der Folge oft erst spät eingeleitet.

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4 Veränderungen des Mobilitätsverhaltens im Alter: Längsschnitt- und Kohortenbetrach-tungen

Zur Beschreibung der Veränderungen von Verkehrsverhalten und ins-besondere zur Erklärung der Veränderungen auch im multidimensional beeinflussten Prozess des Alterns stellen sich spezifische Anforderun-gen an die Datengrundlagen. So sind „Querschnittserhebungen“ an einzelnen Stichtagen nur beschränkt geeignet, weil nicht einmal Verhal-tensvariationen, die sich unter sonst gleichen Bedingungen ergeben, abgebildet werden. So können vor allem individuelle Stabilitäten bzw. Variationen von Aktivitätenmustern (Anzahl, Art), von Aktionsräumen und insbesondere von Verkehrsmittelwahlen („Multi-Modalität“) nicht identifiziert und beschrieben werden. Erst mit den über fünf Tage lau-fenden Panelerhebungen oder sogar länger laufenden Verkehrsverhal-tenserhebungen (z. B. 10 Wochen im Projekt Mobidrive) kann gezeigt werden, dass mehr als 40 % der Bevölkerung (älter als 10 Jahre) „mul-timodal“ unterwegs sind und somit situationsspezifisch unterschied-liche Verkehrsmittel nutzen und entsprechende Nutzungserfahrungen haben (Abbildungen 1 und 2). Somit sind Querschnittserhebungen möglichst als Ein- oder Mehrwochenerhebungen anzulegen.

Panel-Erhebungen erbringen den Vorteil, dass Verhaltensreaktionen auf veränderte situative Bedingungen (veränderte Verkehrsmittelange-bote, Veränderung Preise/Kosten, veränderte Erreichbarkeitskonstel-lationen, Wohnstandortwechsel, Wechsel von Arbeitsorten) zumindest partiell identifiziert werden können. Aussagengrenzen ergeben sich durch die zumeist geringen Fallzahlen. Um Verhaltensveränderun-gen – gerade auch in höherem Alter und unter Differenzierung nach „Mobilitätsbiografien“  – zu identifizieren, wären Längsschnittstudien (Kohorten-Erhebungen) erforderlich. Als Substitut können jedoch Be-trachtungen von „Geburtsjahrgangskohorten“, die in Querschnitter-hebungen identifiziert werden können, dienen. Dies sind letztlich nur „statistische Kohorten“. Sie lassen aber eine Unterscheidung der Ver-kehrsteilnehmerkollektive nach „mittleren Biographie-Mustern“ zu. In diesem Kapitel wird deshalb dieser Ansatz zu einer längsschnittlichen Betrachtung verfolgt.

Veränderungen des individuellen Mobilitätsverhaltens sind zum einen Folge von veränderten Verkehrsangeboten – bestehend aus Infra-strukturen, Betriebsformen, Transportangeboten, Kosten, Zulassungs-

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Abbildung 2: Erwachsene Bevölkerung nach Führerscheinbesitz, Pkw-Nutzung als Fahrer und Multimodale nach Altersklassen und Einwohnerzahl des Wohnorts (Quelle: Beckmann et al., 2006a, S. 143)

Abbildung 1: Multimodalität (Quelle: Chlond & Kuhnimhof, 2009. Eigene Erweiterun-gen)

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bedingungen, aber vor allem auch aus Informationen über Verkehrs-angebote, über Verhaltensmöglichkeiten, deren Voraussetzungen, Bedingungen und Nutzungsfolgen (Kosten und Erträge). Differenzierte Beschreibungen zur Anpassung der Infrastruktur und der Verkehrs-mittel an die Erfordernisse älterer Menschen finden sich in mehre-ren anderen Beiträgen dieses Buches (u.a. Topp; Schulze; Engeln & Moritz; Siegmann; alle in diesem Band). Zum anderen ergeben sich Einflüsse aus Veränderungen der individuellen situativen Merkmale. Mollenkopf (1999 und 2002) untersucht die Zufriedenheit älterer Frau-en und Männer mit ihren Mobilitätsmöglichkeiten in Abhängigkeit von der Wohnlage und den individuellen Beeinträchtigungen der Bewe-gungsfähigkeit. Dabei ist die Zufriedenheit als Fußgänger insgesamt geringer, sinkt aber vor allem mit individuellen Beeinträchtigungen der Bewegungsfähigkeit. Außerdem ist die Zufriedenheit mit dem ÖPNV in Randgebieten der Städte verbunden mit steigenden Beeinträchti-gungen geringer.

Um die auf Individuen bezogenen Einflüsse zu identifizieren, können die – zumindest ansatzweise vergleichbaren – repräsentativen Erhe-bungen des Mobilitätsverhaltens (kontinuierliche Verkehrserhebungen KONTIV von 1976, 1982 und 1989 sowie Mobilität in Deutschland MiD von 2002 und 2008, die vom Bundesminister für Verkehr bzw. nach-folgend vom Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung beauftragt worden sind) auf Merkmale der Verhaltensveränderungen untersucht werden.

Dabei sind Vergleiche von Personengruppen, die zu den verschiede-nen Zeitquerschnitten der Erhebungen das gleiche Alter hatten – also z. B. jeweils 65-70 Jahre alt oder älter als 85 Jahre waren – im Prin-zip von geringerem Interesse als Betrachtungen von Lebensaltersko-horten, die in gleichen/ähnlichen Jahrgängen geboren sind und damit gleiche Sozialisationsbedingungen der Mobilität hatten.

Beckmann et al. (2005a und 2005b) legten dazu aus den KONTIV/MiD-Erhebungen von 1976, 1982, 1989 und 2002 jeweils Gruppen von fünf Geburtsjahrgängen zugrunde. Es handelt sich dabei nicht im strengen Sinne um Kohorten, in die jeweils gleiche Personen einbe-zogen sind, sondern um „statistische bzw. biographische Kohorten“, die jeweils gleichen/benachbarten Jahrgängen entstammen und glei-chen/ähnlichen Veränderungen der Verkehrs(angebots)systeme wie auch der Einstellungen, Überzeugungen, Lebens- und Mobilitätsstile

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„ausgesetzt“ waren. Diese Untersuchungen werden hier ergänzt um eine Analyse der MiD 2008 und beziehen sich auf:• Führerscheinbesitz,• Pkw-Verfügbarkeit,• Wegeanzahl/Mobilitätsrate,• Verkehrsmittelwahl,• Wegeleistung/Wegeaufwände.

Die Ergebnisse können hinsichtlich der Tendenzen, nicht jedoch hin-sichtlich einzelner quantitativer Ausprägungen interpretiert werden, da sich die Auswahltechniken und Befragungsmethoden zwischen den Erhebungen – also KONTIV und MiD – wie auch zwischen den Jahren 1976, 1982, 1989, 2002 und 2008 verändert haben (Auswahlgrund-lagen, Ansprechformen, Erhebungsinstrumente und zum Teil Opera-tionalisierungen bzw. Differenzierungen von Merkmalen (z.  B. Pkw-Verfügbarkeit, Wegezwecke, Verkehrsmittel)). Außerdem erfolgten die Hochrechnungen für 1976 bis 2002 (siehe Beckmann et al., 2005a und 2005b) und für 2002 sowie 2008 (Zimmermann, 2013) mit geringfügig abweichenden Algorithmen.

Der Betrachtungsfokus von Lebensalterskohorten gewinnt gerade für jüngere Altersgruppen an Bedeutung (ifmo, 2011; Schönduwe et al., 2012). Dabei geht es vor allem um Jugendliche, die in das Alter der voll-ständigen Motorisierung (Führerscheinbesitz und Pkw-Verfügbarkeit) hineinwachsen und sich durch einen geringeren Pkw-Besitz als die Vorgänger-Generation(en) wie auch eine geringere Pkw-Nutzung aus-zeichnen. Die Frage ist allerdings, ob diese weltweit zu beobachten-den Befunde im fortschreitenden Alter stabil bleiben oder ein „Nach-holen“ der ständigen „Pkw-Verfügbarkeit“ bzw. des „Pkw-Besitzes“ in höheren Altersklassen erfolgt. Die Abnahme des Pkw-Besitzes korre-spondiert bei den 18 bis 34-Jährigen mit der Rolle als Studenten, mit vermehrten urbanen Wohnstandorten, mit der zunehmenden Anzahl an Einpersonenhaushalten sowie beobachtbaren Einkommensrück-gängen und späterer Elternschaft. Dies bedeutet auch eine Abnah-me der Pkw-Nutzung bei alltäglichen Wegen (Anzahl, Wegeaufwand) bei Zunahme von Wegen mit dem ÖPNV und dem Fahrrad. Insofern wäre die Abnahme der Pkw-Verfügbarkeit im jungen Erwachsenenal-ter nur Folge einer Übernahme typischer Erwachsenenaufgaben erst in einem späteren Lebensalter. Bratzel et.al. (2011) weisen mit Quer-schnittserhebungen in den Jahren 2000, 2005 und 2010 allerdings nach, dass von den 18 bis 24-Jährigen im Alter von 25 bis 29 Jahren

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zwar zum Teil die individuelle Motorisierung nachgeholt wird, aber zu einem nicht unerheblichen Teil abgesenkt bleibt.

Zuwächse motorisierter Verkehrsaufwände (km/Tag) sind allerdings entsprechend der „mobilitätsbiographischen“ Bedingungen bei den heutigen Älteren festzustellen, wenn auch der Anteil des Umweltver-bunds aus ÖPNV, Fahrradnutzung und Zufußgehen mit dem Alter zu-nimmt (vgl. Flade, 2002, S. 116 ff). Die Bedeutung des Pkw für den Mobilitätserhalt sowie den Erhalt der Teilnahmemöglichkeiten ist aus Sicht der heutigen Alten, die ihren Lebensalltag über lange Jahrzehnte individuell motorisiert (Fahrer, Mitfahrer) verbracht haben, hoch und wird bei den ins Alter hineinwachsenden Geburtsjahrgangskohorten mittelfristig noch weiter steigen. Gründe für diese Verhaltenstenden-zen liegen in den Transportmöglichkeiten, der Unabhängigkeit, den Zeitersparnissen, der Flexibilität der Nutzung wie auch in der sozialen Sicherheit und dem geringen physischen Aufwand (vgl. Engeln & Mo-ritz, in diesem Band; Mollenkopf, 1999).

Insgesamt ist festzustellen (ifmo, 2011; Beckmann et.al., 2006a), dass insofern die Multimodalität steigt, als die mit dem Fahrrad, zu Fuß oder mit dem ÖV zurückgelegten Wege – auch junger Menschen – zu Lasten der Pkw-Nutzung (Selbstfahrer und Mitfahrer) steigen. Dabei haben reduzierter Pkw-Besitz, „urbane“ Wohnstandorte und Verkehrs-angebote wie auch veränderte finanzielle Bedingungen der Haushalte einen deutlichen Einfluss. Hinzu kommt die Verfügbarkeit über indivi-duelle Kommunikationsmittel als Teil-Substitut zur Einbindung in so-ziale Netzwerke ohne oder mit reduzierten individuellen Ortsverände-rungen.

Im höheren Alter steigt derzeit noch der Anteil der Verkehrsteilnehmer, die keinen Führerscheinbesitz bzw. keine Pkw-Nutzung haben (Abbil-dung 3). Auch der Anteil der Wege mit Pkw-Nutzung ohne gelegent-liche oder häufige ÖV-Nutzung nimmt im höheren Alter deutlich ab. Der Anteil der „Multimodalen“ – mit regelmäßiger oder gelegentlicher ÖV-Nutzung – ist demnach geringer als in den jüngeren Altersklassen (unter 60 Jahre). Hier deuten sich jedoch mögliche Kohorteneffekte insofern an, als die jüngeren Altersklassen von 18-25 Jahren, von 26-35 und 36-50 Jahren möglicherweise ihre „multimodalen“ Mobi-litätsbiographien mit „ins Alter nehmen werden“. Deutlich wird auch, dass „Multimodalität“ insgesamt abhängig ist von der Breite und der Qualität der „Mobilitätsangebote“ sowie der Nahraum-Erreichbarkeit.

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Durch diese Qualitäten sind vor allem Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern geprägt, was gleichzeitig mit einer geringeren Pkw-Nut-zung (als Fahrer) und einem geringeren Führerscheinbesitz korrespon-diert (vgl. dazu Beckmannet al., 2005a). Multimodalität ist besonders ausgeprägt bei Wegezwecken wie Freizeit, Einkaufen und Bringen/Holen, die insbesondere für Aktivitäten älterer Menschen kennzeich-nend sind.

4.1 Führerscheinbesitz im Alter

Der Führerscheinbesitz gleichalter Menschen zu den verschiedenen Erhebungsquerschnitten ist erwartungsgemäß gestiegen, da die Al-terskohorten, die im mittleren Alter unabhängig vom Geschlecht zu mehr als 90 % einen Führerschein besitzen, ins „Alter kommen“ und ihre Führerscheine behalten (vgl. Beckmann, 2005a). Inzwischen ist in jüngeren Altersklassen der Führerscheinbesitz bis auf 95 % (Männer) bzw. 90 % (Frauen) gestiegen (Abbildungen 3 und 4). Für die älteren Geburtsjahrgangskohorten ist mit dem Älterwerden – insbesondere bei Frauen – noch eine deutliche Zunahme des Führerscheinbesitzes

Abbildung 3: Führerscheinbesitz nach Altersgruppen im Längsschnitt (eigene Aus-wertungen KONTIV 76, 82, 89, MID 02*, 08*; leicht abweichende Hochrechnungen)

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festzustellen (Abbildungen 4 und 5). Da Frauen beim Führerscheinbe-sitz einen Nachholbedarf haben, steigt für Frauen in gleichen Geburts-jahrgangskohorten der Führerscheinbesitz im höheren Alter auch noch leicht (Geburtsjahrgänge 1923-28 und früher). Die jüngeren Geburten-jahrgangskohorten zeigen bisher nahezu eine Vollausstattung mit Füh-rerscheinen (90 %-95 %).

Lag 2002/2008 der Führerscheinbesitz bei Männern, die 81-85 Jah-re alt waren, bei 83 % bzw. 87 % und bei Frauen bei ca. 25 % bzw. 38 %, so bedeutet dies, dass von den 1917 bis 1921 (bzw. 1922 bis 1927) geborenen Männern fast alle, Frauen der gleichen Geburtsjahr-gänge aber nur zu einem Viertel bzw. Drittel einen Führerschein in ih-rem Leben erworben hatten. Die Übrigen sind in dem Sinne nicht als

Abbildung 4: Führerscheinbesitz nach Geschlecht und Altersgruppen im Längsschnitt (eigene Auswertungen KONTIV 76, 82, 89, MID 02*, 08*; leicht abweichende Hoch-rechnung)

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Pkw-Lenker sozialisiert – allerdings zum Teil als Pkw-Mitfahrer. Hier werden auch über die Altersgruppen die Kohorteneffekte erkenntlich.

„Für eine Prognose des Führerscheinbesitzes beispielsweise der 71- bis 75-Jährigen im Jahr 2020 eignet sich also nicht der Führerschein-besitz der 71- bis 75-Jährigen von ca. 68 % des Jahres 2002, sondern der Anteil des Führerscheinbesitzes in den Jahrgangsgruppen 1947 bis 1952, nämlich der Altersgruppe, die im Jahr 2020 68 bis 73 Jahre alt sein wird“ (Beckmannet al., 2005b, S. 102). Er beträgt 2002 bzw. 2008 bei Männern 92 %/94 %, bei Frauen 83 %/89 %. Von Frauen dieser und vor allem jüngerer Jahrgangsgruppen ist der Führerschein-besitz inzwischen weitgehend an den der Männer angepasst.

Abbildung 5: Führerscheinbesitz nach Geschlecht und Geburtsjahrgangskohorten im Längsschnitt (eigene Auswertungen KONTIV 76, 82, 89, MID 02*, 08*; leicht abwei-chende Hochrechnung)

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4.2 Pkw-Verfügbarkeit

Die private (ständige/regelmäßige) Pkw-Verfügbarkeit ist (bisher) zen-trale Bestimmungsgröße der Verkehrsmittelnutzung für Wege und be-einflusst auch Aktionsräume und Wegeleistungen (vgl. TU Dresden/VIP, 2011). Die ständige Pkw-Verfügbarkeit ist – bei Betrachtung jeweils nur eines Erhebungsquerschnitts (1976, 1982, 1989, 2002 oder 2008) – insbesondere für Frauen in höheren Altersklassen deutlich geringer als für Männer und für jüngere Altersklassen, hat jedoch zwischen den Erhebungsjahren kontinuierlich zugenommen. Die Menschen, die sich im Rentenalter befinden oder sogar „hochaltrig“ sind (älter als 85 Jah-re), sind in einer Zeit aufgewachsen, in der ein Führerscheinerwerb nicht quasi automatisch bei Überschreiten der Altersgrenze zum Er-werb von Führerscheinen (18 Jahre, heute zum Teil 17 Jahre im be-gleiteten Fahren) erfolgte und eine quasi ständige Pkw-Verfügbarkeit gegeben war. Zum Teil erfolgte ein Erwerb erst später im Lebensver-lauf bei entsprechenden beruflichen oder familiären Erfordernissen sowie entsprechender Mittelverfügbarkeit zur Anschaffung eines Pkw. Die Rollenteilung in Haushalten wie auch die Zugriffsrechte auf Pkw in Haushalten führen dazu, dass Frauen mittleren und höheren Alters

Abbildung 6: Pkw-Verfügbarkeit nach Alter im Längsschnitt (eigene Auswertungen KONTIV 76, 82, 89, MID 02*, 08*; leicht abweichende Hochrechnung)

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Abbildung 7: Pkw-Verfügbarkeit nach Geschlecht und Alter im Längsschnitt (eigene Auswertungen KONTIV 76, 82, 89, MID 02*, 08*; leicht abweichende Hochrechnung)

(ab 55-60 Jahre) eine geringere (ständige) Pkw-Verfügbarkeit haben (Abbildung 7). Über die Erhebungsquerschnitte stieg die Pkw-Verfüg-barkeit – insbesondere für Frauen –kontinuierlich an (Abbildung 6 und 7). Dies gilt allerdings insbesondere für die Geburtenjahrgänge von 1929 bis 1964 (Abbildung 8). Der Pkw-Besitz bzw. die ständige Pkw-Verfügbarkeit hat sich bei Frauen erst in den letzten Erhebungsjahren (2002 und 2008) für die jüngeren und mittleren Altersgruppen (bis 50 Jahre; Abbildung 7) nahezu dem der Männer angenähert.

Der Pkw-Besitz bzw. die ständige Pkw-Verfügbarkeit zeigen somit eine Prägung nach Geschlecht und Alter. Während Männer in jünge-rem und mittlerem Alter (26-30 Jahre zu knapp 80  %, 31-55 Jahre zu über 80 %) überwiegend eine ständige Pkw-Verfügbarkeit haben,

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zeigt sich in allen Altersgruppen der Frauen eine starke Zunahme auf geringerem Niveau.

Wird nach Geburtsjahrgangskohorten unterschieden, so zeigt sich, dass bei Männern schon länger für gleiche Geburtsjahrgänge ab ca. 30 Jahre keine Zunahme des Pkw-Besitzes mehr erfolgt ist, mit Errei-chen des Alters der Hochaltrigen (älter als 80 Jahre) sogar die Pkw-Verfügbarkeit leicht abnimmt. Dies deutet auf eine Aufgabe von vor-her verfügbaren Pkw im hohen Alter hin – wenn auch in einem sehr begrenzten und noch nicht stabil beurteilbarem Rahmen. Bei Frauen steigt in allen Geburtsjahrgangskohorten der Pkw-Besitz noch an, zum Teil auch bei früheren Jahrgangskohorten – also bei inzwischen

Abbildung 8: Pkw-Verfügbarkeit nach Geschlecht und Geburtsjahrgangskohorten im Längsschnitt (eigene Auswertungen KONTIV 76, 82, 89, MID 02*, 08*; leicht abwei-chende Hochrechnung)

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älteren Frauen (Jahrgänge 1929-1934 und jünger). Bei den Männern kann man hinsichtlich der ständigen Pkw-Verfügbarkeit von über das Lebensalter relativ unveränderten Mobilitätsbedingungen und „stabi-ler“ Mobilitätsgewöhnung ausgehen, während Frauen durch veränder-te Haushaltsstrukturen (z. B. Alleinstehende, Alleinerziehende), durch erhöhte Erwerbsbeteiligung, durch veränderte Rollengestaltung sowie erweiterten Führerscheinbesitz über ihr „Mobilitätsleben“ zur Siche-rung der Teilhabe (noch) eine wachsende Pkw-Verfügbarkeit zeigen.

Bei einer Betrachtung des Führerscheinbesitzes wie auch der Pkw-Verfügbarkeit der einzelnen Altersgruppen über die verschiedenen Erhebungsjahre zeigen sich demnach deutliche Kohorteneffekte. So hatten die 72- bis 79-Jährigen• des Erhebungsjahres 1976 (Jahrgänge 1899-1904) zu 22 % einen Führerschein (Männer 47 %, Frauen 5 %), zu 12 % einen eigenen Pkw (Männer 27 %, Frauen 2 %),• des Erhebungsjahres 1982 (Jahrgänge 1905-1910) zu 32 % einen Führerschein (Männer 68 %, Frauen 12 %), zu 22 % einen eigenen Pkw (Männer 54 %, Frauen 4 %),• des Erhebungsjahres 1989 (Jahrgänge 1911-1916) zu 33 % einen Führerschein (Männer 67 %, Frauen 16 %), zu 27 % einen eigenen Pkw (Männer 51 %, Frauen 7 %),• des Erhebungsjahres 2002 (Jahrgänge 1923-1928) zu 68 % einen Führerschein (Männer 90 %, Frauen 45 %), zu 56 % einen eigenen Pkw (Männer 80 %, Frauen 32 %),• des Erhebungsjahres 2008 (Jahrgänge 1929-1934) zu 79 % einen Führerschein (Männer 95 %, Frauen 66 %) zu 66 % einen eigenen Pkw (Männer 85 %; Frauen 50 %).

Für eine Prognose des persönlichen Pkw-Besitzes der Jahrgän-ge 1947 bis 1952 im Jahr 2022, also im Alter von 70 bis 75 Jahren, müsste nun hilfsweise von dem Pkw-Besitz im Jahr 2008 (Alter 56-61 Jahre) mit 78 % ausgegangen werden und dieser entsprechend des Alterseffektes, der sich in den Altersgruppen der 56- bis 60-Jährigen (Geburtsjahrgänge 1947-1952) von 2002 bis 2008 ergeben hat, erhöht werden.

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4.3 Wegeanzahl („Mobilitätsrate“) und Wegezwecke

Die Betrachtung der Querschnittserhebungen KONTIV und MiD im Längsschnitt, d. h. von 1976 bis 2008, ohne Bereinigung der Kohor-teneffekte zeigt für gleiche Lebensaltersgruppen (Abbildungen 9 bis 11), dass

a) ältere Menschen eine sinkende Mobilitätsbeteiligung haben (An-teil der Personen mit Außerhaus-Aktivitäten am Tag), wobei die Höhe der Mobilitätsbeteiligung allerdings über die Erhebungs-querschnitte zugenommen hat – ein Indiz für die wachsende Mo-bilität, die verbesserte Gesundheit und die erweiterte Verkehrs-mittelverfügbarkeit auch im Alter; dies gilt in Stufen ab 50 Jahre, 65/70 Jahre sowie ab 80 Jahre,

b) ältere Menschen weniger Wege zurücklegen (Entfall der zweck-gebundenen Arbeitswege, Sinken der „Aushäusigkeit“, physische und psychische Einschränkungen, einschränkende finanzielle Be-dingungen), wobei der Anteil der „Mobilen“ am Stichtag zwischen 2002 und 2008 in den höheren Altersgruppen – insbesondere den über 50-Jährigen – ebenso überproportional gestiegen ist wie die

Abbildung 9: Wegeanzahl nach Alter (≥50 Jahre) im Längsschnitt (eigene Auswertun-gen KONTIV 76, 82, 89, MID 02*, 08*; leicht abweichende Hochrechnung)

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Abbildung 10: Wegeanzahl nach Geschlecht und Alter im Längsschnitt (eigene Aus-wertungen KONTIV 76, 82, 89, MID 02*, 08*; leicht abweichende Hochrechnung)

Anzahl der Wege – beispielsweise der Altersgruppe „75 Jahre und älter“ von 2.0 auf 2.3 Wege pro Tag,

c) vor allem ältere Frauen eine niedrigere Weganzahl als die Männer haben (Abbildung 10),

d) damit die Weganteile sich für die Älteren zugunsten der „nicht-ver-pflichtenden“ Zwecke wie Einkauf/Versorgung, Erledigungen und vor allem Freizeit verschieben, zum Teil auch teil-verpflichtende Aktivitäten wie Begleitungen zunehmen. Dabei erfolgt allerdings nur eine Teilkompensation der entfallenden Arbeitswege (Abbil-dung 11).

e) die Wegeanzahl zunimmt über den Betrachtungszeitraum.f) Wege, insbesondere von Älteren (ab 50 Jahre), vermehrt indivi-

duell-motorisiert (Selbstfahrer, Mitfahrer) zurückgelegt werden, während Anteile des ÖPNV und des nichtmotorischen Verkehrs

64

abnehmen. Hier sind vor allem „nachholende“ Pkw-Nutzungen der Frauen maßgeblich (Abbildung 12).

Stiewe (2011) zeigt beispielsweise für das Jahr 2009 in Nordrhein-Westfalen, dass 38 % aller Wege von den über 75-Jährigen zu Fuß zurückgelegt werden. Nach dieser Erhebung nutzen 74 % der 60- bis 64-Jährigen noch das Fahrrad, aber 77 % der über 80-Jährigen nicht mehr. Die Verhältnisse „drehen sich“ quasi um. Die geringe ÖPNV-Nutzung mit einmal pro Woche (ca. 25 %) führt Stiewe auf die erwei-terte Pkw-Verfügbarkeit, die im Einzelfall mängelbehaftete Anbindung im ÖPNV und auf die Bequemlichkeit der Pkw-Nutzung zurück.

Hier wird aber auch erkennbar, dass sich Veränderungen der Raum-strukturen ausdrücken (Zunahme der Wegeaufwände) wie auch über viele Jahre – in gegenseitig bedingten Wechselwirkungen – die stei-genden Pkw-Verfügbarkeiten.

Ab den Lebensalterskohorten 1923 – 1928 bzw. 1917 – 1922, d. h. erst ab 80 Jahren, nimmt die Wegeanzahl an Werktagen deutlich ab – dann auch progressiv.

Für die Sicherung der Leistungsfähigkeit und Effizienz der Verkehrsan-gebote ist zudem von Bedeutung, dass Verkehrsteilnehmer nach der Pensionierung auch andere Zeitmuster ihrer aushäusigen Aktivitäten und Wege haben. Sie sind im Wesentlichen im Verlauf des Tages – d. h. von 9.00/10.00 Uhr bis 18.00/19.00 Uhr – unterwegs, entlasten damit die Vormittagsspitze (7.00 bis 9.00 Uhr; Berufs- und Ausbil-dungsverkehr), zum Teil auch die Abendspitze (16.00 bis 18.00 Uhr).

Unter Bezug auf Schweer und Hunecke (2006) zeigen Beckmann et al. (2006b), dass hohe Dichten an Nutzungsmöglichkeiten bzw. Ein-richtungen („Settings“) im Nahraum dazu führen, dass Aktivitäten be-vorzugt im Nahraum ausgeübt werden – z. B. Einkäufe, Gastronomie-besuche – und dass dazu bevorzugt Nahraumverkehrsmittel (Fahrrad, Fußwege, auch ÖPNV) genutzt werden. Dichte und hochwertige Nah-raumausstattungen sind damit unter anderem eine Voraussetzung, ei-ner „Exklusion“ älterer – zum Teil nicht-motorisierter und bewegungs-beeinträchtigter – Menschen vorzubeugen.

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4.4 Wegeaufwände

Die Wegeaufwände (km pro Weg oder km pro Tag) werden einerseits durch die Wegeanzahl bestimmt. Sie sind in ihren zeitlichen Verände-rungen über die Erhebungsquerschnitte andererseits Ausdruck sich verändernder Raumstrukturen und Standortmuster. Die dadurch be-stimmte Zunahme der werktäglichen Wegeaufwände zeigt sich so-wohl bei den höheren Altersgruppen, für die über die Erhebungsquer-schnitte von 1976, 1982, 1989 sowie 2002 bis 2008 eine Zunahme ebenso erkennbar ist wie für alle anderen Altersgruppen (Abbildung 13 bis 15). Dies gilt nicht mehr nach Ausscheiden aus dem Erwerbspro-zess: z. B. war die Jahrgangsgruppe 1923-1928 in den Jahren 1976 und 1982 noch überwiegend im Erwerbsprozess (48 – 53 Jahre, 54 – 59 Jahre), ab 1989 aber zunehmend außerhalb des Erwerbsprozesses (61– 66 Jahre).

Mit dem Alter nehmen die Wegeaufwände fast stufenweise ab (ab 50 Jahren, dann ab 60 sowie ab 70 bzw. 75 Jahren), da Wegezwecke entfallen, Wegeziele stärker nahraumbezogen gewählt werden und die Verkehrsmittel für kürzere Wegelängen („Nahverkehrsmittel“) domi-nieren. Infolge der erweiterten Pkw-Verfügbarkeit, der zunehmenden

Abbildung 13: Wegeaufwände nach Alter (≥50 Jahre) im Längsschnitt (eigene Auswer-tungen KONTIV 76, 82, 89, MID 02*, 08*; leicht abweichende Hochrechnung)

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Abbildung 14: Wegeaufwände nach Geschlecht und Alter im Längsschnitt (eigene Auswertungen KONTIV 76, 82, 89, MID 02*, 08*; leicht abweichende Hochrechnung)

Konzentration von Nutzungsangeboten an entfernteren Standorten nehmen über die Zeitquerschnitte die Weglängen insgesamt und die motorisierten Wegeanteile gleichzeitig zu. Die Weglängen sinken mit dem Alter deutlich – insbesondere ab dem Alter von 70 Jahren, da eine stärkere Nahraumorientierung erfolgt und die Pkw-Verfügbarkeit geringer wird. Entsprechend liegt das mittlere Niveau der Weglängen von Frauen bei 50 % bis 66 % der Weglängen der Männer (Abbildung 15). Mit steigendem Alter dominieren die Wegezwecke Einkauf, Frei-zeit und Sonstiges (z. B. Erledigung) (Abbildung 15).

Die Abnahme der Tageswegeaufwände über Lebensalterskohorten zeigen Arndt und Zimmermann (2012, S.  94  ff.). Die Tagesdistan-zen nehmen mit steigendem Alter kontinuierlich ab – z. B. der 60 bis 65-Jährigen aus der Erhebungswelle 2002, wenn sie im Jahr 2008 66 bis 71 Jahre alt sind oder der 66 bis 71-Jährigen im Jahr 2002 als 72 bis 77-Jährige im Jahr 2008 (Abbildung 16).

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Bei der Betrachtung der hier nicht abgebildeten Alterskohorten über die Erhebungsjahre zeigt sich, dass• hinsichtlich der Anzahl alltäglicher Wege die Alterseffekte die Ko-

horteneffekte überlagern, also die Wegeanzahl eher mit dem indi-viduellen Alter als mit der Geburtsjahrgangszugehörigkeit variiert,

• die alltäglichen Wegeaufwände sowohl mit dem Lebensalter, also auch mit der Zugehörigkeit zu Geburtsjahrgängen, variieren, also wegeaufwandsintensive Lebensstile in bestimmten (jüngeren) Jahr-gängen eingeübt wurden und – zumindest teilweise – beibehalten

Abbildung 15: Wegeaufwände nach Alter und Verkehrsmitteln im Längsschnitt (eigene Auswertungen KONTIV 76, 82, 89, MID 02*, 08*; leicht abweichende Hochrechnung)

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Abbildung 16: Wegeaufwände und MIV-Anteil nach Altersgruppen (Quelle: Arndt & Zimmermann, 2012, S. 91 und 94)

werden, dies jedoch durch altersabhängige Zweckstrukturierung von Wegen überlagert wird,

• die Wegzweckanteile dominant durch die Altersgruppenzugehörig-keit bestimmt werden,

• die Verkehrsmittelwahl überwiegend durch die Zugehörigkeit zu Lebensalterskohorten beeinflusst wird, die Unterschiede aber ab-nehmen werden, da zwischen jüngeren Jahrgängen – sowohl für Frauen als auch für Männer – keine deutlichen Zunahmen des Füh-rerscheinbesitzes und/oder der individuellen Pkw-Verfügbarkeit mehr zu verzeichnen sind.

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Letztlich bestimmen Pkw-Verfügbarkeit, örtliche und regionale Ver-kehrsangebote, Nähe und Erreichbarkeit von Zielen, d. h. Siedlungs-art und -dichte die Wegeaufwände und vor allem die modalen An-teile. Die Mobilitätsbiographien der Lebensalterskohorten bestimmen insbesondere die Verkehrsmittelgewöhnung und die resultierenden Verkehrsmittelpräferenzen. Dies wird allerdings überlagert durch die Verkehrskosten und die Budgets privater Haushalte. Gerade eine zu-nehmende Altersarmut wird die Wegeanzahl, vor allem aber die We-geaufwände und die Verkehrsmittelwahl erheblich beeinflussen.

5 Handlungserfordernisse und Interventionen

Mit der Alterung der einzelnen Individuen – aber auch der Bevölkerung insgesamt – sind erhebliche verkehrliche Implikationen verbunden. Diese betreffen Infrastrukturen hinsichtlich Gestaltungs- und Bauprin-zipien, Transportangeboten und Betriebsformen, aber auch hinsichtlich ordnungsbehördlicher und straßenverkehrsrechtlicher Regelungen, fi-nanzieller und sonstiger Anreize sowie Informationen, Beratungen und Anleitungen. Das heutige Verkehrssystem insgesamt – vor allem auch in Städten und Regionen –altengerecht zu gestalten, erfordert politischen und fachlichen Einsatz, aber auch entsprechende Finanzen. Das Deut-sche Institut für Urbanistik (Eberlein & Klein-Hitpaß, 2012) hat allein zur Sicherung der Barrierefreiheit in kommunalen Verkehrssystemen einen Investitionsbedarf bis 2030 von ca. 28 Mrd. Euro geschätzt. Die Schul-denlage aller öffentlichen Haushalte – vor dem Hintergrund der ver-fassungsrechtlich fixierten Schuldenbremse – erschwert die notwendig erscheinenden öffentlichen Investitionen in Anlagen, Fahrzeuge und Betriebsformen zur Sicherung der Barrierefreiheit und Altengerech-tigkeit. Hinzu kommt, dass die tendenziell verstärkt zu erwartende Fi-nanzierung von Verkehrsleistungen und Verkehrsinfrastrukturen durch Nutzer und Nutznießer kaum verträglich sein dürfte mit den begrenzten Haushaltsbudgets einer wachsenden Zahl von privaten Haushalten mit älteren Menschen (steigende „Altersarmut“).

Mit der Alterung der Gesellschaft sind erhebliche Anpassungserfor-dernisse des Verkehrs(angebots)systems erforderlich. Es sind dazu erhebliche Finanzmittel bereitzustellen. Dies gilt gleichermaßen in Re-gionen, die hinsichtlich der Bevölkerungsanzahl abnehmen oder sta-gnieren, wie auch in wachsenden Regionen, da der Anteil der älteren Menschen unter den Verkehrsteilnehmern in allen Teilräumen zunimmt.

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Dabei ist aber davon auszugehen, dass Menschen gleichen Alters in Zukunft insgesamt mobiler sein werden – in den heute ins Alter hin-einwachsenden Kohorten vor allem auch „automobil“ mobiler. Dies ist zum einen Folge – zum Teil technisch unterstützter – erhöhter physi-scher Leistungsfähigkeit wie auch verbesserter sensorischer und kog-nitiver Fähigkeiten. Zum anderen ist es Folge der Sozialisation in einer individuell motorisierten Gesellschaft und in vom motorisierten Stra-ßenverkehr dominierten Verkehrssystemen. Dies ist bisher zum Teil mit wenig ausgeprägten intermodalen und multimodalen Verkehrsver-haltensweisen verbunden und kann dazu führen, dass die bisher vor allem auch durch aktive alte Menschen gestützte Nachfrage im ÖPNV abnimmt und Verlagerungen von nichtmotorisierten zu motorisierten Verkehren erfolgen. Räumlich und zeitlich disperse Nachfragemuster werden zunehmen, was veränderte Anforderungen an die Gestaltung von Angeboten im ÖPNV auslöst (z. B. Anruf-Sammel-Taxen, Einsatz von Anruf-Bussen und Bürgerbussen, Kombination ÖPNV mit Car-Sharing-Angeboten). Auch dehnen sich Aktionsräume infolge der mo-torisierten Mobilitätsmöglichkeiten aus. Dies hat zum einen erweiterte Wahlmöglichkeiten zur Folge, bedingt aber häufig in längerfristiger Konsequenz eine Schwächung der Nachfrage im wohnungsnahen Be-reich („Nahraum“) und damit eine Aufgabe und Ausdünnung entspre-chender Nutzungsangebote wie Läden oder Dienstleistungsbetriebe. Das Ziel, die Qualität und Ausstattung der Nahräume zu erhalten und zu verbessern, wird durch derartige Entwicklungen möglicherweise konterkariert. Besonders negative Folgen können sich vor allem in peripheren, entleerungsgefährdeten ländlichen Räumen, aber auch in suburbanen Gebieten entleerungsgefährdeter Regionen und in Rand-quartieren von Städten ergeben, wenn sich Einschränkungen der Mo-bilitätsangebote wie auch der individuellen Mobilitätsoptionen mit der Aufgabe von Nutzungsgelegenheiten im Nahraum durch Schließung, Verlagerung und Konzentration wechselseitig verstärken.

Auch wenn demografische Veränderungen zum Teil erst langfristig für Raum- und Verkehrssysteme wirksam werden, müssen sie frühzei-tig berücksichtigt werden, da Planung, rechtliche Sicherung, Finan-zierung und bauliche Anpassung der Infrastrukturen lange Zeiträume benötigen – also heutige Planungen schon zukünftige demografische Gegebenheiten zur Entscheidungsgrundlage machen müssen und da-bei auch die demografischen Veränderungen über die Lebenszeit der Anlagen beachten müssen („Nachfrageanalyse“ über den „Lebenszy-klus“ von Anlagen und Einrichtungen). Für die Vorbereitung von be-

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trieblichen Konzepten gilt dies grundsätzlich auch, wenn auch nicht in der entsprechenden Schärfe, da diese im Regelfall leichter und schneller angepasst werden können.

Die Gestaltungsprinzipien, die die Teilhabe und Teilnahme älterer Men-schen fördern, lassen sich folgendermaßen akzentuieren (vgl. dazu Scheiner & Holz-Rau 2002):• kompakte, verdichtete und gemischte Siedlungen,• Erreichbarkeit und Sicherheit wichtiger als Geschwindigkeit,• Barrierefreiheit und gute bauliche Zustände,• soziale Sicherheit,• angepasste Verkehrsbedienung und Fahrzeugtechnik,• zuverlässige Bedienung.

Die Ausstattungsqualität mit und die – vor allem auch fußläufige – Erreichbarkeit von Nutzungsgelegenheiten, die für ältere Menschen von Bedeutung sind, beeinflussen das Mobilitätsverhalten und die Teilnahmemöglichkeiten erheblich. Auch wenn in Zukunft der Anteil der Wege mit dem Auto bei älteren Menschen eher zunimmt, bleibt der Anteil der Wege zu Fuß und mit dem ÖPNV hoch. Entsprechend muss die Erreichbarkeit im Nahraum ausgestaltet werden. Erreichbar-keit und (soziale sowie verkehrsbezogene) Sicherheit sind die relevan-ten Qualitätsmerkmale – auch wenn die grundlegenden räumlichen und verkehrlichen Entwicklungstendenzen eher gegenläufig sind (vgl. Scheiner & Holz-Rau, 2002, S. 209 ff. und Holz-Rau & Scheiner, 2004, S. 253; sowie Beckmann et. al., 2007). Die Zufriedenheit mit den An-geboten im Wohnquartier ist insbesondere für die Innenstadtlagen und für die Mittelzentren derzeit hoch (BMVBS, 2011). Dies gilt insbe-sondere für die Älteren (älter als 70 Jahre). Die Nahraumnutzung hat dann erheblichen Einfluss auf die Verkehrsmittelwahl.

Gerade im Freizeitverhalten bekommt Mobilität eine besondere Be-deutung: als Chance zur Teilnahme an Aktivitäten an anderen Orten wie auch als Erlebnis des Unterwegsseins, als erweiterte Erlebens-, Kontakt- und Wahrnehmungsmöglichkeiten. In Abhängigkeit von den Aktivitäten spielt der Nahraum dennoch eine besondere Rolle für re-gelmäßige soziale Aktivitäten, Sport, Spaziergänge, Lokalbesuche, Vereine und Ehrenamt (FRAME, 2004, S. 20).

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Soziale Lebenssituationen, Lebensstile und Mobilitätsanforderungen im AlterAnnette Spellerberg

1 Einleitung

Seniorinnen und Senioren eint, ein gewisses Lebensalter erreicht zu haben, im Übrigen handelt es sich aber um eine ausgesprochen heterogene Bevölkerungsgruppe hinsichtlich sozialer Beziehungen, ökonomischer Ressourcen, kultureller Vorlieben und gesundheitlicher Aspekte. In Anbetracht der unterschiedlichen Ausprägungen des All-tagslebens ist es schwierig zu bestimmen, welchen Aussagewert die Kategorie „Alter“ bzw. „Senioren“ überhaupt hat und wie eine katego-riale Abgrenzung zu mittleren Altersgruppen zu ziehen ist, handelt es sich doch um einen kontinuierlichen Alterungsprozess.

Als Übergang in die Kategorie „Senior“ wird zumeist das in der Bundes-republik bislang institutionalisierte Renteneintrittsalter von 65 Jahren gewählt, auch wenn unterschiedliche Grenzen für beide Geschlech-ter existierten, der „Alters-Limes“ sich verschiebt und die 70-Jährigen als die neuen 50-Jährigen eingeschätzt werden, die Grenze zwischen „Alt-Sein“ und „Nicht-Alt-Sein“ sich um 15 Jahre nach hinten verscho-ben hat und die Bevölkerung in der Selbsteinschätzung von einer be-schwerdefreien Lebenszeit mit psychischem und sozialem Wohlbe-finden ausgeht (Otten, 2008). Aus pragmatischen Gründen wird auch in diesem Beitrag diese an Lebensjahre gebundene Abgrenzung des Seniorenalters ab 65 Jahre herangezogen.

Werden die verschiedenen Altersklassen betrachtet, so weisen mög-licherweise nicht die jungen Erwachsenen, sondern die älteren die größte Vielfalt an Lebensstilen auf. Die Lebensstile von älteren Men-schen sind Resultat erworbener Ressourcen, biographischer Erfah-rungen, von Persönlichkeitsmerkmalen, von neuen Anforderungen und von Beeinträchtigungen, die mit zunehmendem biologischen Al-ter einhergehen. Die Altersbilder haben sich vor dem Hintergrund der positiven Entwicklung bei den aktuellen Senioren weg vom passiven, verlustreichen hin zum jungen, aktiven bzw. produktiven Alter gewan-delt (Backes & Clemens, 1998; Wurm & Huxhold, 2010). Die theoreti-schen Ansätze haben die Disengagement-Theorie (Cummings & Hen-

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ry, 1961) hinter sich gelassen und beziehen sich auf Kompensations-, Adaptions- und Optimierungsstrategien beim Entwicklungsprozess Altern (Baltes & Baltes, 1990; Brandtstädter, 2007).

In diesem Beitrag stehen die sozialen Lebenssituationen und Lebens-stile und daraus resultierende Mobilitätsanforderungen im Mittelpunkt. Ältere Menschen können in ein weites, überregionales Netz sozialer Beziehungen eingebettet sein, sich nahräumlich auf Familienangehö-rige konzentrieren oder auch zurückgezogen und vereinsamt leben. Das Freizeitverhalten kann ebenso variieren, von den berühmten Fern-reisen der „jungen Alten“ über kulturelle oder Vereinsaktivitäten bis hin zu rein häuslichen Beschäftigungen. Je nach räumlichem Kontext, individueller Lebenssituation und Lebensstil variiert die Mobilitätsrate sowie die Art und Weise der Verkehrsteilnahme. Mobilität umfasst so-wohl die alltägliche Versorgung als auch die eher singulären Ereignisse von Reisen. Sie bezieht sich hier auf Wege außer Haus, die physisch zurückgelegt werden müssen, um bestimmte Aktivitäten ausüben zu können.

Das Nicht-Erreichen-Können von bestimmten Zielen, wie z.  B. ein Friedhof, Verwandte und ein geselliges oder kulturelles Ereignis, ist eine Beeinträchtigung von Lebensqualität und Lebenszufriedenheit (Mollenkopf & Flaschenträger, 2001). Mangelnde Mobilität kann bis zur sozialen Exklusion führen (Kemming & Borbach, 2003; Social Ex-clusion Unit, 2003; VCÖ, 2009; Lucas, 2012). Erfolgreiche Alterns-verläufe, die befriedigende Freizeitgestaltung und außerhäusliche Tätigkeiten mit Verantwortung umfassen, stehen in unmittelbarem Zu-sammenhang mit der Möglichkeit, vergleichsweise unbeschwert mo-bil zu sein (Hieber et al., 2006; Engeln & Schlag, 2001). Fragen nach der Mobilität, Erreichbarkeit und Nicht-Erreichbarkeit von Gelegenhei-ten und Nutzungen der Verkehrssysteme stellen sich nicht nur aus quantitativen Gründen, also wegen des wachsenden Anteils älterer Menschen in der Gesellschaft, sondern auch aus qualitativen Grün-den. Unterschiedliche Mobilitätsbedürfnisse, verschiedene Umwelten und bestimmte Angebotsstrukturen erfordern ständig wechselseitige Anpassungsleistungen.

Ziel dieses Beitrags ist es, auf die zentralen Lebensbereiche einzu-gehen, die den Lebensstandard älterer Menschen maßgeblich be-stimmen und so unterschiedliche Lebenssituationen hervorrufen. Weiterführend werden Lebensstile älterer Menschen auf repräsen-

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tativer empirischer Basis vorgestellt, um die Vielfalt des Seniorenal-ters zu illustrieren. Die Pluralität von Lebensstilen ist auf gestiegenen Wohlstand, verblassende Konventionen und zunehmende individuel-le Handlungsmöglichkeiten zurückzuführen. Vor diesem Hintergrund wird ausgeführt, welche Mobilitätsanforderungen sich für die ver-schiedenen Lebensstilgruppen aus ihrem Alltagsleben ergeben, wel-che Ressourcen individuell verfügbar sind und wie sich das räumliche Umfeld darstellt. Der letztgenannte Faktor wird einbezogen, weil je nach dem Grad der Urbanität die Verkehrssysteme und Erreichbarkei-ten differieren. Zusätzlich werden Informationen zur Pkw-Verfügbar-keit berücksichtigt. Einschränkend ist zu bemerken, dass für diesen Abschnitt keine detaillierten Daten zur Verkehrsteilnahme verfügbar sind. Es liegt keine repräsentative Datenbasis vor, die Informationen zur Mobilität (gewünschte und realisierte), Sozialstruktur und zu Le-bensstilen im Alter umfasst.

Im folgenden Abschnitt werden die zentralen Faktoren zur Unterschei-dung der sozialen Lage älterer Menschen in Deutschland benannt: die Wohnformen, die finanzielle Situation und der Gesundheitszustand. Im dritten Abschnitt steht die Lebensstiltypologie im Vordergrund, die auf Basis des sozio-ökonomischen Panels gebildet und nach West- und Ostdeutschland differenziert wird.1 Der Grund liegt darin, dass die heutigen Seniorinnen und Senioren durch die beiden unterschiedli-chen Gesellschaftssysteme der früheren BRD und DDR stark geprägt wurden, u.a. durch die Erwerbstätigkeit der Frauen in der DDR und das Hausfrauenmodell in der BRD. Im vierten Abschnitt wird vor allem die Mobilität diskutiert, die sich aus den unterschiedlichen Lebenssti-lausprägungen und dem räumlichem Kontext ergibt. Der vorliegen-de Beitrag ist aus Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer verfasst, da Informationen zum Angebot in der Wohnumgebung (z. B. für den täglichen Bedarf, Freizeit- und Kulturangebote) sowie verfügbare Ver-kehrsmittel nicht im Datensatz vorhanden sind.

1 Das SOEP ist eine umfangreiche (2008: 16.302 Befragte), jährlich bei den gleichen Personen wie-derholte, für die gesamte Bevölkerung Deutschlands repräsentative Befragung. Das SOEP wird seit 1984 vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin erhoben.

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2 Soziale Lebenssituationen älterer Menschen

Im Jahr 2009 lebten in fast jedem 3. Haushalt in Deutschland Men-schen ab 65 Jahren, wobei acht von zehn dieser Haushalte reine Se-niorenhaushalte waren (Statistisches Bundesamt, 2011, S. 17). Knapp die Hälfte der reinen Seniorenhaushalte wohnt im privaten Eigentum (48  %), mehrheitlich in Ein- und Zweifamilienhäusern (78  %). Um-gekehrt wohnt der gleiche Anteil der Mieter in Mehrfamilienhäusern (78 %) (ebenda, S. 24).

Während der Anteil der Senioren in Westdeutschland in den verschie-denen Stadt- und Gemeindetypen, von der Großstadt bis zu den länd-lichen Gemeinden, nahezu ausgeglichen bei 20  % liegt, schwankt er in Ostdeutschland zwischen 21 % in Kernstädten bis hin zu 24 % im ländlichen Raum und 25  % im verdichteten Umland (insgesamt 23,5 %; BBSR, 2011, eigene Berechnung). Der Anteil der Senioren an der Bevölkerung insgesamt ist damit in Ostdeutschland höher. Da sich der Modal Split nach Siedlungsstrukturen differenziert unterschiedlich gestaltet – in Kernstädten werden mehr Wege mit dem ÖPNV oder zu Fuß und im Umland häufiger mit dem Pkw zurückgelegt – sind in klei-nen Gemeinden in Ostdeutschland überproportional viele Ältere von der geringeren Ausstattung mit öffentlichen Verkehrsmitteln betroffen. Erschwerend kommt hinzu, dass in ländlichen Umlandkommunen die Mobilitätskosten wegen des häufigeren Pkw-Besitzes und damit ver-bundenen laufenden Kosten besonders hoch sind (Schubert, 2009). Wird die geringe Siedlungsdichte im Norden Ostdeutschlands mit be-rücksichtigt, ergeben sich unterschiedliche Situationen der Mobilität für ältere Menschen in West- und Ostdeutschland.

Knapp drei Viertel der Haushalte von Älteren zwischen 65 und 80 Jahren verfügen über einen Pkw und auch bei den Haushalten von über 80-Jährigen ist es noch über die Hälfte (52 % im Jahr 2008; Sta-tistisches Bundesamt, 2011). Während sich der Führerscheinbesitz zwischen Männern und Frauen in den jüngeren und mittleren Alters-gruppen weitgehend angeglichen hat, besitzen in der Generation der heutigen Senioren Frauen seltener einen Führerschein und seltener ein Auto. In Partnerhaushalten stellt dies in der Regel kein Problem dar, aber beim Alleinwohnen fehlt häufig die Mitfahrgelegenheit für die Frau. Immerhin waren 2009 ein Fünftel der 65- bis 69-Jährigen Frauen bereits verwitwet (5 % der Männer), bei den über 85-Jährigen waren es 78 % der Frauen (37 % Männer; Statistisches Bundesamt, 2011).

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Entsprechend lebt ein größerer Anteil der Frauen ab 65 Jahren allein (44 % im Vergleich zu 18 % der Männer). In Haushalten mit mindes-tens drei Personen leben nur 6 % der weiblichen und 8 % der männ-lichen Älteren (ebenda). Da sich das Mobilitätsverhalten der Mehrheit der Senioren auf das Auto konzentriert und sich viele Wege mit dem Pkw flexibel, spontan und in einer geschützten, komfortablen Kabine erledigen lassen, stellt das Fehlen eines Autos gerade auch für ältere Menschen häufig eine Einschränkung und Einbuße an Lebensqualität dar (Beckmann et al., 2007; Mollenkopf & Flaschenträger, 2001).

Im Vergleich mit früheren Kohorten und auch mit anderen Bevölke-rungsgruppen verfügen die Senioren mehrheitlich über ausreichende Einkommen. Jeweils mehr als die Hälfte der west- und ostdeutschen über 65-Jährigen beurteilt die eigene wirtschaftliche Lage als gut bzw. sehr gut (Göbel et al., 2011). Armut ist bei den Senioren glücklicher-weise seltener anzutreffen als in mittleren Altersgruppen (10  % der über 60-Jährigen im Westen und 8 % im Osten, bei einer Armutsra-te von 13 % insgesamt und 19 % in Ostdeutschland, gemessen als 60 % des Medianeinkommens betrachtet über den Dreijahreszeitraum von 2007-2009 (ebenda, S. 167).

Die Folgen vom Hausfrauendasein in Westdeutschland einerseits und vom Deökonomisierungsprozess in Ostdeutschland (d. h. Erosion der wirtschaftlichen Basis, d. h. Marktwirtschaft, zugunsten von öffentli-chen Transfers) andererseits kommen in den Armutsquoten der Se-niorinnen in verschiedenen Altersklassen zum Ausdruck. Besonders häufig von Armut betroffen sind alleinlebende Frauen im Alter von 55 bis 74 Jahren: 17 % in Westdeutschland und 28 % in Ostdeutschland. Bei den Seniorinnen ab 75 Jahren liegen die Armutsquoten niedriger (15 % in den alten und 11 % in den neuen Ländern). Bereits diese Zahlen deuten darauf hin, dass für die kommenden Rentengenerati-onen deutlich geringere Rentenansprüche – vor allem in Ostdeutsch-land – erwartet werden können (Rentenhöhen der Rentenneuzugänge 2010 deutschlandweit im Durchschnitt 904 € für langjährig versicherte Männer und 670 € für Frauen; Bäcker, 2012).

Die finanziellen Spielräume für Mobilitätskosten sind zumeist vorhan-den. Wohlhabende Personen können sich selbstverständlich ein Auto leisten, weitere Strecken zurücklegen und komfortabel reisen. We-niger privilegierte Senioren müssen sich bei der Verkehrsmittelwahl einschränken und legen geringere Distanzen zurück. Dies betrifft häu-

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fig alleinlebende Frauen. Und bei den kommenden Rentnerinnen und Rentnern dürften sich vor dem Hintergrund der geänderten Renten-formel, niedriger Reallöhne und unregelmäßigerer Beschäftigungsver-hältnisse zunehmend Konkurrenzsituationen zwischen Mobilität – de-ren Kosten zunehmen werden (Hunsicker & Sommer, 2009) – und der Teilnahme in anderen Lebensbereichen herausbilden.

Auch der subjektive Gesundheitszustand der Bevölkerung über 65 Jahre ist heute so gut wie nie zuvor. Nur ein Drittel in Westdeutschland und 36  % der über 65-Jährigen in Ostdeutschland bezeichnet den eigenen Gesundheitszustand als schlecht bzw. sehr schlecht (eigene Berechnung auf Basis des SOEP 2008; vgl. auch Statistisches Bun-desamt, 2011). Selbst bei ab 76-Jährigen sind es nur vier von zehn. Eine Selbsteinschätzung des Gesundheitszustands ist dabei beein-flusst von individuell unterschiedlichen Erwartungen und Ansprüchen, die mit zunehmendem Alter abnehmen dürften. Objektive Beeinträch-tigungen des Sehens, Hörens und Gehens treten mit zunehmendem Alter verstärkt auf und führen zu Reaktionen im Mobilitätsverhalten, wie z. B. der Vermeidung von Stoßzeiten, dunkleren Tagesabschnit-ten und Verkehrsmitteln wie dem Fahrrad oder irgendwann dem Auto (Limbourg & Matern, 2009).

Die sozialen Lebenssituationen älterer Menschen werden typischer-weise nach den soeben ausgeführten Kriterien differenziert: der Ein-kommenssituation, dem Haushaltskontext und den gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Diese Faktoren bestimmen die außerhäusliche Mobilität maßgeblich mit. In diesem Beitrag wird die Perspektive er-weitert um das Lebensstilkonzept, das eine gewisse Freiheit bei der Gestaltung der Lebensverhältnisse voraussetzt. Die Erhöhung des Lebensstandards, kulturelle Wahlfreiheiten und das Aufweichen von Verhaltensregeln haben bewirkt, dass sich die Lebensstile nicht nur der jüngeren, sondern auch der älteren Menschen in Deutschland auf-fächerten.

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3 Lebensstile und Mobilität

Der Begriff des Lebensstils bezieht sich vornehmlich auf die Sphäre des privaten Lebens und der Freizeit, denn er richtet sich im Unter-schied zu Schicht- oder Klassenbegriffen weniger auf das Vorhan-densein von Ressourcen (wie Bildung oder Einkommen), sondern auf deren Verwendung. Lebensstilen kommt die Funktion zu, Orientierung und Identifikationsmöglichkeiten zu bieten. Lebensstile haben zu-gleich immer auch die Funktion, soziale Hierarchien symbolisch zu repräsentieren und so zu stärken (Bourdieu, 1987).

Empirische Studien zum Zusammenhang von Lebensstilen und Mo-bilitätsverhalten von Seniorinnen und Senioren sind für Deutsch-land kaum bekannt. Beckmann et al. (2006) belegen in ihrer Studie „StadtLeben“ einen engen Zusammenhang von Wohnortwahl und Mobilitätstyp, der wiederum in engem Zusammenhang steht mit der Lebensphase. Mit dem Lebensstil korrespondiert weniger die Ver-kehrsmittelwahl als die Zielwahl (Hunecke & Schweer, 2006). In einer 2012 erschienen Studie, die sich theoretisch auf den Zusammenhang von sozialer Lage und Lebensstil im Sinne von Bourdieus Theorie des sozialen Raumes stützt und in der zukünftige Szenarien entwickelt werden, wird insbesondere auf das zu erwartende Mobilitätsverhalten der Babyboomer-Generation fokussiert, die 2030 etwa 65 Jahre alt sein wird (Rudinger et al., 2012).

Beck und Plöger (2008) untersuchen milieuspezifisches Mobilitätsver-halten und Verkehrsmittelwahl anhand der Daten des Sinusinstituts.2 Sie führen aus, dass moderne Milieus mit postmateriellen Werthal-tungen besonders mobil und traditionellere besonders immobil seien. Dies liege zum einen an dem Wunsch nach Ruhe, zum anderen an mangelnden Ressourcen dieser Milieus. Die häufiger anzutreffende abgelegene Wohnlage schränke die Mobilität zusätzlich ein. Darü-ber hinaus bewerten verschiedene Milieus die Verkehrsmittel in un-terschiedlicher Weise. „Etablierte“ schätzen beispielsweise das Auto zur Individualisierung, Statuspräsentation und zur Markendarstellung. Autofahren bereitet ihnen Freude; sie nutzen den ÖPNV häufig gar nicht. Demgegenüber sehen Postmaterielle eher die Transportfunkti-on, lehnen das Auto als Statussymbol ab und nutzen den ÖV und

2 Es existiert eine Reihe von Studien im Zusammenhang mit den Sinus-Milieus, wobei die Daten, In-dikatoren und Auswertungsstrategien nicht offen gelegt werden. Wippermann (2011) hat auf Basis von Sekundäranalysen eine grundsätzliche Kritik an dem Aussagewert und der sozialstrukturellen Zuordnung der Sinus-Milieus formuliert.

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das Rad vergleichsweise häufig – entsprechend ihrer ökologischen Grundorientierung. Über die Alterszusammensetzung der Typen wird nicht berichtet, aber beide genannten Gruppen dürften auch bei den heute älteren Menschen anzutreffen sein. Die Autoren, zu deren Hauptkundenkreis die Automobilhersteller zählen, verweisen auf die Notwendigkeit, die Mobilitätsmuster zu kennen, um Kommunikations-strategien zu entwickeln und möglicherweise Verhaltensänderungen herbeiführen zu können.

Während der Zusammenhang von übergreifenden Lebensstiltypen bzw. Milieuzugehörigkeiten und Mobilität umstritten ist, haben sich bereichsspezifische Ansätze der Zielgruppenanalyse, sogenannte Mobilitätstypen, bewährt (Hunnecke & Scheer, 2006; Götz et al., 2003; Hunecke et al., 2008). Bei der Typenbildung wird auf Einstellungen zum Verkehr zurückgegriffen und auf dieser Basis das konkrete Ver-kehrsverhalten differenziert. Götz (2008) ermittelt die Mobilitätstypen Benachteiligte, Modern-Exklusive, Fun-Orientierte, Belastete Famili-enorientierte und Traditionell-Häusliche. Während die Modern-Exklusi-ven und Belasteten Familienorientierten häufig den Pkw nutzen, gehen die älteren Traditionell-Häuslichen sehr häufig zu Fuß oder fahren mit dem Rad, wobei die Ziele Kirche, Friedhof, Verwandten und Freunden gelten – in dieser Reihenfolge. In der Phase des Ruhestands werden zwei Stile abgebildet, und zwar Traditionell Häusliche und Benachtei-ligte (Götz, 2008).

Mobilitätsstile älterer Menschen wurden anhand rein objektiver Grö-ßen wie der Häufigkeit und Art der Verkehrsmittelwahl und dem räum-lichen Kontext gebildet (Selten Mobile, Fahrradnutzer oder ländliche Auto-Nutzer; Infas & DIW 2004). Verkehrsteilnehmer über 40 Jahre wurden in der Studie von Limbourg und Matern (2009) in einer Rang-folge von Selten Mobilen bis hin zu Multimodalen angeordnet. Mobi-litätsstile von Menschen ab 65 Jahren auf Basis von grundlegenden Einstellungen zum Verkehr sind bislang für Deutschland nicht bekannt.

3.1 Lebensstile älterer Menschen

Lebensstile werden hier herangezogen, weil sie einen Einblick geben in unterschiedliche Wegeziele, soziale Netze, Partizipationsmuster und den Aktionsradius. Die Verknüpfung der ermittelten Freizeit- und Wertemuster mit individuellen Ressourcen (ökonomisches und kultu-relles Kapital), dem Haushaltskontext und typischen Wohnlagen (eher

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städtisch oder in kleineren Gemeinden) lässt vergleichsweise lebens-nah auf Situationen und Probleme der Verkehrsteilnahme schließen. Muster der Verkehrsnachfrage können auf dieser Basis identifiziert werden.

Um Lebensstile empirisch nachzuweisen, werden zumeist Freizeitak-tivitäten und kulturelle Geschmacksrichtungen sowie allgemeine Ein-stellungen der Menschen (als Orientierungsrahmen ihres Verhaltens) erhoben (vgl. Georg, 1998; Spellerberg, 1996). Für die hier präsen-tierte Lebensstil untersuchung werden Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) aus dem Jahre 2008 verwendet. Die Bildung von Le-bensstiltypen auf dieser Datenbasis stützt sich auf Indikatoren aus dem Bereich der Wertorientierungen und des Freizeitverhaltens, Fra-gen zum kulturellen Geschmack sind nicht enthalten. Es wurden 27 Lebensstilindikatoren erfragt, die sich auf die „Wichtigkeit bestimmter Lebensbereiche für das Wohlbefinden“ richten (zum Beispiel: Arbeit, Familie, Gesundheit oder Religion). Außerdem wurde nach 18 Indika-toren zur „Häufigkeit bestimmter Freizeitaktivitäten“ gefragt (zum Bei-spiel: Ausflüge, ehrenamtliche Tätigkeiten, Gartenarbeit oder Sport). Auf Basis von Faktoren- und Clusteranalysen wurden häufig genannte Kombinationen von Ausprägungen der genannten Indikatoren zu Le-bensstiltypen zusammengefasst.3

Die folgende Abbildung vermittelt eine Übersicht über die Typologien für West- und Ostdeutschland und über die Bevölkerungsanteile ab 65 Jahre, die die jeweiligen Lebensstile – umgerechnet auf Gesamt-deutschland – aufweisen (Abbildung 1). Die zentralen Achsen zur Ein-ordnung der Lebensstile älterer Menschen bilden hier das Einkommen und der Gesundheitszustand. Der Grund liegt darin, dass das Mobili-

3 Die Hauptkomponentenanalyse der Freizeittätigkeiten (Eigenwert größer 1, varimax rotiert) er-brachte für beide Landesteile je fünf Faktoren. Westdeutschland: Die Items der Besuch von Oper/Klass. Konzerten/Theater/Ausstellungen (.74), Ausflüge/Kurzreisen unternehmen (.69), Essen/trin-ken gehen (.67), Kino, Pop-, Jazzkonzerte, Disco (.66) und aktiver Sport (.52) luden auf dem ersten Faktor „außerhäuslich aktiv“. PC-Nutzung (.91) und Internet (90) bestimmen den zweiten Faktor „Computerfreizeit“. Fahrzeugpflege/-reparaturen (.76) und Basteln/Handarbeiten/Reparaturen/Gartenarbeit (.59) und der Besuch von Sportveranstaltungen (.58) bildeten die dritte Dimension „In-standhalten, Werken“. Ehrenamt (.69), Beteiligung an Parteien, Kommunalpolitik, Bürgerinitiativen (.63) Kirchgang/Besuch religiöser Veranstaltungen (.51), und Künstlerische/musische Tätigkeiten (.42) luden auf dem vierten Faktor „Vereine/Politik“. Besuche der Familie/Verwandte (.69) und von Nachbarn/Freunden (.67) luden auf dem fünften Faktor „Sozialbeziehungen“. In Klammern ange-geben sind die Ladungswerte. In Ostdeutschland zeigen sich die gleichen Faktoren mit kleineren Abweichungen. Bei den Wertorientierungen ergeben sich zwei Faktoren in Westdeutschland „Indi-viduelle Entwicklung“ (Welt sehen, reisen; Selbstverwirklichung, politisch einsetzen, beruflicher Er-folg und sich etwas leisten können) und „Familienorientierung“ (Kinder haben, Ehe, Partnerschaft, eigenes Haus, für andere da sein). In Ostdeutschland ergeben sich drei Wertedimensionen: „Fa-milienorientierung“, Gesellschaftsbezug (politisch einsetzen, beruflicher Erfolg, Welt sehen, reisen) sowie Selbstverwirklichung (sich etwas leisten können, Selbstverwirklichung).

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tätsverhalten von diesen Faktoren entscheidend beeinflusst wird: „… dass zum einen ein höherer sozioökonomischer Status, ein zufrieden-stellendes soziales Netzwerk, bessere körperliche Gesundheit und Sehfähigkeit sowie die Motivation außer Haus zu gehen, in Zusammen-hang mit außerhäuslicher Mobilität stehen.“ (Hieber et al., 2006, S. 27) Das soziale Netzwerk sowie die Grundorientierungen werden in den Lebensstilindikatoren aufgegriffen. Die Einzelheiten der Charakterisie-rung der einzelnen Lebensstiltypen gehen aus der Tabelle im Anhang hervor.

Die für West- und Ostdeutschland getrennt gebildeten Lebensstil-gruppen sind in der Grafik entsprechend ihres Anteils an der gesamt-deutschen älteren Bevölkerung in ihrer Größe dargestellt und nach ih-rem Einkommen (verfügbares Haushaltsnettoeinkommen pro Person) sowie nach dem subjektiv wahrgenommenen Gesundheitszustand entlang der Achsen aufgetragen. Ältere Menschen mit höherem Ein-

Abbildung 1: Lebensstiltypen von Personen ab 65 Jahren in West- und Ostdeutsch-land nach Einkommen und subjektivem GesundheitszustandLesehilfe: Typ 1 im Westen (Ehrenamtlich, politisch engagiert) verfügt über ein hohes Einkommen von 1430 €/Person im Durchschnitt und beurteilt den eigenen Gesund-heitszustand im Mittel am besten (2,7 auf der Skala von 1 bis 5). Die ostdeutsche Gruppe 5 (Zurückgezogen) verfügt über etwa 1.000 € pro Person und Monat im Haus-halt und erreicht nur einen Wert von 3,7 bei der subjektiven Gesundheitseinschätzung (54 % geben „weniger gut“ bzw. „schlecht“ an).Datenbasis: SOEP 2008, Querschnitt, gewichtete Daten bei Verteilungen, eigene Be-rechnung

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kommen sind tendenziell zugleich häufiger beschwerdefrei, während diejenigen mit geringerem Einkommen häufiger über gesundheitliche Beeinträchtigungen klagen. Diese Angaben stehen wiederum in einem hochsignifikanten Zusammenhang mit dem Alter (eta²: .14 im Westen, .07 im Osten). Die ersten vier Gruppen sind etwa drei bis vier Jahre jünger als Gruppen mit häufiger beeinträchtigten Personen (West- und Ostdeutschland).

Die links stehende Abbildung zeigt, dass einige Lebensstile in den unte-ren Einkommensbereichen vorherrschen, andere typisch für mittlere La-gen sind, und wieder andere sich in den oberen Einkommensgruppen konzentrieren (gemessen am Mittelwert der Gruppe). Auch der jeweilige Gesundheitszustand der Menschen ab 65 Jahren, der stark mit der Al-terszugehörigkeit korreliert, führt zu Unterschieden im Lebensstil. Die Lebensstilgruppen „Zurückgezogen“ oder „Unauffällig, gesellschaftlich distanziert“ geben einen durchschnittlich schlechteren Gesundheitssta-tus an als die übrigen Gruppen. Ähnliches gilt für die Bildung: In allen Lebensstilgruppierungen, die sich durch aktives Verhalten auszeichnen (z. B. „Außerhäuslich aktiv und weltoffen“, und „Ehrenamtlich, politisch engagiert“) sind höhere Bildungsabschlüsse überdurchschnittlich häu-fig, während in allen passiveren Lebensstilgruppierungen niedrigere Bil-dungsabschlüsse dominieren. Es zeigt sich, dass die Bildung deutliche Auswirkungen auf den Lebensstil der Menschen hat.

Zugleich bestätigen die Ergebnisse bisherige Studien zum Thema Freizeitmobilität im Alter. Schüttemeyer et al. (2004) führen aus, dass Ausflüge und Reisen für viele ältere Menschen von hoher Bedeutung sind, mit dem Alter die Reiseaktivität jedoch abnimmt. Bekannt ist auch, dass Haus und Garten das Freizeitverhalten und damit die Mo-bilitätsanforderungen stark beeinflussen. Die Gelegenheiten vor Ort und die Verfügbarkeit eines Autos spielen selbstverständlich eine Rol-le (Kaspar, Scheiner 2006; Engeln & Schlag 2001). Im Folgenden wird genauer auf das Mobilitätsverhalten und mögliche Probleme bei der Mobilität einzelner Lebensstiltypen eingegangen

3.2 Mobilitätsbedürfnisse einzelner Lebensstilgruppen

Werden die drei Gruppen betrachtet mit dem höchsten Einkommen und guter Gesundheit, also Ehrenamtlich Engagierte, Vielseitige Com-puternutzer und Außerhäuslich aktive Weltoffene, so zeigt sich, dass

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sie ganz unterschiedliche Verhaltensweisen mit unterschiedlichen Aktionsradien aufweisen. Für die Weltoffenen, mehrheitlich Frauen, stehen Reisen, Ausflüge, Kultur und Restaurantbesuche im Vorder-grund der Freizeitaktivitäten. Drei Viertel dieser Gruppe leben in einer Großstadt, mehrheitlich im inneren Bereich, mehr als die Hälfte im Ge-schossbau und immerhin vier von zehn allein. Acht von zehn besitzen ein Auto im Haushalt. Die Vergleichsgruppe in Ostdeutschland (Typ Ost 1) gehört ebenso den sozial höheren Schichten an, wohnt eben-falls häufig in Kerngebieten der Großstädte und hat in der Regel ein Auto. Allerdings handelt es sich hier häufiger um Männer, die selten allein wohnen und auch häufiger Computer nutzen. Aufgrund der Res-sourcenausstattung, der mehrheitlich zentralen Wohnlagen und hohen Mobilitätsraten stehen diese Gruppen nicht im Fokus verkehrspoliti-scher Überlegungen.

Tabelle 1: Lebensstile im Alter nach Pkw-Verfügbarkeit und Wohnort

Lebensstiltypen Pkw-Anteil im Haushalt

Wohnort

Kerngebiet in Groß-stadt

Orte

< 20.000 E.

In %

W1: Ehrenamtlich, politisch engagiert 86 36 14

W2: Vielseitige Computernutzer 94 46 19

W3: Außerhäuslich aktiv, weltoffen 81 56 14

W4: Handwerklich, familienorientiert 93 30 20

W5: Familiär, religiös orientiert 63 39 19

W6: Unauffällig, gesellsch. distanziert 43 62 10

W7: Zurückgezogen 55 48 16

West Gesamt 72 46 15

O1: Kulturell vielseitig aktiv 92 58 6

O2: Sportlich, außerhäuslich 69 35 21

O3: Ehrenamtl. vielseitig engagiert 78 27 25

O4: Familie, Nachbarschaft 74 20 33

O5: Zurückgezogen 30 31 22

Ost Gesamt 65 31 23

Datenbasis: SOEP 2008, Querschnitt, gewichtet, eigene Berechnung

Für die sportlich aktiven Außerhäuslichen (O2; 72 Jahre im Durch-schnitt), die viel reisen und Ausflüge unternehmen, gilt das Gleiche wie bei Typ W3 und O1. Sie sind allerdings nicht kulturell interessiert, und

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ein geringerer Anteil besitzt ein Auto. Mit einem Anteil von 42 %, die in Hochhäusern und einem Drittel, das am Rand von Großstädten wohnt, ist vor allem für diese Befragten zu wünschen, dass die Ausstattung mit ÖPNV und Einrichtungen der Nahversorgung ausreichend ist. Die Neigung zum Sport in dieser Gruppe erhöht die Wahrscheinlichkeit, Rad zu fahren oder zu Fuß zu gehen.

Die jüngste Gruppe der Vielseitigen Computernutzer (69 Jahre im Durchschnitt) im Westen mit einem Männeranteil von über 80 % zeigt wenige außerhäusliche Interessen mit Ausnahme des aktiven Sport-treibens. Immerhin jeder Vierte ist noch berufstätig, so dass dieser Typ vielleicht weniger auf verschiedenen Freizeitwegen unterwegs ist, und stattdessen aber noch Arbeitswege absolviert. Wenig überraschend ist, dass 94 % der Angehörigen dieser Gruppe ein Auto besitzen. Be-merkenswert ist ferner, dass jeweils acht von zehn in Eigentum woh-nen, sieben von zehn in Ein- und Zweifamilienhäusern und drei von zehn am Stadtrand von Großstädten. Die Affinität zu Computern er-leichtert diesem Typ den Zugang zu elektronisch bereitgestellten In-formationen und Buchungssystemen. Diese Kompetenzen können sie möglicherweise zukünftig einsetzen, auch um flexible, internetbasier-te Mobilitätsangebote zu nutzen, die in Stadtrandgebieten eingesetzt werden können, wenn sich takt- und liniengebundene ÖV-Angebote nicht länger rentieren.

Die ehrenamtlich und politisch Engagierten (W1) gehören ebenfalls den Bessergestellten an, die auch häufig über einen Pkw im Haushalt verfügen. Sie sind vergleichsweise häufig in Mittelstädten zu finden und in Großstädten unterrepräsentiert. Der Aktionsradius der west-deutschen Gruppe scheint nicht so weit gespannt wie der bei den kulturell aktiven Weltoffenen, da kirchliches, ehrenamtliches und poli-tisches Engagement häufig an das lokale Umfeld geknüpft sind. Auch hier arbeitet noch ein erheblicher Anteil (17 %), so dass häufiger noch Arbeitswege anfallen. Mobilitätsbezogene Problemkonstellationen sind bei dieser Gruppe, die im Übrigen keine Ausländer umfasst, nicht zu erkennen.

In Ostdeutschland liegen die Interessen dieser kleinen Gruppe mit dem höchsten Einkommen (O3: Ehrenamtlich, vielseitig engagiert) weiter auseinander und erstrecken sich auch auf den kulturellen Be-reich und Reisen. Sie hat demgegenüber kein Interesse an nahräumli-chen Kontakten und häuslichen Freizeitbeschäftigungen, so dass Mo-

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bilität zu einer befriedigenden Freizeitgestaltung unbedingt notwendig ist. Knapp die Hälfte wohnt in Mittelstädten und ein hoher Anteil hat ein Auto.

Die handwerklich produktiven, häuslich Orientierten (W4) berichten einen guten Gesundheitszustand, verfügen aber nicht im gleichen Maß über finanzielle Ressourcen wie die oben genannten Gruppen. Da sich ihre Freizeit auf Haus und Garten bezieht, ergeben sich eher wenige Freizeitwege – Besorgungen für diesen Bereich einmal ausge-klammert. Nahezu alle Haushalte dieser Gruppe, von der ¾ Männer sind, haben ein Auto. Die Beschäftigung mit dem Auto stellt auch eine wichtige Freizeitbeschäftigung dar. Die diesen Typ bildenden Senio-ren leben häufig in Partnerhaushalten, am Stadtrand und in kleineren Städten. Für diese Gruppe ist der Verlust eines Pkw nicht nur eine Einschränkung der individuellen Beweglichkeit und Unabhängigkeit, sondern auch ein Verlust eines Hobbies.

Die größte Gruppe (Anteil 19  % Gesamtdeutschland, 23  % West-deutschland) der familiär und religiös Orientierten stützt sich auf nah-räumliche Kontakte und soziale Aktivitäten. Ein größerer Aktionsradius ist nicht zu erkennen. Ihr Einkommen liegt unter dem Durchschnitt, ebenso wie die Bildungsabschlüsse, der Gesundheitszustand kann als „zufriedenstellend“ eingestuft werden und 38 % sind bereits ver-witwet. Sechs von zehn dieser Gruppe mit einem durchschnittlichen Alter von 75 Jahren, bestehend aus 68 % Frauen, verfügen über ein Auto im Haushalt. Zu dieser Gruppe gehört die Mehrzahl der im SOEP vertretenen ausländischen Senioren und Seniorinnen. Da die Mitglie-der dieser Gruppe kaum Reisen, Ausflüge oder Besuche von Kultur- und Freizeitangeboten unternehmen, dürften sie auch kaum Erfahrun-gen mit Systemen für Fernreisen haben. Solange die gewünschten Ziele und Gelegenheiten erreicht werden, ist dies kein Problem. Inwie-weit für die nahräumliche Mobilität ausreichende Angebote und ÖV-Kompetenz vorhanden ist, zu Fuß gegangen oder das Rad benutzt wird, kann nicht beurteilt werden.

In Ostdeutschland zeigt die vergleichbare Gruppe (O4) ein geringeres religiöses Interesse und auch kaum Interesse an aktivem Sport. Die geringere Sportaffinität könnte negative Folgen für die Radnutzung im Rahmen der nahräumlichen Mobilität haben. Außerdem hat diese in Ostdeutschland sehr große Gruppe (ein Drittel der ostdeutschen Seni-oren und Seniorinnen) häufiger ein Auto (74 %). Sieben von zehn Per-

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sonen wohnen in Ein- und Zweifamilienhäusern und ein Drittel wohnt in kleinen Orten, für die ein Pkw von besonderer Bedeutung ist, wenn es sich um periphere Lagen handelt.

Drei Gruppen zeichnen sich durch kaum vorhandene außerhäusliche Freizeitbeschäftigungen und geringe soziale Vernetzungen aus. Dabei fällt die unauffällige, gesellschaftlich distanzierte Gruppe (W6) durch gesundheitliche Beeinträchtigungen auf. Ein Viertel der Mitglieder die-ser Gruppe musste im vorhergehenden Jahr eine Zeit im Krankenhaus verbringen und vier von zehn Personen geben an, weniger zu schaffen wegen gesundheitlicher Probleme (nicht tabellarisch ausgewiesen). Die Mehrheit der Gruppe von durchschnittlich 77 Jahren sind Frauen (71 %), die Hälfte der Distanzierten ist verwitwet und immerhin 73 % leben allein. Die erkennbare Distanz zur Gesellschaft lässt auf eine unterdurchschnittliche Verkehrsteilnahme schließen. So besitzen nur (noch) 43 % ein Auto. Da aber sechs von zehn Personen in Innenbe-reichen von Großstädten leben, ist Pkw-Besitz möglicherweise auch nicht notwendig, um mobil zu sein. Dieser Typ weist kein unterdurch-schnittliches Einkommen auf.

Die Lebensstilgruppen W7 und O5 (Zurückgezogene) zeichnen sich durch eine schwache soziale Vernetzung aus. Jeweils 29  % geben an, keine bzw. keinen engen Freund/enge Freundin zu haben. Sie nehmen auch an außerhäuslichen Aktivitäten so gut wie nicht teil. In Ostdeutschland verfügt weniger als ein Drittel (30 %) über einen Pkw im Haushalt. Die individuellen ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen legen nahe, von einer benachteiligten Bevölkerungsgrup-pe zu sprechen. Aus den Informationen zum Lebensstil lässt sich fol-gern, dass diese Gruppe nicht sehr ausgeprägt am Verkehrsgesche-hen teilnimmt. Für diejenigen ohne Pkw ergibt sich möglicherweise eine problematische Situation, weil die soziale Einbindung auf nur geringe Unterstützung schließen lässt, das Einkommen die Verkehrs-teilnahme einschränkt und gesundheitliche Beeinträchtigungen die unbeschwerte Mobilität behindern können.

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4 Zusammenfassung

In diesem Beitrag wurde versucht, aus verfügbaren Informationen zur Lebenssituation und zu Lebensstilen der Bevölkerung ab 65 Jahren auf die räumlichen Mobilitätsmuster zu schließen. Ziel war vor allem, auf die heterogenen Lebenslagen und die Pluralität von Lebensstilen hinzuweisen, um die Defizitperspektive zu überwinden, die dem Al-ter anhaftet. In einem ersten Teil wurde auf objektive Einflussgrößen eingegangen, die den Alltag der Senioren bestimmen, der Haushalts-kontext, die finanzielle Situation und der Gesundheitszustand. Der Mehrheit der älteren Menschen geht es nach den genannten Indika-toren gut, sie lebt in Partnerhaushalten, verfügt über gesicherte und ausreichende Renten und ist auch nicht so krank, dass ihr Alltagsle-ben stark eingeschränkt ist. Problemkonstellationen sollen damit nicht geleugnet werden, denn „arm, alt und allein“ ist eine Konstellation, die häufiger als gewünscht vorkommt.

Die letztgenannte Feststellung beruht dabei auf den Ergebnissen der Lebensstilanalysen, die den Hauptteil dieses Beitrags darstellen. Auf Basis der repräsentativen Daten des Sozio-ökonomischen Panels wurden Informationen zum Freizeitverhalten und zu Wertorientierun-gen zusammengefasst und die älteren Menschen zu Lebensstiltypen gruppiert. Es haben sich ganz unterschiedliche Ausrichtungen er-geben, von ehrenamtlich Aktiven, über kulturell Interessierte bis hin zu nachbarschaftlich Eingebundenen und auch distanziert und zu-rückgezogen Lebenden. Wegen der unterschiedlichen Biographien in West- und Ostdeutschland wurden die Typologien für beide Lan-desteile getrennt ermittelt. Es ergeben sich im Resultat aber vielerlei Gemeinsamkeiten und einige systembedingte Unterschiede, wie die größere Nähe mancher Älterer im Westen zur Kirche und die geringere Differenzierung der Lebensstile in den neuen Ländern nach dem Ein-kommen.

In einem abschließenden Abschnitt wurden die Ressourcen und Ak-tivitäten der jeweiligen Gruppen im Kontext von Mobilitätsanforde-rungen interpretiert. Dabei wurden in vergleichsweise grober Form Wohnlagen berücksichtigt und die Pkw-Verfügbarkeit einbezogen. Die unterschiedlichen Aktivitätsprofile verweisen auf unterschied-liche Weisen, am Verkehr teilzunehmen (vgl. auch Engeln & Schlag 2001). Die überörtlich aktiven und reisefreudigen Senioren haben an-dere Bedürfnisse an das Verkehrssystem als diejenigen, die den Alltag

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nahräumlich strukturieren. Personen mit einem ehrenamtlichen und sportlichen Schwerpunkt in der Freizeit sind möglicherweise vor die Herausforderung gestellt, die nahräumlichen Angebote erreichen zu können. In dem Beitrag wurde versucht, die unterschiedlichen indivi-duellen Voraussetzungen und heterogenen Muster der Alltagsgestal-tung zu veranschaulichen, um daraus folgende Mobilitätsanforderun-gen herauszustellen. Über die Verkehrsmittelwahl, Wegezeiten oder zu Erreichbarkeitsdefiziten einzelner Lebensstiltypen konnten dabei nur wenige empirisch abgesicherte Informationen gegeben werden.

Mobilität ist für das Erreichen einer hohen Lebenszufriedenheit, für soziale Integration und produktive Freizeitbeschäftigungen ein zentra-ler Faktor. Dennoch bleibt es bislang eine Forschungslücke, über das differenzierte Alltagsleben in Kombination mit Mobilität, den Schwie-rigkeitsgrad der Probleme und individuelle Lösungsstrategien auf re-präsentativer Basis Auskunft geben zu können.

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6 Anhang

Charakterisierung der Lebensstiltypen von Personen ab 65 Jahren in West- und Ostdeutschland.

Die Prozentangaben beziehen sich auf den Anteil jeweils für West- und Ostdeutschland – im Unterschied zur Grafik im Text.

Westdeutschland

Typ 1: Ehrenamtlich, politisch engagiert

Bevölkerungsanteil: 7 %

Aktivitäten: Ehrenamt (50 % mind. wöchentlich); kirchliche, religiöse Veranstaltungen (45 % mind. wöch.); Parteien/Politik/Initiativen (34 % mind. monatl.); musische Tätigkeiten; Sport treiben (58 % m. wöch.), Oper/Klassik/Theater (38 % m. monatl.) Kontakte im Ausland pflegen (22 % m. monatl.)

Seltene Aktivitäten: TV/Video (14 % selten bis nie)

Wertorientierungen: Sich selbst verwirklichen; politisch, gesellschaftlich einsetzen

Sozialstrukturelle Merkmale: 55 % Männer, 72 Jahre, 33 % Abitur, hohes Einkommen (1430 €), 17 % erwerbstätig, keine Ausländer, 76 % bewohnen Ein-/Zweifamilienhäuser

Typ 2: Vielseitige Computernutzer

Bevölkerungsanteil: 13 %

Aktivitäten: PC (98 % wöchentl./tägl.); Internet (93 % wöch./tägl.), Sport (56 % mind. wöch.); Kontakte im Ausland pflegen (24 % m. monatl.)

Seltene Aktivitäten: –

Wertorientierungen: Erfolg im Beruf; Ehe und Partnerschaft

Sozialstrukturelle Merkmale: 82 % Männer, 69 Jahre im Durchschnitt, 82 % verheiratet zusammenlebend, 53 % Realschulabschluss oder höher, hohes Einkommen (1400 €), 24 % erwerbstätig, 82 % bewohnen Eigentum, 72 % Ein-/Zweifamilienhäuser, 78 % Großstädter

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Typ 3: Außerhäuslich aktiv und weltoffen

Bevölkerungsanteil: 16 %

Aktivitäten: Essen/Trinken (35 % mind. wöchentl.); Ausflüge, Kurzreisen; Kino/Pop/Jazz/Disco; Oper/Klassik/Theater (33 % mind. monatlich)

Seltene Aktivitäten: –

Wertorientierungen: Sich etwas leisten können, die Welt sehen, viele Reisen machen

Sozialstrukturelle Merkmale: 65 % Frauen, 72 Jahre, überdurchschnittliches Einkommen (1400 €/Person), 26 % (Fach-)Abitur; häufiger allein lebend (42 %), häufig Geschosswohnungen (53 %), 77 % Großstädter

Typ 4: Handwerklich und familienorientiert

Bevölkerungsanteil: 14 %

Aktivitäten: Basteln/Reparaturen/Garten/Handarbeit (84 % mindestens wöchentlich); Fahrzeug/Auto (68 % mind. monatl.); Besuch von Sportveranstaltungen (25 % mind. monatl., 6 % im Mittel)

Seltene Aktivitäten: Oper/Klassik/Theater (98 % selten bis nie)

Wertorientierungen: Eigenes Haus, Ehe und Partnerschaft

Sozialstrukturelle Merkmale: 74 % Männer, 72 Jahre, 83 % verheiratet zusammenlebend, 79 % Hauptschulabschluss, mittleres Einkommen 1050 €, 78 % bewohnen Eigenheime, 80 % Ein- oder Zweifamilienhäuser, überdurchschnittlicher Anteil in großstädtischen Randgebieten (56 %) und kleinen Mittelstädten (16 %).

Typ 5: Familiär und religiös orientiert

Bevölkerungsanteil: 23 %

Aktivitäten: Freunde und Nachbarn besuchen (63 % mind. wöchentl.); Besuch Familie (84 % mind. wöchentl.); kirchliche, religiöse Veranstaltungen (42 % mind. wöchentlich)

Seltene Aktivitäten: Parteien/Politik/Initiativen; PC; Internet; musische Tätigkeiten; Fahrzeug/Auto; Sportveranstaltungen besuchen; Kino/Pop/Jazz/Disco; Oper/Klassik/Theater

Wertorientierungen: Für andere da sein; Eigenes Haus; Kinder haben nicht: Sich etwas leisten können

Sozialstrukturelle Merkmale: 68 % Frauen, 75 Jahre im Durchschnitt, 38 % verwitwet, selten höhere Bildung, unterdurchschn. Einkommen (980 €/Person), 11 % Ausländer (7 % im Mittel)

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Typ 6: Unauffällige, gesellschaftlich Distanzierte

Bevölkerungsanteil: 12 %Aktivitäten: unterdurchschnittliche AusprägungenSeltene Aktivitäten: Kontakt mit Freunden, Verwandte im Ausland;

Basteln/Reparaturen/Garten/Handarbeit (70 % selten bis nie)

Wertorientierungen: alles unwichtigSozialstrukturelle Merkmale: 71 % Frauen, 77 Jahre im Durchschnitt, 49 %

verwitwet, 73 % Einpersonenhaushalte, mittleres Einkommen 1090 €, 70 % wohnen zur Miete, 55 % in Wohnhäusern 5 + Wohneinheiten, 62 % in Kerngebieten von Großstädten

Typ 7: Zurückgezogen

Bevölkerungsanteil: 16 %Aktivitäten: -Seltene Aktivitäten: Restaurantbesuche; Freunde und Nachbarn

besuchen, Kontakt mit Freunden, Verwandten im Ausland; Ausflüge/Kurzreisen (97 % selten bis nie); politisches, ehrenamtliches oder kirchliches Engagement; PC; Internet; musische Tätigkeiten; Fahrzeug/Auto; Sport treiben; Sportveranstaltungen besuchen; Kino/Pop/Jazz/Disco; Oper/Klassik/Theater

Wertorientierungen: Kinder haben, Ehe und Partnerschaft, für andere da sein

Sozialstrukturelle Merkmale: 63 % Frauen, 76 Jahre im Mittel, nur 3 % (Fach- ) Abitur, geringes Einkommen (890 €/Person: 1140 €/P im Mittel), hoher Anteil Mieter/innen (52 %)

Ostdeutschland

Typ 1: Kulturell, vielseitig aktiv

Bevölkerungsanteil: 8 % (n=50)Aktivitäten: Essen/Trinken; Ausflug/Kurzreisen; TV/Video; PC

(98 % wöchentlich bis täglich); Internet; Fahrzeug/Auto; Kino/Pop/Jazz/Disco; Oper/Klassik/Theater (26 % monatlich : 9 % im Mittel); Basteln/Reparaturen/Garten Handarbeit (77 % mindestens wöchentlich), Kontakt im Ausland (20 %; 8 % im Mittel)

Seltene Aktivitäten: -Wertorientierungen: Erfolg im Beruf; Ehe und Partnerschaft (75 %)Sozialstrukturelle Merkmale: 75 % Männer, 70 Jahre, 79 % verheiratet

zusammenlebend, 34 % Abitur, mittleres Einkommen 1200 € (1060 € im Mittel), 15 % Einpersonenhaushalte, Kerngebiet von Großstädten (58 %; 31 % im Mittel)

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Typ 2: Sportlich, außerhäuslich

Bevölkerungsanteil: 30 %Aktivitäten: Sport treiben (44 % mind. wöchent.), Restaurant

(43 % : 26 % im Mittel); : Ausflüge/Kurzreisen (37 % : 22 % im Mittel)

Seltene Aktivitäten: Ehrenamt, kirchliche, religiöse Veranstaltungen; Fahrzeug/Auto

Wertorientierung: Sich etwas leisten können; sich selbst verwirklichen; Welt sehen, Reisen machen

Sozialstrukturelle Merkmale: 60 % Frauen, 72 Jahre, mittleres Einkommen 1130 €, 42 % in Wohngebäuden > 9 WE, überdurchschnittlicher Anteil wohnt in Großstädten (55 %)

Typ 3: Ehrenamtlich, vielseitig engagiert

Bevölkerungsanteil: 8 %

Aktivitäten: Parteien/Politik/Initiativen (46 % mindestens monatlich); Ehrenamt/Parteien/Verbände (nur 2 % nie); Ausflüge/Kurzreisen; kirchliche, religiöse Veranstaltungen; TV/Video; musische Tätigkeiten (41 % mind. monatl.); sportliche Veranstaltungen; Oper/Klassik/Theater

Seltene Aktivitäten: Besuche Nachbarn/Freunde; Besuch Familie; Basteln/Reparaturen/Garten/Handarbeit

Wertorientierungen: Erfolg im Beruf; politisch, gesellschaftlich einsetzen (23 %)

Sozialstrukturelle Merkmale: 69 % Männer, 73 Jahre, 32 % Abitur, höheres Einkommen 1270 €, noch 7 % Erwerbstätige, 47 % in Mittelstädten von 50.000 bis 100.000 Einwohnern

Typ 4: Familien- und Nachbarschaftsorientiert

Bevölkerungsanteil: 32 %

Aktivitäten: Verwandte, Freunde und Nachbarn besuchen (je 62 % wöchentlich bzw. täglich); Basteln/Reparatu-ren/Garten/Handarbeit (69 % mind. wöchentl.)

Seltene Aktivitäten: PC (98 % nie bis selten); Internet (100 % nie); Sport treiben (90 % selten bis nie); Kino/Pop/Jazz/Disco

Wertorientierungen: für andere da sein; eigenes Haus (34 %); Kinder haben (60 %); Ehe und Partnerschaft (70 %)

Sozialstrukturelle Merkmale: 50 % Frauen, 74 Jahre, 72 % verheiratet zusammenlebend, 81 % Hauptschulabschluss, geringeres Einkommen 920 €, häufig Eigentum (55 % : 38 % im Durchschnitt), 27 % Einpersonenhaushalte, überdurchschnittlicher Anteil Ein-/Zweifamilienhäuser (68 %), ein Drittel wohnt in kleineren Orten bis 20.000 E. (23 % im Mittel)

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Typ 5: Zurückgezogen

Bevölkerungsanteil: 22 %

Aktivitäten: -

Seltene Aktivitäten: PC (98 % nie bis selten); Internet (100 % nie); musische Tätigkeiten (99 % selten bis nie); Basteln/Reparaturen/Garten/Handarbeit (70 % selten bis nie); Fahrzeug/Auto (90 % nie); Sport treiben; Sportveranstaltungen besuchen; Oper/Klassik/Theater, etwas Essen/Trinken gehen (mehr als 50 % nie); Freunde und Nachbarn besuchen, Kontakt mit Freunden, Verwandte im Ausland, Ausflüge/Kurzreisen; Parteien/Politik/Initiativen; Ehrenamt/Parteien/Verbände; kirchliche, religiöse Verbände; TV/Video (13 % nie oder selten)

Wertorientierungen: -

Sozialstrukturelle Merkmale: 67 % Frauen, 75 Jahre im Durchschnitt, 38 % verwitwet, geringere Bildungsabschlüsse, mittleres Einkommen 1020 €, 79 % Mieter, 59 % Einpersonenhaushalte, selten Ein- und Zweifamilienhausbewohner (29 %)

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Soziale Teilhabe älterer Menschen: Ein Fokus auf Mobilität und ErreichbarkeitJoachim Scheiner

1 Einleitung

Seit etwa 15 Jahren hat sich in der Verkehrs- und Raumforschung eine breite Diskussion um die Zusammenhänge zwischen Mobilität und Er-reichbarkeit einerseits sowie gesellschaftlicher Teilhabe andererseits entwickelt. Teilhabe (Inklusion) wird dabei in der Regel aus umgekehr-ter Perspektive als soziale Exklusion thematisiert. Zur Beschreibung dienen Begriffe wie transport disadvantage (Delbosc & Currie, 2011), transport-based exclusion (Casas et al., 2009), accessibility deficit (Lucas, 2010) oder accessibility poverty (Scheiner, 2008).

Diese Diskussion hat inzwischen auch in Deutschland Fuß gefasst. In ihr drückt sich aus, dass Mobilität zunehmend nicht mehr nur „äußer-lich“ als beobachtbare physische Bewegung im Raum gesehen wird. Vielmehr stellt Mobilität auch eine zentrale Voraussetzung zur sozia-len Teilhabe in arbeitsteiligen Gesellschaften dar. Dies gilt nicht nur für Fragen der Sozialstruktur oder der Lebensstile, sondern hat auch eine ganz praktische Bedeutung, etwa wenn eine Person den Führerschein verliert und damit den Zugang zum Arbeitsplatz (Nutley, 1996). Das Bei-spiel macht deutlich, dass für soziale Teilhabe nicht nur Mobilität er-forderlich ist, sondern auch Erreichbarkeit – nicht nur die Fähigkeit zur Bewegung, sondern auch die Lokalisierung von Quell- und Zielorten, ihre Distanz zueinander und ihre Verknüpfung durch Verkehrssysteme.

Ältere Menschen spielen in dieser Diskussion eine besondere Rolle als eine Bevölkerungsgruppe, deren Mobilität tendenziell eingeschränkt ist (Páez et al., 2009). Zwar wurden defizitäre Bilder des Alters in der jüngeren (Alterns-)Forschung stark revidiert; heute werden eher Lebensfreude, Aktivität, Gesundheit und Teilnahme am öffentlichen Leben seitens älterer Menschen in den Mittelpunkt gestellt.

Dennoch lässt sich nicht übersehen, dass viele ältere, v. a. hochbetag-te Menschen eher zurückgezogen leben und unter Einsamkeit, Kon-taktmangel, gesundheitlichen Problemen und teilweise auch Armut leiden.

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Im Hinblick auf Mobilität lässt sich dies empirisch an der abnehmenden Wegehäufigkeit, der Einschränkung der Aktionsräume und der abneh-menden Verkehrsbeteiligung bei älteren Menschen ablesen (Haustein et al., 2013; Limbourg & Matern, 2009; Beckmann, in diesem Band). Damit erhalten das Wohn umfeld und vor allem die Wohnung selbst als Lebensraum im Alter zunehmende Bedeutung (Wolter, 2013).

Dabei ist die Mobilität älterer Menschen äußerst differenziert (Haustein & Stiewe, 2010). So geht gegenwärtig bei Männern erst ab etwa 75 Jahren die Pkw-Verfügbarkeit stark zurück. Ältere Frauen verfügen in der gegenwärtig älteren Generation deutlich seltener über einen Pkw als ältere Männer. Ein deutlicher Rückgang erfolgt bei älteren Frauen derzeit bereits ab 50 Jahren sowie verstärkt ab 65 Jahren. Besonders stark betrifft dies die alleinstehenden (oft verwitweten) Frauen, wäh-rend alleinstehende Männer auch im höheren Alter meist über ein Auto verfügen1. Auch aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung sowie der Wahl meist älterer Partner betrifft der fehlende Pkw die Frauen wesent-lich häufiger und schon im jüngeren Alter als die Männer. Hinzu kommt die in dieser Generation deutlich geringere Führerscheinverfügbarkeit.

Die Differenzierung der Mobilität älterer Menschen lässt sich auch an den extrem ungleich verteilten zurückgelegten Distanzen ablesen. So verur-sachen nur 12 % der älteren Menschen die Hälfte des Freizeitverkehrs, der durch ältere Menschen insgesamt erzeugt wird. Umgekehrt verur-sacht diejenige Hälfte der Älteren, die ihre Freizeit am verkehrssparsams-ten verbringt, nur 12 % des Freizeitverkehrsaufwands (Scheiner, 2004b).

Wie viel und welche Art von Mobilität nun für eine angemessene so-ziale Teilhabe erforderlich ist, hängt davon ab, was als angemessen anzusehen ist, aber auch von der Erreichbarkeit entsprechender Akti-vitäten bzw. Zielangebote mit verschiedenen Verkehrsmitteln.

Im folgenden Abschnitt wird die aktuelle verkehrswissenschaftliche Diskussion um soziale Teilhabe im Kontext von Mobilität und Erreich-barkeit kurz angerissen. In den darauf folgenden Abschnitten 3 bis 5 werden wesentliche Einflussfaktoren sozialer Teilhabe in diesem Kon-text mit Blick auf ältere Menschen diskutiert. Kapitel 6 versucht eine Einschätzung relevanter Entwicklungen für die Zukunft. Der Beitrag schließt mit Schlussfolgerungen für eine sozial verantwortliche Ver-kehrs- und Raumplanung.1 Eigene Analyse von „Mobilität in Deutschland 2008“

103

2 Hintergrund: Soziale Teilhabe im Kontext von Mobilität und Erreichbarkeit

Die gegenwärtige verkehrs- und raumwissenschaftliche Diskussion um die Zusammenhänge zwischen Mobilität und Erreichbarkeit ei-nerseits sowie gesellschaftlicher Teilhabe andererseits ging Ende der 1990er Jahre von Großbritannien aus2. Eine Schlüsselrolle spielte die von der Labour-Regierung eingesetzte Social Exclusion Unit, die sich in ihrem White Paper (SEU, 2003) explizit diesen Zusammenhängen gewidmet hat (vgl. auch Lyons, 2003; Preston & Rajé, 2007). Mittler-weile weist die Literatur allerdings auch eine große Zahl von empiri-schen Studien aus Australien (Stanley & Vella-Brodrick, 2009; Loader & Stanley, 2009; Delbosc & Currie, 2011), den USA (Cervero, 2004; Casas, 2007) und anderen Ländern auf (Überblick bei Lucas, 2010).

Gesellschaftliche Teilhabe (Inklusion) wird in diesem Forschungsfeld meist aus umgekehrter Perspektive als soziale Exklusion thematisiert. Dabei gilt soziale Exklusion als „a process where individuals or groups are prevented from participating in activities of their societies“ (Casas et al., 2009, S. 228). Dies ist ähnlich wie Armut als relativ zu „normalen“ oder akzeptablen Niveaus sozialer Integration in einer Gesellschaft zu verstehen (ebd.). Soziale Exklusion gilt dabei als multidimensionales Phänomen, das ökonomische, institutionelle, soziale und kulturelle Aspekte umfasst (Wilke, 2013). Delbosc und Currie (2011) definieren als zentrale empirische Dimensionen Einkommen, Erwerbstätigkeit, politisches Engagement, Partizipation und soziale Unterstützung.

In Deutschland steht die systematische wissenschaftliche Beschäf-tigung mit sozialer Exklusion im Mobilitäts- und Erreichbarkeitskon-text noch am Beginn. Wichtigster Bezugspunkt ist der Arbeitskreis der Forschungsgesellschaft Straßen- und Verkehrswesen „Hinweise zu Mobilität und Exklusion“ unter der Leitung von Georg Wilke (http://www.fgsv.de/949.html, Zugriff am 1.5.2013, vgl. auch Wilke, 2013). Da-rüber hinaus spielt soziale Exklusion im Zusammenhang mit Überle-gungen zu steigenden Verkehrskosten eine wichtige Rolle (Gertz et al., 2009; Gaffron, 2010). Allerdings besitzt das Thema – ohne den Begriff soziale Exklusion zu nutzen – unter anderen Vorzeichen seit langem Bedeutung in der Debatte um Daseinsvorsorge (Barlösius, 2009; Neu,

2 Das Konzept der sozialen Exklusion selbst wurde in Frankreich entwickelt (Lenoir, 1974; Klanfer, 1965). Während die „konventionelle“ Sozialstrukturanalyse mit dem Begriff des sozialen Status zwischen einem gesellschaftlichen „Oben“ und „Unten“ unterscheidet, fußt der Begriff der sozialen Exklusion auf der Unterscheidung von „Drinnen“ und „Draußen“.

104

2011), in der Förderung des ÖPNV zur Integration behinderter und älterer Menschen oder in einer sozial orientierten, integrierten Raum- und Verkehrsplanung (Holz-Rau, 2009). Auch klassische raumplane-rische Ansätze wie das Zentrale Orte-Konzept lassen sich im Sinne einer Sicherung von Teilhabe und Erreichbarkeit verstehen.

Erreichbarkeit ist definiert als „the ease of reaching goods, services, activities and destinations (together called opportunities)” (Litman, 2007, S. 36). Es geht dabei also nicht um Orte im kartografischen Sin-ne, sondern um verortete Aktivitätsmöglichkeiten (Gelegenheiten). Er-reichbarkeit wird in der Regel durch die generalisierten Kosten ausge-drückt, die aufgewendet werden müssen, um diese Gelegenheiten zu erreichen. Diese Kosten beinhalten Zeit, Mühe und monetäre Kosten. Die Erreichbarkeit einer Gelegenheit ist demzufolge abhängig (vgl. für ähnliche Gliederungen Lucas, 2010; Church et al., 2000: S. 198 ff)• von der Distanz, die zu ihr zurückgelegt werden muss. Diese ist

wiederum von den räumlichen Strukturen abhängig, in denen eine Person lebt, insbesondere von der räumlichen Verteilung von Woh-nen und Gelegenheiten;

• von den Verkehrsangeboten zwischen Wohnung und Gelegenheit. Dies beinhaltet die Existenz und qualitative Ausgestaltung von Ver-kehrswegen mit ihren spezifischen Reisegeschwindigkeiten und Verkehrssicherheitsstandards;

• vom Zugang zu der Gelegenheit selbst, der ggf. nur bestimmten Bevölkerungsgruppen offen steht, mit Kosten verbunden oder zeit-lich beschränkt ist;

• von der individuellen Mobilität, die wiederum definiert ist als die „individuellen Verkehrsmöglichkeiten (Beweglichkeit)“ (Holz-Rau, 2009, S. 797). Konkret drückt sich die Mobilität einer Person in ih-ren gesundheitlichen, psychischen, sozialen, monetären, zeitlichen und dinglichen Ressourcen aus. Zentrale praktische Bedeutung besitzt dabei heute die Pkw-Verfügbarkeit.

Diese Dimensionen überschneiden sich stark. So kann sich ein indivi-duelles Zeitbudget erst bei hohem Reisezeitaufwand zu einer Einrich-tung als zu knapp erweisen.

Zusammengefasst hängt soziale Teilhabe im hier behandelten Kontext also vom raum-zeitlichen und sozialen Kontext, in dem eine Person lebt, sowie von ihren individuellen Möglichkeiten ab. Eine besondere Rolle spielen auf der individuellen Ebene die Präferenzen einer Person in Be-

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zug auf Wohnstandortwahl, Verkehrshandeln und Aktivitätsmuster, weil diese langfristig auch die Möglichkeiten zur Teilhabe bestimmen können. In den folgenden drei Abschnitten werden soziale, räumliche und präfe-renzbezogene Aspekte mit Blick auf ältere Menschen diskutiert.

3 Sozialer Kontext I: Ressourcen und Restriktionen sozialer Teilhabe

Über die konkreten Ausprägungen von Teilhabeproblemen im Mobi-litätskontext liegen aus Deutschland nur wenige empirische Untersu-chungen vor. Dies hat auch damit zu tun, dass in der Mobilität im Ge-gensatz beispielsweise zur ökonomischen Ebene kaum eine objektive Messvorschrift für Exklusion möglich ist. Weder die Wegehäufigkeit noch die zurückgelegten Entfernungen oder die genutzten Verkehrs-mittel einer Person geben verlässlich Auskunft über deren Inklusion oder Exklusion. Mit anderen Worten: Mobilitäts- oder Erreichbarkeits-probleme lassen sich aus realisiertem Verkehrshandeln – wenn über-haupt – allenfalls indirekt ablesen. Erforderlich wären eher subjektive Daten über Mobilitäts- und Erreichbarkeitsprobleme. Die verfügbaren Verkehrsbefragungen enthalten hierzu aber nur sehr wenige Informa-tionen.

In einer Studie für das BMVBS wurden die Daten von Mobilität in Deutschland 2008 nach Einflussgrößen der selbst berichteten Erreich-barkeit von Einkaufsmöglichkeiten sowie des eigenen Arbeits- bzw. Ausbildungsplatzes ausgewertet (Scheiner et al., 2012). Darüber hin-aus wurde nach Einflussgrößen der sozialen Benachteiligung gesucht, die über einen multidimensionalen Index gebildet worden war. Dabei zeigte sich, dass ältere Menschen, Jugendliche, Personen ohne Pkw, Personen mit geringem Einkommen, Alleinlebende und Personen in kleinen ländlichen (insbesondere schrumpfenden) Gemeinden in über-durchschnittlichem Maße unter Erreichbarkeitsproblemen leiden. Für die soziale Benachteiligung gilt dies in ähnlicher Weise.

In dieser Studie wurden auch umfangreiche Analysen von Zusam-menhängen zwischen sozialer Benachteiligung und Verkehrshandeln durchgeführt. Es zeigte sich, dass eine geringe Wegehäufigkeit in be-sonders enger Beziehung zu sozialer Benachteiligung stand. Dies galt für alle Verkehrsmittel mit Ausnahme des Gehens zu Fuß. Eine gerin-

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ge Wegehäufigkeit erwies sich damit als zentraler Mobilitätsindikator, der zwar nicht notwendigerweise soziale Benachteiligung impliziert, mit dessen Hilfe aber zumindest „Verdachtsfälle“ (Wilke, 2013) sozia-ler Benachteiligung identifiziert werden können. Dies bestätigt sich in qualitativen Erhebungen im ländlichen Raum. Diese zeigen, dass Ar-mut und mangelnde soziale Teilhabe in starkem Maße mit häuslicher Zurückgezogenheit, Isolation und entsprechend geringer Wegehäu-figkeit selbst in (scheinbar) nachbarschaftlichen Dorfgemeinschaften einhergehen (Winkler, 2010).

Die oben identifizierten Einflussgrößen für Erreichbarkeitsprobleme – hohes oder jugendliches Alter, fehlender Pkw, geringes Einkommen, allein lebend, ländliches Umfeld – spiegeln eine Reihe unterschied-licher Restriktionen wider. Der Pkw steht für eine zentrale Mobili-tätsressource, das Einkommen für die ökonomische Dimension, der Haushaltstyp für die Bedeutung sozialer Netzwerke, hohes Alter ist mit psychologischem und sozialem Rückzug und gesundheitlichen Einschränkungen verbunden, der ländliche Raum bringt Defizite in der räumlichen Ausstattung zum Ausdruck. Daneben geht eine höhere Bil-dung älterer Menschen mit einem höheren außerhäuslichen Aktivitäts-niveau bzw. höherer Mobilitätsbeteiligung (Marbach, 2001) sowie ei-ner größeren Vielfalt an Freizeitaktivitäten (Scheiner, 2006) einher. Dies dürfte damit zu erklären sein, dass höhere Bildung stärkere kulturelle Ressourcen impliziert. Daneben ist sie in der Regel an ökonomische und gesundheitliche Ressourcen geknüpft.

Diese Ressourcen und Restriktionen treten häufig in miteinander ver-bundener Form auf. So wirkt die Kausalkette fehlende Bildung -> geringes Einkommen -> fehlender Pkw vor allem dann exkludierend, wenn der fehlende Pkw mit einer mangelhaften Ausstattung des räum-lichen Umfelds verbunden ist.

Daneben sind Teilhabemöglichkeiten auch durch das individuelle Zeit-budget und dessen Beschränkung durch Erwerbstätigkeit, Betreu-ungsverpflichtungen oder andere Aktivitäten bestimmt. Dies drückt sich beispielsweise in den hohen Reisezeitbudgets von Alleinerzie-henden aus (Chlond & Ottmann, 2007; Hesse & Scheiner, 2010). Dar-aus lässt sich jedoch nicht ohne Weiteres eine bevorzugte Lage älte-rer Menschen ableiten, denn die knappen Zeitbudgets im jungen und mittleren Alter durch Erwerbstätigkeit und Familie spiegeln ja gerade die vielfältige soziale Inklusion wider.

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Altersbedingte Einschränkungen der Teilhabe sind häufig an gesund-heitliche Probleme geknüpft. Einschränkungen etwa der Motorik, des Sehvermögens und des Hörvermögens sowie psychische Erkran-kungen (etwa Demenz) nehmen mit dem Alter zu, so dass der Anteil der Personen mit Mobilitätseinschränkungen im Alter stark ansteigt (BMFSFJ, 2001). Die Mobilitätsbeteiligung und die Aktivitätshäufigkeit und -vielfalt von Personen mit Mobilitätsbehinderungen und allgemein gesundheitlichen Einschränkungen ist deutlich reduziert (Mollenkopf & Flaschenträger, 2001; Scheiner, 2006).

Die Effekte persönlicher Netzwerke sind weniger aus der Verkehrs-forschung als aus der Gerontologie bekannt. Nach Marbach (2001) fördern hohe Dichte und funktionale Vielfalt des familiären Netzwerks außerhäusliche Aktivitäten. Drooglever Fortuijn (1999) zeigt am Bei-spiel des ländlichen Raumes der Niederlande, dass ältere Frauen in Paarhaushalten stärker außerhäuslich aktiv sind als allein Lebende und dass der Aktionsraum der allein Lebenden stärker auf das Wohn-umfeld beschränkt ist. Scheiner (2006) stellt fest, dass ein dichtes per-sönliches Netzwerk älterer Menschen mit häufigeren und vielfältigeren Frei zeit aktivitäten, größeren zurückgelegten Distanzen in der Freizeit und größerer Zufriedenheit mit den unternommenen Aktivitäten ein-hergeht. Dies gilt ähnlich für das Leben in einer Partnerschaft. Von Be-deutung ist also zum einen die Differenzierung zwischen allein und in Partnerschaft lebenden älteren Menschen, wobei die allein Lebenden mehrheitlich Frauen sind. Zum anderen spielen die unterstützenden Netzwerke von außerhalb des Haushalts eine wichtige Rolle. Hier sind vor allem die erwachsenen Kinder, insbesondere die Töchter, älterer Menschen von zentraler Bedeutung (BMFSFJ, 2001).

Im Kontext einer subjektiven Angemessenheit sozialer Teilhabe ist auch von Bedeutung, dass Mobilität signifikant zur Lebenszufrieden-heit älterer Menschen beiträgt (Scheiner, 2004a). Bemerkenswerter-weise gilt dies für die Häufigkeit außerhäuslicher (Freizeit-)Aktivitäten, nicht aber für die dabei zurückgelegte Entfernung, für die Nutzung des Pkw oder den Pkw-Besitz. Dies spricht dafür, dass der ‚Mobilisierung‘ von Menschen, ihren Außer-Haus-Aktivitäten, durchaus ein eigenstän-diger Wert im Sinne einer angemessenen Inklusion zukommt, die sich als Zufriedenheit ausdrückt.

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4 Räumlicher und verkehrlicher Kontext

Dem Wohnumfeld älterer Menschen wird, v.a. unter Bezug auf Ein-schränkungen der Mobilität, eine besonders hohe Bedeutung für die Aufrechterhaltung eines selbstständigen und mobilen Lebens zuge-schrieben (Mollenkopf & Flaschenträger, 2001; BMFSFJ, 2001; Wolter, 2013). Die Bedeutung des räumlichen Umfeldes für die soziale Teilha-be besteht erstens in räumlichen Unterschieden der Flächennutzung, konkret in der unterschiedlichen Verfügbarkeit, Anzahl und Qualität von Gelegenheiten für Aktivitäten. Zweitens gehen mit diesen Flä-chennutzungen auch Unterschiede in den Verkehrsangeboten einher, mit denen die Gelegenheiten erreicht werden können. Drittens ist die subjektive Verbundenheit mit dem Wohnumfeld bei älteren Menschen besonders hoch (Scheiner & Holz-Rau, 2002)3. Dies mag mit einem im Lebensverlauf zunehmenden Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität zu tun haben.

Scheiner und Holz-Rau (2002) fassen die Anforderungen älterer Men-schen an ihr Wohnumfeld zu vier Aspekten zusammen (Tabelle 1), deren Realisierung im Wesentlichen auch für die Gesamtbevölkerung Vorteile bietet4.

Tabelle 1: Leitindikatoren seniorenfreundlicher Siedlungs- und Umfeldstrukturen

Leitindikator Beispiel

Räumliche und zeitliche Erreichbarkeit von Zielen

Kleinräumliche Erreichbarkeit von z. B. Ärzten, Apo-theken, Einzelhandel, Grünflächen, Treffpunkten für „beiläufige Treffen“; gutes ÖPNV-Angebot und Mobi-litätsdienste

Subjektive und objektive soziale Sicherheit

Einsehbarkeit öffentlicher Räume; soziale Kontrolle durch vorderseitige Hauseingänge und Fenster; be-lebter öffentlicher Raum

Soziale Gebrauchsfähig-keit und Service-Qualität

Hilfsbereites und freundliches Personal; verständliche Fahrplangestaltung; Vermeidung anonymer Groß-strukturen

Physisch-technische Ge-brauchsfähigkeit

Verständliche, fehlerfreundliche, sichere technische Einrichtungen und Infrastrukturen; guter Zustand der Wege; Ruheplätze; geringe Umweltbelastungen

Quelle: Scheiner & Holz-Rau (2002), leicht verändert

3 Theoretisch könnten sich viertens auch die persönlichen Netzwerke im Sinne der Dichte poten-zieller Kontaktpartner je nach Siedlungsdichte unterscheiden. Auf eine höhere Zufriedenheit oder größere persönliche Netzwerke in dichten Strukturen gibt es jedoch allenfalls marginale Hinweise (Moorer &/Suurmeijer, 2001).

4 An einigen Stellen können allerdings auch Zielkonflikte auftreten. Man denke z. B. an das Bedürfnis älterer Menschen nach einer langsamen Fahrweise von Busfahrern zur Erhöhung der Sicherheit, das dem Bedürfnis Jüngerer nach möglichst schneller Beförderung entgegen stehen kann.

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In kleineren Gemeinden des ländlichen Raums bestehen hier beson-dere Problemlagen. Zum einen ist dort der wirtschaftliche Betrieb selbst von Angeboten der Grundversorgung häufig nicht mehr mög-lich (Lebensmittelgeschäft, Arzt, Gaststätte). Zum anderen kann der öffentliche Verkehr aufgrund mangelnder Nachfrage nur noch in rudi-mentärer Form betrieben werden. Erreichbarkeiten sind damit sowohl für den Nahbereich wie für entferntere Bereiche eingeschränkt. Dies verursacht speziell für die nicht-motorisierte Bevölkerung Probleme (vgl. Gray et al., 2006; Nutley, 1996); darunter sind überproportional viele alte Menschen.

Diese Probleme verschärfen sich durch den demografischen Wandel, denn Bevölkerungsrückgang und Alterung erschweren die Finanzier-barkeit von Infrastrukturen und Dienstleistungen. Demzufolge sind v.a. schrumpfende ländliche Regionen, die durch eine wenig mobile (und zugleich meist ältere) ‚Residualbevölkerung‘ (Weiß, 2006) geprägt sind, dem Risiko ausgesetzt, den Anschluss an die allgemeine gesell-schaftliche Entwicklung zu verlieren.

In suburbanen Räumen gilt dies nur teilweise. Auch dort bestehen häufig ungenügende lokale Versorgungsangebote, die, bedingt durch geringe Siedlungsdichte, große Einzugsbereiche aufweisen. Gleich-zeitig ist auch im suburbanen Raum das ÖPNV-Angebot häufig un-günstig. Jedoch lebt in den suburbanen Siedlungen in der Regel eine hochmotorisierte, an Automobilität gewöhnte Bevölkerung mit in der Regel mittleren bis höheren Einkommen. Zudem lässt sich in Subur-bia aufgrund des Konnexes zur Kernstadt nicht von einem Abhängen ganzer Regionen sprechen. Dennoch entwickeln sich diese Räume tendenziell zu einem neuen Typus von Problemquartieren, ausgelöst durch die starke demografische Alterung (Erstbesitzergeneration) und starke Pkw-Orientierung bei steigenden Energiepreisen (vgl. Hesse & Scheiner, 2007).

In den Großstädten stellen sich die Mobilitäts- und Erreichbarkeits-probleme für ältere Menschen sehr differenziert da. In den Zentren der Kernstädte findet sich soziale Benachteiligung oft besonders stark an Hauptverkehrsstraßen und in Stadtteilen, die durch Luftverschmut-zung und Lärm hoch belastet sind. Gleichzeitig besteht dort in der Regel ein hervorragender Zugang zu Versorgungs- und Freizeiteinrich-tungen sowie zum ÖPNV. In den Randlagen bestehen dagegen häufig bereits ähnliche Probleme wie in den suburbanen Räumen.

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Im Hinblick auf die gängige regionale Differenzierung zwischen städ-tischen, suburbanen und ländlichen Räumen ist wichtig festzuhalten, dass die günstige Versorgungslage für ältere Menschen in der Regel auch für kleinere Städte im ländlichen Raum gilt. Insofern ist die Dis-kussion um die Zukunftsfähigkeit von Räumen zumindest im Hinblick auf die täglichen Versorgungs- und Teilhabemöglichkeiten der älteren Bevölkerung, die in der Regel nicht auf Zugang zu Ausbildung und Erwerbstätigkeit angewiesen ist, auf der regionalen Ebene falsch an-gesiedelt. Hier geht es nicht um Regionen, sondern um intraregionale Ungleichheiten zwischen gut und weniger gut ausgestatteten Gemein-den oder sogar um mikroräumliche Lagen innerhalb von Gemeinden. Für viele ältere Menschen – gerade für Mobilitätseingeschränkte – ist es eben ein großer Unterschied, ob der Arzt oder das Lebensmittelge-schäft 400 m oder 800 m von der Wohnung entfernt sind.

5 Sozialer Kontext II: Präferenzen

Auf den ersten Blick mag es überraschend anmuten, im Kontext von Teilhabechancen auch individuelle Präferenzen zu diskutieren, sind doch Chancen typischerweise durch äußere strukturelle Bedingungen bestimmt.

Jedoch hat sich seit Ende der 1990er Jahre in der Verkehrsforschung eine Debatte entwickelt, in der der Einfluss des raum-zeitlichen Kon-textes auf Mobilität und Erreichbarkeit zum Teil radikal in Frage gestellt wird. Die Kernfrage ist dabei, inwieweit die empirisch immer wieder gefundenen räumlichen Unterschiede in der Mobilität und Aktivitäts-teilnahme räumlich verursacht sind – oder vielmehr auf individuelle Präferenzen für bestimmte Wohnstandorte, Mobilitätsformen und Ak-tivitätsmuster zurückgehen, die dann zur gezielten Wahl von Wohn-standorten führen, die solche Mobilitätsformen und Aktivitätsmuster erleichtern, erschweren oder gänzlich verhindern. Diese Debatte wird unter dem Schlagwort „residenzielle Selbstselektion“ geführt (Cao et al., 2009; Scheiner, 2008).

Modelle der Wohnstandortwahl für die Gesamtbevölkerung zeigen er-hebliche Einflüsse von Lebensstilen sowie Wohnstandort- und Erreich-barkeitspräferenzen (Hesse & Scheiner, 2009; Beckmann et al., 2006). Demnach sind die mit der Wohnstandortwahl verbundenen Probleme in Erreichbarkeit und Mobilität zumindest zum Teil durch die Präferen-

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zen der Haushalte verursacht. Dies bedeutet auch, dass Haushalte in erheblichem Maße ihre alltäglichen Erreichbarkeitsbedingungen und eben auch Erreichbarkeitsdefizite über subjektive Präferenzen selbst steuern.

Mit Blick auf heute ältere Menschen ist hier besonders wichtig, dass deren Wohnstandortentscheidungen in der Regel lange zurückliegen und in vollkommen anderen Lebenslagen und unter anderen histori-schen Umständen getroffen wurden, nämlich als junge Familie oder junges Paar in einer Zeit des Bevölkerungswachstums und der schein-bar schrankenlosen Mobilität, d. h. bei vergleichsweise geringen Ener-giekosten und wenig Risiko des Wertverlustes von Immobilien. Wenn Jahrzehnte später zwei Garagen und ein großer Garten für die Kinder nicht mehr wichtig sind oder sogar schwere (Garten-)Arbeit bedeuten und stattdessen fußläufige Nähe zum Einkauf, zum Restaurant, zum Arzt oder zur Kirche wichtig wären, dann hat die frühe Entscheidung für eine periphere Wohnlage die Möglichkeiten zur Teilhabe offenbar auf lange Sicht negativ beeinflusst. Dies gilt umso mehr, wenn man-gels Wert der Verkauf der Immobilie mit nachfolgendem Umzug eben-falls keine realistische Option ist.

Inzwischen liegt eine ganze Reihe von Studien zur „residenziellen Selbstselektion“ in der Mobilität vor (Überblick bei Cao et al., 2009), allerdings nicht speziell für ältere Menschen. In umfangreichen Re-gressionsanalysen der Freizeitmobilität älterer Menschen fanden sich keine räumlichen Einflüsse auf Aktivitätshäufigkeit, Aktivitätsvielfalt, zurückgelegte Distanzen, Freizeitzufriedenheit oder unerfüllte Aktivi-tätswünsche, trotz einer enormen räumlichen Bandbreite der Daten (von innerstädtisch bis ländlich) (Scheiner, 2006). Dies legt nahe, dass ältere Menschen zumindest ihre Freizeitbedürfnisse relativ unabhän-gig vom räumlichen Umfeld befriedigen können, also entweder ihre Bedürfnisse an das räumliche Umfeld anpassen oder eben das räum-liche Umfeld passend zu ihren Bedürfnissen suchen („Selbstselekti-on“). Im Alter werden damit teilweise systematisch Adaptationspro-zesse sinnvoll oder gar notwendig, die aufwändig und anstrengend sind und die ohne gesellschaftliche Unterstützung oft schwer fallen.

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6 Zukünftige Entwicklungen

Für künftige Entwicklungen der Teilhabe älterer Menschen erscheinen einige Trends von zentraler Bedeutung. Dabei verschärfen die folgen-den Entwicklungen die Teilhabeproblematik:

• Die demografische Alterung führt zum einen zu einer zahlenmäßi-gen Zunahme älterer Menschen und damit auch zu einer Zunahme der Betroffenheit von deren spezifischen Problemen. Die demogra-fische Alterung bedingt zum anderen aber auch verstärkte finanzi-elle Probleme der öffentlichen Hand. Diese treffen viele ländliche Räume besonders stark, etwa in Form eines Rückgangs der Zahl an ÖPNV-Stammkunden (Schülerverkehr) oder ausbleibender Ge-werbesteuereinnahmen.

• Bevölkerungsrückgang und fehlende Mittel der öffentlichen Hand, aber auch eine allgemeine Tendenz zum Rückzug des Staates führen zum Abbau von Angeboten der Daseinsvorsorge gerade in Räumen schwächerer Nachfrage (soziale Einrichtungen, ÖPNV).

• Die Konzentration von Einzelhandel und Dienstleistungen in immer größeren Einheiten hält weiter an. Dies verringert die kleinräumliche Erreichbarkeit von Gelegenheiten und verursacht Verkehr zu ent-fernteren Angeboten. Dies führt ökonomisch betrachtet zu Effizi-enzgewinnen in der Summe und erhöht die Auswahlmöglichkeiten für die hochmobile Mehrheit, verringert aber die Aktivitätsmöglich-keiten der weniger Mobilen bzw. zwingt sie zu hohen Aufwendun-gen für Mobilität, z. B. zur ‚Zwangsmotorisierung‘ trotz mangelnder finanzieller Ressourcen (Scheiner et al., 2012).

• Die Nutzerkosten für Energie und damit für die Verkehrsteilnahme werden künftig vermutlich weiterhin deutlich zunehmen. Der Kos-tenanstieg betrifft auch die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und – z. B. bei einer Umstellung der Flotte auf Elektrofahrzeuge – mög-licherweise auch die Anschaffung von Fahrzeugen.

• Zunehmenden Verkehrskosten stehen eher stagnierende Einkom-men und aufgrund sozialer Polarisierung eine größere Zahl an Ein-kommensarmen gegenüber. Angesichts zunehmend brüchiger Er-werbsbiografien werden künftig vermutlich mehr ältere Menschen geringe Einkommen beziehen.

• Die ökonomisch-soziale Globalisierung und der soziale Wandel im Bereich der Familie führen dazu, dass erstens weniger ältere Men-schen eigene Kinder haben. Sofern vorhanden, leben die erwach-senen Kinder zweitens seltener als früher am Ort. Beide Entwick-

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lungen schränken die Netzwerke sozialer Unterstützung ein. Auch entfallen alltägliche Familienbesuche und Mitnahmemöglichkeiten, während der Verkehrsaufwand für Besuche steigt.

Diesen Trends stehen Entwicklungen gegenüber, die tendenziell zur Entschärfung der Teilhabeproblematik (auch) für ältere Menschen bei-tragen:

• Im letzten Jahrzehnt ist die Dominanz der Suburbanisierung einem bemerkenswerten Reurbanisierungstrend gewichen (Brake & Her-fert, 2012). Dieser Trend ist mit einem deutlichen Wertverfall von Immobilien in vielen peripheren Lagen verbunden, was die Attrak-tivität urbaner Lagen weiter stärkt. Dies trägt zur Effizienz von Akti-vitätsgelegenheiten und ÖPNV sowie zur Sicherstellung von Teilha-bemöglichkeiten bei. Für die Zukunft ist allerdings in Rechnung zu stellen, dass vielen großen Kernstädten einem weiteren Wachstum Grenzen durch Flächenverfügbarkeit und Immobilienpreise gesetzt sind. Dies gilt insbesondere für die attraktiven, gegenwärtig beson-ders wachstumsstarken Städte. Weder suburbane noch ländliche Räume werden somit aus dem Siedlungsgefüge verschwinden. Eine weitere Segregation der Bevölkerung durch Verdrängung so-zial Schwächerer an den Stadtrand und in das Umland ist nicht auszuschließen.

• Ein zunehmender Rückgriff auf immer komplexere Technologien in der Versorgung mit Dienstleistungen und Waren scheint für (oft weniger technikaffine) ältere Menschen zunächst problematisch zu sein. Da der Umgang mit Techniken in der Regel in jüngerem Al-ter erlernt wird, ist deren Diffusion in höhere Altersgruppen jedoch stark an Kohorteneffekte geknüpft. Demzufolge ist damit zu rech-nen, dass in naher Zukunft auch Hochbetagte geübt sein werden, mit hochkomplexen Informations- und Kommunikationstechnolo-gien umzugehen. Diese können in vielfältiger Weise zur Sicherstel-lung von Teilhabe beitragen. An die Belange Älterer angepasste Technik kann vor allem bei einer eigenständigen Haushaltsführung und der gesundheitlichen Überwachung Beiträge leisten und über Internet- und Diensteherstellung die Versorgung – auch mit Mobili-tätsdiensten – sicherstellen.

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7 Handlungsmöglichkeiten

Soziale Exklusion sollte nicht als Zustand, sondern als Prozess ver-standen werden. Durch die Veränderung von Rahmenbedingungen kann soziale Exklusion zu- oder abnehmen, etwa durch veränderte Verkehrskosten, veränderte ÖPNV-Angebote oder die Eröffnung oder Schließung von Geschäften. Diese Beispiele verdeutlichen, dass Mobi-lität und Erreichbarkeit sowie räumliche und verkehrliche Dimensionen sozialer Exklusion im Sinne einer integrierten Planung zusammenge-dacht werden müssen (Holz-Rau, 2009). Die prozesshafte Sichtweise verdeutlicht auch, dass soziale Exklusion nicht naturgegeben, son-dern veränderbar ist.

Die Forderung nach einer „Stadt der kurzen Wege“ mit einer klein-teiligen Nutzungsmischung und einer maßvoll hohen Dichte, ergänzt durch ein attraktives ÖPNV-System, ist einfach gestellt, aber ange-sichts ökonomischer Zwänge (economies of scale) auf Anbietersei-te und sich differenzierender Ansprüche auf Nachfragerseite immer schwerer zu realisieren.

Gerade in ländlichen Räumen dürfte eine ökonomisch tragfähige Ver-sorgung mit Wohnfolgeeinrichtungen auf dem heute üblichen Niveau in Zukunft eher noch weniger zu leisten sein. Zudem wird zunehmend fraglich, welcher öffentliche Erhaltungsaufwand für periphere Sied-lungen zu rechtfertigen ist. Dennoch ist ein gewisses Maß an Anpas-sungsfähigkeit auch in peripheren Lagen gegeben, beispielsweise durch eine behutsame Entwicklung kleiner Zentren auch in Dörfern, ggf. mit privater Initiative und neuen genossenschaftlichen Modellen (z. B. DORV-Zentren), über die Weiterentwicklung von Tankstellen zu Convenience-Zentren oder durch mobile Dienste (mobile Arztpraxen, rollende Einkaufsangebote, Bibliotheksbusse, Bring- und Holdienste etc.).

Restriktive Siedlungspolitiken dürften vor dem Hintergrund der kom-munalen Planungshoheit und des Wettbewerbs der Kommunen um Bevölkerung wenig Erfolg haben. Eine Alternative ist – langfristig – die Stärkung der Eigenverantwortung bei der Wohnstandortentschei-dung. Standortsuchende Haushalte müssen erkennen, dass die Kon-sequenzen ihrer Entscheidungen zukünftig weit mehr als bisher von ihnen selbst zu tragen sind und weniger durch staatliche Transfers abgemildert werden. Dies kann durch eine veränderte Setzung von

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Anreizen sowie eine aktive Kommunikation über Informationsdefizite („Wahrnehmungslücken“) bei der Standortwahl unterstützt werden, etwa über die zu erwartende Entwicklung standortabhängiger Wohn- und Verkehrskosten oder über die Verkehrssicherheitsprobleme auto-orientierter Wohnstandortwahl (Holz-Rau & Scheiner, 2011).

Gleichzeitig bedarf es der verstärkten Förderung sozialer Kohäsion auf lokaler Ebene. Mobilität und Versorgung älterer Menschen in pe-ripheren Lagen beruhen in hohem Maße auf nachbarschaftlicher und familiärer Unterstützung. Familiäre Bezugspersonen älterer Menschen – soweit vorhanden – leben jedoch immer seltener am Ort. Die Netz-werke werden zunehmend weiträumiger oder gar brüchig. Alltags-praktisch – wenn auch nicht emotional – kann dies zum Teil aufgefan-gen werden durch flexible und/oder zivilgesellschaftlich organisierte Angebotsformen des ÖPNV (Bürgerbus) und der Versorgung sowie durch Einsatz von Informations- und Kommunikationsdiensten sowie „social media“.

Diese Überlegungen verdeutlichen, dass in eine Weiterentwicklung räumlicher und verkehrlicher Strukturen im Sinne der Bedarfe (nicht nur) älterer Menschen eine Vielzahl von Akteursgruppen einzubinden ist. Diese reichen vom Staat (Bund, Länder) über die Kommunen und Regionen bis zu privaten Unternehmen und zivilgesellschaftlichen Akteuren (non-governmental organizations  – NGOs, Interessenvertre-tungen, Einzelpersonen). Die politischen Rahmenbedingungen sollten dabei einem in sich konsistenten Leitbild folgen und langfristig ange-legt sein, damit private Haushalte verlässlich darauf bauen und ange-messen reagieren können. Konkrete Vorhaben sollten dagegen ange-sichts der Unsicherheit jeder zukünftigen Entwicklung fehlerfreundlich – variabel und revidierbar – sein.

Nicht zuletzt wäre ein verlässliches Monitoring wichtig. In den Armuts-berichten der Bundesregierung (zuletzt: BMAS, 2013) spielen räumli-che Mobilität und Erreichbarkeit bisher nur eine marginale Rolle. An dieser Stelle eine fundierte, langfristig angelegte Forschung zur Be-ziehung zwischen sozialer Teilhabe, Mobilität und Erreichbarkeit an-zuknüpfen, wäre Voraussetzung für eine vorausschauende Planung.

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Persönliche Veränderungen der Mobilität und der Leistungsfähigkeit im AlterBernhard Schlag

1 Ändern sich Umfang und Art der Mobilität im Alter?

Bis zum Jahr 2050 wird sich der Bevölkerungsanteil älterer Menschen ab 65 Jahren in den OECD Ländern verdoppeln, bei den über 80-jäh-rigen wird ein noch rascherer Zuwachs erwartet (OECD, 2001a). In Deutschland steigt der Anteil der Älteren ab 65 Jahren von 21 % im Jahr 2010 über etwa 29 % der Bevölkerung in 2030 auf ca. 34 % im Jahr 2060 (Abbildung 1; Statistisches Bundesamt, 2012a; BMI, 2011).

Die am stärksten wachsende Altersgruppe sind die 80-Jährigen und älteren Menschen: In Deutschland wird deren Anteil von 4,5 % im Jahr 2008 auf knapp 14 % der Bevölkerung im Jahr 2050 steigen. Für die EU wird von einer näherungsweisen Verdreifachung des Anteils der über 80-Jährigen von 2010 bis 2060 ausgegangen, dann wird in der

Abbildung 1: Altersgruppenanteile an der Gesamtbevölkerung Deutschlands (Darstel-lung von Sturmeit, 2012, auf der Basis: Statistisches Bundesamt 2012a)

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EU der 27 Länder jede 8. Person 80 Jahre oder älter sein (Eurostat, 2010).

Gleichzeitig steigt der Anteil derjenigen Älteren, die es gewohnt sind, Auto zu fahren, und die ihren Alltag darauf eingestellt haben: Neue Kohorten altern, deren Automobilität höher liegt als die der bisherigen Kohorten alter Menschen (Abbildung 2; BMVBS, 2010).

2008 besaßen 88 % aller Personen ab 18 Jahren in Deutschland einen Pkw-Führerschein, 30- bis 49-Jährige zu 96 %, die 65- bis 74-Jähri-gen zu 82 % und die 75-Jährigen und älteren zu 63 %. Von 2002 bis 2008 ist der Fahrerlaubnis-Besitz in den beiden älteren Gruppen um 11 respektive 16 Prozentpunkte gestiegen. Diese Entwicklung wird weiter anhalten. So werden über 80-jährige Männer im Jahr 2050 zu fast 100 % einen Pkw-Führerschein besitzen, der Anteil der gleich al-ten Frauen mit Führerschein wird von 10 % im Jahr 1999 auf 80 % steigen (Oswald, 1999). In Zukunft werden die über 65-Jährigen ein Drittel der Autofahrer in Deutschland stellen. Die OECD rechnet damit,

Abbildung 2: Pkw-Führerscheinbesitz in Deutschland 2002 und 2008 nach Männern und Frauen (BMVBS, 2010, 71)

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dass im Jahr 2030 in ihrem Bereich jeder vierte Autofahrer 65 Jahre oder älter sein wird (OECD, 2001b).

Der Bevölkerungsanteil der 65-Jährigen und älteren ist von 2002 bis 2008 um 16 % gestiegen, ihr Wegeanteil jedoch um 35 %. Im Unter-schied zu 2002 (2,8 Wege) erreichten die 65- bis 74-Jährigen 2008 mit 3,2 Wegen fast die durchschnittliche Wegeanzahl der Bevölkerung pro Tag (3,4 Wege) (75+ = 2,3 Wege/Tag) (nach MiD 2002 und 2008, BMVBS, 2010; vgl. Beckmann, in diesem Band)).

Bei den über 60-Jährigen findet gegenwärtig als Ergebnis von Kohor-teneffekten und modaler Prägungen ein „Austausch“ von an den ÖV gebundenen Personen durch Personen mit hoher Affinität zum Moto-risierten Individualverkehr (MIV) statt. Nur in dieser Altersgruppe steigt der Anteil der MIV-Nutzer (ausschließlich MIV oder in Kombination mit anderen Verkehrsmitteln), während der Anteil der ÖV-Nutzer sinkt. Der Anteil der MIV-Nutzer blieb dabei 2006 – 2010 mit 61 % allerdings im-mer noch unter demjenigen der mittleren Altersgruppen (26-60 Jahre) mit 78 %. Angestiegen ist auch bei den über 60-Jährigen die Fahrrad-nutzung. Bei den älteren Menschen ist der Trend zu mehr Multimo-dalität – anders als in allen jüngeren Altersgruppen – nicht erkennbar. Eine Ausnahme bildet die kombinierte MIV‐ und Fahrradnutzung, die aber durch den zunehmenden Pkw‐Besitz getrieben ist (Zumkeller et al., 2011).

Neben der Erhöhung der absoluten Anzahl älterer Autofahrer fahren die heutigen Älteren auch mehr als frühere gleichaltrige Kohorten (Berry, 2011), allerdings weiterhin auch in Zukunft insgesamt weniger als Jüngere.

Längsschnittliche Befunde zur Mobilität Hochaltriger legen Fristed et al. (2013, im Druck) vor. Sie befragten zwischen 1906 und 1925 in Schweden geborene Zwillingspaare zwei Mal in den Jahren 1994 und 2007 u.a. nach Umfang und Hintergründen ihrer Mobilität. 1994 war die Stichprobe 72,0 (Männer) bzw. 72,7 Jahre (Frauen) alt, 2007 res-pektive 85,0 und 85,6 Jahre. Nach diesen 13 Jahren waren 47 % der befragten Männer und 45 % der Frauen weiterhin unabhängig in ihrer Gemeinde unterwegs, während 40 % der Männer und 43 % der Frau-en ihre Mobilität reduziert hatten. Gerade unter den älteren Männern war, anders als bei den Frauen dieser Generation, auch im hohen Alter zum 2. Befragungszeitpunkt das selbst gefahrene Auto ihr mit Ab-

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stand vorherrschendes Verkehrsmittel. Bester Prädiktor für eine ver-ringerte Mobilität war eine verschlechterte subjektive Gesundheit.

Mobilität ist eine wichtige Komponente des Wohlbefindens und si-chert die Unabhängigkeit älterer Menschen (Mollenkopf & Engeln, 2008). Frei gewählte Mobilität, die häufig mit der Verfügung über ein eigenes Auto verbunden ist, wird – möglicherweise im Alter in beson-derem Maße – als ein zentrales Moment einer höheren Lebensqualität wahrgenommenen.

Mit dem Wegfall des Autofahrens ist nicht nur eine tatsächliche Ein-schränkung der Mobilität verbunden, oft geht damit auch eine gesund-heitliche Beeinträchtigung einher. So fanden Freeman et al. (2006) in einer Studie in den USA, dass das Risiko, dauerhaft betreut zu wer-den, deutlich für diejenigen Personen ansteigt, die aufhören, Auto zu fahren. Weiter hat der Pkw immer dann eine herausragende Bedeu-tung für die Mobilität älterer Menschen, wenn Alternativen fehlen. Dies gilt in Deutschland in weiten Bereichen des ländlichen Raums.

Gleiches gilt bei körperlichen Beeinträchtigungen, die oftmals das Auto zur einzigen Option für selbständige Mobilität werden lassen. Besonders schwer fällt zudem der Verzicht auf das Auto, wenn es sich bei dessen Benutzung um hoch habituiertes Verhalten handelt, wie es für die gegenwärtige und vor allem zukünftige Generationen älterer Autofahrer zu erwarten ist.

Für Deutschland ist damit insgesamt zu erwarten, dass der Umfang der Mobilität Älterer weiter ansteigt. Die Art der Mobilität Älterer wird sich stärker noch auf das individuelle Verkehrsmittel ausrichten, sei dies das Auto oder auch das Fahrrad. Gerade die nächsten Gene-rationen der Frauen werden hier noch nachholen. Primär handelt es sich bei diesen Veränderungen jedoch nicht um einen Entwicklungs-, sondern um einen Kohorteneffekt.

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2 Verunglücken ältere Menschen im Straßenverkehr häufiger?

Betrachtet man die aktuellen Unfallzahlen im Straßenverkehr, so ist die absolute Anzahl der Unfälle mit Älteren auch im Vergleich zu den günstigen mittleren Altersgruppen derzeit nicht auffällig. Sie verun-fallen insgesamt nicht häufiger als Personen anderer Altersgruppen und seltener als junge Fahrer. Auch die absoluten Anzahlen der ge-töteten und verletzten älteren Pkw-Fahrer und die Anzahl der getöte-ten und verletzten älteren Fahrer je 100.000 Personen unterscheiden sich insgesamt nicht wesentlich von denjenigen mittlerer Altersjahre. Allerdings sind bei dieser Betrachtung vier Differenzierungen vorzu-nehmen, durch die das Risiko, im Alter zu verunglücken, genauer be-stimmt werden kann. Dies sind die Differenzierungen• nach dem Ausmaß der Gefahrenexposition,• nach dem Schweregrad der Unfallfolgen und• zwischen den sehr unterschiedlichen älteren Teilgruppen („drittes“

und „viertes Alter“).• Nicht zuletzt hat sich die Unfallbeteiligung Älterer für die unter-

schiedlichen Arten der Verkehrsbeteiligung ungleich entwickelt.

Wird das Unfallrisiko nach dem Ausmaß der Gefahrenexposition auf die gefahrene Zeit oder die gefahrene Strecke bezogen, so steigt das Risiko mit höherem Alter deutlich an. Bezieht man die regelmäßig niedrigere Fahrleistung im Alter ein, so liegt die Anzahl der getöteten und verletzten Fahrer pro 100 Millionen gefahrene Kilometer mit zu-nehmendem Alter zunehmend deutlicher über denjenigen der güns-tigsten Altersgruppen (vgl. Abbildung 3).

Zum Zweiten ist das Risiko Älterer, bei einem Unfall verletzt oder ge-tötet zu werden, generell höher als das Risiko für jüngere Menschen (Vulnerabilitäts- oder Mortalitätsrisiko, „frailty bias“) (Welsh et al., 2006). Damit ergibt sich zwangsläufig bei gleicher physischer Unfall-energie eine höhere Unfallschwere für Ältere im Vergleich zu Jüngeren, ohne dass das Risiko zu verunfallen per se davon betroffen ist.

Zudem ist drittens die Heterogenität im Alter besonders groß, so dass eine differenzierte Betrachtung der unterschiedlichen „alten“ Alters-gruppen notwendig ist. Das kalendarische Alter ist nur ein ungenauer Indikator der tatsächlichen Leistungsfähigkeit im Alter. Betrachtet man die Unfälle je gefahrenem Kilometer (accidents per mile driven), so

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schnitten in den USA in den vergangenen Jahren im Vergleich aller Altersgruppen die 60- bis 64-Jährigen am günstigsten ab, während sich ab einem Alter von 75 Jahren ein deutlicher und zunehmend stei-lerer Anstieg des Unfallrisikos und ab einem Alter von 85 Jahren eine weitere deutliche Zunahme zeigt (Loughran et al., 2007; Abbildung 3). So kann heute prognostiziert werden, dass sich mit einer zunehmen-den Anzahl alter Autofahrer, die zudem auch mehr fahren, bei gleich bleibenden äußeren Voraussetzungen auch die Anzahl der Verkehrs-unfälle mit Älteren und vor allem diejenigen mit sehr alten Menschen erhöhen werden.

Trotz des steigenden Unfallrisikos bei älteren Fahrern muss betont werden, dass dieses niedriger ist als das entsprechende Risiko der jungen Fahranfänger (Statistisches Bundesamt, 2011a). Erst aus die-ser gemeinsamen Betrachtung des Unfallrisikos jüngerer und älterer Fahrer ergibt sich die charakteristische „Badewannen-Funktion“ des Verkehrsrisikos mit dem Alter, wenn man die (geringere) Fahrleistung und damit Gefahrenexposition Älterer berücksichtigt. Schade (2000) hatte dies nicht nur für das Unfallrisiko, sondern auch für Verkehrsver-stöße berechnet. Mit zunehmendem Alter steigt nicht nur das Risiko, an einem Unfall beteiligt zu sein. Stärker noch steigt das Risiko, einen Unfall selbst zu verursachen (Clarke et al., 2010; Statistisches Bun-desamt, 2011a).

Abbildung 3: Relative Unfallzahl nach Fahrleistung, normalisiert auf die beste Alters-gruppe (Loughran et al., 2007)

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Trotz dieser vermeintlich klaren deskriptiven Aussagen sind die tat-sächlichen Zusammenhänge weniger eindeutig. So muss für eine richtige Beurteilung des Unfallrisikos Älterer berücksichtigt werden, dass niedrige Fahrleistung und höheres Lebensalter konfundiert sind. Deshalb wurde vermutet, dass weniger das Alter (bzw. alterskorrelier-te Entwicklungen) als vielmehr die geringe Fahrpraxis ursächlich für die schlechte Unfallbilanz im höheren Alter sind. Dieses Phänomen wird „low-mileage bias“ (Hakamies-Blomqvist et al., 2002) genannt. Es beschreibt die Veränderung des Unfallrisikos mit der Anzahl der gefahrenen Kilometer: Je mehr Kilometer eine Person (gleich welcher Altersgruppe) fährt, desto geringer wird das auf die Entfernung be-zogene Risiko zu verunfallen. Dies ist eine Folge der Fahrpraxis, die gerade bei Älteren im Vergleich zu Fahrern mittleren Alters niedriger ist (Langford et al., 2006). Die „Candrive/Ozcandrive older driver study“ (Langford et al., 2013) führte auf der Basis von kanadischen und aus-tralischen Daten u.a. zu dem Ergebnis, dass das sogenannte „older driver problem“ vor allem für ältere Wenigfahrer (dort unter 5001 km/Jahr) gilt. Diese hatten ein erhöhtes Unfallrisiko, schnitten bei Fahr-proben schlechter ab und schätzten ihre eigenen Fahrfähigkeiten zu-gleich niedriger ein.

Weiter hängt die „low-mileage bias“ auch damit zusammen, dass län-gere Distanzen oft auf vergleichsweise sicheren Straßen, wie etwa Au-tobahnen, zurückgelegt werden. Gerade Wenigfahrer, zu denen viele Ältere gehören, fahren dagegen häufig kürzere Strecken, oft auch in-nerorts, die ein höheres Unfallrisiko beinhalten (Schade, 2008). Auch wenn differenzierte Belege ausstehen, gilt doch, dass auch 75-Jährige und ältere mit höherer Fahrleistung ein niedrigeres Unfallrisiko je ge-fahrenem Kilometer haben als Gleichaltrige mit geringer Fahrleistung. Das kalendarische Alter allein ist damit kein valider Prädiktor des Un-fallrisikos.

Deutlich unterscheiden sich Unfallarten und Unfallsituationen von Kraftfahrern zwischen den Altersgruppen. Ältere verursachen überzu-fällig häufig Unfälle in Knotensituationen (Kreuzungen und Einmün-dungen), hier vor allem beim Linksabbiegen (Clarke, et al., 2010; Ox-leyet al., 2006; Pottgießer, 2012). Diese Situationen sind durch hohe Komplexität gekennzeichnet und beanspruchen in hohem Maß die Wahrnehmung, die Entscheidungsfähigkeit und die Reaktionsleis-tung. Auch die Unfalltypen verändern sich mit dem Alter: Während Fahrunfälle abnehmen, steigen die Unfalltypen 2 (Abbiege-Unfall) und

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3 (Einbiegen/Kreuzen-Unfall), bei denen Vorfahrt oder Vorrang nicht beachtet wurden, mit dem Alter an (Statistisches Bundesamt, 2011a, 2011b). Als Unfallursache werden Vorfahrtfehler an erster Stelle ge-nannt.

Unterschiedlich haben sich – als vierte notwendige Differenzierung – die Unfallzahlen älterer Menschen zwischen 1980 und 2011 je nach Art der Verkehrsteilnahme entwickelt (Abbildung 4).

Insgesamt hat sich die Anzahl der verunglückten Senioren, anders als die Anzahl der verunglückten Nicht-Senioren, in diesem Zeitraum un-günstig entwickelt. Die Entwicklung verlief tendenziell entsprechend der Entwicklung der Bevölkerungszahl dieses Alters – und damit weit ungünstiger als für die anderen Altersgruppen. Nimmt man 1980 als Referenzwert (= 100), so hat sich im Einzelnen die Anzahl der verletz-ten oder getöteten älteren Fußgänger auf etwa die Hälfte reduziert. Der Anstieg bei den Pkw-Fahrern und -Mitfahrern dürfte näherungsweise der vermehrten Verkehrsteilnahme im Pkw entsprechen und insofern vorrangig auf den erwarteten Expositionseffekt zurückzuführen sein. Die Verdoppelung bei der Anzahl verunglückter älterer Fahrradfahrer weist darauf hin, dass eine aktive Teilgruppe älterer Menschen hier ein hohes Risiko besonders schwerer Unfallfolgen hat. Diese Gruppe wird mit neuen, für Senioren attraktiven Angeboten elektrounterstütz-

Abbildung 4: Verunglückte Senioren nach Art der Verkehrsbeteiligung 1980 bis 2011 (eigene Bearbeitung auf der Basis: Statistisches Bundesamt, 2012b)

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ter Fahrräder (Pedelecs) mit hoher Wahrscheinlichkeit zukünftig weiter wachsen.

Da Unfällen meist ein Fahrfehler vorausgeht (Reichart, 2001), lohnt sich eine Betrachtung der Unfälle über die in der Statistik angege-benen Ursachen hinaus. Auf der Ebene der Fahrfehler wurden in den besonders unfallrelevanten Kreuzungen mangelndes Sicherungsver-halten und zögerliches Verhalten gefunden (Fastenmeier & Gstalter, 2008). Neben Fahrfehlern und der Art der Unfälle verändert sich auch die Art der Verkehrsverstöße (Schade, 2008): Während vorrangig moti-vational bedingte Verstöße wie etwa das Fahren unter Alkoholeinfluss oder Geschwindigkeitsüberschreitungen abnehmen, steigen solche Verstöße mit dem Alter an, die auf Wahrnehmungsfehler in komplexen Situationen zurückgeführt werden können. Die Abnahme motivatio-nal bedingter Verstöße wird mit einer insgesamt positiven Entwicklung verkehrsrelevanter Persönlichkeitseigenschaften mit dem Alter in Ver-bindung gebracht (Herzberg, 2008). Auch wenn eine Vielzahl von Per-sönlichkeitseigenschaften differenziell stabil ist, verändern sich einige Dimensionen regelmäßig im Verlauf der Lebensspanne. Dies trifft etwa auf die in hohem Maße verkehrsrelevante Persönlichkeitsdimension „Sensation Seeking“ zu, deren Stärke mit dem Alter abnimmt.

Eine Ausnahme bei dieser eher positiven Entwicklung verkehrsrele-vanter Persönlichkeitsmerkmale bilden im Alter regelmäßig verstärkte Rigidität und Reaktanz. Nach Herzberg (2008) äußert sich Reaktanz bei Älteren in Bezug zum Fahren in zwei Bereichen, zum einen wenn es um den Umgang mit Verkehrsteilnehmern anderer Altersgruppen geht und zum anderen wenn die Abnahme der eigenen Leistungs-fähigkeit und deren Auswirkungen auf das Fahren akzeptiert werden soll. Hier wird gerade bei älteren Fahrern nicht nur die eigene Leis-tung überschätzt (Pottgießer, 2012), sondern auch die Fähigkeit, diese Veränderungen der eigenen Leistungsfähigkeit angemessen wahrzu-nehmen. Die in allen Altersgruppen festzustellende positive Selbst-einschätzung der eigenen fahrerischen Kompetenzen bleibt im Alter erhalten und entfernt sich damit im hohen Alter vermehrt von den ob-jektiven Fähigkeiten (Richter et al., 2010). In einer aktuellen Befragung in den USA schätzten 85 % der älteren Fahrer ihre Fahrfähigkeiten als gut oder exzellent ein (Ross et al., 2012). Diese Selbsteinschätzung war dabei kein guter Prädiktor für die tatsächliche Fahrsicherheit und für Unauffälligkeit beim Fahren. Problematisch ist zudem die Diskre-panz zwischen Fremdbild und Selbstbild älterer Kraftfahrer: Ein nega-

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tives gesellschaftliches Altersstereotyp kontrastiert mit dem positiven Selbstbild älterer Autofahrer. Dies führt zu ungünstigen Interaktionen im Straßenverkehr. Eine selbstwertdienliche Interpretation der eigenen Defizite zeigt eine neuere Studie (Siren & Kjær, 2011): Demnach pas-sen ältere Fahrer ihr Verhalten nicht aufgrund des Erkennens eigener Defizite an, sondern weil das Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer als gefährlich beurteilt wird.

3 Entwicklung der Leistungsfähigkeit älterer Menschen in verkehrsrelevanten Parametern

Keine Altersgruppe ist allerdings so unterschiedlich wie „die Alten“: Altern ist geprägt von einer zunehmenden interindividuellen Variabi-lität. „Alterungsprozesse verlaufen multidimensional und multidirekti-onal. Es ist kein genereller, linearer und universeller Abbau („Defizit-Modell“) von Leistungsmöglichkeiten im Alter nachweisbar“ (Schlag, 2008a, S.  78). Für die Beschreibung der Auswirkungen des Alterns auf das Fahrverhalten und die Verkehrssicherheit sollte daher nicht das kalendarische oder chronologische, sondern das funktionale Alter betrachtet werden. Verkehrsrelevante Aspekte des funktionalen Alters sind zur Prädiktion des Fahrverhaltens und eventueller Auffälligkeiten und Unfallrisiken besser geeignet als allein das kalendarische Alter (Anstey et al., 2005; Burgard & Kiss, 2008; Ellinghaus et al. 1990).

Welche Veränderungen sind vom Altern betroffen und wie beeinflus-sen diese Veränderungen das Verkehrsverhalten und die Verkehrssi-cherheit? Generell ist eine nachlassende sensorische, kognitive und motorische Leistungsfähigkeit mit dem Alter zu beobachten. Diese Prozesse sind in Abbildung 5 zusammengefasst dargestellt (Schlag, 1993, 2008b).

Im Einzelnen sind aus der Vielzahl regelmäßiger (nicht krankhafter) physischer und psychophysischer Entwicklungen der Leistungsfähig-keit im Alter die folgenden 10 Entwicklungen als besonders bedeut-sam für die Verkehrsteilnahme und das Kraftfahren hervorzuheben (vgl. Schlag, 2008a; Weller & Schlag, 2013 im Druck):

1. Nachlassendes Sehvermögen: bei Dämmerung und Dunkelheit, der Fern- und Nah-Tagessehschärfe, der dynamischen Sehschär-

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fe, der Akkommodationsfähigkeit (nah/fern), der Adaptationsfä-higkeit (hell/dunkel; nach Blendung), des nutzbaren Sehfeldes (useful field of view) (siehe zum Überblick auch Owsley, 2011):

Bei diesen Veränderungen der Wahrnehmungsfähigkeiten und hier wegen seiner Bedeutung bei der Verkehrsteilnahme beson-ders des optischen Sinnes handelt es sich um schleichende Pro-zesse, die oft erst spät und unzureichend bewusst werden. Bei den sensorischen Veränderungen des Sehapparates ist als ge-fahrenträchtig auch die Verkleinerung des nutzbaren Sehfeldes und die Einschränkung des peripheren Sehens hervorzuheben (Cohen, 2008). Einen spezifischen Unterschied zwischen älte-ren Fahrern (hier: 75 Jahre und älter) und solchen mittleren Alters (35-55 Jahre) heben Dukic & Broberg (2012) aufgrund von Blick-verhaltensanalysen hervor: Hiernach blicken ältere Fahrer beim Fahren mehr auf statische Elemente wie Linien und Markierun-gen, während jüngere vermehrt dynamische Objekte, z. B. andere Fahrzeuge, anblicken.

2. Verringerte Fähigkeit zu Mehrfachtätigkeit und zu selektiver und geteilter Aufmerksamkeit sowie schwächere Inhibitionskontrolle (z. B.: mangelndes Ausblenden irrelevanter Information, Verharren bei eben noch wichtigen Geschehnissen):

Dies führt wiederum zu erhöhter Ablenkbarkeit. Hancock et al. (2003) fanden beispielsweise, dass die Bremsreaktionszeit bei Te-lefonnutzung während eines kritischen Fahrmanövers bei älteren Fahrern nur dann signifikant höher war, wenn gleichzeitig ein zu-sätzlicher Distractor anwesend war; ohne Distractor fanden sich auch bei dieser komplexen Tätigkeit keine Unterschiede. Romo-ser et al (2013) beobachteten, dass ältere Fahrer in Kreuzungen vermehrt Schwierigkeiten hatten, gefährliche Bereiche außerhalb ihrer intendierten Trajektorie („Fahrschlauch“) zu beachten und dafür ihre Aufmerksamkeit von ihren primären Zielfeldern abzu-ziehen.

3. Nachlassendes Leistungstempo im gesamten Wahrnehmungs- und Handlungsbereich von den Sinnesempfindungen über die Verarbeitung der Informationen und das Entscheiden bis zur mo-torischen Handlungsausführung:

Dies führt zu einem erhöhten Zeitbedarf Älterer, wodurch Hand-lungen teilweise zögerlich und unsicher wirken. Es gilt, dass das Leistungstempo mehr beeinträchtigt wird als die Leistungsgüte.

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Fehler entstehen besonders unter Zeitdruck, wie er allerdings häufig im Straßenverkehr vorkommt.

4. Aus nachlassenden Leistungsfähigkeiten resultiert wiederum eine höhere Beanspruchung aufgrund der größeren Anstrengung, die notwendig wird, um die geforderte Leistung zu erbringen. Eine dauerhaft höhere Beanspruchung geht wiederum mit einer schnelleren Ermüdung einher. Entgegengewirkt wird höherer Be-anspruchung zumeist quasi reflektorisch mit einer Verringerung der Anforderungen, soweit dies möglich ist, und hier vor allem mit einer Reduktion der Geschwindigkeit. In keinem Fall dürfen aller-dings die Aufgabenanforderungen, die beispielsweise eine kom-plexe Kreuzungssituation an alle Verkehrsteilnehmer in gleicher Weise stellt, die Bewältigungsfähigkeiten einer Teilgruppe syste-matisch übersteigen (vgl. Fuller, 2005).

5. Weitere kognitive Veränderungen mit dem Alter und ihre Auswir-kungen auf die Verkehrssicherheit werden von Weller & Geertsema (2008) und von Falkenstein & Sommer (2008) diskutiert. Insgesamt zeichnet sich die Tendenz ab, dass Ältere vermehrt erfahrungsba-siert und damit erwartungsgesteuert handeln: top-down-Prozes-se werden umso bedeutsamer, je schwerer bottom-up-Prozesse einer exakten und schnellen Wahrnehmung und Einschätzung sich verändernder Situationen gelingen. Diese Strategie wird in den weitaus meisten Situationen gerade aufgrund der Erfahrung Älterer erfolgreich sein – nicht jedoch bei überraschenden (eben nicht erwarteten), seltenen, kritischen oder einfach neuen Anfor-derungen.

6. Verringerte körperliche Beweglichkeit und Belastbarkeit, die be-sondere Relevanz für Fußgänger und Radfahrer hat, teilweise für Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel:

Dies spricht für die Nutzung des Autos zur Erhaltung der per-sönlichen Mobilität. Problematisch auch für das Autofahren sind allerdings eine schnellere Ermüdbarkeit und langsamere Rekreati-onsfähigkeit. Veränderungen der motorischen Leistungsfähigkeit werden im Einzelnen von Rinkenauer (2008) beschrieben.

7. Bei komplexen Leistungsanforderungen steigt die Gefahr einer sensorischen, kognitiven oder motorischen Überforderung vor allem dann, wenn diese Anforderungen schnell bewältigt werden

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müssen. Die Bewältigung neuer Aufgaben und sich schnell wan-delnder Situationen fällt im Alter schwerer. Zudem ist die Wider-standsfähigkeit (Resilienz) z. B. gegenüber Störungen und Ablen-kungen niedriger.

8. Ein vorherrschend negatives gesellschaftliches Altersstereotyp, gerade in Bezug auf ältere Kraftfahrer, kontrastiert mit einem positiven Selbstbild. Diese Diskrepanz zwischen Fremdbild und Selbstbild älterer Kraftfahrer begünstigt unangemessene Interak-tionen im Straßenverkehr.

9. Ungünstige Veränderungen im Verlauf der Alterung werden un-gern wahrgenommen, ein Hinweis darauf wird teilweise als Krän-kung empfunden. Die geringe Selbstakzeptanz von Altersverän-derungen führt zu der Frage, inwieweit die Problemwahrnehmung und ein selbstkritischer Umgang mit den eigenen Fahrfähigkeiten extern unterstützt werden können. Denn der Alterungsprozess verlangt starke Adaptationsleistungen und neues Lernen. Dies fällt besonders schwer, wenn Anpassungen an ungünstige Ent-wicklungen und empfundene Verluste im Verlauf des Alterns not-wendig werden.

10. Neben den allgemeinen (wenn auch individuell sehr unterschied-lich verlaufenden) Veränderungen der Leistungsfähigkeit mit dem Alter haben altersbedingte Krankheiten in Verbindung mit der deswegen erfolgenden Medikation einen Einfluss auf die Ver-kehrssicherheit. Häufigere Erkrankungen stellen dabei im Alter selbst eine Regelmäßigkeit dar. Die Auswirkungen sind in Ewert (2008) und Dobbs (2006) zu-sammengefasst. Erkrankungen und der damit einhergehende Medikamentengebrauch können die Fahrtauglichkeit in erhebli-chem Maße und vielfach nicht nur momentan einschränken. Da-mit kann die (überdauernde) Fahreignung in Frage stehen. Auch wenn der Zusammenhang zwischen Erkrankung, Medikamen-teneinnahme und Verkehrssicherheit nicht in Zweifel steht, sind die tatsächlichen Auswirkungen auf die Fahrtauglichkeit und die Verkehrssicherheit von der Ausprägung und den mit der Erkran-kung einhergehenden, individuell unterschiedlichen funktionalen Einschränkungen abhängig. Damit ist eine individuelle Betrachtung erforderlich. Hier wird eine starke Verantwortlichkeit der behandelnden Ärzte gesehen, die

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jedoch Diagnostik und Beratung in Fragen der Fahreignung oft nicht hinreichend abrechnen können.

Doch auch eine präzise Diagnose des funktionalen Alters garan-tiert keine valide Prognose des Verhaltens. Ursächlich dafür ist die Tatsache, dass Autofahren auf allen drei Ebenen, der Navigations-, der Manöver- und der Stabilisierungsebene (Donges, 1999; Michon, 1985; Rasmussen, 1986) eine Tätigkeit mit hohen Freiheitsgraden ist: wann gefahren wird, welche Manöver durchgeführt werden und mit welcher Geschwindigkeit gefahren wird, entscheidet in den Gren-zen der situationalen Anforderungen der Fahrer selbst. Erst wenn die Anforderungen der Situation zu hoch sind und nicht mehr kom-pensiert werden können, kommt es mit höherer Wahrscheinlichkeit zu einem Unfall (Fuller, 2005). So zeigen sich zumeist altersabhän-gig erhöhte Fehlerwahrscheinlichkeiten und Reaktionszeiten erst in komplexen Situationen mit hohen Anforderungen, die auch durch Verhaltensanpassungen, z.  B. Geschwindigkeitsreduktion, nicht mehr hinreichend verringert werden können (Weller & Geertsema, 2008).

Tatsächlich finden sich regelmäßig deutliche Unterschiede zwischen älteren und mittelalten Probanden bei einer Vielzahl von Labortests, deren Maße gemeinhin als relevant für die Fahrkompetenz angesehen werden. Demgegenüber sind systematische Verhaltensunterschiede zwischen diesen Altersgruppen bei Fahrproben im Realverkehr, so-wohl auf Autobahnen und Landstraßen wie auch innerorts, die Aus-nahme (Ellinghaus et al., 1990; Schlag, 1993; Selander et al., 2011; Weller & Schlag, 2013 im Druck). Verhaltensunterschiede sind erwar-tungsgemäß vorrangig in komplexen Knotensituationen festzustellen (Ellinghaus et al., 1990; Schlag, 1993). Wie aber ist es zu begründen, dass sich nur wenige und meist schwach ausgeprägte Zusammen-hänge zwischen Labormaßen und Fahrverhaltensparametern im rea-len Verkehr zeigen?

Anzuführen ist zunächst ein methodischer Grund: Labortests messen in der Regel die maximale Leistungsfähigkeit, testen also die Gren-zen des noch Leistbaren aus, sei dies im Sehen, bei Reaktions- oder kognitiven Aufgaben oder bei körperlichen Anforderungen. „Testing the limits“ verbietet sich allerdings bei Fahrversuchen. Das weite Feld der mittleren Anforderungen, das im Verkehrsgeschehen bis zum 95 %-Intervall oder sogar darüber hinaus reicht, bewältigen Ältere je-

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doch genauso gut wie Verkehrsteilnehmer mittleren Alters. In ähnli-cher Weise gelten Unfälle als statistisch sehr seltene Ereignisse. In die Grenzbereiche möglicher Überforderung dürfen Fahrer zu Testzwe-cken jedoch in keinem Fall geführt werden. Mittelwerte spezifischer Fahrleistungen können von daher nur wenig Aussagekraft haben, Va-rianzen kaum mehr. Ein zukünftig gangbarer Weg ohne reale Risiken und mit der Möglichkeit experimenteller Bedingungsvariation könnten Simulatorstudien sein. Bei den heute verfügbaren Fahrsimulatoren wird jedoch einem großen Anteil älterer Probanden regelmäßig übel (siehe Weller & Schlag, 2013 im Druck); das Auftreten der Simulator-krankheit ist alterskorreliert. Bereits im Vorfeld passen die Probanden ihr Fahrverhalten deutlich an, um Übelkeit zu vermeiden. Dies schränkt bisher die Verwendung von Fahrsimulatoren in diesem Bereich ein.

Ein wesentlicher zweiter Grund zur Erklärung der Diskrepanz zwi-schen den Befunden von Labortests und Fahrversuchen liegt in den Kompensationsleistungen, zu denen Menschen in Alltagssituationen fähig sind, bei denen sie sich nicht in Grenzbereichen ihrer Leistungs-fähigkeit bewegen. Derartige Kompensationsstrategien werden von den älteren Fahrern selbst immer wieder angesprochen (Fildes, 2006; Schlag & Engeln, 2001). Dabei kann sich Kompensation auf alle Be-reich der Mobilität beziehen und sie ist auf unterschiedlichen Ebenen möglich (Engeln & Schlag, 2008). Als Grundlage der Überlegungen zur Kompensation von Altersdefiziten gilt das Modell der selektiven Opti-mierung mit Kompensation (SOK) von Baltes (Baltes & Baltes, 1990). Danach können Ältere ungünstige psychophysische Entwicklungen auf unterschiedliche Weise kompensieren – und tun dies zumindest in Teilen auch. Sie schränken den Umfang ihrer Fahrtätigkeit selbst (und teilweise unter sozialer Kontrolle) ein (Selektion). Dies erspart ihnen kränkende Umstände auffälliger Leistungsprobleme und mög-licherweise eines befürchteten Führerscheinverlusts. Sie verzichten auf Fahrten in besonders beanspruchenden Situationen (Dunkelheit, ungünstige Wetterbedingungen, hohe Verkehrsdichte) – und sie sind im Alter freier, Zeit und Umstände ihrer Fahrten insofern anzupassen. Sie optimieren ihre Leistungsfähigkeit in den Tätigkeiten, die ihnen wichtig sind, wie z. B. dem Autofahren. Sie bedienen sich vielfältiger technischer, organisatorischer und unterstützender Hilfen, um ihnen wichtige Tätigkeiten weiter ausführen zu können (Kompensation im engeren Sinn). Sie fahren teilweise langsamer – dies allerdings wegen des hoch habituierten eigenen Fahrstils meist nur bei besonderer Be-anspruchung durch die Fahrsituation.

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Wie weit reichen aber Kompensationsmöglichkeiten? Grundsätzlich können abnehmende Fahrfähigkeiten (Kompetenzen) durch Anpas-sung des Fahrverhaltens (Performanz) weitgehend ausgeglichen wer-den. Diese Strategie setzt aber eine zumindest in weiten Teilen realis-tische Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten (und ihres eventuellen Rückgangs) voraus (Richter et al., 2011; Horswill et al., 2013). Dem steht allerdings die geringe Selbstakzeptanz von ungünstigen Alters-veränderungen entgegen. Wie bei den Veränderungen der Sehfähig-keiten handelt es sich bei den meisten Altersveränderungen nicht um abrupte, sondern um langsame, schleichende Veränderungsprozesse, deren Wahrnehmbarkeit eingeschränkt ist. Die Konsequenz ist eine verzögerte oder aber gar keine Anpassung. Im hohen Alter steigt zu-dem die Anzahl demenzieller Erkrankungen deutlich an, deren Beginn oft durch eine verringerte Einsicht in eigene Probleme und Grenzen charakterisiert ist.

Die hohe Bedeutung der Geschwindigkeitsregulation beim Fahren wird deutlich, wenn die zentrale Rolle betrachtet wird, die generell die Zeit und insbesondere die Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Reak-tionsgeschwindigkeit in Theorien des Alterns spielt (Salthouse, 1996). Durch die Verringerung der Fahrgeschwindigkeit gewinnt der (ältere) Fahrer im günstigen Fall Zeit für die Reizverarbeitung und kompensiert so langsamere Verarbeitungsgeschwindigkeiten. So konnten Horberry et al. (2006) zeigen, dass ältere Fahrer im Unterschied zu anderen Al-tersgruppen ihre Fahrgeschwindigkeit in einem Simulator regelmäßig verringerten, wenn sie durch konkurrierende Aufgaben im Fahrzeug abgelenkt oder durch eine komplexe Fahrumgebung besonders gefor-dert waren. Ein ähnlich positiver Effekt für eine Verringerung des Zeit-drucks kann in der Straßengestaltung beispielsweise durch eine frühe und gestaffelte Darbietung von Information (z. B. durch Vorwegweiser) erzielt werden (Küting & Krüger, 2002). Kompensationsleistungen kön-nen also unterstützt werden. Allerdings ist bis heute nicht hinreichend genau erforscht, wie ältere Menschen ihre Verkehrsteilnahme und ihr Fahrverhalten selbst regulieren, welche Aktivitäten sie vermeiden und wie sie dies entscheiden. Selbstregulation ist umso entscheidender, je weniger auf obligatorische Überprüfung abgestellt wird.

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4 Präventive Möglichkeiten zur Erhaltung von Mobilität und Sicherheit im Alter

Die Kompensation von altersbezogenen Leistungsdefiziten kann auch außerhalb des individuellen Fahrers stattfinden. Neben Gestal-tungsmaßnahmen von Straße und Fahrzeug (hier besonders durch Fahrerinformations- und -Fahrerassistenzsysteme) müssen ganzheit-liche Konzepte erarbeitet werden, die Maßnahmen im Bereich aller 4E – Enforcement, Education, Engineering und Economy – beinhal-ten. Unterschieden werden damit Ansätze der Verhaltensprävention von solchen der Verhältnisprävention – beides gemeinsam kann best-mögliche Wirkungen entfalten und beide Wege stehen im Mittelpunkt dieses Buches. Zu beachten ist vor allem bei verhaltenspräventiven Maßnahmen, dass ein Verlust der Fahrerlaubnis soziale Ausgrenzung nach sich ziehen kann, wenn keine alternativen Mobilitätsmöglichkei-ten zur Verfügung stehen. Er wird zudem als Kränkung empfunden, die ungünstige Auswirkungen auf die weitere persönliche, soziale und gesundheitliche Entwicklung hat.

So erscheint es fast verständlich, dass sich in Europa und ähnlich in den Staaten der USA große Unterschiede im Umgang mit der Fahrerlaubnis älterer Kraftfahrer über 70 bzw. 75 Jahre finden. Dies reicht von einer liberalen Haltung ohne altersbezogene Auflagen, wie in Deutschland oder Frankreich, bis zu verpflichtenden Führer-scheinüberprüfungen und -erneuerungen, die teilweise dann in enge-ren zeitlichen Abständen als in jüngeren Jahren erfolgen, wie bspw. in Spanien, Finnland, Dänemark, der Schweiz, den Niederlanden und Italien. Die Verfahrensweisen sind in diesen Ländern allerdings sehr unterschiedlich und reichen vom Ausfüllen eines Fragebogens (Selbstauskunft) bis hin zu unterschiedlich umfangreichen ärztlichen Untersuchungen. Tatsächlich ist es für gesetzliche Screening-Verfah-ren unterschiedlicher Art bis auf wenige Ausnahmen (siehe Lough ran, 2007) bis heute nicht gelungen, den Nachweis zu führen, dass sie eine positive Auswirkung auf die Unfallzahlen Älterer haben (OECD, 2001a).

Ein wissenschaftliches Problem mit erheblichen praktischen Auswir-kungen liegt darin, dass bisher nicht eindeutig zu belegen ist, wel-che Testverfahren eine gültige und zuverlässige Prognose auffälligen Fahrens erlauben und damit bei einem auf Selektion (und ggf. Modifi-kation) ausgerichteten Screening eingesetzt werden könnten. Zudem

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haben die bekannten verkehrsmedizinischen und verkehrspsycholo-gischen Testverfahren (unterschiedlich hohe) Fehlerraten, sie arbeiten meist nicht mit hinreichender Sensitivität und Spezifität, so dass es bei ihrer Anwendung zu einer beträchtlichen Anzahl fehlerhafter Zu-weisungen kommen muss, also fälschlich als geeignet und fälschlich als ungeeignet klassifizierten Personen. Letztere sind die „false posi-tives“. Dies ist in seinen Auswirkungen nicht trivial, vielmehr mit ho-hen persönlichen und gesellschaftlichen Kosten verbunden. Mit dem Aufgeben des Autofahrens verbinden die meisten älteren Fahrer eine verringerte Lebensqualität. Gesundheitsprobleme, wie z. B. Depressi-on, können eine Folge sein (Musselwhite & Shergold, 2013). Eine Bei-spielrechnung zum Problem der „false positives“ (Abbildung 6): Nimmt man an, zukünftig müssten alle 70-Jährigen und älteren Kraftfahrer alle 5 Jahre ein definiertes Screening durchlaufen und jeder Jahrgang wäre im Mittel 250.000 Personen mit Fahrerlaubnis stark, begren-zen wir es zudem der Einfachheit halber auf 20 Jahrgänge von 70 bis 89 Jahre, so wären jährlich eine Mio. Screenings durchzuführen. Angenommen, davon wären 5 % der älteren Fahrer tatsächlich nicht mehr geeignet zum Führen eines Kraftfahrzeugs (50.000 Personen/a). Hat nun das aus einer Reihe von Testverfahren bestehende Screening eine Fehlerquote von 5 % in jeder Richtung, so würde man eine große Personenzahl falsch zuweisen und ihnen im Falle der „false positives“ ihre bisherigen Mobilitätsmöglichkeiten ungerechtfertigt entziehen.

Zu einem ähnlichen Befund kommen Poschadel et al. (2012b, S. 80) auf der Grundlage empirischer Daten: Die Wahrscheinlichkeit einer

Abbildung 6: Eine Beispielrechnung zum Problem der „false positives“ (Erläuterungen im Text)

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vorhandenen Fahreignung trotz gegenteiligem verkehrsmedizinischen oder augenärztlichen Befund betrug dort zwischen 40 und 50 %, je nach zugrunde gelegten Labor- und ärztlichen Diagnosedaten. Wenn auch bei gründlicher Untersuchung ebenso viele „false positives“ wie Treffer zu erwarten sind, erscheint ein screening auf dieser Grundlage nicht vertretbar.

Neben klassischen Ansätzen (beschrieben etwa in Eby & Molnar, 2009; Shinar, 2007; Whelan et al., 2006), die oft stärker auf die Selek-tion nicht (mehr) geeigneter Kraftfahrer ausgerichtet sind, wurden in neuester Zeit positive Ergebnisse mit Trainings sowohl der kognitiven und der körperlichen Fähigkeiten als auch des Fahrens selbst, somit modifikatorischen bzw. unterstützenden Ansätzen, erzielt (Gajewski et al. 2010; Poschadel et al., 2012a; Poschadel, in diesem Band). Hier könnten spezifische Kurse für ältere Kraftfahrer entwickelt werden, wie dies für das United Kingdom auch der Parliamentary Advisory Council for Transport Safety (PACTS, 2012) in seinem Bericht „It’s my choice“ vorschlägt.

Da der Alternsprozess sehr individuell verläuft und verringerte Leis-tungsfähigkeiten zumindest teilweise durch Erfahrung und Anpassung des Verkehrsverhaltens kompensiert werden können, andererseits je-doch die Einsicht in zurückgehende Leistungsmöglichkeiten im Alter vielfach schwerfällt, ist eine zielgruppengerechte und persönliche Be-ratung von zentraler Bedeutung. Älteren Kraftfahrern sollten Anreize gegeben werden zur verstärkten Prüfung ihrer Leistungsfähigkeiten. Gestärkt werden sollte die Rolle der Ärzte in der Verkehrssicherheits-beratung Älterer, da sie von den Senioren als kompetente und ver-trauenswürdige Ansprechpartner geschätzt werden. Allerdings muss sich diese Tätigkeit für die Ärzte auch wirtschaftlich darstellen lassen. Gleichzeitig sollten Anreizsysteme zur freiwilligen Prüfung der Fahr-eignung für Menschen ab dem 70. Lebensjahr entwickelt und attraktiv gemacht werden. Dem deutschen Prinzip des staatlichen Tätigwer-dens erst nach Verkehrsauffälligkeit folgend, könnte eine anlassbe-zogene und spezifisch auf die jeweiligen Anlässe abgestimmte Über-prüfung der Fahreignung an Auffälligkeiten geknüpft werden, die im Verkehrszentralregister (zukünftig Fahreignungsregister) dokumentiert sind (Ahrens et al., 2010).

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145

Ergebnisse von Fahrversuchen mit älteren Pkw-Fahrern1

Gert Weller

1 Einleitung

In der gegenwärtig älter werdenden Bevölkerung steigt der Anteil der Führerschein- und Pkw-Verfügbarkeit stetig an (Oswald, 1999). Die Kohorte der nun älter werdenden Menschen ist es gewohnt, Auto zu fahren, und sie wird diese Gewohnheit auch nicht aufgeben wollen. So wird mit dem steigenden Anteil älterer Menschen in der Bevölkerung (Euro stat, 2010; OECD, 2001; Statistisches Bundesamt, 2009) auch der Anteil älterer Autofahrer und der Anteil der von Älteren gefahrenen Kilometer in Zukunft stark ansteigen (Berry, 2011; Oswald, 1999).

Diese Entwicklung ist insofern bedeutend, als sich ab einem Alter von ca. 75 Jahren nicht nur das auf eine Zeit- oder Entfernungseinheit be-zogene Risiko zu verunfallen erhöht (Schade, 2008), sondern eben-so die Wahrscheinlichkeit, an einem Unfall auch die Schuld zu tragen (Clarke et al., 2010; Schade, 2000; Statistisches Bundesamt, 2011).

Neben methodischen Gründen wie dem frailty bias und dem low mi-leage bias (Hakamies-Blomqvist et al., 2002; Welsh et al., 2006) wird die mit dem kalendarischen Alter nachlassende sensorische, kogniti-ve und motorische Leistungsfähigkeit als Ursache der mit dem Alter steigenden Unfallbeteiligung angeführt (Schlag, 1993, 2008, 2013, in diesem Band).

Auch wenn eine Abnahme der Leistungsfähigkeit mit dem Alter er-folgt, verläuft diese Entwicklung nicht stetig und ist zudem von ho-her inter- und intraindividueller Variabilität gekennzeichnet. Daher sind Rückschlüsse vom kalendarischen Alter eines Individuums auf dessen Leistungsfähigkeit nicht zuverlässig möglich (Langford et al., 2004; Schlag, 1993; Siren & Meng, 2012).

Doch auch eine Vorhersage des Fahrverhaltens über das funktionale Alter ist keineswegs zufriedenstellend (Anstey et al., 2005; Burgard &

1 Die Studie wurde gefördert von der Unfallforschung der Versicherer (UDV) im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV).

146

Kiss, 2008; Ellinghaus et al., 1990). Neben einem möglicherweise ge-nerell niedrigen Zusammenhang zwischen den Prädiktoren und dem Fahrer- und Fahrverhalten wird bei älteren Fahrern besonders die Nut-zung von Kompensationsstrategien als Ursache des niedrigen Zusam-menhangs zwischen kalendarischem Alter oder Leistungsfähigkeit ei-nerseits und der Verkehrssicherheit andererseits angeführt (Engeln & Schlag, 2008; Fildes, 2006; Schlag & Engeln, 2001).

Da eine Einschränkung der Mobilität das Risiko zu erkranken erhöht (Freeman et al., 2006; Mollenkopf & Engeln, 2008), sind Fehlentschei-dungen hinsichtlich der Fahreignung mit einem hohen individuellen und gesellschaftlichen Risiko behaftet.

Ziel des im Folgenden dargestellten Projektes war es, die Zusammen-hänge zwischen kalendarischem und funktionalem Alter und dem Fah-rer- und Fahrverhalten zu untersuchen. Die Erhebung des funktionalen Alters erfolgte mit Labortests, das Fahrer- und Fahrverhalten wurde in Fahrversuchen im Simulator und im Feld erhoben. Insbesondere sollte untersucht werden, ob eine schlechtere Leistung in den einzelnen La-bortests mit einer schlechteren Leistung bei einzelnen Parametern des Fahrer- und Fahrverhaltens einhergeht. Die Operationalisierung dieser Konstrukte erfolgt in den entsprechenden Kapiteln.

Durch das gleichzeitige Vorliegen von Daten aus Fahrversuchen im Simulator und im Feld sollte es zudem ermöglicht werden, auch Ab-hängigkeiten zwischen diesen beiden Datenquellen zu untersuchen (siehe auch Abbildung 1). Diese Zusammenhänge und die Fahrversu-che im Simulator sind nicht Inhalt des vorliegenden Beitrages, sie wer-den ausführlich in Weller & Schlag (2013) dargestellt. Der vorliegende Beitrag beschränkt sich auf die Ergebnisse aus dem Labor und den im Feld gewonnenen Fahrdaten.

Abbildung 1: Logik des Projektes „Fahrversuche mit älteren Pkw-Fahrern“

147

2 Fahrversuche: Methodik

2.1 Stichprobe

Ziel der Untersuchung war es, den Einfluss sowohl des kalendarischen als auch des funktionalen Alters auf das Verkehrsverhalten zu unter-suchen. Voraussetzung hierfür waren eine Stichprobe mit Älteren und eine Vergleichsstichprobe. Bei dieser Vergleichsstichprobe handelte es sich um Fahrer mittleren Alters, nicht um junge Fahrer. Dadurch sollte ausgeschlossen werden, dass mangelnde Fahrerfahrung oder motivationale Ursachen das Verhalten beeinflussen.

Die Akquise der Probanden erfolgte über eine Pressemitteilung, die in regionalen Tageszeitungen und auf der Homepage der TU Dresden erschien. Weiter wurde gezielt im Bekanntenkreis der Mitarbeiter des Instituts um Probanden geworben. Bei der Stichprobe handelt es sich also um eine nicht-repräsentative Zufallsstichprobe.

Ziel der Stichprobenauswahl war die relativ gleichmäßige Besetzung der vier Altersgruppen. Die Besetzung mit 25 Probanden pro Alters-gruppe bei einer angestrebten Stichprobengröße von 100 Probanden konnte bis auf die älteste Gruppe erreicht werden. Die hohe Beset-zung in der Gruppe der 64- bis 69-Jährigen ist auf die große Resonanz in dieser Gruppe zurückzuführen. Die Stichprobenmerkmale sind in Tabelle 1 und Tabelle 2 dargestellt.

Tabelle 1: Beschreibung der Stichprobe nach Altersgruppen und Alter

Alter N Min Max M SD Prozent

bis 55 26 27 53 39 7 22.81

64 bis 69 41 64 69 67 1 35.96

70 bis 74 29 70 74 72 2 25.44

ab 75 18 75 90 79 4 15.79

Gesamt 114 27 90 64 15 100.00

148

Tabelle 2: Beschreibung der Stichprobe nach Altersgruppen und Geschlecht

Geschlecht

weiblich männlich

Alter (Jahre) N Prozent (Zeile) N Prozent (Zeile)

bis 55 14 53.85 12 46.15

64 bis 69 7 17.07 34 82.93

70 bis 74 5 17.24 24 82.76

ab 75 1 5.56 17 94.44

Gesamt 27 23.68 87 76.32

Aus Tabelle 2 ist ersichtlich, dass der Anteil von Frauen und Männern, insbesondere in der ältesten Probandengruppe, nicht gleich ist. Wäh-rend eine Gleichverteilung nach Geschlecht prinzipiell erstrebenswert ist, dürfte die Ungleichverteilung unter den älteren Autofahrern den Status Quo in Deutschland wiederspiegeln. So betrug das Verhältnis des Fahrerlaubnisbesitzes nach Geschlecht in Deutschland nach einer Hochrechnung der BASt für das Jahr 2004 in der Altersgruppe 65-74 Jahre etwa 85 Männer zu 50 Frauen, in der Altersgruppe 75 bis 84 Jahren 80:32 und für die Altersgruppe ab 85 Jahren 67:12 Prozent (Kalinowska et al., 2007).

2.2 Strecke

Die Auswahl der Strecke richtete sich danach, ein möglichst umfas-sendes Bild des Fahrer- und Fahrverhaltens Älterer zu bekommen. Da-her wurden neben Situationen, die für Ältere eher schwierig sind, wie das Abbiegen oder Queren ungesicherter Kreuzungen, auch als unkri-tisch eingestufte Abschnitte ausgewählt. Dies führte zu einer Strecke, die sich zu etwa gleichen Teilen aus Abschnitten auf der Autobahn (ca. 38 % der Länge), auf Landstraßen (37 %) und Abschnitten innerorts (25 %) zusammensetzte. Die Gesamtlänge der Fahrt betrug etwa 50 Kilometer, was zu einer Fahrtdauer von etwa einer Stunde führte.

Nach einer kurzen Eingewöhnungsfahrt begann die eigentliche Ver-suchsstrecke mit der Auffahrt auf die Autobahn an der Auffahrt Dresden Südvorstadt. Nach einer Autobahnfahrt bis Pirna und der Rückfahrt bis zur Abfahrt Heidenau schloss sich eine Fahrt auf unterschiedlichen Landstraßen an. Anschließend erfolgte die Rückkehr nach Dresden.

149

Dort wurden verschiedene Innerorts-Situationen abgefahren. Die Stre-cke wurde so gewählt, dass die Rückfahrt zum Ausgangspunkt über ein kurzes Stück Autobahn erfolgen konnte (Auffahrt Dresden Nickern, Abfahrt Dresden Südvorstadt). Die Fahrt endete auf dem Gelände der Technischen Universität Dresden.

Im vorliegenden Beitrag werden ausgewählte Situationen innerorts sowie Ergebnisse zur Fahrt auf der Autobahn dargestellt. Die für die Auswertung relevanten Situationen werden weiter unten ausführlich beschrieben. Weitere Details zur Strecke finden sich in Weller & Schlag (2013).

2.3 Versuchsfahrzeug

Die Erhebung erfolgte mit dem Versuchsfahrzeug der Professur Stra-ßengestaltung der TU Dresden. Dieses Fahrzeug war mit folgenden Systemen ausgestattet:• Zweifrequenz GPS/GLONASS-System zur Positionsbestimmung

(Septentrio)• Messeinrichtungen zur Erfassung der CAN-Bus-Daten• Blickbewegungssystem SmartEye Pro.

Zusätzlich wurde eine Kamera zur Aufzeichnung des Fahrers und des-sen Blickrichtung angebracht. Die Szenerie vor dem Fahrzeug wurde über eine weitere Kamera aufgezeichnet. Alle Videodaten lagen digita-lisiert und mit einem Zeitstempel versehen vor, so dass die Synchroni-sation mit den Positions- und Fahrdaten erfolgen konnte.

2.4 Auswertung des Blickverhaltens

Die Auswertung des Blickverhaltens erfolgte mit Hilfe des während der Fahrt aufgenommenen Videomaterials aus der Szeneriekamera und der auf den Fahrer gerichteten Kamera.

Bei der Interpretation dieser Blickdaten wird davon ausgegangen, dass Blickrichtung und Aufmerksamkeit übereinstimmen. Diese Mei-nung wird auch von Duc et al. (2008) vertreten, die schreiben, dass „The value of eye tracking is that in natural scene viewing — where the visual environment is complex compared to many simple expe-rimental situations — it should provide a good guide to the locus of attention“ (S. 403).

150

Für die Auswertung wurden zunächst anhand der Framenummern und des Zeitstempels interessierende Abschnitte ausgewählt. Inner-halb dieser Abschnitte erfolgte die Auswertung der Blickdaten an-hand der Videos. Diese erlaubt zwar keine Zuordnung von Blicken zu einzelnen Objekten in der Szenerie, jedoch eine Zuordnung der Blicke zu interessierenden Areas of Interest (AOIs) wie Spiegel- und Tachoblicken.

Durch die Auswertung von Blickdaten anhand des Videomaterials war es auch möglich, Schulterblicke zu identifizieren. Diese liegen außer-halb des Aufnahmebereiches von Blickmessgeräten und wären bei Auswertung über diese Geräte verloren gegangen.

2.5 Erhebung von Leistungsparametern im Labor

Die Erhebung der sensorischen, kognitiven und motorischen Leis-tungsfähigkeit wurde im Labor der Professur für Verkehrspsycholo-gie an der TU Dresden durchgeführt. Sie erfolgte aufgrund der Dauer zu zwei zeitlich getrennten Terminen, einmal vor Beginn der Fahrver-suche und einmal vor Beginn von Simulatorversuchen, über die hier nicht berichtet wird. Die beiden Erhebungszeitpunkte lagen organi-satorisch bedingt und je nach Proband etwa sechs bis acht Monate auseinander.

Die Erhebung erfolgte mit Hilfe von vier verschiedenen Testbatterien:• Verschiedene Parameter der Sehleistung mit einem Sehzeichen-

monitor (Thomey)• Ausgewählte Tests des Wiener Testsystems (Schuhfried GmbH)• UFOV-Test• Ausgewählte Tests des Leibniz-Instituts für Arbeitsforschung an

der TU Dortmund (IfADo).

Insgesamt wurden fünfzehn Tests durchgeführt, von denen im Folgen-den ausgewählte näher beschrieben werden sollen.

Stellvertretend für die sensorische Leistungsfähigkeit wurden unter anderem die Sehschärfe und das Kontrastsehen gemessen. Die Tes-tung erfolgte mit einem Sehzeichenmonitor der Firma Tomey unter Verwendung von Landoltringen nach DIN 58220-6 (2009). Zur Erhe-bung des Kontrastsehens wurden Sehzeichen mit 10 Prozent des für die Tagessehschärfe verwendeten Kontrastes verwendet.

151

Als weitere sensorische Variable wurde das Gesichtsfeld mit Hilfe des Tests „Periphere Wahrnehmung“ des Expertensystems Verkehr der Firma Schuhfried erhoben. Damit unterscheidet sich diese Erhebung von der klassischen Art mit einem Perimeter (Rantanen & Goldberg, 1999). Der aus der Testung resultierende Parameter ist jedoch ver-gleichbar und bezeichnet die Weite des Gesichtsfeldes in Grad.

Die Aufmerksamkeitsleistung wurde mit dem UFOV Test erhoben. Die-ser Test misst – entgegen seinem Namen – nicht das nutzbare Seh-feld (engl. Useful field of view, UFOV), sondern die Verarbeitungsge-schwindigkeit sowie die geteilte und die selektive Aufmerksamkeit.

Die kognitive Leistungsfähigkeit wurde unter anderem mit dem Test „visuelle Suche“ des Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund (IfADo) erhoben. Die Aufgabe des Probanden bestand dar-in, aus einem Muster von drei mal drei grünen und roten Pfeilen einen Zielreiz zu entdecken (grüner Pfeil nach oben oder roter Pfeil nach rechts). Gemessen wurden die Reaktionszeit im Fall eines vorhande-nen Zielreizes und der Anteil der ausgelassenen Zielreize (Misses).

3 Ergebnisse der Labortests

3.1 Exemplarische Unterschiede zwischen den Altersgruppen in physiologischen und kognitiven Tests

Bei einigen der im Folgenden dargestellten Ergebnisse handelt es sich um Testungen, die zum Zeitpunkt der Simulatorversuche durchge-führt wurden (Sehtest, Test PP, UFOV). Aufgrund von experimenteller Mortalität und des zeitlichen Abstandes zwischen Fahrversuchen und Simulatorversuchen kommt es zu leichten Verschiebungen hinsicht-lich der Größe der Stichproben und der Zusammensetzung der Al-tersgruppen. Neben den oben genannten Tests erfolgt zusätzlich die Darstellung von Ergebnissen des Tests „visuelle Suche“, der zum Zeit-punkt der Fahrversuche durchgeführt wurde.

3.2 Sehschärfe: Visus 100

Der Visus 100 bezeichnet die Tagessehschärfe bei 100 % Kontrast. Die deskriptive Statistik zu dem Visustest nach DIN EN ISO 8596

152

(2009) ist in Tabelle 3 dargestellt. Die Grenze von 0,7 bezieht sich auf die Fahrerlaubnisverordnung (BMVBS, 2011), wonach ein Sehtest als bestanden gilt, wenn die Tagessehschärfe mit oder ohne Sehhilfe min-destens 0,7 beträgt.

Wie Tabelle 3 zu entnehmen ist, haben nach obiger Verordnung 40 Prozent der Gruppe der ab 75-Jährigen (also acht Probanden, sie-he Tabelle 3) die Mindestanforderungen an die Sehschärfe nicht er-füllt. Dieser hohe Anteil mag überraschen, liegt aber nach Literatur-lage (Haegerstrom-Portnoy et al., 1999, 2005) für diese Altersgruppe durchaus im Rahmen des Erwartbaren.

Da die Leistung der Probanden auch in den Labortests ohne hohen visuellen Anteil innerhalb der altersbedingten Normen lag (Weller & Schlag, 2013), bestand kein Grund zur Annahme, dass es sich um eine besonders schlechte Stichprobe gehandelt hätte. Somit kann an-genommen werden, dass die Probanden – im Rahmen des mit einer Gelegenheitsstichprobe möglichen – einen guten Querschnitt durch das sich auf der Straße bewegende Fahrerkollektiv bildeten. Daher wurde bewusst darauf verzichtet, einzelne Probanden aufgrund der Ergebnisse des Sehzeichentests von den Versuchsfahrten auszu-schließen. Aus gleichem Grund wurde ebenso darauf verzichtet, die Probanden mit optimal auskorrigierten Brillengläsern auszustatten.

Tabelle 3: Ergebnisse des Sehzeichentests nach DIN EN ISO 8596 und Anzahl und Prozent derjenigen Probanden mit einem Visus geringer als 0,7

Alter (Jahre) N Min Max M (SD)N mit

Visus < 0,7

% nicht bestan-

den

bis 55 20 .50 2.00 1.40 (.39) 1 5.0

64 bis 69 39 .50 2.00 1.15 (.34) 3 7.7

70 bis 74 26 .40 1.60 .99 (.26) 3 11.5

ab 75 20 .32 1.25 .78 (.23) 8 40.5

Die Daten wurden weiter auf Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen getestet. Um Gleichabständigkeit zwischen den einzelnen Visusstufen zu gewährleisten, wurde der Visus nach Bach und Kom-merell (1998) zunächst logarithmisiert. Die folgenden Auswertungen beziehen sich auf den logarithmisierten Visus mit einem möglichen Bestwert von 0,3 (entspricht einem Visus von 2,0) und einem schlech-testen Wert von -1,3 (entspricht einem Visus von 0,05).

153

Die statistische Auswertung ergab hoch signifikante Unterschiede zwischen den Altersgruppen (F(3, 101) = 13.25, p <  .001; η2 =  .28). Die post-hoc Tests ergaben bei nicht signifikantem Levene-Test mit den Korrekturen nach Gabriel und Games-Howell übereinstimmend keine Unterschiede zwischen der Vergleichsgruppe und der Versuchs-gruppe mit den jüngsten Älteren, jedoch hoch signifikante Unterschie-de zu den anderen beiden älteren Versuchsgruppen (p < .01). Weiter unterschied sich die älteste Versuchsgruppe von allen anderen Ver-suchsgruppen (p < .05). Die Korrelation zwischen dem kalendarischen Alter und dem logarithmierten Visus war bei einseitiger Testung höchst signifikant (Kendall’s t: -.42; p < .001). Insgesamt zeigen diese Ergeb-nisse somit eine Verschlechterung der Sehleistung mit dem Alter an.

3.3 Gesichtsfeld

Mit dem Test „Periphere Wahrnehmung“ (PP) des Wiener Testsys-tems wurde das Gesichtsfeld in Grad erhoben. Die Auswertung der Daten ergab hoch signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen (F(3, 99) = 10.70, p <  .001; η2 =  .25). Die Auswertung der Einzelun-terschiede ergab bei einem nicht signifikanten Levene-Test mit den Korrekturen nach Gabriel und Games-Howell hoch signifikante Unter-schiede zwischen der Kontrollgruppe und allen Versuchsgruppen. Wie Tabelle 4 zu entnehmen ist, waren die Unterschiede derart, dass jede einzelne ältere Versuchsgruppe ein engeres Gesichtsfeld hatte als die jüngere Vergleichsgruppe.

Tabelle 4: Deskriptive Statistik zum Gesichtsfeld (Test PP)

Alter (Jahre) N Min Max M (SD)

bis 55 20 141.5 182.3 169.1 (11.8)

64 bis 69 39 100.9 171.9 150.8 (19.4)

70 bis 74 26 60.0 174.5 138.3 (25.3)

ab 75 20 88.9 173.7 137.8 (22.5)

Die Versuchsgruppen untereinander unterschieden sich jedoch nicht signifikant voneinander. Dennoch fand sich auch hier eine hoch signi-fikante Korrelation mit dem kalendarischen Alter (nicht normalverteil; Kendall’s t: -.38; p < .001).

Bei der deskriptiven Statistik ist auffallend, dass sich die besten Leis-tungen innerhalb der Altersgruppen (Spalte „Max“ in Tabelle 4) kaum

154

voneinander unterschieden. Im Vergleich zur Kontrollgruppe war zwar eine Zunahme der Streuung der Werte zu verzeichnen, diese fiel je-doch vergleichsweis gering aus. Insofern lassen sich die nicht-signifi-kanten Unterschiede zwischen den älteren Altersgruppen auch so in-terpretieren, dass eine Abnahme der Leistung beim peripheren Sehen recht früh beginnt.

3.4 UFOV-Test, Selektive Aufmerksamkeit

Die Variable „Selektive Aufmerksamkeit“ wird in einem von drei Un-tertests des UFOV-Test erhoben. Weil sie im Gegensatz zu den an-deren beiden Variablen des UFOV-Test annähernd normalverteilt ist und zudem hohe Relevanz im Straßenverkehr besitzt, wird sie hier dargestellt. Die Ergebnisse dieses Untertests werden in Millisekunden gemessen. Angegeben wird, wie lange ein Zeichen gezeigt werden muss, bis ein vordefiniertes Gütekriterium erreicht wird.

Da der KS-Test trotz vorliegender Rechtsschiefe keine Abweichung von der Normalverteilung anzeigte, wurden parametrische Verfahren zur Datenauswertung verwendet. Wegen der nicht homogenen Varian-zen (Levene-Test p<.01) erfolgte die Berechnung der Varianzanalyse mit dem robusten Verfahren nach Welch. Dieses zeigte hochsignifi-

Abbildung 2: UFOV-Untertest Selektive Aufmerksamkeit: Mittelwerte und Standard-abweichung der notwendigen Darbietungsdauer je Altersgruppe

155

Abbildung 3: Test „visuelle Suche“: Reaktionszeit bei vorhandenem Zielreiz, Mittel-werte und Standardabweichung je Altersgruppe

kante Unterschiede zwischen den Altersgruppen (F(3, 30.75) = 7.68, p < .01). Für die post-hoc-Vergleiche zwischen den einzelnen Alters-gruppen wurden die korrigierten Tests nach Gabriel und Games-How-ell gerechnet. Diese zeigten signifikante Unterschiede zwischen der jüngeren Vergleichsgruppe und den beiden ältesten Versuchsgruppen (p < .05), der Test nach Games-Howell zeigte zusätzlich signifikante Unterschiede zwischen der Vergleichsgruppe und der jüngsten Ver-suchsgruppe (p < .05). Neben der Verschlechterung der Leistung im Untertest Selektive Aufmerksamkeit mit dem Alter ist auch die deut-liche Zunahme der Standardabweichung in der ältesten Altersgruppe auffallend.

Die Korrelation zwischen Alter und Testwert wurde sowohl beim para-metrischen Test nach Pearson als auch mit der nicht-parametrischen Korrelation nach Kendall hoch signifikant (Kendall’s  t:  .26; p  <  .01; Pearson’s r: .41, p <.001).

3.5 Visuelle Suche

Sowohl die Reaktionszeit bei vorhandenem Zielreiz (Abbildung 3) als auch der Anteil der Auslasser (Abbildung 4) waren laut KS-Test nor-malverteilt, der Anteil der Auslasser zeigte bei Betrachtung der Schiefe

156

jedoch eine signifikant rechtsschiefe Form (p < .01). Zur Berechnung der Gesamtunterschiede wurde daher die Korrektur nach Welch, für die Einzelvergleiche zwischen den Altersgruppen wurden die Korrek-turen nach Gabriel und Games-Howell verwendet.

Die Gesamtunterschiede in den Reaktionszeiten zwischen den Alters-gruppen waren höchst signifikant (F(3, 48,69) = 9,62, p < .001), wo-bei sich die Vergleichsgruppe von allen anderen Altersgruppen unter-schied (p < .001). Unterschiede zwischen den drei Versuchsgruppen mit älteren Probanden waren dagegen nicht signifikant.

Die Korrelation zwischen Alter und Testwert wurde sowohl beim para-metrischen Test nach Pearson als auch mit der nicht-parametrischen Korrelation nach Kendall hoch signifikant (Kendall’s t:  .27; p < .001; Pearson’s r: .45, p < .001).

Bei dem Parameter Anteil der Auslasser ergaben sich ebenfalls höchst signifikante Unterschiede zwischen den Altersgruppen (F(3, 49,68) = 8,95, p < .001), wobei sich wiederum nur die Vergleichs-gruppe signifikant von allen anderen Altersgruppen unterschied (p < .05 im Vergleich zu den jüngeren Alten und p < .001 im Vergleich zu den beiden Gruppen mit älteren Alten). Unterschiede zwischen den drei Versuchsgruppen mit älteren Probanden waren nicht signifikant.

Abbildung 4: Test „visuelle Suche“: Anteil der Auslasser, Mittelwerte und Standardab-weichung je Altersgruppe

157

Die Korrelation zwischen Alter und Anteil der Auslasser wurde sowohl beim parametrischen Test nach Pearson als auch mit der nicht-para-metrischen Korrelation nach Kendall hoch signifikant (Kendall’s t: .30; p < .001; Pearson’s r: .41, p < .001).

3.6 Zusammenfassung der Befunde aus den Labortests

In den Laborversuchen zeigten sich in beinahe allen Tests die er-warteten Unterschiede zwischen der jüngeren Kontrollgruppe und den älteren Versuchspersonen insgesamt. Uneinheitlich waren da-gegen die Unterschiede zwischen der Kontrollgruppe und einzelnen älteren Versuchsgruppen und zwischen den älteren Versuchsgrup-pen untereinander. Hier unterschieden sich die Ergebnisse je nach Test.

Während einige Tests eine eher lineare Verschlechterung der Leistung mit dem Alter zeigen (z. B. im Test Cognitrone aus dem Expertensys-tem Verkehr der Firma Schuhfried), zeigten andere Tests eine tenden-ziell sprunghafte Verschlechterung, deren Beginn zwischen 55 und 64 Jahren lag, ohne sich dann weiter mit dem Alter zu verschlechtern (etwa die Leistung im ATAVT, ebenfalls aus dem Expertensystem Ver-kehr). Besonders bei den Variablen der sensorischen Leistungsfähig-keit war eine tendenziell lineare Verschlechterung mit dem Alter zu beobachten.

4 Ergebnisse der Fahrversuche

4.1 Auswertung der Innerorts-Situationen

4.1.1 Beschreibung der SituationenIn Abbildung 5 sind die Situationen Ia und Ib dargestellt. Die Aufgabe der Probanden bestand darin, als Pkw-Fahrer die Hauptverkehrsstraße sowie den Fuß- und Radweg vor und nach der Durchfahrt des Platzes zu queren. Hinsichtlich der Anforderungen war Situation Ia wegen der schlechten Einsehbarkeit und des höheren Fußgänger- und Radver-kehrsaufkommens deutlich schwerer. Besonders zu beachten waren Fußgänger und Radfahrer aus der Gegenrichtung des Autoverkehrs, der nur in jeweils einer Fahrtrichtung um den Platz gelenkt wurde. Zur

158

Beachtung des Radverkehrs waren gesonderte Sicherungsblicke not-wendig.

In den Situationen IVa (Abbildung 7) und IVb (Abbildung 8) wurde das Sicherungsverhalten gegenüber Radfahrern und Fußgängern beim

Abbildung 6: Situation IVa. Quelle: Openstreetmap.de

Abbildung 5: Lage der Situationen Ia und Ib. Quelle: Openstreetmap.de

Abbildung 7: Situation IVb. Quelle: Openstreetmap.de

159

Beachtung des Radverkehrs waren gesonderte Sicherungsblicke not-wendig.

In den Situationen IVa (Abbildung 7) und IVb (Abbildung 8) wurde das Sicherungsverhalten gegenüber Radfahrern und Fußgängern beim

Abbildung 6: Situation IVa. Quelle: Openstreetmap.de

Abbildung 5: Lage der Situationen Ia und Ib. Quelle: Openstreetmap.de

Abbildung 7: Situation IVb. Quelle: Openstreetmap.de

Rechtsabbiegen untersucht. Bei beiden Situationen handelte es sich um einen mit einer LSA geregelten Kontenpunkt, mit zweistreifiger Fahrbahn je Fahrtrichtung vor dem Abbiegen. In Situation IVa war eine Spur extra für das Rechtsabbiegen ausgewiesen. In beiden Situatio-nen befanden sich unmittelbar neben dem rechten Fahrstreifen ein Radweg und ein Fußweg. Um keine Radfahrer zu gefährden, war ein Sicherungsblick unmittelbar vor dem Abbiegen notwendig.

160

Weiter wurden drei Abschnitte ausgewählt, die geeignet waren, das Geschwindigkeitsverhalten zu untersuchen (nicht dargestellt). Um freie Geschwindigkeitswahl zu ermöglichen, wurden Abschnitte ge-wählt, bei denen sichergestellt war, dass die Probanden annähernd freie Fahrt hatten. Dies war nach dem Einbiegen auf Hauptstraßen (zwei Situationen) und nach Fahrmanövern, die ein erhöhtes Siche-rungsverhalten benötigten, gegeben (Situation VII, Abbildung 8).

In Abbildung 8 ist die Situation VII mit erhöhtem Sicherungsbedarf abgebildet. Die erste Querung in Situation VII ist schlecht einsehbar und erfordert hohe Aufmerksamkeit, die zweite Querung erfordert durch die Straßenbahn und querende Fußgänger ebenfalls hohe Auf-merksamkeit. Untersucht wurde, wie lange die zweifache Querung der Straße dauerte. Bei den Situationen mit freier Fahrt wurden die Höchstgeschwindigkeit und die mittlere Geschwindigkeit im jeweili-gen Abschnitt untersucht.

4.1.2 Blickverhalten beim QuerenEntsprechend den Anforderungen der Fahraufgabe in Situation I wur-de ausgewertet, wie viele Personen je Altersgruppe sowohl links als

Abbildung 8: Situation VII: Zweifache Querung einer Straße. Quelle: Openstreetmap.de

161

auch rechts blickten. Je höher dieser Anteil war, desto mehr Personen verhielten sich also korrekt. Die Ergebnisse sind in Tabelle 5 darge-stellt.

Trotz der deutlichen Tendenz in Situation Ia ergab die Auswertung mit dem Chi-Quadrat-Test keine signifikanten Unterschiede zwischen den Altersgruppen (χ2 (3) = 4.10, p =.25). Auch Unterschiede zwischen den drei Versuchsgruppen wurden nicht signifikant (χ2 (2) = 1.07, p = .56). Ebenfalls zeigte der Chi-Quadrat-Test mit einer zusammengefassten Gruppe Älterer im Vergleich zu der jüngeren Kontrollgruppe keine sig-nifikanten Unterschiede (χ2 (1) = 2.91, p =.15).

Tabelle 5: Anzahl und Anteil (in Prozent) der Probanden je Altersgruppe, die sowohl links als auch rechts geblickt haben

Altersgruppe(Jahre)

Situation IaN (%)

Situation IbN (%)

bis 55 20 (90,9) 14 (60,9)

64 bis 69 29 (78,4) 16 (43,2)

70 bis 74 20 (71,4) 13 (46,4)

ab 75 7 (63,6) 5 (45,5)

Die Betrachtung der Punkt-biserialen Korrelation erbrachte für Situa-tion Ia einen annähernd signifikanten Zusammenhang zwischen Alter und dem dichotom kodierten Blickverhalten (0 = nur links; 1 =  links und rechts; r = -.19, p = .068). Da das Alter in der Stichprobe allerdings nicht normalverteilt war, wurde zusätzlich die Rangkorrelation berech-net, diese zeigte einen signifikanten Zusammenhang an (Kendall‘s-Tau t: -.18; p < .05).

Für die zweite Querung (Situation Ib) blickten über alle Gruppen hin-weg weniger Probanden sowohl rechts als auch links (siehe Tabel-le 5). Dies dürfte auf die oben bereits genannten Unterschiede zwi-schen beiden Situationen zurückzuführen sein. So ist es in Situation Ib aufgrund der Lage der Fußgänger- und Radfahrwege nach der zu querenden Fahrbahn möglich, diese auch ohne direkten Blick zu er-fassen.

Wie in Situation Ia wurden auch in Situation Ib Unterschiede zwischen allen vier Probandengruppen und zwischen der jüngeren Vergleichs-gruppe und einer zusammengefassten älteren Gruppe untersucht.

162

Keiner der Unterschiede wurde signifikant (Unterschiede zwischen allen vier Gruppen: χ2 (2) = 0.07, p =.95; Unterschiede zwischen den beiden Extremgruppen: χ2 (1) = 1.84, p =.18).

Die Korrelation zwischen Alter und der dichotomen Variablen „sowohl links als auch rechts geblickt“ wurde in Situation Ib bei keinem der beiden Koeffizienten signifikant (r = -.13, p = .19; Kendall‘s-Tau t: -.12; p = .19).

4.1.3 Blickverhalten beim RechtsabbiegenDie in Abbildung 9 und Abbildung 10 gezeigten Unterschiede zwischen den Altersgruppen waren für die beiden Situationen IVa und IVb hoch signifikant. Dies trifft sowohl auf Unterschiede zwischen allen vier Grup-pen (Situation IVa: χ2 (3) =34.272, p < .001; Situation IVb: χ2 (3) =28.03, p < .001) als auch auf die Testung mit zwei Extremgruppen zu (Situa-tion IVa: χ2 (1) =33.35, p < .001; Situation IVb: χ2 (1) =27.33, p < .001). Wie auch aus Abbildung 9 und Abbildung 10 zu entnehmen, bedeutet dies, dass Ältere überzufällig seltener einen Schulterblick beim Rechts-abbiegen gemacht haben als die jüngere Vergleichsgruppe.

Zwischen den einzelnen Gruppen der älteren Probanden gab es keine signifikanten Unterschiede (Situation IVa: χ2 (2) =2.39, p = .32; Situati-on IVb: χ2 (2) =1.50, p = .54).

Die Korrelationen zwischen Alter und der dichotomen Variablen „Schulterblick Ja/Nein“ waren für beide Situationen hoch signifikant (0 = „kein Schulterblick“, 1 = „Schulterblick“; Situation IVa: r = -.63, p < .001; Kendall’s t: -.43; p < .001; Situation IVb: r = -.59, p < .001; Kendall’s t: -.40; p < .001).

Um das Sicherungsverhalten beim Rechtsabbiegen auch in seiner Gesamtheit zu erfassen, wurde ein Index aus dem gesamten Blick-verhalten in der Situation berechnet. Ausgangspunkt war die Über-legung, dass bestimmte Blicke wichtiger sind als andere. So wurde der Schulterblick, der zwingend notwendig ist, um den toten Winkel abzudecken, mit fünf Punkten am höchsten gewertet. Weiter wurden der Blick in den Außenspiegel mit drei, der Blick in den Rückspiegel mit einem Punkt bewertet. Letztere niedrige Bewertung erfolgte, weil dieser Spiegel für die Ferne gedacht ist und daher unmittelbar vor dem Abbiegen weniger relevant ist. Aus den Kombinationen dieser drei Bewertungen ergaben sich folgende Gewichtungen:

163

• 9 Punkte (Schulterblick + Außenspiegel + Rückspiegel)• 8 Punkte (Schulterblick + Außenspiegel)• 6 Punkte (Schulterblick + Rückspiegel)• 5 Punkte (nur Schulterblick)• 4 Punkte (nur beide Spiegel)• 3 Punkte (nur Außenspiegel)• 1 Punkt (nur Rückspiegel)• 0 Punkte (alle Absicherungsblicke blieben aus).

Abbildung 10: Anteil der Probanden je Altersgruppe ohne Schulterblick beim Rechts-abbiegen in Situation IVb

Abbildung 9: Anteil der Probanden je Altersgruppe ohne Schulterblick beim Rechts-abbiegen in Situation IVa

164

Da die gewichteten Daten in beiden Situationen nicht normalverteilt sind (signifikanter KS-Test und signifikant rechtsschiefe Verteilung), wurden die Daten zunächst mit dem nicht-parametrischen Kruskal-Wallis-Test auf Gesamtunterschiede geprüft und anschließend Unterschiede zwi-schen den einzelnen Gruppen mit Mann-Whitney-Tests geprüft.

Tabelle 6: Situation IVa innerorts: deskriptive Statistik gewichtetes Blickverhalten

Alter (Jahre) N Min Max M (SD)

bis 55 26 0 9 6.43 (3.03)

64 bis 69 41 0 8 2.89 (1.82)

70 bis 74 29 0 9 2.68 (2.89)

ab 75 18 0 4 1.42 (1.24)

Der Kruskal-Wallis-Test zeigte für Situation IVa hoch signifikante Unter-schiede zwischen den Gruppen (p < .001; Tabelle 6). Die Auswertung der Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen mit dem Mann-Whitney-Test ergab, dass jede der älteren Gruppen ein überzufällig geringer gewichtetes Blickverhalten zeigte als die Vergleichsgruppe. Zudem zeigte die älteste Gruppe der Älteren ebenfalls ein überzufällig geringer gewichtetes Blickverhalten als die jüngste Gruppe Älterer.

Das gleiche statistische Vorgehen wurde für Situation IVb gewählt (siehe Tabelle 7). Es zeigte sich das gleiche Muster wie für Situation IVb: ein hoch signifikanter Kruskall-Wallis-Test und hoch signifikante Unterschiede zwischen der Vergleichsgruppe und allen Gruppen mit älteren Probanden sowie signifikante Unterschiede zwischen den älte-ren Probanden nur zwischen der jüngsten und der ältesten Gruppe in gleicher Richtung wie in obigem Absatz detailliert beschrieben.

Tabelle 7: Situation IVb innerorts: deskriptive Statistik gewichtetes Blickverhalten

Alter (Jahre) N Min Max M (SD)

bis 55 26 0 9 5.04 (2.55)

64 bis 69 41 0 8 2.38 (2.15)

70 bis 74 29 0 6 2.32 (1.87)

ab 75 18 0 4 1.42 (1.62)

165

Neben Unterschieden wurden auch die Zusammenhänge mit dem Al-ter betrachtet, Korrelationsanalysen wurden sowohl für die dichotome Variable „Schulterblick Ja/Nein“ als auch für das gewichtete Siche-rungsverhalten berechnet. In beiden Situationen zeigte sich sowohl für den Schulterblick als auch für das gewichtete Sicherungsverhalten eine hoch signifikante, negative Korrelation mit dem Alter in der Höhe von etwa 40.

Insgesamt wurde deutlich, dass das Sicherungsverhalten mit zuneh-mendem Alter deutlich abnimmt. Insbesondere wurde der Schulter-blick schon innerhalb der jüngsten älteren Altersgruppe kaum mehr durchgeführt und unterbleibt in der ältesten Altersgruppe vollständig.

4.1.4 Unterschiede im GeschwindigkeitsverhaltenIn den zwei ausgewählten Abschnitten mit freier Fahrt zeigten sich keinerlei signifikante Unterschiede zwischen den Altersgruppen. Auch die Korrelationen mit dem Alter waren nicht signifikant.

Tabelle 8: Dauer der Querung einer zweibahnigen Straße: deskriptive Statistik [s]

Alter (Jahre) N Min Max M (SD)

bis 55 26 8.3 33.8 16.3 (7.3)

64 bis 69 41 9.5 34.4 18.4 (7.7)

70 bis 74 29 7.2 40.4 16.6 (7.9)

ab 75 18 9.7 26.5 15.6 (7.2)

Ebenso waren in Situation VII Unterschiede zwischen den Altersgrup-pen nicht signifikant (F(3. 65) = 0.43, p =  .73; η2 =  .02) (siehe auch Tabelle 8). Auch die Korrelation zwischen dem Alter und der Dauer der Querung war nicht signifikant (Kendall’s t: -.01; p < .48).

Aufgrund der nicht vorhandenen Korrelationen und der nicht vorhan-denen Unterschiede zwischen den Altersgruppen kann zusammen-fassend festgestellt werden, dass keine Hinweise auf altersbedingte Kompensation im Sinne einer Geschwindigkeitsverringerung gefun-den wurden.

166

4.2 Blickverhalten und Geschwindigkeit auf Autobahnabschnitten

Die Autobahnabschnitte der Versuchsfahrt lagen am Anfang und am Ende der Versuchsstrecke. Die Auswertung wurde unterteilt in drei Ab-schnitte:• Autobahnabschnitt I: Hinrichtung bis zum Umkehrpunkt• Autobahnabschnitt II: Rückrichtung bis zur Ausfahrt am Beginn der

Landstraßen- und Stadtabschnitte• Autobahnabschnitt III: Rückrichtung nach Stadtabschnitt

Ausgewertet wurden die maximale Geschwindigkeit sowie die Ge-schwindigkeit an Beschilderungen als Prozent der Geschwindigkeits-überschreitung.

Die normal verteilten maximalen Geschwindigkeiten wurden mit einer ANOVA mit Messwiederholung und dem Faktor Altersgruppe ausge-wertet (siehe auch Abbildung 11). Es ergaben sich ein signifikanter Haupteffekt der Strecke (F(2, 128) = 31.32, p <  .001; η2 =  .33), kein

Abbildung 11: Maximale Geschwindigkeiten gemittelt je Altersgruppe auf den drei Autobahnabschnitten

167

Haupteffekt der Altersgruppe (F(3, 64) =  .35, p =  .79; η2 =  .02) und auch keine signifikante Wechselwirkung zwischen Strecke und Alters-gruppe (F(6, 128) = .82, p = .56; η2 = .04).

Tabelle 9: Autobahnabschnitt I (Teil 1): Prozentuale Geschwindigkeitsüberschreitung in Prozent an Verkehrszeichen; Unterschiede zwischen Altersgruppen und Korrelati-on mit dem kalendarischen Alter

Verkehrszeichen (km/h)

130 100Aufhebung Tempo 100

Altersgruppe M (SD) M (SD) M (SD)

bis 55 -4.10 (7.31) 12.18 (10.59) -17.10 (6.82)

64 bis 69 -8.11 (12.02) 4.92 (13.07) -19.87 (8.59)

70 bis 74 -4.43 (11.60) 9.91 (11.72) -16.74 (7.70)

ab 75 .55 (14.25) 11.64 (14.40) -18.96 (9.95)

Ergebnisse ANOVAF(3, 74) = 1.54,

p = .21; η2 = .06F(3, 81) = 1.82,

p = .15; η2 = .06F(3, 79) = .84,

p = .48; η2 = .03

Ergebnisse Korrelation

t: -.03; p = .36 t: -.01; p = .46 t: -.04; p = .29

Tabelle 10: Autobahnabschnitt I (Teil 2): Prozentuale Geschwindigkeitsüberschrei-tung in Prozent an Verkehrszeichen; Unterschiede zwischen Altersgruppen und Kor-relation mit dem kalendarischen Alter

Verkehrszeichen (km/h)

130 100Aufhebung Tempo 100

Altersgruppe M (SD) M (SD) M (SD)

bis 55 -.83 (12.47) 8.80 (12.18) -18.12 (10.09)

64 bis 69 -2.95 (12.58) 9.60 (12.38) -16.84 (8.55)

70 bis 74 -3.63 (13.01) 10.01 (13.88) -19.75 (8.18)

ab 75 .20 (13.24) 13.39 (11.87) -13.92 (9.11)

Ergebnisse ANOVAF(3, 80) = 0.32,

p = .81; η2 = .01

F(3, 81) = 0.29, p = .84; η2 = .01

F(3, 80) = 1.04, p = .38; η2 = .04

Ergebnisse Korrelation t: -.05; p = .29 t: -.05; p = .27 t: -.06; p = .22

168

Weiter wurde die Geschwindigkeit an Stellen mit ausgeschilderter Geschwindigkeitsbegrenzung untersucht. Dazu wurde zunächst die Geschwindigkeit am Schild gemessen und daraus die prozentuale Überschreitung berechnet2.

Insgesamt ist festzustellen, dass sich das Geschwindigkeitsverhal-ten auf Autobahnen nicht nennenswert zwischen den verschiedenen Altersgruppen unterscheidet. Aus dem negativen Vorzeichen der – nicht-signifikanten – Korrelationskoeffizienten ist lediglich eine Ten-denz zu langsamerem Fahren, bzw. zu geringeren Geschwindigkeits-überschreitungen bei Älteren festzustellen.

In Anlehnung an die Auswertung der Stadtfahrten wurden auch für die Autobahnfahrten die Schulterblicke näher analysiert. Diese wurden getrennt nach Ausschervorgängen und dem Einfahren auf die Auto-bahn aufgenommen und für die statistische Auswertung an der Anzahl der Ausschervorgänge und der Einfahrten relativiert (Tabelle 12). Für die in Abbildung 12 dargestellten Ergebnisse wurde die maximale An-

2 Grundlage der Berechnung der Überschreitung bei Aufhebung der Geschwindigkeitsbegrenzung war die geltende Richtgeschwindigkeit von 130 km/h.

Abbildung 12: Anteil derjenigen Situationen, in denen ein Schulterblick tatsächlich durchgeführt wurde an allen Situationen, in denen ein Schulterblick notwendig war (Ausscheren und Einfahren). Darstellung als Boxplot, getrennt nach Altersgruppen.

169

zahl der Schulterblicke pro Situation auf eins normiert. Ein Wert von 100 bedeutet, dass für alle Situationen mit notwendigem Schulterblick dieser auch durchgeführt wurde.

Da die Werte nicht normalverteilt waren, wurden die Daten mit dem Kruskal-Wallis-Test ausgewertet. Dieser ergab höchst signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen. Einzelvergleiche zwischen den einzelnen Altersgruppen mit dem Mann-Whitney-Test ergaben, dass alle älteren Versuchsgruppen überzufällig weniger Schulterblicke durchführten als die Vergleichsgruppe (p < .01). Dies gilt auch für die Gruppe der jüngeren Alten im Vergleich zu den beiden älteren Alters-gruppen (p < .05). Zwischen den beiden Altersgruppen 70 bis 74 Jahre und ab 75 Jahre zeigen sich keine Unterschiede.

Tabelle 11: Autobahnabschnitte II und III (letztes Zeichen): Prozentuale Geschwindig-keitsüberschreitung an Verkehrszeichen; Unterschiede zwischen Altersgruppen und Korrelation mit dem kalendarischen Alter

Verkehrszeichen (km/h)

130 100Aufhebung Tem-

po 100130

Alters-gruppe

M (SD) M (SD) M (SD) M (SD)

bis 55 -4.9 (8.9) 7.8 (10.7) -16.0 (8.9) -12.3 (12.8)

64 bis 69 -9.1 (12.9) 1.3 (12.6) -20.5 (9.7) -12.4 (11.6)

70 bis 74 -12.9 (9.8) -.4 (10.7) -21.7 (8.6) -18.8 (10.9)

ab 75 -9.5 (12.6) 3.0 (18.0) -22.2 (6.8) -9.2 (11.5)

Ergebnis-se ANO-VA

F(3, 80) = 1.70, p = .17; η2 = .06

F(3, 81) = 1.69, p = .18; η2 = .06

F(3, 80) = 1.81, p = .15; η2 = .06

F(3, 76) = 2.00, p = .12; η2 = .07

Ergeb-nisse Korrela-tion

t: -.16; p < .05 t: -.16; p < .05 t: -.12; p = .06 t: -.36; p = .36

Des Weiteren wurde die durchschnittliche Anzahl der Spiegelblicke (sowohl Innen- als auch Außenspiegel) getrennt nach Ausschervor-gängen und Einschervorgängen berechnet und statistisch ausgewer-tet (siehe Tabelle 12). Die statistische Auswertung ergab keine sig-nifikanten Unterschiede für die Spiegelbenutzung beim Ausscheren (KW-Test, p = .93), aber signifikante Unterschiede für die Spiegelnut-

170

zung beim Einscheren (KW-Test, p < .05). Diese Unterschiede wurden weiter auf Unterschiede zwischen den einzelnen Altersgruppen un-tersucht (Mann-Whitney-U-Test). Es zeigte sich, dass die Vergleichs-gruppe signifikant mehr Spiegelblicke beim Einscheren aufwies als alle Versuchsgruppen (p <  .05). Unterschiede innerhalb der Gruppe der älteren Versuchsgruppen waren nicht signifikant.

Tabelle 12: Anzahl der Spiegelblicke beim Einscheren und Ausscheren je Altersgrup-pe

Ausscheren Einscheren

Alter (Jahre) M SD M SD

bis 55 2.9 1.5 2.0 0.7

64 bis 69 3.0 1.7 1.5 0.6

70 bis 74 2.6 0.9 1.4 0.7

ab 75 2.7 1.3 1.2 1.0

Damit lässt sich festhalten, dass ältere Probanden in Situationen, in denen dies notwendig gewesen wäre, deutlich weniger oft den Schul-terblick verwendet haben als die jüngere Vergleichsgruppe. Weiter konnten Anzeichen dafür gefunden werden, dass diese fehlenden

Abbildung 13: Mittelwerte und Standardabweichung der Blickanzahl je Kilometer außerhalb von Fahrmanövern je Altersgruppe

171

Schulterblicke nicht durch vermehrte Spiegelblicke ausgeglichen wur-den. Somit ergibt sich das Bild eines potenziell gefährlichen Blickver-haltens Älterer beim Fahren auf Autobahnen.

Schließlich wurde noch die durchschnittliche Blickhäufigkeit je Kilo-meter außerhalb von Fahrmanövern wie Überholen oder Aus- und Einfahren ausgewertet. Dies beinhaltete alle Spiegelblicke, Blicke zu den Armaturen und – sofern außerhalb von Fahrmanövern geschehen – Schulterblicke. Laut KS-Test erfüllte die Variable gerade noch die Kriterien für eine Normalverteilung, während die Analyse der Schiefe eine höchst signifikante rechtsschiefe Verteilung anzeigte. Die Berech-nungen von Unterschieden erfolgen daher sowohl mit einer Varianz-analyse mit der Korrektur nach Welch als auch mit dem nicht-parame-trischen Kruskal-Wallis-Test.

Die statistische Analyse ergab sowohl für die Analyse mit der Vari-anzanalyse als auch für die Analyse mit dem Kruskal-Wallis-Test hoch signifikante Unterschiede zwischen den Altersgruppen (ANOVA: F(3, 83) = 6.40, p < .01; η2 = .19; KW-Test: p < .01). Die Post-hoc-Tests der ANOVA zeigten mit der Korrektur nach Games-Howell hoch signi-fikante Unterschiede zwischen der Vergleichsgruppe und den beiden ältesten Gruppen (p < .01) sowie zwischen der jüngsten Gruppe älte-rer Fahrer und der ältesten Gruppe älterer Fahrer (p < .05).

4.3 Zusammenhang zwischen Leistung im Labor und dem Fahrer- und Fahrverhalten

Zunächst wurden aus den Befunden zum Verhalten diejenigen Va-riablen ausgewählt, die für die weitere statistische Auswertung mit logistischen oder mit linearen Regressionsanalysen geeignet waren. Dazu wurden das Blickverhalten in Situation Ia und die maximale Ge-schwindigkeit auf dem letzten Autobahnabschnitt in Rückrichtung ausgewählt. Bei beiden Variablen zeigten sich deskriptiv theoretisch begründbare Alterseffekte, die jedoch nicht signifikant waren. Dies wurde als Hinweis darauf gedeutet, dass neben dem kalendarischen Alter auch andere Variablen – und diese möglicherweise sogar bes-ser – als Prädiktoren geeignet sein könnten.

Als Prädiktoren für oben beschriebene Aspekte des Fahrverhaltens wurden das kalendarische Alter sowie folgende Variablen der Labor-tests verwendet (siehe auch Kapitel „Ergebnisse der Labortests“):

172

• Die logarithmierte Tagessehschärfe (logVISUS100sim)• Das Gesichtsfeld (ANGpp)• Die selektive Aufmerksamkeit (UFOVsa)• Die mittlere Reaktionszeit bei vorhandenem Zielreiz im Test „Visu-

elle Suche“ (VisSuRTZiel)• Der Anteil der Auslasser im Test „Visuelle Suche“ (VisSuER)

Zur Beschreibung des Blickverhaltens in Situation Ia (Querung einer Hauptstraße, siehe Abbildung 6) waren die statistischen Kennzahlen der mit oben genannten Variablen gerechneten logistischen Regres-sion nicht zufriedenstellend. So verfehlte der Omnibus-Test, der die Nullhypothese testet, dass die gleichen Werte ohne die Modellvari-ablen gefunden werden, deutlich die Signifikanzgrenze (χ2 (6) = 5.56, p = .47). Auch die Pseudo-R-Statistiken, die bei einem Wert nahe eins einen guten Modell-Fit anzeigen, fielen sehr niedrig aus und deute-ten damit auf einen schlechten Modell-fit hin: Cox & Snellen Pseudo R = .09 und Nagelkerkes R-Quadrat = .1. Dagegen wurde der Homer-Lemeshow-Test nicht signifikant, was auf einen guten Modell-Fit hin-deutet (χ2 (8) = 7.53, p = .48).

Diese Kriterien können nur in ihrer Gesamtheit bewertet werden. Ver-gleicht man die Klassifizierungsergebnisse vor und nach der Regres-sion, verbessert sich die Vorhersage lediglich um etwa 4 Prozent von 73,7 auf 77,2 Prozent richtig klassifizierter Fälle. Nach diesen Gütekri-terien ist es nicht überraschend, dass keine der in der Gleichung ver-wendeten Variablen einen signifikanten Beitrag liefert. Es muss also festgestellt werden, dass es nicht gelungen ist, das Blickverhalten an einer komplexen Kreuzung über das kalendarische oder das funktio-nale Alter zu erklären.

Tabelle 13: Pearson-Korrelationen zwischen der maximalen Geschwindigkeit auf einem Autobahnabschnitt, den Blicken je Kilometer und verschiedenen Prädiktoren

Variable V max Blicke je km

Kalenda- risches Alter

Gesichtsfeld (Test PP)

V max Abschnitt 0811 — .04 .04 .31 *

Blicke je Kilometer .04 —

Kalendarisches Alter .04 -.39 * — -.47 **

Gesichtsfeld (Test PP) .31 * .13 -.47 ** —

Visus 100 (log.) .28 * .20 -.42 ** .21

UFOV SA -.15 -.34 * .37 ** -.41 **

173

Variable V max Blicke je km

Kalenda- risches Alter

Gesichtsfeld (Test PP)

MW RT (visuelle Suche)

-.22 -.17 .43 ** -.43 **

Anteil Misses (visuelle Suche)

-.12 -.08 .34 * -.44 **

Anmerkungen: *p<.05. **p<.01.

Vor einer Berechnung des Zusammenhangs zwischen der maximalen Geschwindigkeit auf einem Autobahnstück mit den oben genannten Prädiktoren wurde deren Verteilung geprüft. Dazu wurden zunächst nur diejenigen Fälle ausgewählt, für die bei allen Variablen gültige Werte vorlagen. Aufgrund verschiedener Datenausfälle und der Mess-wiederholung über alle Prädiktoren ergab dies eine Netto-Stichprobe von 49 Fällen. Die Analyse dieser Fälle ergab, dass sich die Verringe-rung der Anzahl der Probanden etwa gleich über alle Altersgruppen verteilt.

Obwohl die Aussagekraft der Berechnung aufgrund der verminderten Stichprobe deutlich geschwächt wird, soll auch für diese Variable im Folgenden der Versuch unternommen werden, sie mit Hilfe der oben genannten Variablengruppe zu beschreiben. Die in Tabelle 13 und in Tabelle 14 dargestellten Ergebnisse beziehen sich auf diese vermin-derte Stichprobengröße und sind entsprechend vorsichtig zu interpre-tieren.

Tabelle 14: Ergebnisse der linearen Regressionsanalyse auf die maximale Geschwin-digkeit auf dem letzten Autobahnabschnitt und ausgewählten Prädiktoren

Variable B SE B β t p

Konstante 101.25 36.07 2.81 .01

Kalendarisches Alter .17 .20 .17 .83 .41

Visus 100 (log.) 11.65 15.98 .12 .73 .47

Gesichtsfeld (Test PP) .20 .11 .31 1.80 .08

UFOV SA -.01 .03 -.04 -.24 .81

MW RT Test visuelle Suche

-8.66 17.90 -.10 -.48 .63

Anteil Misses Test visuelle Suche

.01 .30 .01 .04 .97

Anmerkungen: R2 =.12, Korrigiertes R2 =-.01, F(6,42) = 0.92, p = n.s.

174

Mit Ausnahme des Alters zeigte der KS-Test für alle Variablen keine statistisch signifikante Abweichung von der Annahme der Normalver-teilung an. Die Analyse von Kurtosis und Schiefe ergab neben den Abweichungen beim kalendarischen Alter eine signifikant linksschiefe Verteilung für das Gesichtsfeld und signifikant rechtsschiefe Verteilun-gen für UFOV SA und die Anteile der Misses bei der visuellen Suche. Da die lineare Regression jedoch relativ robust gegenüber geringen Verletzungen der Annahme der Normalverteilung ist, wird dieses Ver-fahren dennoch hier angewendet.

Vor der Beschreibung der Regressionsanalysen sind die Korrelationen zwischen den unabhängigen Variablen maximale Geschwindigkeit und Blicken je Kilometer und ausgewählten Prädiktoren in Tabelle 13 dargestellt.

Deutlich erkennbar sind die hohen Korrelationen zwischen kalenda-rischem Alter und der im Labor erhobenen Leistungsfähigkeit. Auch zwischen den Prädiktoren sind die Korrelation bedeutend. Während das Gesichtsfeld und Visus mit der Geschwindigkeit korrelieren, erga-ben sich keine weiteren Zusammenhänge mit den Prädiktoren.

Die Regression für die maximale Geschwindigkeit auf dem Autobahn-stück am Ende der Versuchsfahrt ergab ebenfalls keine zufriedenstel-lenden Ergebnisse. Diese Variable war normalverteilt, weswegen eine lineare Regression – mit den gleichen Prädiktoren und der Methode Einschluss – gerechnet wurde. Weiter wurde geprüft, ob Hinweise auf Multikollinearität der Prädiktoren vorlagen. Dies war nicht der Fall, so waren alle Toleranzwerte weit über 0,1 und alle VIF-Werte weit unter 10 (Kriterien nach Menard, 1995 und Myers, 1990, beide zitiert nach Field, 2009). Die Regression an sich wurde nicht signifikant (Tabel-le 14).

Trotz des insgesamt nicht signifikanten Ergebnisses ist die annähern-de Signifikanz der Variablen Gesichtsfeld interessant. Das Vorzeichen ist so zu interpretieren, dass Personen mit einem weiten Gesichtsfeld auch schneller gefahren sind. Um diesen Zusammenhang näher zu untersuchen, wurde eine weitere lineare Regression nur mit dem ka-lendarischen Alter und dem Gesichtsfeld gerechnet. Auch aufgrund der damit verbundenen Erhöhung der Stichprobe von 49 auf 72 Fälle leistet die Variable Gesichtsfeld nun einen signifikanten Beitrag zur Erklärung der Geschwindigkeit (Tabelle 15).

175

In einem weiteren Schritt wurde das Blickverhalten auf der Autobahn in einer Regressionsanalyse untersucht. Hierzu wurde als unabhän-gige Variable die gemittelte Anzahl aller Blicke je Kilometer Gerade-ausfahrt ohne Manöver berechnet. Als Blick zählten Blicke in den Au-ßenspiegel, den Innenspiegel, das Armaturenbrett (Tachometer) und – sofern außerhalb von Manövern vorhanden  – Schulterblicke. Die Korrelationskoeffizienten zwischen den Blicken und den Prädiktoren ist in Tabelle 13 dargestellt. Die Ergebnisse der Regression sind in Tabelle 16 dargestellt.

Tabelle 15: Ergebnisse der linearen Regressionsanalyse auf die maximale Geschwin-digkeit auf dem letzten Autobahnabschnitt, das kalendarische Alter und Gesichtsfeld

Variable B SE B β t p

Konstante 89.64 18.26 4.91 <.001

Kalendarisches Alter .06 0.13 .06 .47 .64

Gesichtsfeld (Test PP) .22 0.08 .34 2.58 .01

Anmerkungen: R2 =.10, Korrigiertes R2 =-.07, F(2,71) = 3.75, p <.05.

Tabelle 16: Ergebnisse der linearen Regressionsanalyse auf die gemittelte Anzahl der Überwachungsblicke je Kilometer außerhalb von Manövern auf der Autobahn und ausgewählten Prädiktoren

Variable B SE B β t p

Konstante 6.53 2.67 2.45 .02

Kalendarisches Alter -0.04 0.01 -.42 -2.34 .02

Visus 100 (log.) -0.35 1.18 -.04 -0.29 .77

Gesichtsfeld (Test PP) -0.01 0.01 -.13 -0.86 .39

UFOV SA 0.00 0.00 -.31 -1.99 .05

MW RT Test visuelle Suche

-0.54 1.32 -.07 -0.41 .68

Anteil Misses Test visuelle Suche

0.03 0.02 .26 1.45 .15

Anmerkungen: R2 =.25, Korrigiertes R2 =-.14, F(6,43) = 2.36, p <.05.

Wie anhand der signifikanten Unterschiede zwischen den Altersgrup-pen bereits zu vermuten war, zeigt das kalendarische Alter einen sig-nifikanten Einfluss bei der Vorhersage des Blickverhaltens in den be-trachteten Situationen. Zusätzlich zum kalendarischen Alter zeigt die Variable selektive Aufmerksamkeit des UFOV-Tests einen annähernd signifikanten Beitrag (p=.05).

176

5 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse

Die Auswertung der Daten zeigte deutliche Unterschiede zwischen den Altersgruppen. Dies betrifft in erster Linie die Laborversuche, aber auch in geringerem Ausmaß die Verhaltensdaten. Bei den Laborver-suchen schnitten ältere Altersgruppen im Durchschnitt schlechter ab als die jüngeren Altersgruppen, meist ergaben sich zudem signifikante Korrelationen zwischen Leistungswert und kalendarischem Alter. Auf-grund zunehmender Varianz der Werte mit dem Alter sind die Kor-relationen zwar signifikant, aber nicht sehr hoch. Damit ist es nicht möglich, reliabel vom kalendarischen Alter auf die Leistungsfähigkeit zu schließen.

Hinsichtlich der Verhaltensdaten beim Fahren zeigten sich insbeson-dere beim Blickverhalten deutlich gefährliche Tendenzen bei den äl-teren Altersgruppen. Überraschenderweise konnten keine Hinweise auf eine altersbedingte Geschwindigkeitsanpassung im Sinne einer Kompensationsstrategie gefunden werden. Dies könnte auf eine Posi-tivauswahl der Stichprobe durch Selbstselektion hindeuten.

Nach Analyse von altersbedingten Unterschieden wurde untersucht, inwieweit es möglich ist, Fahr- und Fahrerverhalten anhand der sen-sorischen, kognitiven und motorischen Leistungsfähigkeit vorherzu-sagen. Das kalendarische Alter wurde als Vergleichsvariable in die Analysen mit einbezogen.

Insgesamt erbrachten die hier dargestellten Analysen eine sehr gerin-ge Varianzaufklärung. Auch war keine klare Präferenz zwischen ka-lendarischem versus funktionalem Alter zur erkennen. So zeigte sich das kalendarische Alter bei der Erklärung des Blickverhaltens auf Au-tobahnen als bester Prädiktor. Die selektive Aufmerksamkeit leistete dagegen einen geringeren Beitrag.

Zur Erklärung der statistischen Varianz des Geschwindigkeitsverhal-tens auf einem Autobahnabschnitt am Ende der Versuchsfahrt konnte die Variable Gesichtsfeld einen signifikanten Beitrag leisten. So fuhren Probanden mit einem kleineren Gesichtsfeld langsamer. Interessant ist, dass diese Variable zwar hoch mit dem kalendarischen Alter kor-reliert, letzteres aber keinen signifikanten Beitrag liefern konnte. Somit konnte in diesem Fall gezeigt werden, dass das kalendarische Alter nicht alleine als Prädiktor des Verhaltens geeignet ist.

177

Bei dieser Analyse wurden jedoch auch Schwächen im Datensatz deutlich. So zeigte sich, dass die Anzahl der Fälle in den Analysen deutlich mit zunehmender Anzahl der ausgewählten Prädiktoren ab-nimmt. Ursache ist die abhängige Natur des Datensatzes, die in Kom-bination mit Datenausfällen einzelner Variablen zu einer Verringerung der Fallzahlen führt. Am Beispiel des Geschwindigkeitsverhaltens konnte allerdings gezeigt werden, dass die Verringerung der Stichpro-be nicht zu einer Umkehrung von Effekten führt.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass es nur in sehr begrenz-tem Ausmaß möglich ist, Verhalten anhand des kalendarischen Alters und der altersabhängigen Testleistung vorherzusagen. Selbst bei ver-einzelt vorliegenden Korrelationen zwischen Verhalten und Prädiktor sind diese Zusammenhänge nicht stark genug, um das Verhalten mit hinreichender Genauigkeit vorherzusagen.

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Trainierbarkeit der Fahrkompetenz im Alter

Sebastian Poschadel

1 Einleitung

Mit der Zunahme der Anzahl und des Anteils älterer Fahrer im Straßen-verkehr (z. B. Infas & DLR, 2010) zeichnet sich bereits in den letzten 10 Jahren die Tendenz ab, dass die absolute Anzahl der älteren Fahrer als Hauptverursacher1 von Unfällen mit Personenschäden zunimmt – dies allerdings auf niedrigem Niveau. Entgegen dem allgemeinen Trend der Abnahme der Anzahl der Unfälle mit Personenschaden und entspre-chend bei den Hauptverursachern dieser Unfälle ist seit dem Jahr 2000 einzig in der Gruppe der älteren Fahrer eine Tendenz der länger-fristigen Zunahme zu erkennen (Abbildung 1).

1 „Der Hauptverursacher (1. Beteiligter) ist der Beteiligte, der nach Einschätzung der Polizei die Hauptschuld am Unfall trägt. Beteiligte an Alleinunfällen gelten immer als Hauptverursacher“ (Sta-tistisches Bundesamt, 2012b, S. 12). Insofern ist die Teilgruppe der „Hauptverursacher“ innerhalb der Gruppe aller Unfallbeteiligten die Gruppe, auf die Präventionen besonders abzielen sollten.

Abbildung 1: Hauptverursacher der Unfälle mit Personenschaden nach Alter 2000-2011 (Quelle: Statistisches Bundesamt 2012b, Tabelle 1.3 (Auszug))

182

Bei den älteren Fahrern sind in 2011 vor allem Fahrer auffällig, die äl-ter als 75 Jahre sind: In der Altersgruppe 65 Jahre und älter entfallen 12.021 Unfälle der insgesamt 28.293 Unfälle als Hauptverursacher mit Personenschaden auf die Altersgruppe der über 75-Jährigen, das ent-spricht einem Anteil von 42,5 % (Daten aus Statistisches Bundesamt 2012a, S. 124).

Da sich auf Grund des demografischen Wandels das Problem der Un-fallverursachung durch ältere Fahrer in den nächsten Jahren weiter verschärfen könnte und da zugleich bekannt ist, dass mit zunehmen-dem Alter auch fahrrelevante Fähigkeiten nachlassen (vgl. Schlag, in diesem Band), wird in diesem Kapitel der Frage nachgegangen, ob sich fahrrelevante Leistungen bei älteren Fahrern kompensieren las-sen und ob sich die Fahrfähigkeit im Alter durch Training erhalten und sogar wiedererlangen lässt, um zukünftig das Unfallrisiko älterer Fah-rer zu senken.

„Zur Vereinheitlichung der unterschiedlichen Begriffe, die in der Lite-ratur verwendet wurden (z. B. Fahrleistung (performance), Fahrbefä-higung, Fahrvermögen, Fahrfähigkeit), schlagen wir „Fahrkompetenz“ vor (Poschadel et al., 2012b, S. 15). Damit ist die längerfristige Kom-petenz gemeint, sicher Auto fahren zu können. Der Begriff wurde von Burgard (2005) eingeführt.

2 Alterskritische Funktionsveränderungen2 in Bezug auf die Fahrkompetenz

In diesem Abschnitt wird zunächst ein kurzer Überblick darüber gege-ben, welche fahrrelevanten geistigen Funktionen sich altersbegleitend verändern und welche Auswirkungen diese Veränderungen auf die Fahrkompetenz haben können.

Unterschieden wird allgemein zwischen der fluiden und kristallinen Intelligenz. Diese Unterscheidung geht auf eine Theorie von Catell (1963) zurück, mit der auch die kognitiven Dimensionen des Alterns beschrieben werden können. Eine kurze, zusammenfassende Be-schreibung über die Entwicklung kristalliner und fluider Fähigkeiten über die Lebensspanne liefern Van Gerven et al. (2002, S. 88):

2 Einen umfassenden Überblick über alterskorrelierte Leistungsveränderungen, Kompensations-möglichkeiten und Leistungspotenziale beim Autofahrern geben Poschadel et al., 2012a.

183

„Cognitive aging entails both growth and decline. Growth concerns the so-called crystallized abilities (Horn & Cattell, 1967; Rabbitt, 1993), which emerge from a lifelong accumulation of knowledge and experi-ence. Decline, on the other hand, refers to fluid abilities, which relate to diverse aspects of working memory“.

Den kristallinen Fähigkeiten werden in erster Linie Kulturtechniken zu-geordnet wie z. B. Wortverständnis, Lesen, Schreiben und Rechnen (vgl. Oswald, 2004, S. 148; Horn & Catell, 1967, S. 110). Horn & Catell selbst definieren kristalline Fähigkeiten wie folgt: „Crystallized intelli-gence indicates the extend to which one has appropriated the collec-tive intelligence of his culture for his own use“ (Horn & Catell, 1967, S. 111). Sie zeichnen sich also durch lebenslange Summierung von Erfahrungen und Wissen aus, die bis ins hohe Alter fortbesteht.

Den fluiden Fähigkeiten werden in erster Linie Fähigkeiten zugerech-net, die stark von der Leistungsfähigkeit des Arbeitsgedächtnisses abhängen. „… they [fluide Fähigkeiten, Anm. d. Verf.] indicate abibility to maintain span of immediate awareness; they involve concept for-mation and attainment, reasoning and abstracting. That is, in gene-ral, the tasks which define Gf [fluid intelligence, Anm. d. Verf.] require intelligence as this concept is usually defined“ (Horn & Catell, 1967, S. 109).

In vielen Experimenten der Neurowissenschaften in den nachfolgen-den Jahrzehnten zeigen Ältere bei Aufgaben zu fluiden Fähigkeiten insgesamt langsamere Reaktionszeiten und vor allem auch eine er-höhte Fehlerrate bei Aufgaben, die sich auf Wahrnehmungsgeschwin-digkeiten, den Arbeitsspeicher (working memory), das Verfolgen be-stimmter Reize, Entscheidungsfindung bei verschiedenen Reizen oder auf Multi-Tasking-Aufgaben beziehen: „Older adults typically perform more poorly than young adults in terms of both response latency and accuracy on tasks as diverse as perceptual speed, working memory, tracking, decision making, explicit memory and multiple task proces-sing“ (Churchill et al., 2002, S. 941). Die Abnahme fluider Fähigkeiten zeigt sich für viele verschiedene Bereiche über die gesamte Lebens-spanne (vgl. Park et al., 2001).

Dementsprechend nehmen auch fluide kognitive Funktionen, die für das Autofahren als besonders wichtig angenommen werden, im Zuge des natürlichen Alterungsprozesses im Laufe des Lebens bei

184

jedem Menschen ab. Trotzdem lassen sich auf Basis des kalendari-schen Alters keine individuellen Vorhersagen über die persönlichen Funktionsveränderungen treffen. Viele Studien belegen eine hohe Variabilität des individuellen Leistungsvermögens für das Auto-fahren bei gleichem kalendarischem Alter (z.  B. Becker & Albrecht, 2003).

Manche dieser abnehmenden Fähigkeiten lassen sich (teilweise) kom-pensieren, manche Fähigkeiten lassen sich sogar trainieren, um sie (wie-der) zu erlangen. Das sind vor allem die sogenannten „exekutiven Funk-tionen“. Neuere Studien weisen allerdings darauf hin, dass allein eine kompensatorische, strategische und taktische Anpassung des Fahrstils älterer Fahrer nicht ausreichend ist, um den Anstieg des Unfallrisikos mit zunehmendem Alter wirklich zu stoppen (Ross et al., 2009).

Für das Autofahren sind die exekutiven Aufmerksamkeitsfunktio-nen von besonderer Bedeutung. Damit sind übergeordnete kogniti-ve Funktionen gemeint, die der zielgerichteten Handlungssteuerung in einer bestimmten Situation (z. B. Autofahren) dienen. Viele dieser übergeordneten exekutiven Funktionen werden im präfrontalen und frontalen Kortex realisiert. Dessen volle Leistungsfähigkeit ist erst im Alter zwischen 30 und 40 Jahren erreicht. Allerdings unterliegt er auch als erste Gehirnregion wieder der Alterung und dem Abbau (vgl. Craik & Bialystok, 2006, S. 132; S. 134). Man muss davon ausgehen, dass grundlegende Hirnfunktionen schon in einem Alter ab 40 Jahren im präfrontalen Kortex wieder abnehmen (ausführliche Darstellung in Po-schadel et al., 2012a, S. 15 ff.), teilweise sogar früher (vgl. Park et al., 2001, S. 153).

Neben den natürlichen Alterungsprozessen spielen auch pathologische Formen mit zunehmendem Alter eine größere Rolle. Oft ist es schwer, zwischen „gesundem Altern“ und „pathologischem Altern“ zu unter-scheiden. Vor allem im Bereich der Demenzen ist diese Unterscheidung im Anfangsstadium kaum zu treffen (z. B. Nordlund et al., 2005).

Trotz nicht genauer Vorhersagbarkeit und hoher individueller Variabili-tät können in Bezug auf das Nachlassen fahrrelevanter Funktionen bei zunehmendem Alter doch einige Aussagen getroffen werden. Heraus-gestellt werden drei zentrale Bereiche: Die visuelle Wahrnehmung, die Leistungen des Arbeitsgedächtnisses und Probleme bei Mehrfachtä-tigkeiten.

185

2.1 Visuelle Wahrnehmung und Verarbeitung visueller Informationen

Das Älterwerden ist gekennzeichnet durch eine Abnahme vieler visu-eller und visuell-kognitiver Funktionen (umfassender Überblick s. Hae-gerstrom-Portnoy et al., 1999). Nicht nur der Visus lässt nach (was durch geeignete Sehhilfen weitgehend ausgeglichen werden kann), auch das Stereosehen, die schnelle Gewöhnung an wechselnde Licht-verhältnisse, das Farbsehen und das Gesichtsfeld werden schlechter, die Blendempfindlichkeit nimmt zu (was für das Sehen bei Dunkelheit bei Gegenlicht nachteilig ist).

Vor allem ab dem Alter von 70 Jahren nehmen diese visuellen Funkti-onen in besonderem Maße ab (s. ebd.). Sie lassen sich teilweise nicht kompensieren, wie z. B. die mit dem Alter zunehmende Blendemp-findlichkeit, die das Fahren in der Dunkelheit im Alter erschwert.

Bezogen auf visuell-kognitive Funktionen nimmt vor allem das visuelle Aufmerksamkeitsfeld („Useful Field of View“, UFOV) mit zunehmen-dem Alter ab und verringert sich. Die Abnahme geht mit einem erhöh-ten Unfallrisiko einher (Ball et al., 1993; Rubin et al., 2007).

Aber auch die Fähigkeit, bestimmte optische Reize aus einer opti-schen Umgebung mit vielen verschiedenen Reizen zu extrahieren, lässt mit dem Alter nach. Das Suchen von visuellen Zielreizen wird mit dem Alter an strengender und wird von einer älteren Versuchsgruppe auch nur mit mehr Fehlern bewältigt als von einer jüngeren Vergleichs-gruppe (Wild-Wall et al., 2007). Um wichtige Schlüsselreize aus einer visuellen Umgebung fehlerfrei zu identifizieren, wird mit zunehmen-dem Alter mehr Zeit gebraucht und es werden gleichzeitig mehr Fehler gemacht als bei jüngeren Altersgruppen.

Auch hier gibt es unmittelbare Berührungspunkte zur Fahraufga-be: In visuell unstrukturierten Umgebungen mit vielen verschie-denen optischen Reizen (z.  B. innerstädtische Kreuzungen mit Ge-schäftsbesatz) brauchen ältere Fahrer deshalb im Vergleich zu jüngeren Altersgruppen vermutlich ebenfalls länger, um die rele-vanten Informationen aus der Umwelt zu extrahieren. Es ist zu ver-muten, dass die Extraktion der (für die aktuelle Fahraufgabe) rele-vanten Informationen zudem fehlerbehafteter ist als bei jüngeren Fahrern.

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2.2 Inhibition und Arbeitsspeicher (working memory)

Zwei weitere zentrale exekutive Fähigkeiten, die sich ebenfalls unmit-telbar auf das Autofahren auswirken, werden mit dem Alter schlechter: die Inhibition und der Arbeits(gedächtnis-)speicher.

Mit Inhibition ist die Unterdrückung irrelevanter Reize oder falscher Reaktionen in einer bestimmten Situation gemeint. Wenn es darum geht, in einer Umgebung mit vielen Reizen nur auf genau die Reize zu reagieren, die für die Bewältigung einer bestimmten Situation wichtig bzw. bedeutungsvoll sind, haben Ältere zunehmend Schwierigkeiten, irrelevante Reize der Umgebung einfach zu übergehen. Sie verwenden mehr Zeit darauf zu entscheiden, ob ein Reiz relevant oder irrelevant für eine Situation bzw. eine Handlungsausführung ist oder nicht. Älte-re wenden (im Labor) irrelevanten Reizen viel mehr Aufmerksamkeit zu als jüngere Altersgruppen. Sie verarbeiten diese irrelevanten Rei-ze genauso intensiv wie relevante Reize. Jüngere Versuchsteilnehmer zeigen diese „Fehlverarbeitung“ nicht. Sie wenden den irrelevanten Reizen nur wenig Aufmerksamkeit zu und verarbeiten die relevanten Reize sehr stark (Hahn et al., 2009). Der Einfluss auf die Fahraufgabe leuchtet unmittelbar ein, wenn diese Ergebnisse auf eine Fahrsituation übertragen werden: Während jüngere Fahrer in komplexen Situatio-nen relevante Reize stärker verarbeiten und irrelevante Reize dabei außer Acht lassen (z. B. Werbung, Leuchtreklame usw.), müssen älte-re Fahrer erst entscheiden, ob diese Reize in der aktuellen Situation eine Bedeutung haben. Sie bewältigen die Fahraufgabe auf Basis der beschriebenen Laborbefunde in diesen Situationen tendenziell lang-samer und vor allem unter Zeitdruck fehleranfälliger im Vergleich mit jüngeren Altersgruppen.

Diese Unterschiede in der Reizverarbeitung können auch mit dem Nachlassen des sogenannten „Arbeitsspeichers“ (working memory) zusammenhängen. Unter Arbeitsgedächtnis versteht man die Menge an kognitiven Ressourcen, die zur Verfügung steht, um Informationen im Gedächtnis zu halten, während gleichzeitig Informationen für ande-re kognitive Aufgaben verarbeitet werden3. Die Verschlechterung des Arbeitsspeichers mit zunehmendem Alter im Vergleich zu jüngeren Al-

3 “[…] working memory, intended as the amount of cognitive resources available to store informati-on while at the same time processing incoming or recently accessed information for use in other cognitive tasks […]“ (Borella et al., 2008, S. 33).

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tersgruppen wurde in vielen Untersuchungen belegt (vgl. Borella et al., 2008, S. 33).

Der Arbeitsspeicher wird heute als übergreifende kognitive Ressource angesehen, die mit dem Alter nachlässt und einen entscheidenden Einfluss auf Arbeitsgeschwindigkeit und Arbeitsgenauigkeit bei der Verarbeitung von Informationen zur Handlungssteuerung hat. Auch hier ist unmittelbar ersichtlich, dass ein Nachlassen der Funktion des Arbeitsgedächtnisses Auswirkungen auf die Bewältigung der Fahrauf-gabe hat: Weil (in komplexen Situationen) ständig Informationen der Umwelt (z. B. an einer belebten Kreuzung beim Abbiegen) verarbeitet werden müssen, während aber gleichzeitig auch immer neue Infor-mationen durch das visuelle System hinzukommen, die ebenfalls ver-arbeitet werden müssen, haben ältere Fahrer mehr Probleme bei der Bewältigung solcher komplexen Situationen.

2.3 Mehrfachtätigkeit

Eine wichtige Randbedingung, die die situative kognitive Leistungsfä-higkeit älterer Menschen reduziert, ist Mehrfachtätigkeit. Die gegen-über jüngeren Altersgruppen reduzierte Leistungsfähigkeit bei Mehr-fachtätigkeiten gehört zu den am besten belegten Altersdefiziten, wie z. B. Verhaeghen et al., 2003, in einer Metaanalyse zeigen.

Probleme treten vor allen dann auf, wenn verschiedene Aufgaben gleichzeitig durchgeführt werden, v. a. das gleichzeitige Durchführen von sensomotorischen Aufgaben und kognitiven Aufgaben (z. B. Li & Lindenberger, 2002) oder bei Aufgaben zur geteilten Aufmerksamkeit (z. B. Fernandes et al., 2006), bei denen ältere Teilnehmer im Vergleich mit jüngeren auf der Verhaltensebene generell signifikant schlechte-re Erkennungsraten und einen Trend zu langsameren Reaktionszeiten zeigen. Eine typische Verquickung verschiedener kognitiver Aufgabe-stellungen beim Autofahren ist etwa das „Tracking“ (ein Fahrzeug in der Spur halten) und die gleichzeitige Aufnahme und Verarbeitung/Bewertung anderer visueller Informationen (z.  B. Informationen von Straßenschildern, Umweltreizen, Verkehrsereignissen im weiteren Sin-ne, Gesprächen im Fahrzeug). Autofahren ist also per se eine Multitas-kingaufgabe (vgl. Groeger, 2000; Thompson et al., 2012).

Die vermehrten Defizite bei älteren Fahrern durch Multitasking zeigen sich jedoch nicht nur im Labor, sondern auch bei Fahrten in Fahr-

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zeugen, wie Hancock et al. (2003) zeigen konnten. Ältere Fahrer (im Durchschnitt 60 Jahre) machten bei gleicher (induzierter) Ablenkung im Fahrzeug (im Versuch war es die Nutzung eines Mobiltelefons mit in-tegrierter Gedächtnisaufgabe) mehr sicherheitsrelevante Fahrfehler als die jüngere Vergleichsgruppe (im Durschnitt 30 Jahre; ebd., S. 505 ff).

In der Regel versuchen ältere Fahrer in schwierigen Situationen Multi-tasking zu minimieren, indem beispielsweise das Radio abgeschaltet wird oder Gespräche unterbrochen werden. Sollte das Multitasking aber durch die Fahraufgabe an sich bedingt sein (etwa durch eine Ver-kehrssituation, in der plötzlich auf verschiedene Reize schnell reagiert werden muss), stoßen ältere Fahrer deutlich schneller an ihre Leis-tungsgrenzen als es jüngere Fahrer tun.

2.4 Zusammenfassung alterskritischer (kognitiver) Funktionsveränderungen in Bezug zur Fahrauf-gabe

Zentrale exekutive Funktionen sowie die Sehleistung an sich (und die damit verbundenen Funktionen) werden mit zunehmendem Alter un-weigerlich schlechter. Auch bei älteren Fahrern können mit zunehmen-dem Alter zentrale exekutive fahrrelevante kognitive Funktionen beein-trächtigt sein. Schwierigkeiten ergeben sich im Vergleich zu jüngeren Fahrern vor allem dann, wenn sie in komplexen Situationen ausgeführt werden müssen, wie es beim Autofahren häufig der Fall ist. Während Einfachreaktionen und die Bewältigung von einfachen Fahraufgaben meist nur wenig beeinträchtigt sind, fällt es älteren Fahrern zuneh-mend schwer, viele Informationen in einer Fahrsituation zeitgleich zu verarbeiten und schnelle Entscheidungen zu treffen.

Auf Grundlage des kalendarischen Alters kann man allerdings keine Vorhersagen für die individuelle geistige und körperliche Fitness tref-fen, auch nicht für altersbedingte kognitive Funktionsänderungen, die das Autofahren betreffen.

3 Kompensation

In vielen Studien wurde bereits gezeigt, dass ältere Fahrer ihr Fahrver-halten ändern, um nachlassende sensorische, kognitive und motori-sche Funktionen beim Autofahren zu kompensieren. Engeln & Schlag

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(2008) geben eine aktuelle Übersicht zum Thema „Kompensations-strategien im Alter“ im Zusammenhang mit Autofahren; Poschadel et al. (2012a) haben ebenfalls Studien zum Thema Kompensation und Fahren bei älteren Fahrern systematisch ausgewertet. Im Wesentli-chen zeigen viele Studien zur Frage der Kompensation (z. B. Schlag, 1993), dass viele ältere Fahrer in Labortests erhebliche Einbußen in verschiedenen fahrrelevanten Leistungsbereichen zeigen, die sich je-doch bei Fahrten im Realverkehr nicht in diesem Maße widerspiegeln. Dementsprechend muss die Differenz zwischen erwarteter Fahrkom-petenz (auf Basis von Labortests) und beobachteter Fahrkompetenz (im Realverkehr) durch „Kompensation“ erklärt werden.

Mit Hilfe von EEGs kann darüber hinaus gezeigt werden, dass kogni-tive Defizite von Älteren auch durch eine erhöhte kognitive Anstren-gung ausgeglichen werden, sodass sich im beobachtbaren Verhal-ten nur kleinere Unterschiede zwischen Jüngeren und Älteren in der absoluten Leistung zeigen (z. B. Yordanova et al., 2004; Wild-Wall et al., 2007), obwohl auf neuronaler Ebene schon erheblich kompensiert wird. Befunde zur Kompensation auf neuronaler Ebene zeigen sich auch mit Hilfe der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und bei der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) (vgl. Park et al., 2001, S. 155).

Die bekanntesten Kompensationstrategien älterer Fahrer sind die „Entschleunigung“ und die „Vermeidung“.

Bei der „Entschleunigung“ steht dem älteren Fahrer durch langsa-meres Fahren oder längeres Warten in Fahrsituationen mehr Zeit zur Verfügung, um eine bestimmte Fahraufgabe zu bewältigen oder z. B. auch Informationen zu verarbeiten, die aus der Verkehrssituation her-vorgehen und auf die adäquat reagiert werden muss.

Bei der „Vermeidung“ werden von älteren Fahrern bestimmte Fahr-situationen von vorneherein gemieden, wie z. B. das Fahren während der Rush-Hour, Fahrten in unbekannter Umgebung oder bei Dunkel-heit oder komplexe Situationen an sich (vgl. Poschadel et al., 2012a, S. 28 ff.). Die Autoren kommen zu dem Schluss: „Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass bestehende Defizite bei einfachen Tätig-keiten oder Fahraufgaben von älteren Autofahrern gut kompensiert werden können: Entweder durch Vermeidung oder durch erhöhte An - strengung. In komplexen oder unvorhersehbaren Situationen oder

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unter Zeitdruck ist die Kompensation mit einer stark erhöhten An-strengung für Ältere verbunden, die auch zu stärkerer Ermüdung führt. Teilweise können in komplexen (Fahr-) Situationen Defizite gar nicht mehr kompensiert werden“ (Poschadel et al., 2012a, S. 41). Das glei-che Fazit ziehen auch Ross et al. (2009), die zeigen konnten, dass Kompensation allein zur Senkung des Unfallrisikos bei älteren Fahrern in realen Fahrsituationen nicht ausreicht.

4 Möglichkeiten zum Erhalt und zur zeitlichen Verlängerung der Fahrkompetenz bei älteren Fahrern

Nachdem in den vorangegangenen Abschnitten vor allem auf das Nachlassen von fahrrelevanten Fahrfähigkeiten eingegangen wur-de und im Wesentlichen der natürliche Rückgang alterskorrelierter kognitiver Funktionen beschrieben wurde, soll in den folgenden Ab-schnitten auf die Entwicklungsmöglichkeiten im Alter und die Entwick-lungsmöglichkeiten fahrrelevanter Fähigkeiten im höheren Lebensal-ter verwiesen werden. Beginnend mit einer kurzen Einführung in den gegenwärtigen Stand der Grundlagenwissenschaften zur Frage der kognitiven Plastizität wird anschließend über die Ergebnisse eines Fahrtrainings mit älteren Fahrern berichtet, in der gezielt komplexe Si-tuationen trainiert wurden, die Multitaskingfähigkeiten von den älteren Fahrern verlangten.

4.1 Kognitive Plastizität im Alter

Unter der sogenannten „kognitiven Plastizität“ versteht man im We-sentlichen das Potenzial des Gehirns, die kognitive Leistung durch Training zu erhöhen: „Cognitive plasticity is a multifaceted concept that, among other things, denotes the potential to improve perfor-mance following training“ (Jones et al., 2006, S. 865).

Während man teilweise noch bis in die 1980er Jahre davon ausge-gangen ist, kognitive „Entwicklung“ bedeute einen unumkehrbaren anhaltenden Verlust von Gehirnzellen ab der Lebensmitte (was mit dem Verlust der kognitiven Fähigkeiten gleichgesetzt wurde), war das Wortspiel „use it or lose it“ (Swaab, 1991) ein Kennzeichen für eine grundsätzliche Wende in den Neurowissenschaften. Swaab war einer

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der ersten Autoren, die darauf verwiesen, dass die Aktivierung von Neuronen im Gehirn durch eine anregende Umgebung eben gerade nicht dazu führt, dass sich Neurone verschleißen („wear and tear“), sondern das Gegenteil der Fall ist: Neuronale Aktivierung (auch durch eine stimulierende Umwelt) verbessert Reparaturmechanismen im Ge-hirn und verbessert letztendlich die kognitive Leistungsfähigkeit (vgl. ebd., S. 320). Die Idee vom Training, das die kognitive Leistungsfähig-keit des alternden Gehirns auch in Zusammenhang mit der Alzheimer Krankheit erhöhen kann, wurde so in einem der ersten Aufsätze zu diesem Thema formuliert.

Inzwischen gibt es zahlreiche Belege, dass Stimulation des Gehirns (durch Training) nicht nur die kognitive Leistungsfähigkeit erhöhen kann, sondern auch, dass sich durch Training tatsächlich neue Syn-apsen bilden, die eine solche Veränderung auch medizinisch-neurolo-gisch erklären können (z. B. bei kardiovaskulärem Training: Colcombe et al., 2006).

Für den Bereich der kognitiven Fähigkeiten (nur Verhaltensmessung) wurde die erhebliche Plastizität des älteren Gehirns in den letzten Jah-ren durch experimentelle Trainingsstudien mit älteren Probanden be-reits sehr gut belegt. „Generell gilt Kognitives Training in experimentel-len Studien als hoch wirksam, was die Effektstärken betrifft“ (Oswald, 2004, S. 148), allerdings bleiben die Verbesserungen vor allem auf die trainierten Fähigkeiten beschränkt (ebd.).

Ein ganz ähnliches Fazit ziehen Wissenschaftler der Langzeitstudie ACTIVE (Advanced Cognitive Training for Independent and Vital Elder-ly): „Recent research from both human and animal studies indicates that neural plasticity endures across the lifespan, and that cognitive stimulation in the environment is an important predictor of enhance-ment and maintenance of cognitive functioning, even in old age“ (Ball et al., 2002, S. 2271).

4.2 Beste Trainingsergebnisse werden erreicht, wenn genau die Fähigkeit an sich trainiert wird

Man geht heute davon aus, dass sich durch gezieltes Training bei ge-sunden alten Menschen deutliche Verbesserungen besonders in den trainierten Fähigkeiten zeigen. Ein Transfer auf andere Bereiche wurde hingegen eher selten beobachtet.

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Sollen also bestimmte Fähigkeiten im Alter (wieder-)erlangt werden, ist es am besten, genau diejenigen Fähigkeiten zu trainieren, die sich verbessern sollen. Übertragen auf das Modell des Autofahrens ist bei älteren Fahrern die größte Verbesserung zu erwarten, wenn das Auto-fahren an sich trainiert wird. Eine Randbedingung, die sich bei Über-tragung des Modells auf das Autofahren aus der Grundlagenforschung zum Training älterer Menschen ergibt, ist ebenfalls gut belegbar: Soll die Fähigkeit „Fahrkompetenz im Realverkehr“ verbessert werden, ist es auch am effektivsten, genau das zu trainieren: Eine Schulung der Fahrkompetenz im Klassenzimmer, im Simulator oder auf einem ab-gesperrten Rundkurs führt auf Basis der wissenschaftlichen Literatur wahrscheinlich nicht zum gewünschten Ergebnis der nachhaltigen Verbesserung der Fahrkompetenz im Realverkehr. Ein Transfer auf die Fahrkompetenz im Realverkehr ist hierbei eher nicht oder nur in sehr geringem Umfang zu erwarten – anders als bei einem Training der Fahrkompetenz direkt im Realverkehr.

4.3 „Testing the Limits“: Bis zu welchem Ausmaß lassen sich Multitasking-Fähigkeiten bei Älteren trainieren?

Die Idee für das genaue Vorgehen bei einem Fahrtraining für ältere Autofahrer entstand auf Basis einer Untersuchung, die Bherer et al. 2006 veröffentlichten:

Sie gingen der Frage nach, bis zu welchem Ausmaß ältere Menschen bei Multitaskingaufgaben trainiert werden können und welches Leis-tungsniveau sie im Vergleich zu jüngeren Altersgruppen erreichen kön-nen, wenn sie möglichst optimal trainiert werden. In der Studie wurden gesunden älteren (M=70 Jahre, SD=7 Jahre, 16 Jahre formale Bildung) und jüngeren (M=20 Jahre, SD=1,2 Jahre, 14 Jahre formale Bildung) Probanden gleichzeitig auditive und visuelle Stimuli als Multitasking-aufgabe in Form einer Computer- und Höraufgabe dargeboten. Ziel der Studie war es, die Multitaskingaufgaben möglichst „gut“ zu lösen, also möglichst schnell und fehlerfrei. Nach Messung der Baseline wur-den beide Probandenguppen intensiv trainiert, indem sie die Aufgaben an sich einüben konnten, bis sie sich kaum noch verbessern konnten. Beim weiteren Training wurden ihnen bestimmte Strategien genannt, um die Leistung zu verbessern, außerdem wurde ihnen individuelles Feedback zur Trainingsleistung gegeben, damit sie auch selbst eine Kontrolle hatten, wie gut oder schlecht die Leistung augenblicklich

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ist. Die Ergebnisse dieser individuellen „Testing-the-limits“-Trainings zeigen die erhebliche Plastizität des Gehirns, fluide Fähigkeiten zur Bewältigung einer Multitasking-Aufgabe zu verbessern. Die Haupter-gebnisse des „Testing-the-Limits“-Trainings waren:• Älteren Probanden erreichten beim Multi-Tasking insgesamt diesel-

ben Leistungen wie untrainierte jüngere Probanden.• Die Plastizität, also die Verbesserung in den Leistungen, war für

beide Gruppen absolut gesehen gleich groß.• Die älteren Probanden konnten die Fehlerrate in den Aufgaben

ebenfalls auf das Niveau der jüngeren Probanden senken.Dieser Trainingsansatz wurde auf ein Fahrtraining im Realverkehr übertragen.

4.4 Grundlagenbasierter Trainingsansatz für ein Fahrtraining älterer Fahrer

Für ein Fahrtraining älterer Fahrer ergeben sich damit folgende Eck-punkte4:

Es sollten möglichst genau die Multitasking-Fähigkeiten trainiert wer-den, die sich verbessern sollen. Durch dieses Trainingskonzept sind die höchsten Verbesserungen zu erwarten. Übertragen auf ein Fahrtrai-ning mit älteren Fahrern bedeutet das: Es sollten genau die Fahraufga-ben trainiert werden, bei denen ältere Fahrer hauptsächlich Schwierig-keiten haben, also das Navigieren in komplexen Kreuzungsbereichen mit viel Verkehr sowie das Linksabbiegen (mit Gegenverkehr) und als zusätzliche Fähigkeit der Spurwechsel. Das Training sollte im Real-verkehr durchgeführt werden, damit es der natürlichen Fahrsituation am ehesten entspricht. Da Transferleistungen von Fähigkeiten nach Sichtung der Grundlagenliteratur eher die Ausnahme sind, sollten die trainierten Aufgaben möglichst genau der tatsächlichen Fahraufgabe entsprechen.

Das Training sollte individualisiert mit persönlichem Feedback durch-geführt werden. Übertragen auf ein Fahrtraining bedeutet dies, dass es individuell durchgeführt werden sollte, wobei der Fahrtrainer an die Leistungen anknüpft, die der Proband bereits beherrscht. Es sollte also kein starres Trainingsgerüst sein, das ein Fahrtrainer mit einem

4 Das Gesamtkonzept des Trainings und eine ausführlichere Beschreibung der Entwicklung des Trai-nings findet sich in Poschadel & Sommer, 2007, Anforderungen an die Gestaltung von Fahrtrai-nings für ältere Kraftfahrer – Machbarkeitsstudie, erschienen im TÜV-Verlag.

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älteren Fahrer „abarbeitet“, vielmehr ist das Ziel, zuvor festgelegte Fahraufgaben und Fahrsituationen möglichst gut zu beherrschen. Für ein Fahrtraining Älterer wurden deshalb die Fahrsituationen „Navigie-ren in komplexen Kreuzungen“, „Links abbiegen“ und „Spurwechsel“ als zu trainierende Fähigkeiten festgelegt (vgl. Poschadel & Sommer, 2007, S. 41).

Ein „echter“ „Testing-the-Limits-Ansatz“ ließ sich nicht realisieren, bei dem je nach Vorliegen persönlicher Leistungen die Menge der Fahrstunden individuell variierte. Nach Pre-Tests zeigte sich, dass ein Fahrtraining im Umfang von etwa 15 Fahrstunden ausreichend sein müsste, um auch Fahrer mit eher schlechter Fahrkompetenz soweit trainieren zu können, dass sie schwierige Fahraufgaben wieder sicher meisten können. Für die Trainingsgruppe wurde deshalb ein Umfang von 15 Fahrstunden festgelegt, der einem „Testing-the-Limits-Ansatz“ möglichst nahe kommt.

5 Fahrtraining für ältere Fahrer im Realverkehr5

Auf Basis der zuvor genannten Literaturhinweise und Überlegungen zur Gestaltung eines Fahrtrainings wurde das Forschungsprojekt in den Jahren 2008-2011 am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund von der Projektgruppe „Altern und ZNS-Veränderun-gen6“ realisiert und von der Eugen-Otto-Butz-Stiftung gefördert7.

5.1 Forschungsdesign des Fahrtrainings für ältere Fahrer

Es wurde mit einem Kontrollgruppendesign untersucht, ob durch ein professionelles Training (15 Stunden) schwieriger und komplexer Fahraufgaben im Realverkehr die Fahrkompetenz über 70-jähriger

5 Der Endbericht ist 2012 unter dem Titel „Ältere Autofahrer: Erhalt, Verbesserung und Verlänge-rung der Fahrkompetenz durch Training. Eine Evaluation im Realverkehr“ im TÜV-Verlag erschie-nen. Die Kurzfassung findet sich als pdf-Dokument unter http://www.ifado.de/profil/Mitarbeiter/Poschadel/Kurzfassung_Aeltere_Fahrer_Fahrkom-petenz_durch_Training_Poschadel_et_al_2012.pdf [18.09.12]. Die Zusammenfassung hier im Buch bezieht sich im Wesentlichen auf diese beiden Veröffentlichungen. Zitate aus den beiden Veröffentlichungen werden im Folgenden nicht einzeln gekennzeichnet.

6 Das Forschungsprojekt wurde geleitet von Dr. Sebastian Poschadel, die Gruppe heißt seit Ende 2012 „Altern, Kognition und Arbeit“.

7 Dem wissenschaftlichen Beirat des Forschungsprojekts gehörten die Professoren Ingo Pfafferott, Bernhard Schlag und Michael Falkenstein sowie Frau Dr. Georgia Everth an.

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Kraftfahrer erhöht werden kann und wie lange ein solches intensives Training wirkt.

Die Veränderung der Fahrkompetenz der älteren Fahrer durch das Training wurde mittels eines Referenzkurses im Stadtverkehr (Vorher-Nachher-Vergleich/Kontrollgruppenvergleich) mit Hilfe eines standar-disierten Beurteilungsverfahrens (TRIP-Protokoll) bei 4 Testfahrten über den Zeitraum von etwa einem Jahr evaluiert.

Direkt nach jeder der Testfahrten wurde aus ethischen Überlegungen allen Probanden ein individuelles Feedback zur ihrer Fahrkompetenz (Stärken, Schwächen, Fehler, Verbesserungsvorschläge) von den bei-den Fahrlehrern gegeben, die die Testfahrt durchführten (sodass bei-de Gruppen im eigentlichen Sinn eine Intervention erhielten).

Die Fahrleistungen einer Referenzgruppe im Alter von 40 bis 50 Jahren wurden einmalig ebenfalls zu Vergleichszwecken ermittelt, da diese Altersgruppe auf Basis der amtlichen Unfallstatistik als die Gruppe mit den relativ wenigsten schuldhaften Unfallbeteiligungen als Fahrer gilt.

5.2 Vorgehen

Die Probanden wurden über Zeitungsanzeigen einer örtlichen Tages-zeitung gewonnen und nach Zufall auf Experimental- und Kontroll-gruppe aufgeteilt. Nachdem die Hälfte der Probanden gefunden wor-den war, wurde für jeden Probanden ein „Zwilling“ gesucht, der dem ersten Probanden im Hinblick auf Geschlecht, Alter und Fahrleistun-gen im vergangenen Jahr möglichst gut entsprach.

Vor Teilnahme an der eigentlichen Untersuchung musste ein Füh-rerscheinsehtest bestanden werden. Alle teilnehmenden Probanden haben ihn bestanden oder ein Attest eines Augenarztes über ausrei-chende Sehfähigkeiten für das Autofahren vorgelegt. Einige Proben-den musste wegen der schlechten Ergebnisse abgewiesen werden.

Die individuelle Leistung der Probanden wurde anhand eines standar-disierten Fahrverhaltensprotokolls mit 96 Einzelitems (TRIP-Protokoll, überarbeitet, „Testride for Investigating Practical fitness to drive“) auf einem innerstädtischen Referenzkurs von 2 Fahrlehrern unabhängig voneinander gemessen, der Unfallschwerpunkte älterer Fahrer der vorangegangenen 5 Jahre in Dortmund enthielt. Durch Mittelung der

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Fahrlehrerurteile entstand eine insgesamt 7-stufige Beurteilungsskala. Alle Fahrten wurden in einem Fahrschulwagen (doppelte Pedalerie) durchgeführt, je nach Gewohnheit der Probanden entweder mit einem Schaltwagen oder mit Automatikgetriebe.

Die 15 Trainingsfahrten des Fahrtrainings mit der Hälfte der Proban-den (Trainingsgruppe) wurden von anderen Fahrlehrern durchgeführt, die die Referenzstrecke nicht kannten, allerdings bestimmte Fahrauf-gaben gezielt trainierten (Links Abbiegen, Navigieren in komplexen Kreuzungen, Spurwechsel).

5.3 Hauptergebnisse des Fahrtrainings

StichprobeDie Gesamtstichprobe setzt sich aus n=120 Personen zusammen. Mit n=46 älteren Personen wurden die Fahrtrainings im Umfang von 15 Fahrstunden durchgeführt (im Mittel M=72,6 Jahre alt), n=46 ältere Personen fungierten als „Nur-Feedbackgruppe“ (im Mittel 72,7 Jahre alt). N=28 Personen der Altersgruppe von 40 bis 50 Jahren (im Mittel M=44,3 Jahre alt) fungierten als Referenzgruppe (einmalige Testfahrt).

Verbesserung der Fahrkompetenz durch TrainingAbbildung 2 zeigt die Verbesserung der Fahrkompetenz von Trainings- und Feedbackgruppe über die vier Messzeitpunkte (ca. 1 Jahr) hin-weg8.

Das 6-wöchige Fahrtraining mit 15 Fahrstunden fand in der Zeit zwi-schen „TRIP1“ und „TRIP2“ statt.

Die Generalwirkung des Trainings konnte mit verschiedenen Analyse-methoden übereinstimmend, eindeutig und überzufällig belegt wer-den. Betrachtet man die Veränderung zwischen TRIP1 und TRIP4, so war das Training erfolgreich (t(90)=25,34; p<.001). Weitere Analy-sen9 zeigen, dass im direkten Vergleich zwischen TRIP1 und TRIP4 die Fahrleistungsurteile zur Fahrkompetenz der Trainingsgruppe einen

8 Die Abstände auf der X-Achse zwischen TRIP1, TRIP2, TRIP3 und TRIP4 spiegeln in etwa die tatsächlichen zeitlichen Abstände zwischen den 4 Messfahrten wider (etwa 2 Monate zwischen TRIP1 und TRIP2, etwa 4 Monate zwischen TRIP2 und TRIP3 und etwa 8 Monate zwischen TRIP3 und TRIP4).

9 Die Regressionsanalyse und die Formulierung und Überprüfung der exakten Forschungshypothe-sen für die weiteren Analysen wurden freundlicherweise von Dr. Norbert Hilger, Methodenlehre, Diagnostik und Evaluation, Institut für Psychologie der Universität Bonn durchgeführt.

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Abbildung 2: Fahrkompetenz10 bei den Testfahrten (TRIP1 bis TRIP4 von Trainings- und Feedbackgruppe) (aus: Poschadel et al., 2012c)

positiven linearen Trend zeigen und der Regressionsanstieg in der Trainingsgruppe größer ist als in der „Nur-Feedback“-Kontrollgruppe.

Die Feedbackgruppe hat vermutlich alleine durch die Rückmeldun-gen während der Testfahrten einen Trainingseffekt erfahren, sodass es auch hier zu einer Verbesserung gekommen ist. Beide Gruppen liegen also nach dem Training im Durchschnitt deutlich über den Leistun-gen der jüngeren Referenzgruppe. Subgruppenanalysen weisen da-rauf hin, dass besonders schwächere Fahrer von einem Fahrtraining profitieren. Deshalb sollte vor Durchführung eines Trainings zunächst ermittelt werden (z. B. mit Hilfe des TRIP-Protokolls), ob überhaupt Trainingsbedarf vorliegt.

10 Beim Scoring wurde zwischen insgesamt 4 Kategorien unterscheiden: 1  =  GUT 2  =  AUSREI-CHEND 3 = ZWEIFELHAFT 4 = UNZUREICHEND Die Kategorie „gut“ sollte vom Fahrlehrer bei einem Einzelitem angekreuzt werden, wenn ein Fahrer aus Fahrlehrersicht alles komplett richtig gemacht hat.

„Ausreichend“ soll bei jedem Item auch wirklich „ausreichend“ im eigentlichen Sinn des Wortes bedeuten: Die Fahrsituation wurde ausreichend gemeistert, die wesentlichen Erfordernisse wurden erfüllt.

„Zweifelhaft“ bedeutet, dass die gezeigte Leistung bei der Fahraufgabe schon in den kritischen Bereich geht. „Es ist zwar alles gut gegangen“, dennoch hat der Fahrer den Eindruck hinterlassen, nicht die gesamte Situation voll überblickt (oder gemeistert) zu haben.

„Unzureichend“ wurde angekreuzt, wenn dem Fahrer Fehler unterlaufen sind, er z. B. andere Ver-kehrsteilnehmer/Verkehrsschilder oder klare Verkehrsregelungen übersehen oder sogar kritische Situationen verursacht hat, bzw. der Fahrlehrer aktiv in das Fahrgeschehen eingreifen musste.

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SubgruppenanalysenEine differenzierte Betrachtung der 5 schwächsten und 5 stärksten Fahrer aus jeder Gruppe (s. Abbildung 3) zeigt, dass zwar grund-sätzlich alle Personen von den Testfahrten und einem individuellen Feedback durch Fahrlehrer profitieren (alle vier Gruppen zeigen eine mindestens leichte Verbesserung der Fahrkompetenz), bei den 5 schwächsten Fahrern der Feedbackgruppe aber ein reines Feedback nicht ausreichend ist, um ebenfalls die Leistungen der Referenzgrup-pe zu erreichen. Schwächere Fahrer erreichen dieses Niveau der mit-telalten Autofahrer nur durch explizites, zusätzliches Training.

Autofahrer und Autofahrerinnen, die vor dem Training eine im Vergleich zur Stichprobe schlechtere Fahrkompetenz gezeigt hatten (schwache Fahrer Trainingsgruppe), konnten sich durch das Training am stärks-ten verbessern und das Niveau der Referenzgruppe (40 bis 50 Jahre) erreichen bzw. sogar übertreffen.

Anzahl notwendiger Eingriffe bei den TestfahrtenAbbildung 4 zeigt die mittlere Anzahl der Eingriffe des Fahrlehrers je Fahrt in der jeweiligen Gruppe (durch den zweiten Fahrlehrer proto-kolliert11) während der Testfahrten TRIP1 bis TRIP4. Die Anzahl der Eingriffe geht sowohl in der Trainingsgruppe als auch in der Feed-backgruppe über den Gesamtzeitraum der Messfahrten (etwa 1 Jahr) deutlich zurück.

Ergebnisse der psychometrischen TestsAlle Probanden haben vor und nach der Untersuchung einige psychome trische Tests absolviert (visuelles Scanning/geteilte Auf-merksamkeit der TAP-M, Zahlensymboltest). Es bestand die Frage, ob sich durch das Fahrtraining auch psychometrische Testleistungen än-dern würden. Das Fahrtraining zeigt allerdings keinen statistisch be-deutsamen Zusammenhang zu den eingesetzten psychometrischen Tests.

11 Sobald Fahrlehrer 1, der auf dem Beifahrersitz mit doppelter Pedalerie saß, aktiv ins Geschehen eingreifen musste, um kritische Situationen zu verhindern (z. B. Missachtung der Vorfahrt, Verhin-derung eines Unfalls im Extremfall), hat Fahrlehrer 2 die kritischen Eingriffe dokumentiert.

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Abbildung 3: Mittlere Fahrkompetenz während der Testfahrten (TRIP1 bis TRIP4) für die fünf schwächsten und fünf stärksten Fahrer und Fahrerinnen je Untersuchungs-gruppe (aus Poschadel et al., 2012c)

Abbildung 4: Anzahl der Eingriffe durch Fahrlehrer bei kritischen Ereignissen während der Testfahrten (TRIP1 bis TRIP4) (aus Poschadel et al., 2012c)

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Vorhersagekraft psychosozialer, medizinischer und psychometri-scher Variablen auf die Fahrkompetenz (bei der getesteten Stich-probe)Die Vorhersage der tatsächlichen Fahrkompetenz eines Fahrers lässt sich allein aus einer Testfahrt im Realverkehr bestimmen. Die Auswer-tung aller erhobenen psychosozial-medizinischen und psychomet-rischen Daten der Stichprobe zeigt, dass sich aus der Kombination dieser Daten die individuelle Fahrkompetenz nicht vorhersagen lässt.

Hauptergebnisse des SehtestsDie Ergebnisse des Sehtests, der als Voraussetzung für die Teilnahme an der Untersuchung durchgeführt wurde, unterstützen die Forderung nach Einführung einer verpflichtenden regelmäßigen Überprüfung der Sehfähigkeit. Manche Probanden haben ihre schlechten Sehleistun-gen im Vorfeld selbst gar nicht bemerkt. Allerdings liegen bisher kei-ne abschließenden Ergebnisse vor, die den Zusammenhang zwischen schlechtem Sehen und Unfallhäufigkeit unter kontrollierten Bedingun-gen quantifizieren.

Hauptergebnisse der Fokusrunden (Probanden) und eines Exper-tenkolloquiums im Hinblick auf die Gestaltung eines FahrtrainingsDie Information, dass ein Training schwieriger Fahraufgaben im Real-verkehr die Fahrkompetenz messbar und überzufällig verbessert, ist sowohl für Anbieter von Trainings als auch für die Zielgruppe älterer Fahrer relevant. Um die Akzeptanz von Trainings zu erreichen, sollte

Abbildung 5: Ergebnisse des Führerscheinsehtests bei älteren Fahrern (aus Poschadel et al., 2012c)

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das Potenzial von Trainings und Feedback für den Erhalt bzw. die Ver-besserung der Fahrkompetenz entwicklungsorientiert kommuniziert werden, nicht defizitorientiert. Im gegebenen gesellschaftlichen Kon-text wird der Hinweis auf ein Trainingsangebot nicht selten als Kritik an der Fahrkompetenz verstanden. Die Diskussionsteilnehmer (Pro-banden in Fokusgruppen/Experten der Expertenrunde) sahen einen Bedarf an einem geeigneten Marketing für ältere Fahrer. Grundsätzlich fehlen derzeit noch Erkenntnisse darüber, wie ein erfolgreiches Marke-ting für ältere Fahrer in diesem Bereich konzipiert sein müsste.

Die führenden Umsetzer (DVR, DVW, Automobilclubs (z.  B. ACE, ADAC), Fahrlehrerverbände) sahen in der Expertenrunde grundsätz-lich die Möglichkeit, entsprechende Trainingsmodule in ihre Program-me einzubauen bzw. darauf hinzuweisen oder an sie zu koppeln und die Umsetzung in Kooperation mit entsprechend qualifizierten – evtl. auch zertifizierten – Fahrschulen zu realisieren.

6 Zusammenfassung und Ausblick: Fahrtraining für ältere Fahrer

Grundlagen zur TrainingsforschungObwohl über die Lebensspanne viele für das Autofahren wichtige Fä-higkeiten abnehmen, zeigen die Neurowissenschaften in den letzten Jahrzehnten doch sehr eindrucksvoll, dass durch gezieltes Training nachlassende fluide Fähigkeiten bei gesunden Probanden bis ins hohe Alter erhalten und sogar verbessert werden können. Eindeutig konnte von zahlreichen Autoren belegt werden: Auch die Verbesserung von Multitaskingprozessen, mit denen Ältere besondere Schwierigkeiten haben, ist möglich – und das bis zu einem Leistungsvermögen, das untrainierten jüngeren Probanden „im besten Alter“ entspricht. Vor allem gilt das für fluide Fähigkeiten, die direkt trainiert werden. Trai-ningstransfer wurde eher selten beobachtet.

Gestaltung eines FahrtrainingsÜberträgt man die Erkenntnisse der Grundlagenforschung auf die Ge-staltung eines Fahrtrainings für ältere Fahrer, ergeben sich einige Eck-punkte, die es zu beachten gilt:

Das Training sollte direkt im Realverkehr durchgeführt werden, in rea-len und vor allem auch für die älteren Fahrer schwierigen Verkehrssi-

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tuationen. Es sollte ganz direkt die Fahrkompetenz geübt werden, die verbessert werden soll.

Das Training sollte individuell zugeschnitten, die Trainingsziele jedoch für alle gleich sein. Es gibt mit zunehmendem Lebensalter eine hohe interindividuelle Leistungsvariabilität bei gleichem kalendarischem Al-ter. Deshalb sollte ein optimales Training immer an den individuellen Vor aussetzungen eines einzelnen Menschen ansetzen.

Hierfür ist eine möglichst einheitliche, für jeden Fahrlehrer leicht hand-habbare „Eingangsdiagnostik“ nötig, die gleichzeitig auch dem Pro-banden genau aufzeigt (individuelle Rückmeldung), welche Schwierig-keiten er im Straßenverkehr hat.

Ein solches Training wurde entwickelt, mit Hilfe eines Kontrollgrup-pendesigns umgesetzt und nach einem Jahr evaluiert, um zu sehen, wie sich die Fahrkompetenz ältere Fahrer über einen längeren Zeit-raum nach einem Fahrtraining entwickelt.

Generalwirkung des FahrtrainingsDie Ergebnisse der Studie belegen eindeutig, dass das Älterwerden nicht zwangsweise und automatisch einen Ausstieg aus der aktiven Teilnahme als Fahrer am motorisierten Straßenverkehr zur Folge haben muss. Es ist möglich, durch geeignetes Training die Fahrkompetenz über 70-jähriger Fahrer zu erhöhen – und das bis auf ein Level, das mit dem jüngerer Autofahrer (Durchschnittsalter 44 Jahre) vergleichbar ist und auch nach einem Jahr weiterhin besteht.

In die Teststrecke wurden Unfallschwerpunkte älterer Fahrer der letz-ten 5 Jahre eingebaut (Unfalldatenanalyse), wodurch gewährleistet wurde, auch objektiv schwierige Situationen während der Testfahrten meistern zu müssen.

Ähnliche Situationen wurden dann (von Fahrlehrern, die die eigentli-che Teststrecke nicht kannten) in individuellen Trainingsstunden (im Umfang von 15 Fahrstunden für die Trainingsgruppe) trainiert.

Randbedingungen, die ein Training erfüllen mussAus der Literaturrecherche hatte sich eine wichtige Rahmenbedingung für das Training ergeben, nämlich genau das zu trainieren, was spä-ter gebraucht wird. Diese Randbedingung wurde im Trainingskonzept

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umgesetzt: Es wurden objektiv schwierige Fahrsituationen (komplexe Kreuzungen, Linksabbiegen) im Realverkehr trainiert, also direkt die Fähigkeiten, die später für ein sicheres Autofahren benötigt werden.

Differenziertes Training je nach LeistungsstandBei den Ergebnissen zeigten sich dann doch auch einige Überra-schungen: Für gute Fahrer reichen schon wenige Feedbackfahrstun-den aus, um einen Trainingseffekt zu erzielen, bei sehr guten Fahrern ist überhaupt nur noch eine geringe Verbesserung der Fahrkompetenz zu erreichen, sie bräuchten eigentlich gar kein Training.

Anderseits zeigte sich aber auch, dass schwache Fahrer von einem Training in besonderer Weise profitieren. Bei ihnen reicht ein Trai-ning im Umfang von 3 Feedbackfahrten nicht aus, um die Leistungen der jüngeren Vergleichsgruppe zu erreichen. Schwache Fahrer errei-chen ein gutes Leistungsniveau nur durch entsprechend intensives Training.

Bei ihnen ist ein umfangreicheres Training angezeigt. Den meisten Profit von einem solchen Training zeigen diejenigen älteren Fahrer, die eingangs der Untersuchung eher eine schwächere Fahrkompetenz gezeigt hatten und das volle Trainingsprogramm absolviert haben. Insgesamt geht mit der Erhöhung der Fahrkompetenz auch die Anzahl der notwendigen Eingriffe (um einen Unfall oder schweren Verkehrs-verstoß zu vermeiden) durch den Fahrlehrer sowohl in der Trainings- als auch in der Feedbackgruppe deutlich zurück.

Vorgehen bei einem möglichen flächendeckenden TrainingÜberträgt man die Ergebnisse auf ein mögliches flächendeckendes Trainingsangebot, sollte folgendes Vorgehen gewählt werden:

Zunächst muss mit einer „Eingangsdiagnostik“ der individuelle Trai-ningsbedarf erhoben und geprüft werden. Je nachdem wie gut oder schlecht die individuelle Fahrkompetenz bei der Eingangsdiagnostik ist, würde dann entweder gar kein Training, ein kürzeres oder ein län-geres Training in Frage kommen. Auf Basis der Forschungsergebnisse ist eine solche „Bedarfsanalyse“ unverzichtbar um festzustellen, wel-cher individuelle Trainingsbedarf eigentlich vorliegt. Hierfür sollte ein standardisiertes Diagnoseinstrument, das für jeden Fahrlehrer leicht handhabbar (und selbsterklärend) ist, eingesetzt werden, um einen einheitlichen Qualitätsstandard zu gewährleisten.

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Das Trip-ProtokollEin solches Diagnoseinstrument, das TRIP-Protokoll (ursprünglich englischsprachig, in den Niederlanden entwickelt; z. B. Whithaar, 2000; De Raedt, 2000; Coeckelbergh, 2002; Sommer et al., 2003), wurde im Forschungsprojekt weiterentwickelt, an deutsche Verhältnisse an-gepasst und eingesetzt. Wegen einer hohen internen Konsistenz und hoher Interraterreliabilität kann es auch von unterschiedlichen Beob-achtern eingesetzt werden und misst das Konstrukt „Fahrkompetenz“ sehr gut.

Beim TRIP-Protokoll werden zahlreiche Einzeldimensionen bewertet. Bei der Einzelbetrachtung kann dem älteren Fahrer nach der Fahrt realitätsnah gezeigt werden, an welchen Punkten der Fahrkompetenz Optimierungsbedarf besteht, der trainiert werden sollte.

Ergebnisse des SehtestsDie Ergebnisse des Sehtests sind durchaus kritisch zu bewerten: 42  % von ursprünglich 132 getesteten älteren Fahrern haben den Führerscheinsehtest (Visus 0,7/0,7) nicht bestanden. Demgegenüber haben alle 28 Probanden der jüngeren Vergleichsgruppe den Test be-standen. Einzelnen älteren Fahrern sind selbst ganz erhebliche Seh-schwächen, wie der graue Star, im Vorfeld nicht bekannt gewesen. Ei-ner verbindlichen Überprüfung der Sehschärfe der Augen stimmen bei direkter Nachfrage in den Fokusgruppen fast alle älteren Probanden zu.

Möglichkeiten einer flächendeckenden Implementierung eines Fahrtrainings für ältere FahrerNachdem die Wirksamkeit eines gezielten Fahrtrainings belegt war, wurde der Frage nachgegangen, wie ein solches Training flächen-deckend implementiert werden könnte. Hierzu wurden auch externe Wissenschaftler und Experten großer, mit Verkehr befasster Organisa-tionen eingeladen, sowie die Probanden selbst befragt.

Von den Probanden wurde eine amtliche Überprüfung der Fahrkom-petenz (auch, um eventuellen Trainingsbedarf zu ermitteln) insgesamt abgelehnt. Bei ihnen besteht große Angst, dass der Führerschein da-durch verloren gehen könnte, wohingegen eine freiwillige Teilnahme durchaus befürwortet und als sinnvoll angesehen wird, solange der Führerschein hierdurch nicht gefährdet ist. Es werden einem freiwilli-gen Training jedoch nur wenige Chancen eingeräumt, von einer gro-

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ßen Gruppe älterer Fahrer genutzt zu werden, obwohl alle Probanden selbst den hohen Wert eines solchen Trainings erfahren haben.

Motivation für ein FahrtrainingLeider fehlt zum Bereich „Motivation“ in Bezug auf die Teilnahme an Trainings besonders für ältere Menschen derzeit wissenschaftliche Li-teratur, sodass hier noch Forschungsbedarf besteht.

Es ist aber deutlich geworden: Bei dem Angebot von Trainings (sofern sie freiwillig stattfinden sollen) muss das persönliche Entwicklungspo-tenzial in den Vordergrund gestellt werden. Das Angebot sollte nicht defizitorientiert kommuniziert werden.

Die Rolle von Hausärzten wird hierbei sowohl von den Probanden als auch von den Experten mit Hinweis auf einen möglichen Interessens-konflikt des Arztes eher kritisch gesehen.

Kritik aus dem eigenen persönliche Umfeld wird von den meisten Pro-banden ebenfalls sehr kritisch gesehen: Kritik an der eigenen Fahr-kompetenz von nahestehenden Personen wird nicht gern gehört und auch in der Regel nicht angenommen, selbst wenn sie berechtigt ist.

Insofern besteht bei den motivationalen Aspekten ein erhebliches Dilemma, das an dieser Stelle nicht gelöst werden kann: Einerseits ist der Nutzen eines Fahrtrainings für ältere Probanden und Experten sehr deutlich, andererseits werden verbindliche Trainings abgelehnt und freiwilligen Trainings nur wenige Chancen eingeräumt. Diese Fra-ge müsste an anderer Stelle noch einmal tiefgründiger erforscht wer-den. Insofern wird derzeit ein erheblicher Bedarf an einem geeigneten Marketing und an einer weiteren Erforschung der Voraussetzung für ein erfolgreiches Marketing in diesem Bereich gesehen.

Wer soll überhaupt die Fahrkompetenz messen?Aus Sicht der Probanden müsste die Überprüfung der Fahrkompetenz durch eine unabhängige Organisation erfolgen, die selbst kein wirt-schaftliches Interesse an den Ergebnissen hat. Die Trainingseinheiten können dann gern wieder von Fahrschulen durchgeführt werden. Ob das in dieser Form allerdings ein sinnvoller Weg ist, ist derzeit offen. Aus dem Selbstverständnis heraus dürfte es z.  B. Automobilclubs schwerfallen, ihren eigenen Mitgliedern von der Nutzung des Autos

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abzuraten, sollte die Fahrkompetenz erheblich eingeschränkt sein oder sich sogar schon im gefährlichen Bereich bewegen.

Einer Gutscheinregelung durch Versicherungen stehen die älteren Fah-rer allerdings sehr positiv gegenüber. Für die Versicherungswirtschaft sind ältere Kraftfahrer für Präventionsmaßnahmen derzeit (noch) kei-ne spezielle Zielgruppe, da ihr Unfallgeschehen nicht auffällig ist. Da sich viele ältere Versicherungsnehmer ohnehin in der Klasse mit den niedrigsten Beiträgen befinden, wäre auch ein finanzieller Anreiz durch eine Beitragssenkung derzeit eher unwahrscheinlich.

Umfang eines möglichen TrainingsDer Testing-the-Limits-Ansatz ist in dieser Form nicht praxistauglich und auch nicht realisierbar.

Ein guter Start in ein Training könnten die Feedbackfahrten sein, die bereits sehr hilfreich sind und einen deutlichen Trainingseffekt zeigen. Insgesamt sollte das Training nicht mehr als 200 Euro (aus Sicht der Probanden) bzw. nicht mehr als 250 Euro (aus Sicht der Experten) kosten. Die Probanden haben sich selbst für einen Trainingsumfang von 5-10 Stunden ausgesprochen. Dabei wären für eine Teilnahme auch finanzielle Anreize einzelner Träger denkbar, z. B. nach Unfällen; Automobilclubs könnten ihren Mitgliedern Sonderangebote machen.

Auf Basis der Forschungsergebnisse wäre es am sinnvollsten, den Trainingsumfang nicht im Vorhinein festzulegen. Der entscheidende Schritt wird sein, ob ältere Fahrer eine allererste Stunde Training oder eine Feedbackfahrt freiwillig in Anspruch nehmen. Die Probanden ha-ben sich dahingehend geäußert, ein Training sei vor allem im Rück-blick sehr gut gewesen, vor dem Training war das für sie allerdings noch nicht so klar. Der Nutzen hat sich erst im Nachhinein für sie er-schlossen.

Wenn den älteren Fahrern in der ersten Feedbackfahrt anhand des TRIP-Protokolls gezeigt werden kann, welche Fähigkeiten besonders geübt werden müssen, sind sie wahrscheinlich auch bereit, zur nächs-ten Trainingsstunde zu kommen. Die Kernfrage ist die Motivation zur ersten Trainingsstunde, wie bereits weiter oben geschrieben.

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Qualitätsstandards eines Trainings

Um die Qualität und Wirksamkeit eines möglichen Fahrtrainings zu gewährleisten, müssen bestimmte Qualitätsstandards eingehalten werden, selbst wenn das Training im Vergleich zum Trainingskonzept des Forschungsprojektes „abgespeckt“ ist. Es müssen Kernelemen-te des getesteten Trainings enthalten sein, um eine Übertragbarkeit der Ergebnisse für flächendeckende Trainings zu gewährleisten. Das Training muss also komplexe Fahrsituationen, möglichst an objektiv schwierigen Stellen, enthalten und unbedingt im Realverkehr durch-geführt werden.

Erhalt der Fahrkompetenz durch Training vor allem im ländlichen Raum, um Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen

Langfristig ist es wünschenswert, flächendeckend die Fahrkompetenz älterer Menschen möglichst lange zu erhalten und ihnen hierdurch eine selbstständige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Das gilt vor allem für ländliche Gebiete, in denen der ÖPNV nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Die Ergebnisse der Fahrtrainingsstu-die belegen eindeutig, dass es selbst für über 70-jährige Fahrer mit einer eher geringen Fahrkompetenz möglich ist, die Leistungen einer jüngeren Vergleichsgruppe durch Training zu erreichen und auch im höheren Alter ihre Fahrkompetenz zu verbessern, zeitlich zu verlän-gern und weiterhin sicher Auto fahren zu können.

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Anpassung von Kraftfahrzeugen an die Anforderungen älterer Menschen auf Basis von Unfalldaten

Heiko Johannsen und Gerd Müller

Vertiefende Analysen des Unfallgeschehens und Daten zur Fahrzeug-wahl von Senioren werden in diesem Beitrag im Hinblick auf Anforde-rungen an seniorengerechte Pkw diskutiert, die zugleich die Wünsche der Senioren und das spezifische Unfallgeschehen berücksichtigen.

1 UnfallgeschehenIm Rahmen der Analyse von Verkehrsunfällen sind im Wesentlichen zwei Fragestellungen von Interesse:• Wie entstehen Unfälle?• Welche Verletzungen treten dabei auf?

Während die erste Frage Belange der aktiven Sicherheit betrifft, geht es in der zweiten Frage insbesondere auch um die passive Sicherheit.

Unter aktiver Sicherheit werden Maßnahmen verstanden, die dazu beitragen, Unfälle zu vermeiden – zum Beispiel Fahrerassistenzsyste-me. Die passive Sicherheit beschreibt Maßnahmen, die dazu beitra-gen, dass die Folgen eines Unfalls gemildert werden – zum Beispiel der Einsatz von Gurten und Airbags.

Für die Unfallanalyse stehen prinzipiell zwei verschiedene Arten von Datensätzen zur Verfügung. Auf der einen Seite ist das die amtliche Unfallstatistik, die in Deutschland vom statistischen Bundesamt ge-pflegt wird. Hier werden alle von der Polizei erfassten Unfälle mit einem relativ geringen Detaillierungsgrad aufgeführt. Erhebungen am Unfallort (In-depth Unfallerhebungen) nehmen Unfälle weitaus detaillierter auf – allerdings in einer deutlich geringeren Anzahl. Nachfolgend werden ausschließlich Daten des statistischen Bundesamtes und der In-depth Datenbanken GIDAS (German In-Depth Accident Study) sowie CCIS (Co-operative Crash Injury Study) verwendet. Die GIDAS Daten werden

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in Hannover und Umgebung sowie in Dresden und Umgebung erho-ben. Hier werden in mehreren wechselnden Schichten ganzjährig über den ganzen Tag verteilt Unfälle mit mindestens einer verletzten Person nach einem festgelegten Stichprobenplan erhoben. Die Erhebungs-gebiete und der Stichprobenplan sind dabei so festgelegt, dass die erhobenen Daten repräsentativ für Deutschland sein sollen. Die CCIS-Daten stammen aus England von den drei Standorten Birmingham, Loughborough und Workingham westlich von London. CCIS basiert auf Unfallberichten der Polizei, die durch ergänzende Erhebungen an den Unfallfahrzeugen und durch medizinische Daten die gewünschte Datentiefe erreichen. Während GIDAS als weitestgehend repräsentativ für Straßenverkehrsunfälle mit Personenschaden in Deutschland ange-sehen werden kann (Hautzinger et al., 2006), sind in den CCIS-Daten Unfälle mit schwer und tödlich Verletzten überrepräsentiert. Des Weite-ren sind ältere Insassen gegenüber der amtlichen Statistik aus Großbri-tannien überrepräsentiert. Bei den Daten des Statistischen Bundesam-tes wurden nur Unfälle mit Personenschaden berücksichtigt.

1.1 Verletzungen älterer Fahrzeuginsassen

Die Verletzungsschwere wird in der amtlichen Unfallstatistik eingeteilt in• unverletzt,• leicht verletzt (ambulante Behandlung oder stationäre Behandlung

mit weniger als 24 Stunden Krankenhausaufenthalt),• schwer verletzt (stationäre Behandlung mit 24 Stunden oder länge-

rem Krankenhausaufenthalt),• getötet (verstorben in Folge des Unfalls und innerhalb von 30 Tagen

nach dem Unfall).

Die deutsche amtliche Unfallstatistik für 2011 (Statistisches Bundes-amt, 2012) zeigt, dass ältere Fahrzeuginsassen relativ selten in Unfälle verwickelt sind, aber überproportional häufig schwer oder tödlich ver-letzt werden (Abbildung 1) (vgl. Schlag, in diesem Band). Hierbei kann der Anteil an Leichtverletzten als weitgehend proportional zur Anzahl der Unfälle angesehen werden.

Ein vergleichbares Bild ergibt sich nach der englischen amtlichen Un-fallstatistik (Abbildung 2). Hier wurden nur Frontalaufprallunfälle aus dem Jahr 2008 von Pkw mit Zulassung nach dem 1.10.2003 betrach-tet (Richards et al., 2010).

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Abbildung 1: Verletzungsschwere in Abhängigkeit des Alters 2011 (Statistisches Bun-desamt, 2012)

Abbildung 2: Verletzungsschwere in Abhängigkeit des Alters (Richards et al., 2010)

Für die In-depth Unfallanalysen wird die detaillierte Einteilung nach der sogenannten Abbreviated Injury Scale (AIS) vorgenommen. Hier-bei werden Verletzungen nach dem Grad der Lebensbedrohung in Stufen von 0 (unverletzt) bis 6 (Behandlung ist derzeit nicht möglich) eingeteilt, wobei der Grad der Lebensbedrohung nicht-linear mit der

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Stufe ansteigt. Die schwerste Verletzung pro Person wird mit MAIS (Maximaler AIS) angegeben. Verletzungen, die einen bestimmten Ver-letzungsschweregrad überschreiten (z. B. AIS 2 und höher), werden mit beispielsweise AIS 2+ zusammengefasst.

Die Auswertung von CCIS Frontalaufprallunfalldaten, bei denen min-destens ein Fahrzeug mit Frontschaden im Jahr 2000 oder später zugelassen wurde, zeigt, dass der Anteil der Insassen mit geringer Verletzungsschwere (MAIS 1) mit dem Alter sinkt, während der Anteil der Insassen mit schwereren bzw. tödlichen Verletzungen steigt (Abbildung 3).

Die Verteilung der Verletzungen auf die unterschiedlichen Körperregi-onen in Abhängigkeit des Alters zeigt im gleichen Datensatz für die meisten Körperregionen ein homogenes Bild. Ausnahmen bilden hier-bei die Brust und die Beine bei älteren Fahrzeuginsassen (Abbildung 4). Der geringere Anteil an Beinverletzungen in der Gruppe über 60 Jahre ist vermutlich eher mit typischen Unfallsituationen als mit der Physiologie zu erklären. So zeigen neueste Untersuchungen aus den USA, dass sich dort ab einem Alter von über 75 Jahren ein deutlich erhöhtes Verletzungsrisiko für die Beine im Vergleich zu allen anderen Unfallopfern ergibt (Ridella et al., 2012).

Abbildung 3: Verletzungsschwere in Abhängigkeit des Alters (Thompson et al., 2013)

Abbildung 4: Verletzte Körperregionen in Abhängigkeit des Alters (Thompson et al., 2013)

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Stufe ansteigt. Die schwerste Verletzung pro Person wird mit MAIS (Maximaler AIS) angegeben. Verletzungen, die einen bestimmten Ver-letzungsschweregrad überschreiten (z. B. AIS 2 und höher), werden mit beispielsweise AIS 2+ zusammengefasst.

Die Auswertung von CCIS Frontalaufprallunfalldaten, bei denen min-destens ein Fahrzeug mit Frontschaden im Jahr 2000 oder später zugelassen wurde, zeigt, dass der Anteil der Insassen mit geringer Verletzungsschwere (MAIS 1) mit dem Alter sinkt, während der Anteil der Insassen mit schwereren bzw. tödlichen Verletzungen steigt (Abbildung 3).

Die Verteilung der Verletzungen auf die unterschiedlichen Körperregi-onen in Abhängigkeit des Alters zeigt im gleichen Datensatz für die meisten Körperregionen ein homogenes Bild. Ausnahmen bilden hier-bei die Brust und die Beine bei älteren Fahrzeuginsassen (Abbildung 4). Der geringere Anteil an Beinverletzungen in der Gruppe über 60 Jahre ist vermutlich eher mit typischen Unfallsituationen als mit der Physiologie zu erklären. So zeigen neueste Untersuchungen aus den USA, dass sich dort ab einem Alter von über 75 Jahren ein deutlich erhöhtes Verletzungsrisiko für die Beine im Vergleich zu allen anderen Unfallopfern ergibt (Ridella et al., 2012).

Abbildung 3: Verletzungsschwere in Abhängigkeit des Alters (Thompson et al., 2013)

Abbildung 4: Verletzte Körperregionen in Abhängigkeit des Alters (Thompson et al., 2013)

Der deutliche Anstieg bei den Brustverletzungen hingegen kann mit physiologischen Veränderungen begründet werden. Die Knochen-strukturen verändern sich beim Altern und „verspröden“ (Hardy et al., 2005) im Laufe der Zeit. Dies wird unter anderem in Abbildung 5 deut-lich. Der Anteil von Rippen- und Brustbeinfrakturen nimmt in den Gruppen der Personen ab 46 Jahren deutlich zu.

Abbildung 5: Anteil der Insassen mit Rippen- und Brustbeinfrakturen in Abhängigkeit des Alters (Carroll et al., 2009)

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Brustverletzungen werden in der Regel durch Kontakt zum Rückhalte-system (Gurte, Airbags) – im Gegensatz zu z. B. Intrusionsverletzun-gen – verursacht. So ist es nicht verwunderlich, dass Verletzungen durch das Rückhaltesystem (RHS) bei Insassen ab ca. 45 Jahren mit steigendem Alter zunehmend dominieren (Abbildung 6). In diesem Zu-sammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass die Verletzungs-ursache „Rückhaltesystem“ nicht bedeutet, dass der Insasse ohne Rückhaltesystem weniger schwer verletzt worden wäre. Es besagt nur, dass die Kombination aus Fahrzeugverzögerung und Rückhalte-system zu Belastungen führte, die oberhalb der physischen Aufnah-memöglichkeit liegen und dass erwartet werden kann, dass Verbesse-rungen am Rückhaltesystem zu einer Reduzierung des entsprechenden Verletzungsanteils führen können.

Otte & Wiese (2012) vergleichen Verletzungsraten zwischen jüngeren (17 – 30 Jahre) und älteren (über 50 Jahre) gegurteten Fahrern in Pkw-Pkw-Unfällen und Pkw-Alleinunfällen. Hierbei wurden GIDAS Fälle in den Jahren von 1999 bis 2009 berücksichtigt. Dabei wurde ebenfalls festgestellt, dass im Wesentlichen das Brustverletzungsrisiko signifi-kant vom Alter abhängig ist. Bei der Darstellung des Verletzungsrisi-kos in Abhängigkeit von der Unfallschwere zeigte sich, dass Rippen-brüche in der Gruppe der älteren Fahrer bereits bei einer

Abbildung 6: Verletzungsverursachung „Rückhaltesystem“ in Abhängigkeit des Alters im Vergleich zu allen MAIS 2+ Verletzten (Thompson et al., 2013)

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Geschwindigkeitsänderung von 31 – 40 km/h auftraten, während dies in der jüngeren Vergleichsgruppe erst ab 51 – 60 km/h in nennenswer-tem Umfang der Fall war (Abbildung 7).

Abbildung 8: Vergleich des Risikos für Rippenfrakturen in Abhängigkeit der relativen Brusteindrückung für 30-Jährige und 70-Jährige (Daten nach Kent et al., 2003)

Abbildung 7: Vergleich des Risikos für Rippen- und Rippenserienfrakturen in Abhän-gigkeit der Unfallschwere und der Altersgruppe (Otte & Wiese, 2012)

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Zu vergleichbaren Ergebnissen kamen Kent et al. (Kent et al., 2003). In dieser Studie wurde das Risiko für Rippenfrakturen sowie Rippenseri-enfrakturen (7 Rippen und mehr) in Abhängigkeit der Brusteindrückung und des Alters untersucht. Das fünfzigprozentige Risiko, eine Rippen-fraktur zu erleiden, liegt bei 30-Jährigen bei einer relativen Brustein-drückung von 35 % und für 70-jährige bei 13 % (Abbildung 8). Relative Brusteindrückung bedeutet hierbei die in Millimeter gemessene Brusteindrückung bezogen auf den Abstand zwischen Rücken und Brustbein. Bezogen auf den heute verwendeten Frontalaufprall-Dummy (Hybrid III) entsprechen die Brusteindrückungen 80 mm sowie 30 mm. Der aktuell verwendete Grenzwert liegt bei 50 mm in Europa und 76,2 mm in den USA. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass das Verletzungsrisiko mit höher werdendem Alter ansteigt und dass dies im Wesentlichen auf physiologische Veränderungen der Knochen-struktur und auf auf diesen Umstand unzureichend angepasste Rück-haltesysteme zurückgeführt werden kann. Der größte Unterschied in Bezug auf die Verletzungsverteilung ergibt sich für den Brustkorb.

1.2 Typische Unfallsituationen älterer Fahrzeugführer

Zur Analyse typischer Unfallsituationen älterer Fahrzeugführer wird ausschließlich die deutsche amtliche Unfallstatistik verwendet. Hier finden sich alle Informationen, die für eine Einordnung der Rahmen-bedingungen notwendig sind. Zunächst stellen Unfallart und Unfalltyp eine gute Möglichkeit zur Eingrenzung kritischer Situationen dar. Die Unfallart beschreibt hierbei die Stellung der Beteiligten zueinander, während der Unfalltyp die Konfliktauslösung beschreibt. Unfallart und Unfalltyp nach Alter der beteiligten Fahrzeugführer wurden im Rah-men einer Sonderabfrage beim Statistischen Bundesamt auf Basis der Unfälle 2010 ermittelt. Hierbei ist es wichtig zu erwähnen, dass bei Pkw-Pkw-Unfällen Mehrfachzählungen vorkommen und daher der Anteil der Fahrzeug-Fahrzeugkollisionen in den folgenden Abbildun-gen überrepräsentiert ist. Üblicherweise werden Unfallart und Unfall-typ nur für den Hauptverursacher angegeben. Bei dieser Betrachtung würden jedoch nicht alle unfallbeteiligten Senioren gezählt werden, was in diesem Zusammenhang als problematischer eingestuft wurde als die Mehrfachzählungen.

Abbildung 9 zeigt, dass insbesondere Kreuzungssituationen für ältere Pkw-Fahrer ein Problem darstellen. Hierbei fällt auf, dass der relati-ve Anteil der Unfallart „Unfall mit Fahrzeug, das einbiegt oder kreuzt“

219

Abbildung 9: Unfallart in Abhängigkeit des Alters des Fahrzeugführers (bei Fahrzeug-Fahrzeugkollisionen mit Mehrfachzählung)

mit steigendem Alter signifikant zunimmt und dass diese Unfallart mit Abstand die häufigste für Senioren darstellt. Auch bei der Unfallart „Zusammenstoß zwischen Fahrzeug und Fußgänger“ ergibt sich eine Zunahme der Unfallart mit steigendem Alter, jedoch auf einem nach absoluten Zahlen niedrigeren Niveau. Bei Unfällen mit Fahrzeugen, die in gleicher oder entgegengesetzter Richtung fahren, sind Senioren un-terrepräsentiert, jedoch spielt die Unfallart „Unfall mit Fahrzeug, das vorausfährt oder wartet“ in absoluten Zahlen auch für Senioren eine relevante Rolle.

Bei der Betrachtung des Unfalltyps fällt eine relative und absolute Häufung beim Unfalltyp „Einbiege-/Kreuzungsunfall“ auf (Abbildung 10). Zum besseren Verständnis muss der „Einbiege-/Kreuzungsunfall“ vom „Abbiegeunfall“ abgegrenzt werden. Der „Abbiegeunfall“ ent-hält Unfälle von Abbiegern mit Verkehrsteilnehmern (also auch Fuß-gängern und Radfahrern etc.), die in gleiche oder entgegengesetzte Richtung fahren oder laufen – allerdings auch Unfälle zwischen einem Abbieger und einem vorschriftsmäßig wartenden Verkehrsteilnehmer. Beim „Einbiege-/Kreuzungsunfall“ wird ein Konflikt beschrieben, der von einem Wartepflichtigen, der einbiegt oder kreuzt, ausgelöst wird.

Beim „Überschreitenunfall“ wird der Konflikt von einem die Fahrbahn querenden Fußgänger ausgelöst, Unfälle durch Abbieger werden da-

220

bei nicht berücksichtigt. Bei den „Überschreitenunfällen“ zeigt sich ein leichter Anstieg des Anteils mit dem Alter des Pkw-Fahrers, dieser fällt jedoch deutlich geringer aus als aufgrund der Unfallart „Zusammen-stoß zwischen Fahrzeug und Fußgänger“ hätte erwartet werden kön-nen. Die verbleibenden Fußgängerunfälle sind wahrscheinlich beim Unfalltyp „Abbiegeunfall“ enthalten. Bei „Fahrunfällen“ zeigt sich ent-sprechend der Verteilung in Bezug auf die Unfallart „Abkommen von der Fahrbahn“, dass insbesondere junge Fahrer hierfür anfällig sind. Bei den Unfällen im Längsverkehr zeigt sich eine deutliche geringere Beteiligung von Senioren, wie es sich aufgrund der Verteilung in Bezug auf die Unfallart „Unfall mit Fahrzeug, dass vorausfährt oder wartet“ erwarten ließ. Insgesamt deuten sich aufgrund der Auswertungen von Unfallart und Unfalltyp an, dass bei älteren Fahrern zwei Probleme be-stehen. Die richtige Erfassung von komplexen Situationen, wie sie an Kreuzungen vorliegen, erscheint ein besonderes Seniorenproblem zu sein (vgl. Schlag, in diesem Band), wie beispielsweise die Verteilungen von „Einbiege-/Kreuzungsunfällen“ oder „Unfälle mit Fahrzeug, das einbiegt oder kreuzt“ anzeigen. Des Weiteren scheint eine verminder-te Reaktionsfähigkeit, wie sie insbesondere für „Überschreitenunfälle“ ursächlich ist, ein Problem darzustellen.

Diese Ergebnisse werden durch die Betrachtung des Fehlverhaltens gestützt. Hier spielen im Wesentlichen Vorfahrtsverletzungen sowie

Abbildung 10: Unfalltyp in Abhängigkeit des Alters des Fahrzeugführers (bei Fahr-zeug-Fahrzeugkollisionen mit Mehrfachzählung)

221

Abbildung 11: Fehlverhalten in Abhängigkeit des Alters (Statistisches Bundesamt; 2011b)

Fehler beim Abbiegen, Wenden, Rückwärtsfahren und Ein- und An-fahren eine Rolle (Abbildung 11). Auch wird „Verkehrsuntüchtigkeit“ (ohne Berücksichtigung von Alkoholverstößen) bei Senioren beson-ders häufig von der Polizei als persönliche Unfallursache angegeben, dies allerdings in geringem Umfang in absoluten Zahlen.

Zur weiteren Eingrenzung typischer Unfallsituationen wurden noch die Uhrzeit und die Ortslage der Unfälle aus dem Jahr 2010 analysiert. Bei den Senioren zeigt sich eine gegenüber allen Verkehrsteilnehmern noch ausgeprägtere Konzentration auf die Zeit von ca. 9 bis 19 Uhr (Abbildung 12). In der Zeit zwischen 0 Uhr und 6 Uhr sind Senioren im Gegensatz zu jüngeren Verkehrsteilnehmern praktisch nicht am Unfallgeschehen beteiligt, tendenziell ähnlich verhält es sich in der Zeit von 20 bis 0 Uhr. Im Vergleich zu den Verkehrsteilnehmern insge-samt haben die Senioren ihre Hauptaktivitätszeit eher in den Vormit-tagsstunden, wohingegen die Vergleichsgruppe überproportional am Nachmittag, in den Abend- und Nachtstunden aktiv ist.

In Bezug auf die Ortslage ergibt sich ab einem Alter von ca. 35 Jahren ein weitgehend gleichmäßiges Bild; 65 – 70 % der Unfälle geschehen innerorts, während entsprechend ca. 30 – 35 % der Unfälle außerorts gemeldet wurden. Nur junge Fahrer im Alter von 18 bis 24 Jahren sind überproportional häufig an Unfällen außerorts beteiligt.

222

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die meisten Un-fälle innerhalb von Ortschaften in Kreuzungssituationen stattfinden. Des Weiteren passieren die meisten Unfälle mit Senioren in Zeiten, bei denen Tageslicht gegeben ist.

Die oben angeführten Auswertungen der Unfallentstehung haben vor allem zwei seniorenspezifische Probleme herausgestellt. Zum einen sind das komplexe Verkehrssituation (Kreuzungen etc.), zum ande-ren sind das Situationen, die eine schnelle Reaktion erfordern. Daraus ergibt sich, dass Assistenzsysteme, die speziell ältere Menschen bei ihren Fahraufgaben unterstützen sollen, genau diese Problemfelder adressieren müssen.

2 Seniorengerechte Fahrzeuge

In diesem Kapitel wird zunächst auf die aktuellen Zulassungszahlen von Fahrzeugen und auf generelle Anforderungen von Senioren an Pkw eingegangen. In den folgenden Kapiteln werden aktuelle und zu-künftige Ausstattungen von heutigen Fahrzeugen mit dem Fokus auf Fahrerassistenzsysteme beschrieben. Abschließend werden Anforde-rungen in Bezug auf die passive Sicherheit von Pkw diskutiert.

Abbildung 12: Unfallzeit im Vergleich zwischen über 65-Jährigen und allen Verun-glückten (Daten nach Statistisches Bundesamt, 2011a und Statistisches Bundesamt, 2011b)

223

Abbildung 13: Beliebteste Pkw bei Haltern, die älter als 60 Jahre sind (ab 30.000 zu-gelassene Pkw) (Daten nach Kraftfahrt-Bundesamt, 2012)

Auch wenn die Gruppe der älteren Autofahrer wächst und somit auch der Kundenkreis mit entsprechenden Bedürfnissen, gibt es derzeit keinen Fahrzeughersteller, der direkt mit altersgerechten Fahrzeugen wirbt. Schon aus Imagegründen würden sich diese „Alte-Leute-Fahr-zeuge“ wohl nicht verkaufen lassen. Dennoch ist es längst Realität, dass die meisten Hersteller Fahrzeuge im Angebot haben, die beson-ders gern von Senioren gekauft werden und offensichtlich bestimmte Qualitäten bereitstellen, die insbesondere für ältere Fahrzeugführer von Bedeutung sind.

Ein Blick in die Statistik zum Fahrzeugbestand und dem Alter der Hal-ter zeigt eine deutliche Präferenz bestimmter Fahrzeugmodelle. Bei den Fahrzeughaltern, die 60 Jahre oder älter sind, sind einerseits die klassischen Volumenmodelle der deutschen Hersteller wie VW Golf, Mercedes C-Klasse, Opel Astra oder Audi A4 stark vertreten, zum an-deren spielt das Kleinwagensegment mit Renault Twingo, Opel Corsa und VW Polo eine bedeutende Rolle. Als dritte Fahrzeugkategorie sind Fahrzeuge mit einer hohen Sitzposition und einem entsprechend ho-hen Einstieg sehr häufig vertreten (Abbildung 13).

Offensichtlich sind einige Fahrzeugmodelle bei der Kundschaft der über 60-Jährigen besonders beliebt. In Abbildung 14 sind die Fahr-

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zeuge dargestellt, bei denen mindestens zwei Drittel der Halter 60 Jahre oder älter sind. Darunter sind Modelle vertreten, die zwar wegen ihrer Bauweise und Größe als „praktisch“ anzusehen sind, aber mög-licherwiese aufgrund ihres Designs bei der jüngeren Käuferschicht weniger Beachtung finden. Weiterhin sind Modelle vertreten, die im höheren Preissegment angesiedelt sind (Mercedes C- und E-Klasse). Dabei ist es naheliegend, dass die nötige Kaufkraft eher bei älteren Fahrzeughaltern vorhanden ist. Ebenfalls stark vertreten sind auch hier Fahrzeugmodelle mit einer hohen Sitzposition (Renault Modus, Opel Meriva, Mercedes B-Klasse, Golf Plus, Citroen Xsara Picasso, Renault Megane Scenic).

Mit der erhöhten Sitzposition gehen zumeist auch eine größere Tür-öffnung und in der Regel ein großer Türöffnungswinkel einher. Diese ermöglichen auch bei eingeschränkter Beweglichkeit ein bequeme-res Ein- und Aussteigen. Gleichzeitig wird die Rundumsicht aus dem Fahrzeug heraus erhöht.

Die Anforderungen an ein seniorengerechtes Auto gehen jedoch weit über eine geeignete Sitzposition hinaus. Neben einer großen Rund-umsicht, die auch bei eingeschränkter Bewegungsfreiheit nutzbar sein

Abbildung 14: Fahrzeugmodelle mit mindestens 66 % Halteranteil 60+ (ab 1000 zuge-lassene Pkw) (Daten nach Kraftfahrt-Bundesamt, 2012)

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sollte, müssen alle Schnittstellen zwischen Fahrer und Fahrzeug der-art gestaltet sein, dass sie für den Fahrer leicht bedienbar sind und ihn nicht vom Verkehrsgeschehen ablenken. Das bedeutet für alle Fahrzeugführer, im Besonderen aber für ältere Fahrer, dass Bedie-nelemente groß und leicht greifbar gestaltet sein sollen. Instrumen-tenanzeigen und Displays müssen gut ablesbar sein; außerdem sollte die Menüführung vom Bordcomputer intuitiv und nachvollziehbar sein (DVR, 2009). Des Weiteren werden leichte Zugänglichkeit des Koffer-raums ohne große Hebe- und Bückbewegung ebenso genannt wie ein helles Scheinwerferlicht.

Prinzipiell gilt es zu berücksichtigen, dass Ausstattungen, die bei Se-nioren beliebt sind, für Jüngere in der Regel nicht nachteilig sind. Zum Beispiel wird die oben angesprochene erhöhte Sitzposition auch gern von Frauen angenommen und ergonomische Anordnungen der Be-dienelemente dürfte auch kein Problem für jüngere Fahrer darstellen.

3 Fahrerassistenzsysteme

Mittlerweile ist eine Vielzahl von Fahrerassistenzsystemen (FAS) auch in Mittelklassefahrzeugen eingebaut. Diese sind zwar nicht vorder-gründing für Senioren entwickelt worden, da einige von ihnen aber dafür gedacht sind, den Fahrer bei seiner Fahraufgabe unter anderem in kritischen und ihn überfordernden Situationen zu entlasten und sei-ne Konzentrationsfähigkeit aufrechtzuerhalten, können sie für ältere Fahrzeugführer eine besondere Hilfe darstellen. Im Folgenden werden wesentliche Systeme, die diese Aufgabe erfüllen, vorgestellt.

Systeme wie das Antiblockiersystem (ABS) oder das elektronische Stabilitätsprogramm (ESP) dienen der Fahrzeugstabilisierung bei der Längs- und Querführung. Beide Systeme helfen, das Fahrzeug in kriti-schen Situationen unter Kontrolle zu behalten und manövrieren zu kön-nen. Sie greifen bei Bedarf autonom ein und können nicht übersteuert werden. Das ESP kann bei einigen Fahrzeugmodellen deaktiviert wer-den, wobei ein Regelungseingriff seitens des Systems auf niedrigem Niveau immer noch stattfinden kann. ABS und ESP sind speziell für die fahrdynamischen Grenzbereiche, die unter anderem durch einen un-günstigen Fahrbahnzustand erreicht werden können, entwickelt wor-den. Hier helfen sie allen Fahrergruppen im gleichen Maße. Die europä-ische Automobilindustrie hat sich im Rahmen einer Selbstverpflichtung

226

zur Verbesserung des Fußgängerschutzes dazu verpflichtet, seit 2004 alle neu zugelassenen Pkw mit ABS auszurüsten.

Der Bremsassistent (BAS) baut im Fall einer Gefahrenbremsung den maximalen Bremsdruck automatisch auf, auch wenn am Bremspedal nicht der größtmögliche Bremsdruck aufgebaut wurde. Die Notwen-digkeit einer Notbremsung wird dabei unter anderem an der Umsetzzeit zwischen Gas- und Bremspedal und der Geschwindigkeit, mit der das Gaspedal losgelassen wurde, erkannt. Damit wird der Bremsweg nicht nur durch eine Verkürzung der Reaktionszeit reduziert, sondern auch durch einen sofortigen Aufbau des maximalen Bremsdrucks. Zahlrei-che Untersuchungen zeigen, dass der BAS insbesondere bei älteren Fahrern ein hohes Unfallvermeidungspotenzial hat, weil er Bereiche der körperlichen Leistungsfähigkeit adressiert, die mit zunehmendem Alter nachlassen. So zeigt sich, dass die durchschnittliche Reaktions-zeit im Alter erheblich ansteigt (Ketcham & Stelmach, 2004). Ähnlich verhält es sich mit dem raschen Aufbau von Muskelkraft (Schnellkraft). Der Rückgang beträgt zwischen dem Eintritt ins Erwachsenenalter bis zum 80. Lebensjahr rund 30 – 40 %, wobei sich das Nachlassen mit zunehmendem Alter verstärkt (Tittlbach, 2002). Insbesondere für die oben dargestellten Unfallarten „Kollision zwischen Fahrzeug und Fuß-gänger“ und „Unfall mit Fahrzeug, das vorausfährt oder wartet“, bei der Senioren als Fahrer tendenziell zur Risikogruppe gehören, kann der BAS von erheblichem Nutzen sein.

Das Adaptive Cruise Control (ACC) ist ein System der Längsführung. Es verfügt über eine Umfelderkennung, bei der mittels Radar oder Li-dar der vorrausfahrende Verkehr „beobachtet“ wird. Dabei wird die Geschwindigkeit des eigenen Fahrzeugs wie bei einem Tempomat entsprechend der Vorauswahl geregelt, in Abhängigkeit vom voraus-fahrenden Verkehr wird jedoch ein definierter Abstand eingehalten und je nach Bedarf auch gebremst oder beschleunigt. Hauptziel dieses Systems ist zunächst die Komfortsteigerung für den Insassen, sowohl bei langen Autobahnfahrten als auch im dichteren Stadtverkehr (hier dann mit ACC Stop and Go).

Eine weitere Evolutionsstufe des ACC stellt der erweiterte Bremsas-sistent dar. Mittels dieser Technik wird die Bewegung des voraus-fahrenden Verkehrs analysiert. Im Fall einer nötigen Bremsung warnt dieses System aktiv den Fahrer und beginnt ab einem bestimmten Zeitpunkt selbstständig mit einem Bremsmanöver. Je nach Auslegung

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kann das Fahrzeug dabei bis zum Stillstand abgebremst werden. Das System kann demnach insbesondere dann sein Potenzial ausspielen, wenn Situationen im vorausfahrenden Verkehr falsch oder zu spät eingeschätzt werden Der Erfolg der rechtzeitigen Warnung ist dabei von ihrer Bemerkbarkeit und Eindeutigkeit abhängig. Hier kann es ggf. notwendig sein, die Auslösekriterien in Abhängigkeit von den Wahr-nehmungsgrenzen des Fahrers zu variieren.

Assistenzsysteme, die das Sehen bei Nacht verbessern sollen (sog. sichtverbessernde Systeme), adressieren die vor allem bei älteren Verkehrsteilnehmern weit verbreitete nachlassende Sehleistung bei Dunkelheit und Dämmerung, die durch mangelnde Fähigkeit des Au-ges verursacht wird, sich an die Dämmerung oder an die Dunkelheit anzupassen. Im Ergebnis werden Kontraste nur noch schwach wahr-genommen. Nachtsichtsysteme wie beispielsweise „Night Vision“ ver-stärken mittels einer Infrarotkamera den Kontrast und projizieren das Bild an die Windschutzscheibe oder stellen es auf einem Display in der Instrumententafel dar. Intelligente Lichtsysteme, wie beispielswei-se das „Adaptive Forward Lighting“ (AFL), beleuchten in Abhängigkeit von der aktuellen Fahrsituation das Umfeld. Während beim Abbiege-vorgang das entsprechende Seitenfeld neben dem Fahrzeug ausge-leuchtet wird, kann auf der Landstraße je nach Fahrgeschwindigkeit und Kurvenradius die Straße vollständig ausgeleuchtet werden, wobei die Scheinwerfer derart eingestellt werden, dass der Gegenverkehr dabei mit berücksichtigt und nicht geblendet wird. Gemäß Abbildung 12 geschehen Unfälle unter Beteiligung von Senioren nachts sehr sel-ten, daher ist das Wirkpotenzial der sichtverbessernden Systeme zur Unfallvermeidung, nach aktuellem Stand, eher gering. Problematisch könnte die Wirkung werden, wenn ältere Fahrer aufgrund solcher Sys-teme nachts deutlich häufiger fahren und ihre Gefahrenexposition so-mit erhöhen.

Zu den FAS, die den Fahrer bei der Querführung des Fahrzeugs un-terstützen, zählen Systeme, die beim Halten der Spur helfen oder die das Wechseln einer Fahrspur vereinfachen sollen. Totwinkel- oder Spurwechselassistenten überwachen mittels eines Nahradars den Be-reich neben einem Fahrzeug, der über die Rückspiegel im Regelfall nur schwer oder gar nicht einsehbar ist. Befindet sich in diesem Bereich ein anderes Fahrzeug, so wird dies dem Fahrer entsprechend angezeigt. Ist dabei der Blinker gesetzt, erfolgt die Warnung durch ein stärkeres Signal. Spurverlassenswarner zeigen dem Fahrer an, wenn er (nach

228

Einschätzung des Systems) unabsichtlich die Fahrspur verlässt. Das kann beispielsweise der Fall sein, wenn das Fahrzeug auf der Autobahn die Spur wechselt, ohne dass dabei der Blinker gesetzt wurde. Mittels einer Kamera werden die Markierungen auf der Fahrbahn detektiert, entsprechend kann das Kreuzen der Fahrspuren erkannt und bewertet werden. Je nach System wird der Fahrer dann durch eine Vibration am Lenkrad oder am Sitz oder aber durch ein akustisches Signal gewarnt. In der nächsten Evolutionsstufe kann das System zum Spurhalteassis-tenten erweitert werden. Dabei werden nicht nur die Fahrspur und ihr ungewünschtes Verlassen erkannt, zusätzlich wird das Fahrzeug durch automatische Lenkbewegungen in der Spur gehalten. Dabei verste-hen sich diese Systeme immer nur als Unterstützer des Fahrers. Ist er bei der Aufgabe der Spurführung nicht auch selbst aktiv, schaltet der Spurhalteassistent nach einer gewissen Toleranzzeit ab. Das System kann zudem jederzeit vom Fahrer übersteuert werden.

Parksensoren gehören heutzutage zur Standardausrüstungen der meisten Mittelklassefahrzeuge. Mittels Ultraschall oder Radar wird der Abstand zu Hindernissen hinter und ggf. auch vor dem Fahrzeug gemessen. Je nach Nähe zum Hindernis ertönt ein Warnton in un-terschiedlich schneller Folge, vereinzelt werden auch optische Sig-nale eingesetzt. In Erweiterung können diese Systeme auch mit ei-ner Rückfahrkamera ausgestattet sein. Diese wird aktiviert, wenn der Rückwärtsgang eingelegt ist. Über einen Monitor wird dem Fahrer der Bereich hinter seinem Fahrzeug angezeigt, in der Regel wird über ver-schiedenfarbige Linien noch der Fahrweg in Abhängigkeit vom aktuel-len Lenkeinschlag dargestellt.

Seit wenigen Jahren sind auch sogenannte Surround-View-Systeme erhältlich. Dabei sind am Auto mehrere Weitwinkelkameras ange-bracht, die das Umfeld des Fahrzeugs erfassen. Diese Bilder werden digital entzerrt und dem Fahrer als Gesamtansicht auf einem Monitor dargestellt. So kann er aus der Vogelperspektive das gesamte Fahr-zeugumfeld überblicken. Zusätzlich zur Anzeige des Umfelds oder zur Abstandsmessung gibt es Einparkhilfen, die das Lenken beim Einpar-ken vollständig selbst übernehmen. Beim Vorbeifahren an einer po-tenziellen Parklücke wird diese vermessen. Ist sie groß genug, wird das Fahrzeug in diese Lücke hineinmanövriert, der Fahrer muss le-diglich Gas- und Bremspedal bedienen, behält damit aber jederzeit die Kontrolle über sein Fahrzeug. Systeme zur automatischen Ver-kehrszeichenerkennung sind in Oberklassefahrzeugen weit verbreitet.

229

Mittels einer Kamera und der automatischen Bildauswertung werden Verkehrszeichen zur Regelung der Geschwindigkeit erkannt und dem Fahrer entweder an die Windschutzscheibe projiziert oder ihm in ei-nem Display in der Instrumententafel angezeigt. Dem Fahrer ist somit die Möglichkeit gegeben, jederzeit das aktuelle Geschwindigkeitslimit zu prüfen. Zukünftig ist es vorstellbar, dass in Abhängigkeit von den erkannten Verkehrszeichen auch die Fahrgeschwindigkeit des Fahr-zeugs geregelt wird.

Ein sehr weit verbreitetes System, welches mittlerweile auch in vie-len Kleinwagen zur Serienausstattung gehört, ist die Klimaanlage. Sie trägt in einem nicht zu unterschätzenden Maß zur Komfortverbesse-rung im Innenraum bei und erhöht damit die Konzentrationsfähigkeit und die Aufmerksamkeit des Fahrers. Je nach Klimaanlage kann diese auf eine gewünschte Innenraumtemperatur eingestellt werden (Klima-automatik). Bei einfacheren Systemen kann lediglich die Zufuhr kalter Luft gesteuert werden.

Ebenso weit verbreitet und heutzutage nahezu selbstverständlich in jedem Fahrzeug sind Navigationssysteme. Sie sind entweder fest im Fahrzeug verbaut oder aber nachträglich installiert. Navigationssyste-me ermöglichen es dem Fahrer, sich zu einem ihm unbekannten Ziel führen zu lassen, ohne dass er dabei durch das Lesen einer Karte abgelenkt wird. Somit erhöhen sie prinzipiell die Aufmerksamkeit des Fahrers auf den Verkehr. Dabei müssen diese Systeme aber sicher-stellen, dass sie im Bedarfsfall leicht und intuitiv zu bedienen sind, dass Ansagen verständlich und nachvollziehbar sind und dass Anzei-gen im Display gut zu erkennen und zu überblicken sind. Ist das nicht der Fall, kann ein Navigationssystem eher zu zusätzlicher Ablenkung führen und einen negativen Effekt erreichen. So zeigen Bunji et al. (2006), dass es bei der Geschwindigkeit der Informationsaufnahme und -verarbeitung bei hinreichend großen Buchstaben und Zeichen auf dem Display keine signifikanten Unterschiede zwischen jungen und älteren Menschen gibt. Es erweist sich aber als problematisch, wenn die Darstellungen nicht groß genug sind, da aufgrund der lang-sameren Fokussierung auf das Display im Nahbereich mit steigendem Alter ein exponenzieller Anstieg der Verarbeitungsdauer zu beobach-ten ist. Die meist notwendige optische Kontrolle führt allerdings regel-mäßig zu erhöhter Abwendung von der primären Fahraufgabe. Gerade für ältere Fahrzeugführer erscheint daher die stärkere Betonung der akustischen Führung sinnvoll.

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Um den gefährlichen Sekundenschlaf beim Autofahren zu verhindern, werden in Fahrzeugen Müdigkeitswarner eingesetzt. Diese geben an den Fahrer eine optische und akustische Warnung, wenn die Gefahr eines Sekundenschlafes erkannt wird. Während frühere Systeme die Augen- und Lidbewegungen des Fahrers mit einer Kamera beobach-tet und ausgewertet haben und anhand charakteristischer Verhaltens-weisen mögliche Gefährdungen erkannt haben, wird heute die Bewe-gung am Lenkrad gemessen. Das Auswerten von Mikroimpulsen lässt ebenfalls Rückschlüsse auf den Zustand des Fahrers zu und führt ggf. dazu, dass das System warnt.

Noch in der Entwicklung befindet sich der Kreuzungsassistent. Die-ser Assistent soll den Fahrer beim sicheren Passieren einer Kreuzung unterstützen. Er warnt vor möglichen Rotlichtverstößen und hilft bei der rechtzeitigen Erkennung von Stoppschildern, detektiert andere Verkehrsteilnehmer, mit denen es möglicherweise zu Konfliktsituatio-nen kommen könnte, und gibt Empfehlungen für eine ideale Fahrge-schwindigkeit, beispielsweise zur Ausnutzung einer „Grünen Welle“. Die Funktionsweise des Kreuzungsassistenten ist dabei sehr kom-plex. Je nach Ausbaustufe und Fähigkeit des Systems ist neben ei-ner Vielzahl von Umweltparametern, die das Fahrzeug selbst erfassen und auswerten kann, ein hohes Maß an Kommunikation mit anderen Fahrzeugen und mit der Verkehrsinfrastruktur (z. B. Lichtsignalanla-gen) nötig. Dafür muss es nicht nur für alle Beteiligten einen einheit-lichen Standard geben, der den Weg dieses Informationsaustauschs definiert, gleichzeitig müssen auch hinreichend viele Fahrzeuge mit solchen Systemen ausgestattet sein, um den Kreuzungsassistenten effektiv zum Einsatz bringen zu können. Von allen hier erwähnten FAS hat der Kreuzungsassistent bei der Vermeidung von Unfällen mit Se-nioren als Fahrzeugführer das größte Potenzial. Gemäß Abbildung 9 sind Senioren an Unfällen der Unfallart „Unfall mit Fahrzeug, das einbiegt oder kreuzt“ besonders häufig beteiligt. Gibt man ihnen die Möglichkeit, komplexe Kreuzungssituationen leichter zu überblicken, kann das zur Reduzierung der Unfallzahlen beitragen.

Ein großes Problem bei Fahrerassistenzsystemen stellt die Gegeben-heit dar, dass unterschiedliche Fahrerkollektive unterschiedlich starke Unterstützung erfordern. So sollte die Warnung von kollisionsvermei-denden Systemen auf die Reaktionsfähigkeit des Fahrers abgestimmt sein. Erfolgt die Warnung subjektiv betrachtet zu früh, besteht die Ge-fahr, dass die Warnung ignoriert wird, erfolgt sie zu spät, ist die Wir-

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kung begrenzt. Senioren sind in Bezug auf ihre Eignung als Autofahrer äußerst heterogen (vgl. u.a. Schlag, in diesem Band). Die Leistungsfä-higkeit ist nicht eindeutig altersabhängig. Insofern besteht die Haupt-aufgabe für die Zukunft darin, FAS basierend auf Beobachtungen des Fahrers auf diesen abzustimmen.

In der folgenden Tabelle ist für die beschriebenen Fahrerassistenz-systeme angegeben, welche möglichen Einschränkungen älterer Ver-kehrsteilnehmer adressiert werden. Dabei ist zu beachten, dass der Nutzen speziell für ältere Menschen für keines der aufgeführten Sys-teme nachgewiesen wurde, lediglich für den Bremsassistenten gibt es Untersuchungsergebnisse, die einen Sicherheitsgewinn insbesondere für Senioren belegen.

Tabelle 1: Mögliche Einschränkungen bei älteren Verkehrsteilnehmern, die durch Fahrerassistenzsysteme adressiert werden könnten *ist noch in der Entwicklung

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Eingeschränkte Rundumsicht

x x x

Geringere Reaktionsleistung

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Überblicken komplexer Situation

x x

Reduzierte Schnellkraft x

Eingeschränkte Sehfähigkeit bei Dunkelheit/Dämmerung

x x x x x

Eingeschränkte Konzentrationsfähigkeit über längeren Zeitraum

x x x x

232

4 Passive Sicherheit

Die passive Sicherheit beschreibt die Fähigkeit des „Systems“, die Unfallfolgen möglichst gering zu halten, wenn ein Unfall eingetreten ist. Hier spielt die Auslegung der Straßen (z. B. Vermeidung von un-deformierbaren Hindernissen), das Rettungswesen (schnelle Hilfe vor Ort, Fortschritte in der Medizin) und ähnliches ebenso eine Rolle wie die Performance des Kraftfahrzeugs. Da der Frontalaufprall am häu-figsten vorkommt, wird im Folgenden nur auf die passive Sicherheit des Kraftfahrzeugs für den Frontalaufprall eingegangen.

Für die Reduzierung der Belastung der Insassen sind die Fahrzeug-struktur und das Rückhaltesystem verantwortlich. Die Struktur sollte idealerweise so ausgelegt sein, dass Intrusionen in die Fahrgastzelle vermieden werden und auf der anderen Seite die Fahrgastzelle nicht zu stark verzögert wird. Sofern die Fahrzeuge nicht übermäßig groß werden sollen, stellen diese beiden Anforderungen einen Zielkonflikt dar.

Das Rückhaltesystem hat die Aufgabe, den Insassen möglichst früh-zeitig an der Geschwindigkeitsänderung des Fahrzeugs teilhaben zu lassen, um so die Belastungen auf einem relativ niedrigen Niveau zu halten. Das Rückhaltesystem besteht aus Gurten, Airbags, Polstern am Armaturenbrett und den Sitzen.

Es gibt verschiedene Anforderungen an die passive Sicherheit. Im We-sentlichen sind für den Frontalaufprall die Zulassungsvorschrift ECE Regelung 94 sowie das Euro NCAP Testverfahren relevant. Bei beiden Tests wird das Auto mit einer Teilüberdeckung von 40 % der Fahrzeug-front gegen eine deformierbare Barriere gefahren. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Verfahren ist, dass im Euro NCAP Test eine höhere Geschwindigkeit gefahren wird (64 km/h im Vergleich zu 56 km/h). Obwohl die Erfüllung der ECE Regelung eine notwendige Voraussetzung für die Zulassung von Kraftfahrzeugen darstellt, ist ein gutes Abschneiden bei dem Verbraucherinformationstest Euro NCAP für die meisten Hersteller das Hauptentwicklungsziel. Die Anforderun-gen der ECE Regelung sind damit in der Regel mit erfüllt.

Ein wesentlicher Grundgedanke bei der Entwicklung von Testverfahren war es, eine Unfallsituation mit einer hohen Unfallschwere zur Beurtei-lungsgrundlage zu machen. Dabei wurde davon ausgegangen, dass

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Fahrzeuginsassen auch bei leichteren Unfällen von den Maßnahmen profitieren würden. Es deutet sich heute aber an, dass Fahrzeuge, die für eine zu hohe Testschwere ausgelegt werden, bei geringer Unfall-schwere zu unnötig schweren Verletzungen führen können.

Das Ziel bei der Entwicklung von Rückhaltesystemen ist es, den In-sassen möglichst frühzeitig an das Fahrzeug zu koppeln und dabei den zur Verfügung stehenden Weg so auszunutzen, dass der Insasse kurz vor steifen Bauteilen (z.  B. Armaturenbrett) gestoppt wird. Der benötigte Weg ist hierbei stark von der Unfallschwere abhängig. Diese kann beispielsweise durch die maximale Fahrzeugverzögerung oder die Geschwindigkeitsänderung des Fahrzeugs ausgedrückt werden.

Historisch betrachtet haben sich Rückhaltesysteme seit der Einfüh-rung des statischen 2-Punkt-Gurtes in den 50er Jahren des 20. Jahr-hunderts kontinuierlich weiter entwickelt. Zunächst wurde der Gurt verwendet, der unabhängig vom Insassen und der Unfallschwere immer die gleichen Eigenschaften hatte. In der weiteren Entwicklung kamen Gurtstraffer und Airbags hinzu, die entweder ein- oder abge-schaltet werden konnten und somit einen ersten Schritt in Richtung Adaptabilität darstellten. Heutzutage werden mehrstufige Airbags ver-wendet, die abhängig von Gurtbenutzung, erwarteter Unfallschwere und Masse des Insassen ausgelöst werden. Ebenfalls kann das Kraft-niveau des Gurtkraftbegrenzers in einigen Fahrzeugen in Stufen an-gepasst werden. Bei all diesen Maßnahmen werden im Wesentlichen unterschiedlich große und schwere Insassen berücksichtigt, altersab-hängige Belastbarkeitsgrenzen werden dagegen bisher nicht beach-tet. Nach aktuellem Stand wird jedoch davon ausgegangen, dass die Belastbarkeit tatsächlich vom Insassenalter abhängt. So konnte in Kapitel 1.1 gezeigt werden, dass insbesondere das Risiko für Rippen-verletzungen stark mit dem Alter zunimmt.

Um deutliche Fortschritte insbesondere in Bezug auf den Schutz von älteren Fahrzeuginsassen zu erzielen, müssen die Rückhaltesysteme an den Unfall und den Insassen adaptierbar sein. Hierdurch könnte sichergestellt werden, dass der zur Verfügung stehende Weg auch bei geringer Unfallschwere voll zur Vorverlagerung ausgenutzt wird und somit die Belastungen auf einem Niveau, das so niedrig wie möglich ist, gehalten werden. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist es aber, dass der Insasse in Bezug auf seine Belastbarkeit erkannt werden kann. Hierfür wurde z. B. von Hardy et al. (Hardy et al., 2005) ein Sen-

234

sor entwickelt, mit dem die Knochenstruktur von einem Finger ge-scannt wird und daraus auf die Belastbarkeit des Insassen geschlos-sen wird. Ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang stellt die Prognosesicherheit der Unfallschwere dar. Insbesondere in Bezug auf die geringere Belastbarkeit der Senioren, wäre es möglicherweise an-gebracht, das Risiko der Unterschätzung der Unfallschwere insoweit zu tolerieren, als nicht große Sicherheitsreserven vorgesehen werden – also dass das Rückhaltesystem so ausgelegt wird, dass der Insas-se den zur Verfügung stehenden Weg bei der prognostizierten Un-fallschwere ausnutzt und bei unterschätzter Unfallschwere mit harten Strukturen in Kontakt kommen kann. Hierdurch könnte die Belastung für die meisten Insassen reduziert werden. Abgesehen von den zu be-rücksichtigenden Sicherheitsreserven gilt auch für das Rückhaltesys-tem, dass alle Insassen von Maßnahmen für Senioren profitieren.

Prinzipiell sind die Autos so gut wie die Anforderungen, die an sie gestellt werden. Aktuelle Anforderungen gemäß Zulassungs- und Verbraucherinformationstests fordern einen guten Schutz bei relativ schweren Unfällen. Hierbei sind die Dummygrenzwerte nach aktuellem Stand an die Belastbarkeit jüngerer Insassen angelehnt. Diese wurden bei den ersten Untersuchungen zur Biomechanik als allgemeingültig angesehen, was aufgrund des damals üblichen Fahrerkollektives auch gerechtfertigt war. In Bezug auf die Belastbarkeit von Senioren und typische Unfallsituationen von Senioren führen diese Anforderungen zu unnötig hohen und damit kritischen Belastungen für Senioren. Das Problem ließe sich besser mit einer geringeren Testschwere (ggf. in ei-nem zusätzlichen Test) und an Senioren angepasste Grenzwerte lösen. Da insbesondere in Bezug auf die Fahrgastzellenstabilität die heutigen Tests erheblichen Fortschritt in der Straßenverkehrssicherheit mit sich gebracht haben, darf auf diese Tests nicht verzichtet werden.

5 Aktuelle Diskussion in Bezug auf die Zulassung von Kraftfahrzeugen

ESP und Bremsassistent sind bereits Bestandteile der aktuellen Ge-setzgebung für die Zulassung von Kraftfahrzeugen. Seit 2011 müssen alle neu homologierten Pkw mit ESP ausgestattet sein, ab 2014 gilt dies für alle neu zugelassenen Pkw. Der Bremsassistent ist ab dem

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Jahr 2011 für alle neu homologierten Pkw und ab 2015 für alle neu zugelassenen Pkw verbindlich vorgeschrieben.

Die wesentliche Vorschrift in Bezug auf die passive Sicherheit von Pkw für den Frontalaufprallschutz ist die ECE Regelung 94. Eine seit 2008 eingesetzte Arbeitsgruppe zur Überarbeitung dieser Regelung hat mit ihrem 2011 überarbeiteten Auftrag die Aufgabe erhalten, unter ande-rem den Schutz von älteren Fahrzeuginsassen zu verbessern (GRSP, 2012). Hierfür wird aktuell die Einführung eines zusätzlichen Frontalan-pralltests mit voller Überdeckung diskutiert. Hierbei könnte die Testge-schwindigkeit auf eine für ältere Fahrer typische Kollisionsgeschwin-digkeit von ca. 40 km/h mit entsprechend engeren Grenzwerten für die Dummymesswerte gesetzt werden. Aktuell wird der Frontalaufprall-schutz ausschließlich mit einem sogenannten Off-Set Test geprüft, bei dem das Fahrzeug mit einer Teilüberdeckung von 40  % gegen eine deformierbare Barriere stößt. Dieser Test ist insbesondere geeignet, die Fahrzeugstruktur zu bewerten, während ein Test mit voller Überde-ckung härtere Anforderungen an das Rückhaltesystem stellt.

6 Zusammenfassung

Sowohl in den Unfallanalysen wie bei den Anforderungen an Fahrzeu-ge zeigen sich Unterschiede zwischen der Gruppe der Fahrzeugführer insgesamt und derjenigen der Senioren. So zeigt sich beim Unfallge-schehen, dass einerseits Unfälle aufgrund riskanter Fahrweise (hohe Geschwindigkeit, Abkommen von der Fahrbahn, Alkoholeinfluss etc.) bei Senioren seltener vorkommen, während sie andererseits übermä-ßig häufig in Unfälle in komplexen Verkehrssituationen (Einbiege- und Kreuzungsunfälle) verwickelt sind. Ebenfalls steigt mit dem Alter des Fahrers das Risiko für Fahrzeug-Fußgänger-Unfälle. Im Gegensatz zur biomechanischen Belastbarkeit treten Einschränkungen in Bezug auf die Eignung als Fahrer nicht direkt altersabhängig auf, sondern sind individuell unterschiedlich.

Weiterhin haben die Auswertungen von Unfalldatenbanken ergeben, dass das Risiko von Verletzungen im Bereich des Brustkorbs für ältere Fahrzeugführer deutlich erhöht ist. Daraus ergibt sich die Frage, ob Rückhalteeinrichtungen im Fahrzeug altersabhängig adaptierbar sein sollten und ob dieser Zusammenhang ggf. in Fahrzeugtests berück-sichtigt werden sollte.

236

Hinsichtlich der Fahrzeugzulassungen zeigt sich, dass es bestimmte Fahrzeugmodelle gibt, die von älteren Kunden bevorzugt werden. Da-bei sind vor allem Fahrzeugmodelle zu nennen, die durch eine hohe Sitzposition, eine große Türöffnung und eine gute Rundumsicht ge-kennzeichnet sind. Viele Fahrzeughersteller bieten bereits solche Mo-delle an, ohne diese jedoch explizit als Seniorenfahrzeuge zu bewer-ben.

Die Übersicht zu den Fahrerassistenzsystemen macht deutlich, dass prinzipiell alle genannten Systeme für ältere Fahrer von Nutzen sein können und bei der Bewältigung von Fahraufgaben hilfreich sein kön-nen. In Bezug auf die altersbedingte Abnahme der Leistungsfähigkeit (Reaktionsvermögen, Schnellkraft, Überblicken von komplexen Ver-kehrssituationen) sind insbesondere der Bremsassistent und der noch in der Entwicklung befindliche Kreuzungsassistent besonders hervor-zuheben.

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239

Auto der Zukunft für Ältere?

Arnd Engeln und Julia Moritz

1 Mobilität im Alter

Der steigende Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung in Kom-bination mit der zunehmenden Automobilität älterer Menschen wird zu einem überproportionalen Anstieg älterer Autofahrer im Straßen-verkehr führen (vgl. auch Schlag sowie Schlag & Beckmann, in die-sem Bd.). Fast drei viertel der älteren Menschen über 65 Jahren verfü-gen heute bereits über einen Pkw im eigenen Haushalt (Hieber et al., 2006). Der Anteil der Fahrerlaubnisbesitzer mit Zugang zu einem Pkw wird sich in Zukunft weiter vergrößern. Vor allem für Frauen wird die Relevanz des Pkw weiter ansteigen (Hieber et al., 2006).

Das Thema Mobilität und Alter hat in den letzten Jahren einen bedeu-tenden Zuwachs an öffentlichem Interesse verzeichnet. Dies zeigt sich an der großen Zahl an Forschungsarbeiten, Publikationen und Infor-mationsangeboten, die sich damit auseinandersetzen. In vielen dieser Arbeiten steht die Anpassung des Angebots des ÖPNV an die Bedürf-nisse älterer Menschen (z.  B. Sieger & Hintzke, 2005; Siegmann, in diesem Bd.) oder die Gestaltung des Verkehrsraumes (z. B. Beckmann et al., 2005; Ackermann & Gerlach, 2005; Topp, in diesem Bd.) im Fokus. Vergleichsweise wenig Literatur findet man hingegen zur be-dürfnisgerechten Gestaltung von Pkw für ältere Autofahrer. Dies liegt vermutlich daran, dass  – im Gegensatz zu Forschungen zu öffentli-chen Angeboten – Forschungsprojekte zu Individualfahrzeugen meist von privatwirtschaftlichen Automobilherstellern durchgeführt werden, die die Ergebnisse für eigene Wettbewerbsvorteile nutzen möchten und entsprechend wenig Interesse an deren Veröffentlichung haben. Weiterhin wird die altersgerechte Gestaltung von Verkehrsmitteln des ÖPNV von der Bevölkerung positiv bewertet, während bei der altersge-rechten Gestaltung von Pkw aus Unternehmenssicht eine wirtschaft-lich nachteilige Stigmatisierung des Fahrzeugs, im schlimmeren Fall sogar der ganzen Automobilmarke als „Seniorenprodukt“ befürchtet wird. Interessanterweise werden „Seniorenprodukte“ von vielen älteren Menschen nicht gewünscht. Dies führt dazu, dass sich bis heute kein Pkw in Großserie auf dem Markt befindet, der offiziell als altersfreund-lich beworben wird. Ein Fahrzeug speziell für Ältere muss an die spe-

240

zifischen Bedürfnisse und Möglichkeiten dieser Menschen angepasst sein. Wie sich die Bedürfnisse und Möglichkeiten im Alter gestalten, darauf wird in diesem Beitrag eingegangen. Unter anderem wird eine eigene Pilotstudie vorgestellt, in der die Bedürfnisse und Möglichkeiten bzgl. der Mobilität älterer Menschen untersucht wurden.

2 Mobilitäts- und sicherheitsrelevante Veränderungen im Alter

Im Laufe des Alternsprozesses entwickeln sich die sensorischen, ko-gnitiven und motorischen Leistungsfähigkeiten des Menschen häufig ungünstig. Diese Entwicklung verläuft beim Menschen jedoch weder gleichförmig noch mit konstanter Geschwindigkeit. Vielmehr zeichnet sich der Alternsprozess durch eine große interindividuelle Varianz aus. Es ist entgegen häufiger landläufiger Meinung jedoch nicht ausrei-chend untersucht, unter welchen Umständen sich Beeinträchtigungen einer Fähigkeit auf die Sicherheit beim Autofahren auswirken. Beein-trächtigte Fähigkeiten sind bis zu einem gewissen Maße zumindest kompensierbar (vgl. Schlag & Engeln, 2001). Die Strategien, die zur Kompensation einer Leistungsminderung eingesetzt werden, können vielfältig sein und auf verschiedenen Ebenen ansetzen (vgl. Engeln & Schlag, 2008). Unter anderem können sie auch Einfluss auf die Wahl des gefahrenen Kraftfahrzeugmodells haben. Trotz der hohen Indivi-dualität der Altersveränderungen und des Umganges damit können Entwicklungen aufgezeigt werden, die mit zunehmendem Alter wahr-scheinlicher werden. Diese werden – sofern sie für das Führen eines Pkw relevant werden können – im Folgenden kurz zusammengefasst. Dabei wird der Fokus auf sensorische, kognitive und motorische Ver-änderungen, den Einfluss von Krankheiten und Medikamentenkon-sum sowie motivationale Veränderungen gelegt (vgl. zum Überblick Schlag, in diesem Band).

2.1 Sensorische Fähigkeiten

Hinsichtlich der sensorischen Fähigkeiten sind vor allem das Sehen und Hören für das Autofahren relevant.

Bei der auditiven Wahrnehmung tritt der größte Hörverlust im hohen Frequenzbereich auf. Auch fällt es älteren Menschen aufgrund des

241

eingeschränkten Frequenzspektrums schwerer zu lokalisieren, aus welcher Richtung ein Geräusch kommt (Draeger & Klöckner, 2001). Ebenso nimmt die Fähigkeit zur Differenzierung zwischen Sprache und Hintergrundgeräuschen ab. Oftmals wird die eingeschränkte Hör-leistung aufgeführt, wenn altersbedingte Veränderungen im Hinblick auf die Fahrzeugführung besprochen werden. Es wird jedoch der Zu-sammenhang zwischen der verringerten Hörleistung und der Fähigkeit zum Führen eines Fahrzeugs nicht expliziert (vgl. Cohen, 2008; Po-schadel & Sommer, 2008). Forschungsergebnisse zum Beleg dieses Zusammenhangs existieren unserem Wissen nach bisher nicht.

Der visuellen Wahrnehmung im Straßenverkehr kommt ein noch wich-tigerer Teil zu als der auditiven Wahrnehmung (siehe Cohen, 2008, für eine ausführlichere Darstellung). Bezüglich der visuellen Wahrneh-mung lässt im Alter z. B. das Erkennen von bewegten Objekten nach (dynamische Sehschärfe), was besonders für den hochdynamischen Straßenverkehr relevant erscheint. Auch das periphere Sehen ist im Alter beeinträchtigt. Dieses wird v.a. für die Absicherung des seitlichen Nahbereichs des Fahrzeugs eingesetzt und bei sich bewegenden Ob-jekten. Vor allem im Hinblick auf die Benutzung von Fahrerinformati-onssystemen ist zu beachten, dass die für die Akkommodation benö-tigte Zeit sich erhöht und die Akkommodationsbreite1 abnimmt.

Bereits in vergleichsweise jüngerem Alter lässt das Sehen bei Däm-merung und Dunkelheit nach. Ältere Menschen benötigen größere Kontraste und Lichtmengen, um Objekte überhaupt wahrnehmen zu können. Außerdem nimmt die Adaptationsfähigkeit des Auges an Hel-ligkeitsunterschiede ab. Vor allem bei Blendung z. B. durch ein entge-genkommendes Fahrzeug benötigt das Auge mehr Zeit zur Anpassung.

Zwar verschlechtern sich alle Sinnesleistungen tendenziell mit dem Alter, der Eintritt der einzelnen Verschlechterungen variiert jedoch über eine große Altersspanne und verläuft meist schleichend, so dass Verschlechterungen häufig lange unerkannt bleiben. Relevant ist in diesem Bereich vor allem, dass nicht alle Verschlechterungen z.  B. durch das Tragen einer Brille oder von Hörhilfen ausgeglichen werden können. So konnten Ellinghaus et al. (1990) zeigen, dass bei den ge-testeten aktiven älteren Autofahrern zwischen 60 und 82 Jahren die

1 Die Akkommodationsbreite bezeichnet den „Bereich zwischen maximaler (Fernpunkt) und minima-ler (Nahpunkt) Gegenstandsweite, bei der noch eine scharfe Abbildung auf die Netzhaut möglich ist“ (Freudig, 2005, S. 162).

242

Tagessehschärfe auf Ferne und Nähe trotz Korrektur durch Sehhil-fen signifikant schlechter war als bei Probanden mittleren Alters (vgl. Weller, in diesem Band). Eine reduzierte Sehfähigkeit darf aber nicht unkritisch als erhöhte Unfallgefahr interpretiert werden. So erbrachte eine Metaanalyse verschiedener Unfallstudien einen signifikanten, al-lerdings nur geringen Zusammenhang zwischen Sehleistung und Un-fällen (US DoT, 2002). Entscheidend für die Sicherheit ist hingegen der angemessene Umgang mit den eigenen Fähigkeiten und Grenzen. Ein Problembewusstsein bzw. ein offener Umgang älterer Betroffener mit abnehmender sensorischer Leistungsfähigkeit kann außer durch den Effekt des schleichenden Prozesses der Leistungsverschlechterung möglicherweise auch durch kurz gedachte „moralische Hinweise“ jün-gerer Menschen unabsichtlich behindert werden, wenn aus Angst vor Restriktionen oder Kritik solche Wahrnehmungen aus dem Bewusst-sein verdrängt werden (Vermeidung kognitiver Dissonanz).

2.2 Kognitive Fähigkeiten

Die Fähigkeiten zu selektiver und geteilter Aufmerksamkeit (US DoT, 2002) und zu Mehrfachtätigkeiten (Färber, 2000; Weller & Geertsema, 2008; Chaparro et al., 2005) nehmen mit dem Alter ab, ebenso wie die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit. Weitere kognitive Fähig-keiten, die beim Autofahren benötigt werden, sind ebenfalls betroffen: u.a. die Inhibition irrelevanter Reize, die Zeitwahrnehmung und das prospektive Gedächtnis. Die Ergebnisse aus Laboruntersuchungen zur Zeitwahrnehmung Älterer zeigen eine höhere Variabilität ihrer Zeit-schätzung (Falkenstein & Sommer, 2008).

Die verlangsamten kognitiven Verarbeitungsprozesse können einen Erklärungsbeitrag dazu liefern, weshalb ältere Menschen überpro-portional häufig an Unfällen in komplexen Situationen z. B. aufgrund von Vorfahrtfehlern beteiligt sind (vgl. Johannsen & Müller, in diesem Band). Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass eine Diskrepanz der Leistung älterer Personen in Felduntersuchungen und Laborexperi-menten vorliegt, wobei ältere in der Regel im Feld Leistungseinbußen besser ausgleichen können (Schlag, 1993; Weller, in diesem Band).

2.3 Motorische Fähigkeiten

Die motorischen Fähigkeiten lassen im Alter ebenfalls nach (für einen Überblick s. Rinkenauer, 2008). Ist die Koordination der an einer Be-

243

wegung beteiligten Muskelgruppen beeinträchtigt, sind Bewegungen nicht mehr so exakt ausführbar, wie dies bei einer ungestörten Koordi-nation der Fall ist. Die Schnelligkeit einer Reaktion wird im Alter dabei häufig zu Gunsten der Genauigkeit aufgegeben. Bei den betroffenen motorischen Fähigkeiten sind also eine verringerte Koordinationsfä-higkeit, Schnelligkeit und Beweglichkeit relevant. Vor allem die Be-weglichkeit im Hals- und Schulterbereich sei hier genannt. Diese ist beim Autofahren wichtig z. B. für den Schulterblick und somit beim Spurwechsel, Abbiegen, Rückwärtsfahren und Einparken.

Eine im Alter verminderte Muskelkraft ist für das Kraftfahren in moder-nen Fahrzeugen aufgrund z. B. von Bremskraftverstärkern und Servo-lenkung nur bedingt relevant, z. B. wenn unangenehme Positionen, die Muskelkraft erfordern, über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden müssen, wie dies z. B. mit Schaltgetriebe im Stopp-and-Go-Verkehr der Fall sein kann.

2.4 Einfluss von Krankheiten und Medikamentenkonsum

Einen wichtigen Einfluss auf die Fahrtüchtigkeit von Älteren haben ne-ben den bereits erwähnten alterstypischen Entwicklungen auch Er-krankungen (Ewert, 2008). Diese können die alterstypischen Entwick-lungen in ihrem Ausmaß und ihrer Geschwindigkeit beeinflussen und zusätzlich weitere Fähigkeiten, die für das Führen eines Pkw benötigt werden, beeinträchtigen. Der mit den Krankheiten oftmals einherge-hende Medikamentenkonsum kann die Fahrtüchtigkeit zusätzlich be-einflussen (vgl. Ramaekers, 2011).

2.5 Mobilitätsbezogene Bedürfnisse

Zu motivationalen Veränderungen im Alter existiert bisher sehr wenig Literatur. Mollenkopf und Engeln (2008) unterscheiden zwei grundsätz-liche Funktionen von Mobilität: Mobilität als Mittel zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse und Mobilität als Selbstzweck, wobei letz-tere Funktion möglicherweise im höheren Alter an Bedeutung verliert. Mobilität zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse spielt hingegen eine zentrale Rolle bei der Realisierung von alterstypischen Lebens-aufgaben. Die Erfüllung dieser Lebensaufgaben unterstützt eine posi-tive Entwicklung im Alternsprozess, eine Reduktion oder ein Verzicht darauf kann sich negativ auf den Alternsprozess auswirken (Engeln,

244

2001). Dabei wird zwischen vier Aktivitätsfunktionen unterschieden, die Einfluss auf Lebensqualität und Entwicklung im Alter haben:

1. Pflege sozialer Kontakte: Erhalt und Entwicklung der sozialen Inte-gration

2. Freizeitgestaltung: Erhalt einer anregungs- und abwechslungsrei-chen Freizeitgestaltung

3. Sinnstiftende Aufgaben: Übernahme von Verantwortung für ande-re (z. B. Ehrenämter, Versorgung Dritter)

4. Alltagserledigungen: Erhalt der Unabhängigkeit und Selbststän-digkeit in der Lebensbewältigung

In einer Übersicht stellen Mollenkopf & Engeln (2008) vielschichtige Bedürfnisse zusammen, die für die Mobilitätsgestaltung relevant wer-den können. Diese Übersicht stellt eine gute Strukturierung für die Er-gebnisse der im Abschnitt 4 beschriebenen Studie dar (Tabelle 1).Tabelle 1: Überblick zu mobilitätsbezogenen Bedürfnissen

Motiv-bereich

Bedürfnis-kategorie

Entscheidungskriterien Beispiele: Argumente bei Mobilitätsentscheidungen

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Nutzen Transportbedarf Von A nach B gelangen

Sachkos-ten

Geld Kosten für Fahrschein, Kraftstoff, Anschaffung

Zeit Reisedauer, Zeitraum

Umwelt Öffentlicher Verkehr, ökologisch günstiges, sparsames Kfz

Aufwand PhysischeAnforderung

Treppen, Fußwege, Ein-/Ausstieg, Beladung

KognitiveAnforderung

Orientierung, Fahranforderungen: Konzentration

Vorher-sehbar-keit

Planungszuverläs-sigkeit

Zugausfall, Streckensperrung, Stau

Handlungssicherheit Vertrautheit Linie/Route/Weg,Streckenbewältigung

TechnischeZuverlässigkeit

Fahrzeugpanne

Flexibilität Umentscheiden Wahl alternativer Strecken/Ziele

Zeitliche Verfügbar-keit

Spontane Wahl Ausgeh-/Abfahrtszeit

Mobilität am Zielort Fahrzeug am Ziel zur Verfügung

245

Motiv-bereich

Bedürfnis-kategorie

Entscheidungskriterien Beispiele: Argumente bei Mobilitätsentscheidungen

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s. B

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) Sicherheit Kriminalität Vertrautheit/Angst unterwegs, am Bahnhof/Parkplatz

Unfall Angst vor Sturz, Verkehrsunfall

Belästigung Nervende Fahrgäste, Drängler auf der Autobahn

Komfort Bequemlichkeit Sitze, Raumausstattung

Witterungsschutz Überdachte Haltestelle, Heizung

Sauberkeit Reinigungszustand Wege/Bahnhof/Fahrzeug

So

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Soziale Integra-tion

Unterstützung/Ano-nymität

Begleitung, Alleinfahrt, Mitfahrer

Kommunikation/Pri-vatsphäre

Gespräche mit Begleiter, Mitfahrer, Raststättengäste, allein sein wollen

Selbst-darstel-lung

Soziale Normen Verkehrsmittelwahl,Markenbewusstsein

Statuskommunikati-on, Distinktheit

Taxi, sich ein teures Rad/Auto leisten können

Soziale Kontrolle Verhalten im Kfz,z. B. Essen verbieten

Soziale Macht; Gratifi-kations-macht

Belohnung Jemanden wohin bringen

Bestrafung Meckernden Mitfahrer raussetzen

Ext

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Leistung und Kontrolle, Selbst-wert

Fähigkeiten und Fitness erleben/er-weitern

Leistungsfähig/schnell sein,sparsam sein, neue Wege erproben

Selbstwirksamkeit,Eigenaktivität

Selbst fahren,auf freier Strecke fahren

Wahlfreiheit, Auto-nomie

Entscheidung über Route, Tempo, Fahrstil

Span-nungsre-gulation/Hedonis-mus

Ärger-, Stressvermei-dung, Entspannung

Ruhig bzw. defensiv verhalten, Stau-umgehung, fahren lassen

Aktivation(Anregung)

Schnell fahren, schöne Strecken gehen/fahren

Fahrgenuss „cruisen“, „streaming“

Spielereien („Spiel-trieb“)

Technische Accessoires im/am Fahr-zeug

Quelle: Mollenkopf & Engeln (2008)

Tabelle 1 (Forts.): Überblick zu mobilitätsbezogenen Bedürfnissen

246

3 Gestaltung von Kraftfahrzeugen

Die Automobilindustrie stellt kein Fahrzeug als speziell für ältere Au-tofahrer entwickeltes Fahrzeug vor. Dies liegt vermutlich vorrangig an der Befürchtung, dass ein solches „Seniorenauto“ aufgrund eines ne-gativen Stigmatisierungseffektes kaum Marktchancen hätte. Tatsäch-lich werden jedoch Fahrzeuge und Fahrerunterstützungssysteme ent-wickelt, von denen insbesondere ältere Autofahrer profitieren sollen. Diese müssen dazu auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Fahrer eingehen und mögliche Leistungsdefizite ausgleichen. Inwiefern un-terstützen nun bestimmte Gestaltungsoptionen von Kraftfahrzeugen eine möglichst bedürfnisgerechte und der veränderten Leistungsfä-higkeit im Alter entsprechende Fahrzeugnutzung?

3.1 Ergonomie des Fahrzeugs

Vor allem bei einer eingeschränkten Beweglichkeit und körperlichen Belastbarkeit im Alter fallen Ein- und Ausstieg schwer. Hier ist es hilf-reich, wenn das Fahrzeug über eine hohe Dachlinie verfügt und eine große Türöffnung hat. Außerdem sollte der Wagenboden frei von Hin-dernissen wie Türschwellen sein. Eine erhöhte Sitzposition erleichtert zudem das Ein- und Aussteigen, was durch schwenkbare Sitze weiter unterstützt wird. Gerade aber bei den (deutlich sichtbaren) schwenk-baren Sitzen ist eine Stigmatisierung des Fahrzeugs, der Fahrzeug-marke und nicht zuletzt der Fahrer zu befürchten, so dass trotz eines hohen Komfortwerts die Akzeptanz gering sein könnte.

Die Position des Gurtes ist für ältere Menschen schlecht zu erreichen. Eine Bewegung des Armes nach hinten und oben ist notwendig, die eine hohe Beweglichkeit voraussetzt. Die Position des Gurtes sollte so verändert werden, dass er bequem im Sitzen ohne Drehung und aus-ladende Bewegungen greifbar ist. Auch das elektrische Einstellen von Sitzposition und Spiegeln an gut erreichbaren Stellen entlastet Fahrer, die in ihrer Beweglichkeit und Kraft eingeschränkt sind. Dabei sollte die verringerte sensorische Sensitivität alter Menschen berücksichtigt werden. Ein gut erkennbares haptisches Feedback, indem z. B. Tasten und Knöpfe merklich einrasten und Stellräder Segmentierungen auf-weisen, erleichtert die Bedienung solcher Einstellmöglichkeiten.

Um eine unnötige Anstrengung und Kraftverlust vor allem bei längeren Fahrten zu vermeiden, sollten die Sitze so angepasst sein, dass sie die

247

Körperhaltung optimal unterstützen und keine kraftaufwändigen Hal-tungskorrekturen notwendig machen. Dies ist vor allem dann wichtig, wenn bereits Erkrankungen oder eine Schwächung des Bewegungs-apparats vorliegen. Nur so kann eine vorzeitige Ermüdung und eine Ablenkung durch Schmerzen verhindert werden.

3.2 Fahrerunterstützungssysteme

Engeln und Wittig (2005) definieren Fahrerunterstützungssysteme („Driver support systems“) als Systeme, die den Fahrer zumindest in der Wahrnehmung und/oder in der Evaluation von fahrrelevanten In-formationen unterstützen. Wird nicht in die Fahraufgabe eingegriffen, werden diese Systeme Fahrerinformationssysteme (FIS) genannt. Wird zusätzlich die operative Ausführung einer Fahraufgabe unterstützt, wird von Fahrerassistenzsystemen (FAS) gesprochen. FIS sind folg-lich Systeme, die dem Fahrer die Wahrnehmung von Umgebungsin-formation und/oder die Bewertung dieser Umgebungsinformation er-leichtern sollen. FIS entlasten den Fahrer, wenn sie sensorische und/oder kognitive Leistungsanforderungen reduzieren. Sie stellen dazu ausschließlich Informationen oder Warnungen zur Verfügung, für die Umsetzung in Fahrhandlungen bleibt der Fahrer verantwortlich. FAS unterstützen im Unterschied zu FIS den Fahrer nicht nur durch Be-reitstellung oder Hervorhebung relevanter Warnungen und Umweltin-formationen, sondern entlasten ihn darüber hinaus durch die Ausfüh-rung einzelner Regelungsaufgaben der Fahraufgabe (Quer- und/oder Längsführung des Fahrzeugs). So können FAS auf der einen Seite die Fahraufgabe kontinuierlich unterstützen und damit den Fahrer allge-mein entlasten (Komfortsysteme). Auf der anderen Seite können sie speziell in kritischen Verkehrssituationen eine Überforderung des Fah-rers und damit Fahrfehler kompensieren bzw. vermeiden helfen (Si-cherheitssysteme). Gemeinsam haben FIS und FAS, dass der Fahrer entlastet werden soll und das Risiko einer Überforderung bzw. einer Verkehrsgefährdung reduziert werden kann.

Bedienung der FahrerunterstützungssystemeGerade ältere Menschen zeigen sich häufig schnell durch die Bedie-nung komplexer, softwareintensiver Systeme überfordert. Neben Ko-horteneffekten (Gewöhnung an softwareintensive Systeme) spielen hier vermutlich auch Alterseffekte eine Rolle: Die sensorische Erfas-sung sowie die Anpassung mentaler Modelle an die Bedienphiloso-phie komplexer Systeme sind im Alter oft erschwert. In diesen Fällen

248

können auch für ältere Fahrer hilfreiche Funktionalitäten nicht adäquat genutzt werden oder sich sogar erschwerend auf die Fahrzeugnutzung auswirken. Deshalb kommt der bedienfreundlichen und komplexitäts-reduzierten Auslegung von Fahrerunterstützungssystemen gerade für ältere Fahrer eine hohe Bedeutung zu.

Zur Vereinfachung der Bedienung sollte einerseits darauf geachtet werden, dass die Erlernbarkeit durch eine hohe Selbsterklärungsfä-higkeit der Mensch-Maschine Dialoge unterstützt wird. Hier ist im Ein-zelnen durch Nutzertests mit der älteren Zielgruppe zu prüfen, inwie-fern diese Ziele erreicht werden.

Für die Bedienung während der Fahrt sollten die einzelnen Stelltei-le haptisch gut erkennbar sein und sich an gut erreichbaren Stellen befinden. Dabei sollte die verringerte sensorische Sensitivität (s.o.) älterer Menschen berücksichtigt werden und auch ohne Blicküberwa-chung eine Bedienung möglich sein. Auch hier ist ein gut erkennbares haptisches Feedback hilfreich. Kritisch zu betrachten sind hingegen die zunehmend beliebter werdenden Touchscreens. Diese geben kein haptisches Feedback und erfordern deshalb meist eine visuelle Kont-rolle über die aktuell ausgeführte Bedientätigkeit. Ungenauere Bewe-gungen, wie sie durch die verringerte Koordinationsfähigkeit zustande kommen, machen eine Überwachung des Bewegungsablaufes und -ziels notwendig. Dies beansprucht kognitive Ressourcen und führt zu einer Blickabwendung, die möglichst vermieden werden sollte, v.a. in Anbetracht der Tatsache, dass diese aufgrund der verlängerten Ak-kommodationszeit wiederum verlängert ist.

Unterstützung der Informationsverarbeitung während der FahrtDa im Alter irrelevante Reize weniger erfolgreich inhibiert werden kön-nen (Falkenstein & Sommer, 2008), sollte auf die Vermeidung unnöti-ger Informationsdarbietung bei älteren Fahrern vermehrt Wert gelegt werden. Eine Gratwanderung bei FIS besteht deshalb darin, Menge, Art und Zeitpunkt der dargebotenen Information an Fahrerbedürfnisse und situative Gegebenheiten optimal anzupassen: Die Verarbeitung der dargebotenen Information bindet kognitive Ressourcen, die für die Hauptaufgabe der Fahrzeugführung dann nicht zur Verfügung stehen. So können im ungünstigen Fall FIS den Fahrer zusätzlich belasten, an-stelle ihn – wie intendiert – bei der Informationsverarbeitung zu entlas-ten. Einen positiven Effekt hat der Einsatz von Fahrerunterstützungs-systemen stattdessen nur, wenn die Entlastung bei der Fahraufgabe

249

die zusätzliche Belastung durch den Einsatz der Systeme übertrifft (König, 2009). Zusätzliche Information sollte während der Fahrt nur dann dargeboten werden, wenn entweder die aktuelle Fahrsituation selbst nicht schon so komplex ist, dass sie sämtliche vorhandenen kognitiven Ressourcen beansprucht (zeitliche Entzerrung der Infor-mationsverarbeitung) oder wenn dadurch die Gesamtkomplexität der Informationsverarbeitung reduziert werden kann. Eine Möglichkeit, erstere Anforderung zu erfüllen, sind Systeme, die die Komplexität der Fahrsituation erkennen und entsprechend vor Überlastung und Über-forderung schützen, indem sie nur in wenig fordernden Situationen zusätzliche Information darbieten. Letztere Anforderung kann durch eine deutlichere Strukturierung der Informationen oder durch aktives Unterstützen der Fahrzeugführung (FAS) erreicht werden.

Aktuell wird die Information bei FIS mehrheitlich über visuelle Darbie-tung gegeben, in einigen Fällen auch über akustisches (z. B. Warn-ton bei Parkassistenz) oder haptisches Feedback (z. B. Vibration des Lenkrads bei Querführungsassistenz). Dabei sollten diese Informatio-nen an vorhersehbaren Orten dargeboten werden. So sollte eine visu-elle Warnung immer an derselben Stelle angezeigt werden, akustische Warnungen sollten ebenso von eng umschriebenen Orten aus gege-ben werden (Falkenstein & Sommer, 2008). Dies erleichtert es älteren Menschen, ihre Aufmerksamkeit nicht zu lange von der Fahrsituation abzuwenden und sich im direkten Anschluss auf die Warnung der – vermeintlich kritischen – Fahrsituation zuzuwenden.

Bei visueller Darbietung gestaltet sich vor allem die Darstellung in einem Display im Armaturenbrett aufgrund der notwenigen Blickab-wendung von der Fahrszene kritisch. Zieht man in Betracht, dass die Akkommodation bei älteren Menschen beeinträchtigt ist und das Auge längere Zeit für die Einstellung auf verschiedene Sichtdistanzen benötigt als bei jüngeren, so ist mit verlängerten Blickabwendungs-zeiten zu rechnen. Außerdem sind kognitive Ressourcen nötig, die in kritischen Situationen an anderer Stelle fehlen können. Eine gewisse Erleichterung bei dieser Problematik bringen vermutlich Head-Up-Displays, die Informationen auf die Windschutzscheibe projizieren, so dass sie zusätzlich zu der realen Fahrsituation in dieser sichtbar sind und aufgrund ihrer Wahrnehmungsdistanz keine Akkomodationsleis-tung erfordern. Je nach Information ist auch ein Mapping mit der re-alen Fahrsituation erleichtert, wodurch die kognitiven Anforderungen vermindert werden können.

250

Unterstützung bei der NavigationBeeinträchtigungen des prospektiven Gedächtnisses können zu Pro-blemen in der detaillierten Planung von komplexen Tätigkeiten füh-ren, wie sie das Autofahren darstellt (Falkenstein & Sommer, 2008). Hier schafft die Verwendung von Navigationssystemen für die Fahrt-planung große Erleichterung: Hilfreich ist es dabei auch, wenn diese zusätzlich zur Fahrzeit und Straßenart Informationen wie Rastmöglich-keiten, aktuelle Baustellen und besonders fordernde Stellen bereithal-ten. So können ältere Fahrer die Fahrt im Voraus detailliert planen und bekommen schon vor Fahrtantritt einen Überblick, welche Belastun-gen sie erwarten könnten.

Die Verwendung von Navigationssystemen während der Fahrt kann hingegen zweischneidig sein: Bei alleiniger Fahrt durch unbekannte Gegenden steht die Entlastung des Fahrers außer Zweifel. Übernimmt hingegen ein Beifahrer die Navigationsaufgabe in geeigneter Form, wird er dem Fahrer sowohl das Lesen der Schilder abnehmen als ihm auch situationsadäquat relevante Informationen zur Verfügung stellen. Aktuelle Navigationssysteme können zumindest letztere Anforderung bislang nur teilweise erfüllen und dadurch manchmal zu einem Infor-mationsoverload in komplexen Verkehrssituationen führen. Hier be-steht eindeutig Verbesserungspotenzial.

Unterstützung bei der BahnführungEinen Teil der sensorischen und motorischen Leistungsveränderun-gen können Fahrerinformationssysteme kompensieren, die den Fahrer über Ereignisse im Nahraum des Fahrzeugs informieren. Dazu werden Informationen durch Sensoren und Kameras erhoben und dem Fahrer im Cockpit dargeboten. Diese können sowohl das Fahren im fließen-den Verkehr als auch in Rangiersituationen erleichtern.

Im fließenden Verkehr können wichtige Informationen über Spurver-lauf, vorausfahrende oder seitlich fahrende Fahrzeuge übermittelt werden, so dass der Fahrer leichter relevante Sicherheitsabstände einhalten kann. Dabei können diese FIS zumindest einen Teil der ver-minderten Beweglichkeit kompensieren, indem sie den Schulterblick erübrigen, was z. B. beim Spurwechsel relevant ist.

In erweiterten Funktionalitäten könnten auch Informationen aus dem erweiterten Umfeld des Fahrzeugs angezeigt werden, indem z. B. auf Informationen aus anderen Fahrzeugen und der infrastrukturellen Aus-

251

stattung zurückgegriffen wird. Dazu ist jedoch eine Kommunikation zwischen den einzelnen Einheiten bzw. sehr exaktes Kartenmaterial nötig. Systeme, die Informationen über das erweiterte Umfeld des Fahrzeugs übermitteln, könnten zudem die Informationsdichte verrin-gern, indem sie Informationen schon im Vorfeld einer komplexen Situ-ation dem Fahrer darbieten (vgl. Küting & Krüger, 2002). So hat dieser die Möglichkeit, sich auf die Situation und mögliche Reaktionen schon vorzubereiten und das Fahrmanöver rechtzeitig einzuleiten.

Einen Teil der Fahraufgaben, bei denen ein Schulterblick (vgl. die Er-gebnisse von Weller, in diesem Band) und eine Drehung des Ober-körpers notwendig sind, können Fahrerassistenzsysteme (FAS) dem Fahrer auch abnehmen. So können Fahrzeuge mit Hilfe von Sensorin-formationen bereits selbstständig einparken, sodass der Fahrer zwar den Vorgang noch überwachen und mit dem Gaspedal steuern muss, jedoch wird er von der Lenkaufgabe befreit und hat somit mehr Bewe-gungsfreiheit. Die Gestaltung des Autos kann ebenso an diese Anfor-derungen im Alter angepasst werden.

Die geringere Muskelkraft Älterer ist mittlerweile in vielerlei Hinsicht adressiert: Die Servolenkung erleichtert die Querführung des Autos, der Bremskraftverstärker oder auch aktive Bremsunterstützungssys-teme ermöglichen es, auch stark zu bremsen, wenn nicht mit so viel Kraft in das Pedal getreten wird. Ein Automatikgetriebe ermöglicht es, ohne Schalten zu fahren. Stopp-and-Go-Assistenten verringern die motorische und kognitive Belastung in Stausituationen und gleichen so die altersbedingten Krafteinbußen aus.

Unterstützung in komplexen FahrsituationenKomplexe Verkehrssituationen erzeugen gerade für ältere Fahrer häu-fig sicherheitskritische Überforderungssituationen.

FIS können bei der Bewältigung helfen, wenn eine ausreichend frühe Information über kommende komplexe Situationen zu einer rechtzei-tigen Vorbereitung führt, so dass die Situation nicht mehr akut zeit-kritisch ist und genügend Zeit für eine Reaktion zur Verfügung steht (Küting & Krüger, 2002). So könnte z. B. frühzeitig vor einer Kreuzung über die dortige Vorfahrtregelung informiert werden.

Innerhalb komplexer Situationen kommen rein informierende FIS schnell an ihre Grenzen, weil sie durch die zusätzlichen Informationen

252

leicht eine Überforderung erzeugen bzw. verschlimmern können. Hier sind eher FAS gefordert, die dem Fahrer aktiv Aufgaben abnehmen (z. B. Automatikgetriebe oder Abstandsregeltempomat), um die Kom-plexität an anderer Stelle zu reduzieren, oder im Falle von Fahrfehlern diese korrigieren helfen (z. B. automatisches Notbremssystem).

Unterstützung bei schlechten SichtbedingungenSensorische Defizite zeigen sich bei älteren Menschen vor allem bei Dunkelheit. Dieses Sehdefizit geht mit einer erhöhten Empfindlichkeit für Blendung einher.

Automobilhersteller bieten mittlerweile adaptive Lichtsysteme an, die entsprechend den Umgebungsbedingungen (vorausfahrende Fahr-zeuge, Gegenverkehr) die Leuchtweite anpassen. Ebenso passen sie die Ausleuchtung der Fahrbahn an Kurven und Kreuzungen an. Zur Reduktion von Blendwirkungen werden von den Herstellern auch automatisch abblendende Rückspiegel angeboten. So soll einerseits eine optimale Beleuchtung und andererseits eine minimierte Blendung anderer Verkehrsteilnehmer realisiert werden.

Außerdem werden v.a. im höherwertigen Segment Nachtsichtsysteme angeboten, die Fußgänger erkennen und farblich hervorgehoben in einem Display darstellen. Auch die Distanz zum Fußgänger ist teil-weise farblich kodiert, so dass eine verminderte Leistung in der Di-stanzwahrnehmung ebenfalls ausgeglichen werden kann. Über die Wirksamkeit dieser Nachtsichtsysteme liegen den Autoren keine be-lastbaren Erkenntnisse zu Evaluationsstudien vor. Der Konflikt durch zusätzliche Information im Display und damit verbundene Ablenkung von der eigentlichen Fahrszene könnte hier einen Sicherheitsgewinn schmälern oder im schlimmeren Fall auch umkehren. Ebenso können Nachtsichtsysteme dazu verleiten, in bisher eher gemiedenen Fahrsi-tuationen vermehrt unterwegs zu sein – und so die Gefahrenexpositi-on erhöhen (vgl. Weller und Schlag, 2004).

4 Pilotstudie zur Mobilität im Alter

Wie im Abschnitt 2 gezeigt wurde, können sich im Laufe des Altern-sprozesses Bereiche der sensorischen, kognitiven und motorischen Leistungsfähigkeit des Menschen verändern und motivationale Verän-derungen auftreten. In Abschnitt 3 wurde dargestellt, an welchen Stel-

253

len die Automobilindustrie auf Veränderungen im Alter reagiert. Zwar gibt es eine Reihe von Untersuchungen zu veränderten Leistungsfä-higkeiten im Alter – in welchem Zusammenhang diese Veränderungen allerdings mit den Mobilitätsbedürfnissen stehen, ist bislang nur unzu-reichend geklärt. Die nachfolgend beschriebene Pilotstudie soll einen ersten Einblick in die aktuelle Motivations- und Bedürfnisstruktur äl-terer Menschen bezüglich ihrer Mobilitätsgestaltung ermöglichen und daraus erste Ableitungen für ein Auto der Zukunft für Ältere erlauben.

4.1 Methodik

An der Universität Tübingen2 wurde 2012 die Mobilität älterer Men-schen untersucht. Das Ziel der Interviewstudie war es, Gründe für die Nutzung bestimmter Verkehrsmittel, Anforderungen an Verkehrsmittel, insbesondere das Automobil, und die Rolle des Autos aus Sicht der älteren Befragten zu verstehen.

Voraussetzung für die Teilnahme an der Untersuchung war ein Min-destalter von 65 Jahren und beendete Berufstätigkeit. Teilgenommen haben 15 ältere Menschen.

Teile der Befragung lehnen sich an Fragestellungen des Forschungs-projekts ANBINDUNG (Engeln & Schlag, 2001) an. In Bezug auf die Vergleichbarkeit der Ergebnisse ist zu betonen, dass in der hier durch-geführten Studie im Gegensatz zu ANBINDUNG keine Einschränkun-gen bezüglich Wohnregion oder Führerscheinbesitz und Autoverfüg-barkeit bestanden. Ergebnisvergleiche können also nur bedingt im Hinblick auf eine Veränderung der Mobilität älterer Menschen inter-pretiert werden.

Zur Durchführung der Interviews wurde von den Autoren ein aus offe-nen und geschlossenen Fragen bestehender Leitfaden unter Mitwir-kung der Studierenden entwickelt. Der Interviewleitfaden betrachtet folgende Themen:

1. Bewertung verschiedener Verkehrsmittel im Hinblick auf die eigenen Bedürfnisse

2 Herzlicher Dank gilt den studentischen Mitarbeitern der Psychologie-Fallarbeit im Sommersemes-ter 2012 zum Thema Mobilität im Alter: Zsuzsa Abboub, Sandra Biela, Barbara Grümpel, Fritz Günther, Judith Kittel, Tobias Kittelberger, Katharina Kunzelmann, Jonathan Maier, Magdalena Rauch-Schmidt, Johanna Sagert, Anne Saulin, Aylin Sönmez, Leona Steinack und Esther Waiz.

254

2. Auswahlkriterien für die Nutzung von Verkehrsmitteln

3. Erfassung der Mobilität eines Tages in Form eines retrospektiven Tagebuchs

4. Erlebnisse mit Verkehrsmitteln und deren Konsequenzen

5. Rolle des Autos für die eigene Mobilitätsgestaltung a) Anforderungen an das ideale Auto und das ideale Verkehrs-

mittel b) Unerfüllte Mobilitätsbedürfnisse

4.2 Ergebnisse

StichprobeBei einem Altersrange von 68-87 Jahren (MW 75,9 Jahre) sind 11 der 15 berenteten Befragten weiblich. Alle haben zwischen einem Kind und drei Kinder. Die meisten wohnen in Baden-Württemberg.

Im Vergleich zu der deutlich größeren Stichprobe von ANBINDUNG (N=103-203 Teilnehmer, je nach Erhebungsschritt) ist die hier unter-suchte Stichprobe durchschnittlich 5-7 Jahre älter (je nach Erhebungs-zeitraum in ANBINDUNG) und weiblich dominiert. In der Autofahrer-studie ANBINDUNG waren 80 % männlich. In ANBINDUNG wurden ausschließlich Autofahrer untersucht, in der aktuellen Studie hatte ein Teilnehmer keine Pkw-Fahrerlaubnis.

Mobilitätseinschränkungen�3

Obwohl die Befragten eine recht hohe subjektive Mobilitätszufrieden-heit angeben, gibt es eine Reihe von Aktivitäten, auf die wegen der Mobilitätserfordernisse verzichtet wird. Bei den befragten Personen handelt es sich beim Verzicht vorrangig – ähnlich wie bereits in AN-BINDUNG gefunden (vgl. Engeln & Schlag 2001) – um Aktivitäten zur Pflege sozialer Kontakte, zur Freizeitgestaltung und zur Ausübung sinnstiftender Aufgaben. Die Selbstversorgung (Erhalt der Selbststän-digkeit) kann von den Befragten aufrechterhalten werden. Im Verzicht auf Aktivitäten, die nicht die Grundversorgung betreffen, zeigen sich die ersten Anzeichen dafür, dass aufgrund von Mobilitätsbarrieren Ein-schränkungen der Lebensqualität entstehen und eine ungünstige Ent-wicklung im Alter verstärkt werden kann (vgl. Engeln, 2001).3 Die Ausführungen in diesem Abschnitt basieren auf Auswertungen von Kunzelmann & Saulin (2012).

255

Anforderungen an Mobilitätslösungen�4

Die Anforderungen der befragten älteren Menschen an Mobilitätslö-sungen werden abgeleitet aus der qualitativen Datenanalyse der Dis-kussionsfrage „Wie sähe in Ihrer Vorstellung ein ideales Verkehrsmittel oder Verkehrskonzept aus, das Ihren Mobilitätsbedürfnissen in optima-ler Weise gerecht wird?“

Die Auswertung der Ergebnisse erfolgt über eine Strukturierung nach Lösungskategorien (Oberkategorien). Diesen zugeordnet sind die kon-kret genannten „idealen Verkehrsmittel“ (Unterkategorien). Als dritte Ebene wurden den jeweils genannten Verkehrsmitteln die genannten Begründungen zugeordnet. Die Struktur der qualitativen Daten wird in der Tabelle 2 veranschaulicht.

Tabelle 2: Anforderungen an Mobilitätslösungen

Lösungskategorie „Ideales“ Verkehrsmittel Begründung

Fluggerät (7) Keine Staus (4) Keine StausKeine StoßzeitenWartezeiten umgehen

Hubschrauber (2) ZeitersparnisFlexibilität

Gleiter mit Antigravitationskraft

FreiheitFlexibilitätEnergie sparenUmweltschonendZeitersparnis

Schienensystem (3)

Leitschienen StauvermeidungUnfallvermeidung

Schienenfahrzeug ZeitersparnisFlexibler ZustiegViele Sitzplätze

Globales S-Bahn-System Überall Schienen ohne UmsteigenFuturistisches Transportmittel (4)

Mitfliegender EinkaufskorbKapseln mit Andockstationen

Nicht selbst fahren müssenIndividuelle ZieleingabeFreundeskapseln

Fahrerloses Transportmittel

Abruf per FernbedienungSprachsteuerungFlexibilität

Rollfahrzeug WetterunabhängigElektrisch

Weicht Hindernissen aus

4 Die Ausführungen in diesem Abschnitt basieren auf Auswertungen von Kittelberger & Sagert (2012).

256

Lösungskategorie „Ideales“ Verkehrsmittel Begründung

Als öffentliches Gut (3)

Verkehrsmittel als Allgemeingut

Erhöhte FlexibilitätNächstes Transportmittel frei zugänglichKein Abstellplatz

Kapsel u. Andockstationen

Gefährte frei verfügbar

Car/Bicycle-Sharing UmweltschutzSchon bestehende Transportmittel (6)

Segway/TrendmobilFahrdienste mit Auto Bedarfsgerechte Mobilität

Kostenlose SammeltaxisAuto Privat und flexibel

Spezielle Eigenschaften an Transportmitteln (nicht zwingend Auto)

Hilfsmittel RückfahrkameraFernbedienung

Erleichterter Einstieg Viel PlatzSelbsteinparkendNicht selbst fahren müssenKeine WartezeitenKostenloser öffentlicher Nahverkehr

Lesehinweis: Anzahl der Nennungen in Klammern, wenn größer eins. Quelle: Eigene Zusammenstellung nach Kittelberger & Sagert, 2012

Beim Fluggerät scheinen vor allem der Aspekt der Zeitersparnis und die dadurch entstehende Flexibilität eine zentrale Rolle zu spielen. So z. B. bei einem vorgeschlagenen 1-Mann-Hubschrauber: „Es gibt kei-ne Wartezeiten durch Stau, Parkplatzsuche o.ä.“.

Beim Schienensystem ist neben der Zeitersparnis auch die Sicherheit von Bedeutung. „Keine Staus, keine Unfälle und man kann trotzdem schlafen“.

Bei futuristischen Transportmitteln ist das Hauptargument die Unab-hängigkeit. „Ein Verkehrsmittel, welches ohne Fahrer funktioniert und vor das Haus kommt, wenn man einen Knopf auf einer Fernbedienung drückt“.

Auch beim Verkehrsmittel als öffentliches Gut steht die Flexibilität im Mittelpunkt. In diesem Fall ist die Flexibilität allerdings anders definiert als beim Fluggerät: „Man nimmt sich einfach das nächst gelegene Transportmittel, und stellt es am Zielort wieder ab, jeder kann jedes verwenden“.

Tabelle 2 (Forts.): Anforderungen an Mobilitätslösungen

257

Bei den speziellen Eigenschaften geht es vorrangig um leichte Bedie-nung und Komfort: „Ein Knopf und die Tür geht auf“.

Bei den schon bestehenden Verkehrsmitteln ist auffällig, dass das Auto immer noch häufig als ideal betrachtet wird. Die mit dem Auto verbundene Flexibilität resultiert vor allem aus dem privaten Besitz und der daraus entstehenden ständigen Verfügbarkeit. „Das Auto ist für mich immer noch das ideale Verkehrsmittel!“.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass neben konkreten kreati-ven Ideenvorschlägen oft über die Gesprächspartner hinweg ähnliche Anforderungen an das ideale Verkehrsmittel gestellt werden. Neben der Flexibilität in verschiedenen Formen sind dies noch die Zeiterspar-nis und der Wunsch, nicht selbst fahren zu müssen. Wenn auch das Auto nicht alle Anforderungen Älterer erfüllen kann, scheint es für viele im Vergleich zu Mobilitätsalternativen den persönlichen Anforderun-gen noch am nächsten zu kommen.

Bedeutung des Autos für Ältere5

In der Diskussion zu den Themen „Was bedeutet für Sie das Auto?“ und „Wie wäre es, wenn Sie auf ein Auto verzichten müssten?“ wurde die Rolle des Autos für die einzelnen Probanden erfasst6.

13 von 15 Befragten geben dem Auto eine zentrale Rolle für den Mobi-litätserhalt: Sieben der Befragten finden das Auto persönlich wichtig, von fünf der Befragten wird das Auto als essentiell zur Erhaltung des aktuellen Lebensstils betrachtet, einer findet es „unvorstellbar“, auf das Auto zu verzichten.

Tabelle 3 zeigt die absoluten Häufigkeiten der Argumente für die Be-deutung des Autos und für die Bedeutung eines Verzichts auf das Au-tos, kategorisiert entsprechend der Darstellung mobilitätsbezogener Bedürfnisse nach Mollenkopf & Engeln (2008).

5 Die Ausführungen in diesem Abschnitt basieren auf Auswertungen von Biela & Kittel (2012)6 Die Interviewer versuchten, die Befragten zu detaillierten Informationen anzuregen, gegebenenfalls

nachzuhaken und Alternativen gedanklich durchzuspielen. Im Rahmen der qualitativen Auswer-tung wurden für die individuellen Antworten der Probanden Oberbegriffe gesucht, um die Antwor-ten ausreichend zu beschreiben und gleichzeitig kategorisieren zu können. Die Kategorisierungen wurden von zwei unabhängigen Auswertern durchgeführt, die zu den exakt gleichen Ergebnissen kamen.

258

Tabelle 3: Bedeutung des Autos und des Verzichts auf das Auto

Mobilitätsbezogene Bedürfnisse nach Mollenkopf & Engeln (2008)

Interviewstudie zur Mobilität im Alter (2012)

Bereich Bedürfnis-kategorie

Entschei-dungskrite-rien

Bedeutung Auto BedeutungAutoverzicht

Eff

ekti

vitä

t un

d E

ffizi

enz

(ext

rins

isch

, rat

iona

l, K

ost

en-N

utze

n -Ü

ber

leg

ung

en)

Nutzen Transportbe-darf

Transportmög-lichkeit (3)

Schwierigkeiten beim Transport/Einkauf (4)

Sachkos-ten

Geld Hohe Kosten Höhere Kosten (3) Kostenersparnis

Zeit Zeitersparnis Höherer Zeitbedarf (2)

Umwelt Ungesund, Umweltschädi-gend

Aufwand PhysischeAnforderung

Fortbewegung trotz Gesund-heitsproblemen (3)

KognitiveAnforderung

Erleichterung, nicht selbst fahren zu müs-sen

Flexibilität Umentschei-den

Flexibilität/Spontaneität (8)

Keine Flexibilität (3)

Zeitliche Ver-fügbarkeit

Mobilität am Zielort

Wo

hlb

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s. B

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hung

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ühle

) Komfort Bequemlich-keit

GeringeAnstrengung (4)

GrößereAnstrengung (4)

So

zial

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Zus

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and

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Per

sone

n)

Soziale In-tegration

Unterstüt-zung/Anony-mität

SozialeKontaktpflege (4)

Isolation/Einsamkeit (5)

Selbstdar-stellung

Statuskom-munikation,Distinktheit

Statussymbol (7)

Gefühlte Nutzlosigkeit (1)

259

Tabelle 3 (Forts.): Bedeutung des Autos und des Verzichts auf das Auto

Mobilitätsbezogene Bedürfnisse nach Mollenkopf & Engeln (2008)

Interviewstudie zur Mobilität im Alter (2012)E

xtra

mo

tive

(Mo

bili

tät

als

Sel

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zwec

k)

Leistung und Kontrolle, Selbst-wert

Wahlfreiheit, Autonomie

Unabhängig-keit/Selbststän-digkeit (9)

Verlust Unabhängigkeit/Selbstständigkeit (3)

Span-nungsre-gulation/Hedonis-mus

Spielereien („Spieltrieb“)

Spaß (2)

Lesehinweis: Anzahl der Nennungen in Klammern, wenn größer eins

Insgesamt zeigen die Ergebnisse dieser explorativen Studie, dass das Auto für ältere Menschen in allen Motivbereichen eine Rolle spielen kann – sowohl in seiner zweckrationalen Funktion (Effektivität und Ef-fizienz) als Transportmittel, als auch um Aktivität und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und dabei den Komfortansprüchen (Wohlbe-finden) gerecht zu werden. Ebenso kann es im Alter sehr wichtige so-ziale Motive befriedigen und schließlich dient es auch als Selbstzweck (Extramotive). Damit können die Motive für das Autofahren auch im Alter sehr vielschichtig sein, das Auto bleibt mehr als nur eine Mög-lichkeit, von A nach B zu gelangen. Hier zeigt sich Bedarf an quan-tifizierender Forschung, der eine Gewichtung dieser Motivbereiche erlauben würde.

Anforderungen an ein Auto aus Sicht der Älteren selbstNachfolgend werden die ermittelten Anforderungen der älteren Be-fragten auf die Frage „Wie sähe in Ihrer Vorstellung ein ideal ausge-stattetes Auto aus, das Ihren Mobilitätsbedürfnissen in optimaler Wei-se gerecht wird?“ nach Aufgaben strukturiert, wie sie beim Autofahren derzeit entstehen.

260

Tabelle 4: Anforderungen an ein Auto

Aufgabe AnforderungVo

r-/N

achb

erei

tung

Ein-/Aussteigen • höherer Einstieg (5), auch wg. Knieproblemen• nicht „zu hoch“• höherer Sitz• Fahrertür öffnen/schließen vereinfache

(z. B. automatisch) (4)• weiter Einstieg, viel Platz (2)• leichter Einstieg auch für Mitfahrer (2)

Transport von Sachen

• großer Kofferraum (z. B. für Rollstühle, Einkauf, Reise) (3)

• hohe Ladefläche (kein Bücken) (2)• Umlegen Rückbank weniger anstrengende

Ästhetik • Auto muss schön aussehen, gefallen• schlichte Erscheinung

Parken • Marderschutz

Kosten • billiger fahren (2)

Fahr

täti

gke

it

Rundumsicht • besserer Überblick beim Aus- und Einparken• höhere Perspektive (2)• Blickhöhe leichter individualisierbar• Blickbehinderung durch A-Säule vermeiden• besserer Blick auf die Seitenspiegel (z. B. mittigere

Anbringung)

Quer- und Längs-regelung

• bei Fahrt ermöglichen: Lesen oder Landschaft anschauen

• weniger anstrengend, z. B. Gaspedal halten ist schmerzhaft (2)

• schneller (macht Spaß)• umweltfreundlicher werden,

Verbrauchsoptimierung (2)

Rangieren/Ein-parken

• weniger umständlich/anstrengend• Position beim Parken besser einschätzen• mehr Platz, z. B. kleinere Außenmaße (2)

Schalten • Heben des Beines vermeiden• Schalten insgesamt vermeiden (z. B. Automatik) (3)

Ko

ntro

llauf

gab

en

Anzeigenkont-rolle

• blendfrei bei Sonne• übersichtlich• besser lesbar

Bedienelemente • wichtigste Elemente hervorheben• leichter verständlich/erlernbar

Navigation • komfortable Navigation• Bedienung der Navigation vereinfachen (z. B. Pro-

grammierung) (3)• bessere Ablesbarkeit• Auswahl „bequemer“ Strecken ermöglichen

(stressfreier Fahren)• Ansagen weniger erschreckend

261

Tabelle 4 (Forts.): Anforderungen an ein Auto

Aufgabe AnforderungW

ohl

befi

nden

Klimatisierung • Frischluft (z. B.: Schiebedach)• automatische Anpassung (2)• ausreichend warm (2)

Sitzen • mehr Beinfreiheit (2)

Unterhaltung • Radio/CD hören vereinfachen• Mitfahrer (z. B. Enkel) mit Musik/Video unterhalten

Telefonieren • gute Integration• Erreichbarkeit während der Fahrt

(z. B. Freisprechanlage)• wichtige Nummern (z. B. Notruf) leicht erreichbar

Sic

herh

eit

unfallvermeidend • weniger gefährlich (3), z. B. automatische Bremsung• gute Sichtbarkeit (z. B. rote Außenfarbe des Autos)

Unfallfolgen min-dernd

• mehr Verletzungssicherheit• bessere Sicherheitsgurte• Anschnallgurte leichter erreichbar/anlegbar (2)

Lesehinweis: Anzahl der Nennungen in Klammern, wenn größer eins

Die ermittelten Ergebnisse zeigen Anforderungen auf unterschiedli-chen Ebenen, die sich in fünf übergeordnete Kategorien zusammen-fassen lassen:

1. Physische Entlastung in der Vor-/Nachbereitung: Alterstypisch er-scheint die hohe Relevanz reduzierter körperlicher Anforderungen. Gerade das Ein- und Aussteigen und das Be- und Entladen kann Ältere an ihre Grenzen bringen. Hier zeigt sich die Relevanz ergono-mischer Anpassungen der Fahrzeuge an die Anforderungen Älterer.

2. Kognitive und physische Entlastung in der Fahrtätigkeit: Ein deutli-cher Optimierungsbedarf aus der Sicht Älterer besteht in Hilfen zu besserer Rundumsicht, zur kontinuierlichen Regelung beim Fah-ren und zum Rangieren. Hier zeigt sich der Mehrwert auch von über Informationsleistungen hinausgehenden, aktiv unterstützen-den FAS.

3. Kognitive und sensorische Erleichterung von Kontrollaufgaben: Bezüglich der sekundären Fahraufgaben stellt die Kontrolle von Anzeigen und Bedienelementen die Älteren teilweise vor Heraus-forderungen. Insbesondere Navigationsgeräte haben aus Sicht der Befragten Optimierungsbedarf, aber auch viele andere FIS/FAS adressieren die Bedürfnisse älterer Fahrer noch nicht ausrei-chend.

262

4. Förderung des Wohlbefindens: Dass die Komfortansprüche im Al-ter zunehmen, zeigen auch die Optimierungswünsche bzgl. des Sitzkomforts und der Klimatisierung. Unterhaltungs- und Kommu-nikationsangebote auch für die Mitfahrer werden bisher im Hin-blick auf altengerechte Fahrzeuge von der Automobilindustrie we-nig adressiert.

5. Unterstützung des Sicherheitsgefühls: Die vielen genannten As-pekte des aktiven und passiven Unfallschutzes belegen die hohe Sensitivität der befragten älteren Menschen für die Risiken und persönlichen Kosten eines Unfalls. Hier scheint es ein ausgepräg-tes Sicherheitsbewusstsein zu geben.

5 Fazit: Auto der Zukunft für Ältere?

Eine große Stärke des eigenen Autos liegt nach den Ergebnissen der berichteten Pilotstudie in der von den Älteren selbst wahrgenomme-nen hohen Flexibilität dieses Verkehrsmittels, das eine schnelle, siche-re und komfortable Mobilität ermöglicht. Diese Faktoren können das Auto im Alter zu einem zentralen Werkzeug zur Erhaltung von Unab-hängigkeit, Aktivität und Lebensqualität werden lassen. Engeln (2001) konnte zeigen, dass diese Faktoren wichtig für eine positive Entwick-lung im Alter sind.

Aktuelle Bemühungen der Automobilindustrie fokussieren insbe-sondere Komfort- und Informationsaspekte, um die Attraktivität des Autos für die Zielgruppe der Älteren zu erhalten. Diese Entwicklung kommt den Älteren grundsätzlich entgegen. Kritisch kann jedoch die damit verbundene erhöhte Bedienkomplexität werden – dies gilt ins-besondere deshalb, weil bei Fahrerunterstützungssystemen verstärkt auf Informationssysteme gesetzt wird, seltener auf aktive Übernahme einzelner Fahraufgaben. Genau dorthin geht allerdings der Wunsch der Älteren: Sie wollen von der aktiven Fahrzeugführung gänzlich oder zumindest von Teilaufgaben befreit werden. Sie wollen mit möglichst geringem Aufwand flexibel und unabhängig zu ihren Wunschorten ge-langen, dabei möglichst unaufwendig Dinge transportieren können. Gelänge es also, Mobilitätsalternativen zum heutigen Auto zu schaf-fen, die bei gleichbleibender Flexibilität und Unabhängigkeit eine si-chere und leicht bewältigbare Mobilität ermöglichen, so käme dies den älteren Menschen entgegen. Ob dies über neue Entwicklungen

263

der Automobilindustrie erreichbar ist oder grundsätzlich andere, „au-tomatisierte“ Mobilitätskonzepte erfordert, müsste in vertiefenden Studien untersucht werden.

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265

Schlag B & Beckmann KJ (2013) Einleitung: Demografische Entwicklung und zukünf-tige Mobilität. In diesem Band.

Schlag B & Engeln A (2001) Kompensationsmöglichkeiten und Bewältigungsstrategi-en im Alter. In: Flade A, Limbourg M & Schlag B eds. Mobilität älterer Menschen Pp 259-272. Opladen: Leske & Budrich.

Sieger V & Hintzke A (2005) Barrierefreie Gestaltung von Fahrzeugen des öffentlichen Verkehrs für ältere Menschen. In: Echterhoff W ed. Strategien zur Sicherung der Mobilität älterer Menschen Pp 99-116, Köln: TÜV Media. (Schriftenreihe Mobilität und Alter der Eugen-Otto-Butz Stiftung, Band 1).

Siegmann J (2013) Anpassung des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs an die Anfor-derungen älterer Menschen. In diesem Band.

Topp H (2013) Anpassung des Straßenverkehrs an die Anforderungen älterer Men-schen: Infrastruktur und Straßenraumgestaltung. In diesem Band.

US DoT (Department of Transportation Federal Highway Administration) (2002) Syn-thesis of Human Factors Research on Older Drivers and Highway Safety. Vol. I: Older Driver Research Synthesis. FHWA-RD-97-094.

Weller G & Geertsema K (2008) Werden ältere Fahrer durch die Fahraufgabe stärker beansprucht als jüngere? In: Schlag B ed. Leistungsfähigkeit und Mobilität im Alter Pp 85-111, Köln: TÜV Media. (Schriftenreihe Mobilität und Alter der Eugen-Otto-Butz Stiftung, Band 3).

Weller G & Schlag B (2004) Verhaltensadaptation nach Einführung von Fahrerassis-tenzsystemen: Vorstellung eines Modells und Ergebnisse einer Expertenbefra-gung. In: Schlag B ed. Verkehrspsychologie. Mobilität, Sicherheit, Fahrerassistenz Pp 351-370, Lengerich: Pabst.

Weller (2013) Ergebnisse von Fahrversuchen mit älteren Pkw-Fahrern. In diesem Band.

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Anpassung des öffentlichen Nah- und Fern-verkehrs an die Anforderungen älterer Men-schen

Jürgen Siegmann

Der öffentliche Verkehr (ÖV) ist kollektiver Verkehr, mehrere Fahrtwün-sche werden mit einem Transportgefäß abgewickelt mit der Konse-quenz von Linien- und Fahrplanbindung. Linien halten an festen, be-sonders gekennzeichneten Stationen, von der Bushaltestelle bis zum Großstadt-Hauptbahnhof oder Flughafen. Fahrplanbindung bedeutet, dass die Transportangebote vorgeplant und zeitlich verlässlich orga-nisiert und abgewickelt werden. Zusätzlich gibt es flexible Angebots-formen, in denen auf Komponenten wie beispielsweise die Linienbin-dung verzichtet wird, und die Fahrten nur nach vorheriger Bestellung verkehren (z. B. Rufbusse).

Die Kunden müssen mehr oder weniger lange Zugangswege zu den Bahnhöfen und Haltestellen des ÖV mit unterschiedlichen Verkehrs-mitteln (zu Fuß, mit dem Fahrrad, Pkw o. a.) absolvieren und auf die Bedienung warten. Fahrplanauskunftssysteme, hohe Bedienungsfre-quenzen und merkbare Taktzeiten können die unangenehmen Warte-zeiten verkürzen; moderne Auskunftssysteme in Echtzeit informieren über Verspätungen, so dass sich der Fahrgast auf diese ggf. einstellen kann.

Der Schwerpunkt dieses Beitrags liegt auf den Schienenpersonenver-kehren der Eisenbahn, der U-Bahn-, Stadt- und Straßenbahnsysteme sowie auf dem öffentlichen Busverkehr. Auf Sondersysteme wie Ka-binen- oder Seilbahnen können die Ausführungen analog übertragen werden. Behandelt werden die Bereiche Zugang, Stationen, Fahrzeu-ge, Preise, Informationssysteme und mehr. Nicht oder nur am Ran-de werden der Schiffsverkehr, Luftverkehr, die Taxi-Verkehre und die Fernlinienbusse betrachtet.

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1 Anforderungen älterer Menschen an den ÖV

Ein für alle Nutzergruppen attraktives ÖV-System zeichnet sich aus durch• kurze Wege,• keine Stufen,• gute, übergreifende Informationssysteme,• hohe Aufenthaltsqualität,• gute Beleuchtung und Wetterschutz,• persönliche Betreuung und• hohe objektive und subjektive Sicherheit.

Für ältere und körperlich in der Bewegung eingeschränkte Menschen sind neben dem Zu- und Abgang die wichtigsten Hindernisse Höhen-unterschiede (Stufen) sowie zu überbrückende Abstände zwischen Fahrzeug und Bahn- bzw. Bussteig. Also sind für diese Kundengrup-pe u. a. kurze Wege, Niederflurfahrzeuge, Kneeling bei Bussen, Sitz-möglichkeiten auf den Bahnsteigen oder in Warteräumen besonders wünschenswert. Dieses gilt auch für Fernlinienbusse, die beim Zu-gang/Einstieg und in den Bussen selbst ebenfalls alters- und behin-dertengerecht ausgestattet sein sollten, um auch für diesen Teilmarkt attraktiv zu sein.

Auch die Ausstattung der Fahrzeuge muss im Hinblick auf die Ziel-gruppe der älteren Fahrgäste angepasst werden, u. a. mit ausrei-chendem Sitzplatzangebot und Toiletten, Griffstangen und anderen Festhaltemöglichkeiten, im Sitzen erreichbaren Haltewunschtasten im Stadtverkehr, Platz für die Mitnahme von Rollatoren.

Im Sehvermögen eingeschränkte Menschen werden durch spezielle Ausstattungen mit kontrastreichen Beschriftungen und markanten deutlich unterscheidbaren Farben (vgl. Schulze, in diesem Band) sowie funktionierende akustische Durchsagen unterstützt. Blindenleitstreifen und Kontraststreifen in Leitsystemen, deutliche Kennzeichnung der Bahnsteigkanten und Treppenstufen, Vibrationen an Schaltern z.  B. für Fahrstühle etc. sind auf die Zielgruppe bezogene – zum Teil leicht umsetzbare – technische Lösungen.

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2 Das System Öffentlicher Verkehr (ÖV)

Der ÖV ist grundsätzlich auf mittlere und größere Entfernungen in Städten und Stadtregionen als Transportalternative zum Auto zu se-hen. Er soll allen Menschen die Möglichkeit zur Teilnahme am gesell-schaftlichen Leben auch ohne Pkw-Verfügbarkeit geben. Daher muss der ÖV auch für alle Bevölkerungsgruppen zu zumutbaren Bedingun-gen nutzbar sein und auch bei knappen Mitteln eine Mindestausstat-tung und Mindestqualität gewährleisten. Während für ältere Anlagen ein Bestandsschutz gilt, müssen bei Neubau und umfangreichen Ausbauten die aktuellen Normen und technischen Regelungen einge-halten werden. Das ist nicht nur ein Beitrag zur Kundenzufriedenheit, sondern dient auch einer höheren Sicherheit und einer Steigerung der Akzeptanz in der Bevölkerung.

Daher wird der ÖV durch öffentliche (Steuer-)Gelder unterstützt, vor allem der Bau der Infrastruktur, aber auch die Aufrechterhaltung des Angebots. Prinzipiell sollte der Betrieb einschließlich der Fahrzeug-vorhaltung jedoch durch Nutzerentgelte abgedeckt werden, wie es u.a. der Wissenschaftliche Beirat des BMVBS fordert (Ahrens et al., 2010). Der Staat gibt insgesamt etwa. 12 Mrd. € jährlich in den ÖPNV, davon ca. 7 Mrd.  €  als sog. Regionalisierungsmittel für den Schie-nenpersonennahverkehr (SPNV) an die Länder, die seit der Regiona-lisierung die Aufgabenträger des SPNV sind (Umsetzung des Subsi-diaritätsprinzips) und die hierfür Organisationen gebildet haben, die die Zugleistungen bestellen und bezahlen. Diese haben sich mit der Bundesarbeitsgemeinschaft SPNV (BAG-SPNV) eine Dachorganisati-on geschaffen.

Die konkrete Ausgestaltung der Organisation der Aufgabenträger-schaft variiert zwischen den Bundesländern teilweise sehr deutlich. Für den ÖPNV mit U-Bahnen, Straßen- und Stadtbahnen sowie mit Bussen sind regelmäßig die kommunalen Gebietskörperschaften die zuständigen Aufgabenträger.

Der Bund hat angekündigt, das Gemeindeverkehrsfinanzierungsge-setz (GVFG) bzw. das Entflechtungsgesetz als seine zwischenzeitliche Nachfolgeregelung bis 2019 gemäß dem Wunsch einiger Länder nach Alleinverantwortung für ihren Nahverkehr auslaufen zu lassen. Einige Bundesländer sehen sich aber nicht in der Lage, aus eigenen Mit-teln eine Ersatzfinanzierung aufzubauen. Daher sind die notwendigen

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Stationsumbauten oder Fahrzeugbeschaffungen – auch zur Erfüllung der Anforderungen älterer Menschen -, die bisher aus GVFG-Mitteln gefördert wurden, gefährdet (vgl. Gies, in diesem Band). Damit auch finanziell schwächere gesellschaftliche Gruppen zu vertretbaren Kon-ditionen den ÖPNV nutzen können, werden zum Teil subventionierte Tarife festgelegt.

Der Fernverkehr auf der Schiene oder mit Bussen sowie der Luftver-kehr werden eigenwirtschaftlich, d. h. ohne Förderung durch die öffent-liche Hand, betrieben. Allerdings beteiligen sich einige Bundesländer an den Kosten für IC-Linien, wenn sie dieses aus regionalpolitischen Gründen für notwendig erachten. Auch in viele Flughäfen oder deren Einbindung in die Verkehrsnetze fließen Gelder der öffentlichen Hand ebenfalls aus regionalpolitischen Aspekten.

ÖV im ländlichen RaumIn vielen Regionen Deutschlands abseits der Metropolen und großen Städte entleeren sich die Dörfer durch Abwanderung insbesondere der jüngeren und beruflich qualifizierten Bevölkerung. Aber auch in vielen Klein- und Mittelstädten insbesondere in Ostdeutschland verringern sich die Einwohnerzahlen. Gründe dafür sind u. a. eine generell geringe Geburtenrate und die ebenfalls großräumige Abwanderung – aufgrund eines besseren Arbeitsplatzangebots und der höheren Standards bei der sozialen Infrastruktur – vor allem in die größeren Städte. Dadurch verschlechtern sich die Bedingungen für den liniengebundenen Bus-verkehr. Einige Schulen werden geschlossen, was die Schulwege ver-längert, so dass die Schüler häufiger den Bus nutzen müssen. Die Nachfragespitzen zu den Unterrichtsanfangs- und -endzeiten stellen den öffentlichen Verkehr vor ein Auslastungsproblem: Einer punktuell sehr hohen Nachfrage zu den Schulzeiten, für die die vorhandenen Fahrzeugkapazitäten oft kaum ausreichen, steht eine relativ geringe Nachfrage zu den übrigen Zeiten gegenüber. Die für den Schülerver-kehr notwendigen großen Busse sind dann überdimensioniert.

Für auf den ÖV angewiesene Fahrgäste auf dem Lande verschlech-tern sich die Bedingungen zusehends. Um dieses zu vermeiden oder zu begrenzen, reagieren die ÖV-Betreiber auf den Nachfragerückgang und die steigenden Kosten (Kraftstoffe und Personal) mit dem Ein-satz von kleineren Bussen im allgemeinen ÖV und/oder mit Bedarfs-bussystemen. Entlang von Korridoren verkehren die Busse auf Anruf und holen die Kunden an der Haustür oder an Sammelpunkten ab.

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Einige Unternehmen setzen rüstige Rentner als Fahrer ein. Speziel-le Fahrzeuge haben Ausrüstungen zum Transport von Fahrgästen mit Rollstühlen. Rufbusse ermöglichen einen taxiähnlichen Verkehr mit geringeren Kosten für die Kunden, aber sie müssen Fremdkunden im gleichen Fahrzeug wie im regulären Bus akzeptieren. Durch den Einsatz kleinerer Fahrzeuge in flexiblen Angebotsformen können die Fahrgäste je nach Bedarf näher an der Wohnung abgeholt und näher zu ihren Zielen gebracht werden – gerade für ältere Menschen eine sehr erwünschte Verbesserung (Franz, 2012).

3 Details einer altersgerechten ÖV-Gestaltung

Die folgenden Ausführungen betrachten eine typische ÖV-Reise im Nah- und Fernverkehr von Haus zu Haus.

Informationen vor Antritt einer Fahrt, VerkehrsmittelwahlDie meisten Kunden entscheiden eher habitualisiert, welches Ver-kehrssystem sie für eine anstehende Ortsveränderung nutzen wollen. Es fließen also die persönlichen Erfahrungen, die örtliche Verfügbar-keit aller alternativen Verkehrsmittel und subjektive Bewertungen der erwarteten Beschwerlichkeiten mit ein. Diese Kriterien werden indi-viduell mit zunehmendem Alter anders gewichtet. Allgemein werden als entscheidend die zu erwartende Gesamtreisezeit im Rahmen eines Zeitbudgets und der effektive Gesamtpreis für die konkrete Fahrt (out of pocket) angesehen. Für Ältere hat die Reisezeit oft weniger ent-scheidende Bedeutung. Ältere Personen haben ein verändertes Mobi-litätsspektrum, Fahrtzwecke ändern sich. Häufiger sind Arztbesuche erforderlich, das Einkaufsverhalten ändert sich in Richtung wohnungs-naher Versorgung. Das Transportkostenbudget ist teilweise gering. In

Abbildung 1: Beförderungskette im ÖPNV

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Zukunft muss der ÖV sich noch besser auf diese Veränderungen ein-stellen.

Im Verkehrsbereich werden oft langjährig „eingeübte“ Routinen wie-derholt, ohne dabei die einzelne Entscheidung tatsächlich zu reflek-tieren; gerade ältere Menschen sind auch heute noch als Captive Ri-der oft auf den ÖPNV angewiesen, weil sie über keine Alternativen verfügen. Die Älteren erwarten verstärkt hindernis- und umsteigefreie Verbindungen. Insbesondere für die Gruppe der „Mobilen Alten“ ist das Reisen eher Selbstzweck, das Reiseerlebnis steht im Vordergrund und ist Teil der Selbstverwirklichung („Das traue ich mir noch zu!“). Für einige von ihnen ist jedoch der Fahrpreis für die Verkehrsmittelwahl entscheidend, je nach verfügbarem Geldbudget. Hinzu kommen Hin-dernisse, die für Teilgruppen (bspw. mit besonderen motorischen oder sensorischen Problemen) die Nutzung unmöglich machen oder stark erschweren.

Wenige machen sich die Mühe, die Kosten oder den Gesamtzeitbe-darf vor der Reise zu ermitteln und danach zu entscheiden, so sind meist nur grobe Schätzungen oder subjektive Erwartungen die Grund-lage der Entscheidungen. So werden die Gesamtkosten der Alterna-tive Pkw-Nutzung nicht abgebildet (Wertverlust nach Laufleistung, Versicherung, Reparaturkosten), allenfalls die geschätzten Treibstoff-kosten gehen in die Entscheidung ein. Subjektiv sprechen aber ver-meintlich für die Pkw-Nutzung die Freiheit der Wegewahl zwischen Quelle und Ziel, bequeme Gepäckmitnahmemöglichkeit und die sonstigen persönlichen Freiheiten während der Fahrt („My car is my castle“).

Smartphones o.ä. haben sich inzwischen in nahezu allen Schichten der Bevölkerung durchgesetzt. Sie bieten auch für den ÖV Vorteile bei der Fahrplaninformation, der Wegefindung, dem Fahrkartenkauf/e-ti-cketing, der Koordinierung der Zu- und Abbringedienste, dem Taxiruf und vielem mehr. Ihre Nutzung ist aber bei der älteren Bevölkerung noch nicht sehr ausgeprägt.

Fahrkartenbezug, PreiseJede Nutzung des ÖV setzt den Kauf einer Fahrtberechtigung (Fahr-schein) voraus. Die Erlöse gehen normalerweise direkt oder indirekt an die Betriebsgesellschaften, die davon mindestens den Betriebs-aufwand, ggf. auch die Netznutzungsgebühren abdecken. Die Tarif-

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struktur wird in geförderten Systemen durch die Politik festgelegt, bei eigenwirtschaftlichen Verkehren vom Ersteller ggf. unter staatlicher Kontrolle. Auch Verkehrsunternehmen, die ÖPNV anbieten und über eine eigenwirtschaftliche Liniengenehmigung verfügen, müssen ggf. die Verbundtarife anwenden.

Vielfach eingeführt sind Fahrpreisvergünstigungen im ÖV für behinder-te Personen und für Rentner/Pensionäre. Hier wäre zu diskutieren, ob solche Leistungen an das Lebensalter oder eher an die soziale Be-dürftigkeit geknüpft werden sollten. Infolge der Vorteile in der Preis-gestaltung im ÖV für Ältere dürfte der Fahrpreis in seiner Höhe nur einen geringen Widerstand gegen die Nutzung des ÖV darstellen, eher die Schwierigkeiten beim Bezug des Fahrscheins, insbesondere wenn man sich in einer fremden Gegend befindet. Die derzeit gewährten Preisvorteile für ältere Menschen sind im Wesentlichen auf günstige Zeitkarten (bspw. „Karte ab 60“, sog. Bärenticket im Verkehrsverbund Rhein-Ruhr) beschränkt, die im „Heimat-Verkehrsverbund“ gelten, so dass hier das preisliche Zugangshemmnis zum ÖV zumindest stark verringert ist; außerhalb ihres „Heimat-Verkehrsverbunds“ müssen Se-nioren meistens die regulären Tarife für Einzelfahrkarten oder Tageskar-ten zahlen und sind zusätzlich mit den Schwierigkeiten, die Tarifgestal-tung zu durchschauen und die Automaten zu bedienen, konfrontiert.

Beispiele für einen einfachen Weg zur Verringerung von Preishürden oder zur Vereinfachung der Handhabung sind die BahnCard mit Cityti-cket oder die Freifahrscheine für das Wohnumfeld von Menschen mit erheblichen Behinderungen. Denkbar wäre auch ein Pauschalpreis als alternative Option oder Ergänzung, der dann für alle Fahrten im ÖPNV in einer Region über die Tarifgrenzen hinweg gelten könnte. Dies kann die Nutzungshürden senken: Man kann dann nichts mehr falsch ma-chen und kann beruhigt reisen.

Für die Standardfahrscheine (Einzelfahrkarte, Tageskarte) ist eine einheitliche Lösung für alle Fahrscheinautomaten in allen Städten zu empfehlen. Einige Menschen vergessen heute relativ häufig das Stempeln vor Antritt der Fahrt. Daher sollte das Stempeln und ggf. auch ein Fahrscheinkauf auch im Zug, Straßenbahn und Bus ermög-licht werden. Die neuen Telematiktechniken (e-ticketing) erlauben eine „best-price“- Abrechnung mittels Chipkarten wie die OysterCard in London, die auch berührungslos gestaltet werden können. Hier wird aus der Zeit, dem Ein- und Ausstiegsort und der Nutzungshäufigkeit

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stets der für den Kunden optimale Tarif angewandt und z. B. monatlich abgebucht.

Eine spezielle Art des „ÖV“ ist das Taxi, bei dem ein Kunde oder eine Kundengruppe sich für eine individuelle Fahrt einen Pkw mit einem ortskundigen Fahrer mietet. Der Preis ist ein Mix aus entfernungs- und zeitabhängigen Komponenten und einem Grundpreis. Durch die Mög-lichkeit des Haus-Haus-Verkehrs ist das Taxi eine ideale, aber teure Lösung auch für Mobilitätseingeschränkte, wobei ihnen die derzeitige Vielfalt an Taxifahrzeugen entgegen kommt.

An den ÖV-Zentren sollten die Taxis für jeden ÖV-Kunden leicht ver-fügbar sein. Gegenüber dem eigenen Pkw hat das Taxi den Vorteil, dass für den Nutzer die Parkplatzsuche am Zielort entfällt.

Zugang: Von der Quelle zum BahnhofDie bei der Angebots- und Linienplanung im ÖV üblichen und bewähr-ten Haltestellenabstände betragen in etwa• Bus: 200-400 m,• Straßenbahn: 350-700 m,• U- bzw. S-Bahnen: 700 bis 2.000 m,• Nahverkehr Schiene: RB: 5 km,• RE 30 km• Fernverkehr Schiene: IC: 50 km,• ICE: 100-150 km

Die entsprechenden Einzugsbereiche sind im Idealfall Kreise, sie soll-ten sich leicht überlappen. Dem Bus und ggf. der Straßenbahn kommt daher häufig auch eine Zubringerfunktion zu den Schienenverkehrs-mitteln zu, beide können aber auch schwächere Nachfragerelationen alleine abdecken. Kurze Wege zur nächsten Haltestelle sind bei der Linienplanung im ÖV gegenüber den für einen Zusatzhalt notwendi-gen Fahrzeitverlängerungen in ihrer verkehrlichen Wirkung abzuwä-gen. In großen Städten werden zusätzlich Schnellbusse eingesetzt, u. U. zu Rapid Bus Transit Systemen (RBT) ausgeweitet, die auf eigenen Busspuren und Bevorrechtigungen an Kreuzungen sowohl kapazitiv als auch qualitativ mit den Straßenbahnsystemen mithalten können (Wang, im Druck).

Stadt-/Straßenbahnen, U- und S-Bahnen sind das Rückgrat des öf-fentlichen Nahverkehrs in größeren Städten. Sie bedienen i.d.R. die

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Flughäfen und Bahnhöfe als Zubringersysteme und sollten dabei ei-nen hindernisfreien Übergang zum Fernverkehr bieten. Ihre System-gestaltung berücksichtigt die Entwicklungen der Siedlungsstruktur. Sie erschließen die Hauptsiedlungsgebiete vor allem auf radialen Ach-sen, vereinzelt auch in ringförmigen Verläufen.

In den Randzonen von Großstädten bieten Park+Ride Systeme einen guten Übergang vom Pkw zum meist schienengebundenen ÖV in die Zentren. Im dichter besiedelten Bereich spielt auch das Fahrrad eine Zubringerrolle (Bike + Ride Systeme). Das erlaubt es, Personen, die außerhalb eines hochwertig mit dem ÖV erschlossenen oder zu Fuß erreichbaren Einzugsbereichs leben, per Pkw oder Fahrrad an den ÖV heranzubringen. Als Kiss+Ride werden die Zubringer bezeichnet, bei dem der Pkw nicht an der Station geparkt wird, sondern die ÖV-Nutzer durch andere Personen mit dem Auto an den Haltestellen abgesetzt werden. Moderne Kommunikation z. B. per Handy erlaubt eine gute Koordinierung zwischen dem aussteigewilligen ÖV-Fahrgast und dem abholenden Pkw-Fahrer.

Die Bus- oder Straßenbahnhaltestellen sollten grundsätzlich Wetter-schutz, Informationsmöglichkeiten und Sitzgelegenheiten – nicht nur für ältere Fahrgäste – bieten. Gut sind dynamische Anzeigen, die über die Wartezeit bis zur nächsten Bedienung durch die gewünschte Linie informieren. Sie tragen auch zur subjektiv empfundenen Verkürzung der Wartezeit bei.

Jeder größere Nahverkehrshalt sollte die Möglichkeit haben, ein Taxi zu ordern. Am besten sind ausgeschilderte Taxi-Stellplätze direkt an einem der Ausgänge der Station. Manche Nahverkehrsbetriebe bieten auch an, für die Kunden der letzten abendlichen Verbindung oder bei deutlichen Verspätungen ein Taxi aus den ÖV-Fahrzeugen heraus zu ordern, u. U. auch mit reduzierten Taxikosten.

An den Bahnhöfen sollten die Zubringerverkehrsmittel mit kurzen We-gen zu den Bahnsteigen halten, also z. B. unter oder über den Gleisen oder dem Empfangsgebäude (EG). Der Weg zu den Zügen muss gut ausgeschildert, mit haptischen Wegeführungen versehen und gut be-leuchtet sein (Richter, 1999). Außerdem bedarf es für ältere Menschen generell – aber insbesondere bei Nutzung von Gehhilfen, Transport von Gepäck oder Einkaufswagen – einer Hilfe zur Überwindung von Höhenunterschieden (Fahrstuhl, Rolltreppen). In manchen Fällen hat

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es sich bewährt, dass ein Zubringerbus direkt am Bahnsteig hält, was vor allem bei ehemals größeren Bahnhöfen gelingt, wo aktuell weniger Gleise als früher benötigt werden (Bild 2).

Jede ÖV-Station sollte bedarfsgerecht Fahrradabstellplätze aufwei-sen mit Anschließmöglichkeiten. Das reicht vom Laternenparken über Drahtkäfige bis hin zu Fahrradgaragen auf Mietbasis für die Pendler. Gerade in der warmen Jahreszeit und bei langen Anmarschwegen zu den Stationen wird das umweltfreundliche Fahrrad als Zugangsver-kehrsmittel immer wichtiger.

Aufenthalt im BahnhofDie Empfangsgebäude müssen Wartemöglichkeiten mit Sitzplätzen und Wetterschutz, Verpflegungsangeboten, Informationsmöglichkei-ten, Fahrscheinverkauf und Gepäckaufbewahrung, ggf. eine Bahnhof-mission für die Betreuung bieten. Infosysteme und Aushänge sollten häufige Fragen beantworten wie• Wo halten die Zubringer in der Nähe des Bahnhofs?• Wo ist der Zugang in den Bahnhof hinein?• Wo sind die Zugänge zu den Zügen?

Schon die Türen zum Bahnhofsgebäude können für Fahrgäste – ins-besondere aber für mobilitätseingeschränkte ältere Personen – zum

Abbildung 2: Optimale ÖV-Verknüpfung mit Bushalt am SPNV-Bahnsteig in Petersha-gen (Eigene Aufnahme Siegmann)

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Hindernis werden. Eine automatische Öffnung der Türen erleichtert den Zugang (Weigelt, 1999).

Die Bahnhöfe sollten über zweckmäßige, aber hygienisch einwand-freie und behindertengerechte sanitäre Einrichtungen verfügen. Die derzeit praktizierte Zugangsbeschränkung durch Bezahlautomaten ist eine Nutzungsbarriere, sorgt aber für Ressourcen zum Erhalt einer ho-hen Verfügbarkeit und Sauberkeit durch Nutzerfinanzierung.

Orientierung im GebäudeZukünftig werden altersgerechte Informationssysteme immer wichti-ger. Elemente dazu sind u.a.• eine personalbesetzte Auskunft (Service-Point)• eine Wegweisung zum Bahnsteig und zu den Angeboten im Bahn-

hof,• eine von allen Positionen gut ablesbare Uhr,• verständliche und dynamische Fahrplananzeigen und Durchsagen,• Positionierungshilfen wie Wagenstandsanzeigern, Bahnsteignum-

mern,• Infotafeln zum Fahrplan und zum Umfeld des Bahnhofes.

Die Architektur sollte eine leichte Orientierung im Gebäude unterstüt-zen u.a. durch Farbgebung im Fußboden, Beleuchtung, eine Wege minimierende Funktionszuordnung, aufnahmefähige Stauräume und jeweils alternative Wegemöglichkeiten. Ansprechend sind helle, aber nicht weiße Flächen. Wegeleitsysteme in rutschfesten Fußböden soll-ten obligatorisch sein.

Zugang zu den BahnsteigenBahnsteigtunnel können ansprechend gestaltet werden, wie z. B. der Wiener Architekt Hundertwasser in Uelzen gezeigt hat (Bild 3).

Es gibt aber auch negative Beispiele für Bahnsteigtunnel mit kalten, dunklen, verschmutzten und abstoßenden Eindrücken. Die Verkehrs-unternehmen bzw. die Infrastrukturbetreiber denken hier häufig nicht im Nutzersinn. Für sie sind niedrige Kosten für Bau und Betrieb (Rei-nigung, Beleuchtung, Graffiti-Beseitigung) wichtig. Für die Akzeptanz des ÖV durch Kunden und Nutzer – insbesondere auch für ältere Men-schen mit höheren subjektiven Unsicherheitsgefühlen – sind aber die Eindrücke in Hinblick auf die Gewährleistung der Sicherheit entschei-dend.

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Abbildung 3: Tunnelgestaltung in Uelzen (Eigene Aufnahme Siegmann)

Abbildung 4: Höhengleicher Bahnsteigzugang in Altenbeken (Eigene Aufnahme Sieg-mann)

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Abbildung 5: Bahnsteigbrücke in Banteln (Eigene Aufnahme Siegmann)

Höhengleiche Bahnsteigzugänge (Bild 4), also die Zugänge zu Insel-bahnsteigen mit Überquerungen von temporär gesperrten Gleisen sind für die Fahrgäste hinderlich, wenn nicht sogar gefährlich. Be-stehende Anlagen sollten nach und nach ersetzt werden. Dann sind Höhenunterschiede (Tunnel oder Gleisbrücken) zu überwinden, wenn nicht auf die zu querenden Gleise verzichtet werden kann.

Brücken zu Inselbahnsteigen erfordern wesentlich mehr Treppenstu-fen als Tunnel, weil der Lichtraum und der Raum für die Fahrleitun-gen freizuhalten ist. Diese Brücken haben selten Fahrstühle. Dies er-schwert den Zugang für alle Fahrgäste und macht ihn für ältere und mobilitätseingeschränkte Fahrgäste unter Umstanden unmöglich (Bild 5).

Treppen sind nicht nur für Ältere, sondern auch für Fahrgäste mit Gepäck, mit Kinderwagen oder für mobilitätseingeschränkte Fahr-gäste oft mühsam, wenn nicht sogar unbenutzbar. Sie sollten durch Fahrtreppen ergänzt werden. Fahrstühle sind wichtig für Fahrgäste mit Kinderwagen, Rollstühlen oder schwerem Gepäck. Das Warten am Aufzug sollte nicht zu lange dauern, akustische Warnungen und Durchsagen sollten vorhanden sein, um den Zugang und die Handha-bung zu erleichtern.

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Große Abfahrtstafeln, Zugzielanzeiger mit großer kontrastreicher Schrift erleichtern die Orientierung auf den Bahnsteigen und somit auch älteren Fahrgästen die Nutzung des ÖPNV.

Liegt der Haltepunkt an einem Bahnübergang, besteht eine gewisse Gefahr für die Fahrgäste, durch das relativ frühe Schließen der Schran-ken vor einer Zugankunft noch rechtzeitig auf „íhren“ Bahnsteig zu kommen. Mobile Fahrgäste sind dann versucht, z. B. bei geschlosse-nen Halbschranken noch vor dem Zug oder direkt nach Zugankunft auf die andere Seite zu gelangen, obwohl die Halbschranken z. B. für einen Zug der Gegenrichtung noch geschlossen bleiben. Ältere Per-sonen sind nicht immer so besonnen, diesem gefährlichen Verhalten nicht zu folgen.

Fahrtreppen sind ein Muss bei mehr als 3.000 Personen in der Flut-stunde, die auf bzw. vom Bahnsteig wollen, oder bei einer Höhen-differenz von 8 m und mehr. Dazwischen wird linear interpoliert, also mit steigender Höhendifferenz sinkt der Mindestwert für die Fahrgäste für die Notwendigkeit von Fahrtreppen (Bild 6). Sie sollen mindestens eine Gehspur breit sein, besser aber das Linksüberholen einer rechts stehenden Person erlauben. Auch wenn sie nicht für Rollstühle oder

Abbildung 6: Notwendigkeit von Einsatzbedingungen für Fahrtreppen (Muncke et al., 2012)

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Kinderwagen nutzbar sind, stellen sie doch eine gute Hilfe auch für in anderer Weise mobilitätseingeschränkte Personen dar. Moderne Technik erlaubt eine gute Koordinierung der Treppen und der Hand-läufe. Bewährt haben sich hier auch Glasseitenwände.

Aufzüge zwischen den Zugängen und den Bahnsteigen müssen der DIN 18024 und der DIN EN 81 entsprechen, d. h. sie müssen transpa-rente Schächte zur sozialen Kontrolle und der Vermeidung der Klaus-trophobie aufweisen. Die Kabinen sollten Innenmaße von 1,4 x 1,1 m, besser jedoch von 2,1 x 1,4 m aufweisen, um auch die Benutzung mit Kinderwagen zu erlauben. Modernes Spezialglas erlaubt eine Transpa-renz bei hoher Sicherheit. Die Aufzüge haben Notruftasten, eine taktile Tastatur mit großen Ziffern bzw. Buchstaben, eine gute Beleuchtung und akustische Durchsagen.

Aufenthalt auf den BahnsteigenDie ÖPNV-Kunden sollen sich auch auf den Bahnsteigen wohl und si-cher fühlen. Für ältere Menschen sind Sitzgelegenheiten an geschützter Stelle wichtig. Für viele Kunden ist es wichtig, auch auf dem Bahnsteig sich nicht alleine zu fühlen, also einer „sozialen Kontrolle“ zu unter-liegen durch andere Fahrgäste und Überwachung aus einer Zentrale heraus. Für Notfälle sollte ein Notruf mit kurzen Wegen erreichbar sein.

Im Rahmen der Novellierung des Behindertengleichstellungsgeset-zes wurde auch §2 der Eisenbahnbau- und Betriebsordnung (EBO) ergänzt um einen Absatz 3 mit der Regulierung, dass die Benutzung der Bahnanlagen und Fahrzeuge durch behinderte Menschen und alte Menschen sowie Kinder und sonstige Personen mit Nutzungs-schwierigkeiten ohne besondere Erschwernisse ermöglicht wird. Die Eisenbahnen sind demnach verpflichtet, mittels Programmen zur be-hindertengerechten Gestaltung von Bahnanlagen und Fahrzeugen für die Umsetzung dieses Zieles zu sorgen. Die Programme werden mit den Interessenvertretern der Behinderten abgestimmt und dem Minis-terium zur Genehmigung vorgelegt.

Die Gestaltungsrichtlinien für Bahnsteige berücksichtigen die Aspekte der Menschen mit Behinderung, jedoch werden diese zumeist erst bei größeren Neu- bzw. Umbauten umgesetzt. So sind immer noch Bahn-steige mit zu engen Maßen anzutreffen. Vordringlich werden Stationen mit mehr als 1.000 Reisenden/Tag behindertengerecht umgebaut. Im Regionalverkehr übernehmen die Bestellorganisationen für den SPNV

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eine führende Rolle bei der Vernetzung mit dem sonstigen ÖV und dem behindertengerechten Umbau von Stationen.

Grundlage für die Gestaltung von Bahnsteigzugängen ist eine Geh-spurbreite von 80 cm je Spur. Treppen sollten zwischen den Hand-läufen mindestens die Breite von zwei Spuren haben, also etwa 1,60 m. Drei Spuren auf 2,40 m können einen Ansturm z. B. bei Ankunft eines Zuges schneller verkraften. Bei noch breiteren Treppen sollte ein Mittelhandlauf der Trennung der Ströme und der Sicherung der Per-sonen dienen. Die Zugangsbreite zu Bahnsteigen wird nach der DB-Konzernrichtlinie RIL 813.0202 A01 bemessen, wobei die Belastung in den 2 Minuten mit der größten Nachfrage, aber auch bei besonde-ren Veranstaltungen zu verkraften ist. Die dabei ermittelten und dann realisierten Breiten von Treppen haben sich im Allgemeinen bewährt (Preißler et al., 1999).

Der Zugang via Treppe auf die Bahnsteige sollte möglichst mittig er-folgen, wobei beidseitig am Treppenauf- bzw. -abgang ausreichend Platz verbleiben muss, damit ein Fahrgast auch mit Gepäck sicher an einem Wartenden vorbei kommt.

Treppen lassen sich je nach dem Verhältnis Tritthöhe h und Auftrittstie-fe b gut oder schlecht nutzen. Die Tritthöhe ist optimal bei 16 cm zu wählen, +/- 2cm. Die Auftrittstiefe b sollte zwischen 27 und 35 cm liegen, um einen guten Treppenlauf zu erwirken. Ideal ist ein Verhältnis h/b = 16/31.

Nach 9 bis 12 Stufen sollte etwa in der Mitte der Gesamttreppe ein Zwischenpodest angeordnet werden, wie es bei Bahnsteigzugängen infolge der zu überwindenden Höhen meistens erforderlich ist. Hierbei ist der Schrittrhythmus zu beachten, um ein Stolpern zu vermeiden. Als Zwischenpodestlänge hat sich bewährt l = n * Schrittlänge + 2b, also etwa 1,50 m, 2,10 m oder sogar 2,70 m.

Die Handläufe sollten zum festen Griff einen Durchmesser von 4 bis 6 cm haben und taktile Blindenhilfen vor dem Ende einer Handlaufsek-tion aufweisen.

Die Verständlichkeit der akustischen Durchsagen und die Erkennbar-keit der statischen und dynamischen optischen Anzeigen (vgl. Schul-ze, in diesem Band) geben Sicherheit und beruhigen. Natürlich müssen

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die baulichen Anlagen und die Neigung des Bahnsteiges zum Gleis hin so gestaltet sein, dass keine Gefahr für Menschen, Gepäck, Rollstühle oder Kinderwagen entsteht, auch nicht bei der Durchfahrt von schnel-len Zügen. Die potenziellen Gefahrenbereiche an den Bahnsteigkan-ten und -enden sind daher meist mit weißen Linien – und taktil für Sehbehinderte – gekennzeichnet. Bei sehr schnellen Zugdurchfahr-ten durch Bahnhöfe sind an den Bahnsteigkanten besondere Gatter vorgesehen, hinter denen man nach den Ankündigungsdurchsagen Schutz suchen soll und vor die man erst nach Halt eines Zuges treten darf.

Auch bei festen Einbauten auf Mittelbahnsteigen zwischen zwei Glei-sen muss der Abstand zwischen den Einbauten und dem Sicherheits-streifen an der Gleisseite stets so groß sein, dass ein Rollstuhlfah-rer nicht in Gefahr gerät; bei 2,50 m verbleibende Breite kann eine wartende Person in diesem Bereich noch ohne Belästigung passiert werden.

Die Bahnsteige auf größeren Bahnhöfen sollten möglichst komplett überdacht sein, um einen guten Wetterschutz zu bieten. Oftmals sind aus Kostengründen nur etwa 2/3 der Bahnsteiglänge (400 m bei Fern-zügen und 200 m bei reinem Nahverkehr) überdacht, Die Bahnsteig-dachhöhe sollte 2,50 m betragen, um die Sicht auf die Anzeigen zu gewährleisten. Die Stützen der Dächer dürfen nicht behindern. Sie sollten z. B. der Treppenbreite entsprechen und in deren Wangen in-tegriert werden. 3 m nach Treppenaustritt dürfen keine Stützen ange-ordnet sein.

Auf jedem Bahnsteig sind Notrufsäulen anzubringen, die eine direkte Verbindung zu den 3S-Zentralen in großen Bahnhöfen ermöglichen. 3S bedeutet Sicherheit, Sauberkeit und Service. In den 3S-Zentralen werden die Vorgänge auf den Bahnsteigen per Video überwacht. Mit-tels direkter Kanäle zur Betriebszentrale für den Bahnbetrieb, zur Poli-zei, der Bundespolizei und den Rettungsdiensten werden eine schnel-le Erkennung von Vorkommnissen und eine sachgemäße Reaktion sichergestellt.

Vielfach werden die Videomonitore zur Überwachung der Zugänge, Hallen und Bahnsteige derzeit nur durch Personal beobachtet und erst bei Vorkommnissen oder besonderer Gefahrenlage wird aufgezeich-net. Dies soll sich nach aktuellen negativen Vorkommnissen alsbald

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ändern, indem auch hier eine permanente Aufzeichnung aller Videoka-merabilder erfolgt. Das fördert das Sicherheitsempfinden der Kunden.

Einstieg in die ZügeDas größte Hindernis für ältere und behinderte Menschen ist meist der Ein- und Ausstieg in die Züge. Günstig wäre eine niedrigere Höhe der Fahrzeugfußböden von etwa 80 cm über Schienenoberkante (SO), je-doch stehen dem die Radscheiben mit einem Durchmesser von etwa 90 cm entgegen. Diese können zwar in Radkästen versteckt werden, aber das erschwert die Gestaltung, d.  h. insbesondere die Niveau-gleichheit des Innenraumes der Züge.

Bahnsteighöhen und Fahrzeugfußböden sind also zu synchronisieren. Die Infrastruktur ist langlebig, die Zugtypen sind vielfältig und ver-ändern sich. Daher ist in der Eisenbahnbau- und –betriebsordnung (EBO) eine Kaskade von definierten Bahnsteighöhen von 36, 55, 76 (Zielwert, insb. für den Fernverkehr) und 96 cm (für stufenlosen Ein-stieg in S-Bahnen) über Schienenoberkante vorgeschrieben.

Einen stufenlosen Einstieg realisieren die leistungsfähigen Bahnen (S- oder U-Bahnen) vor allem auch, um die Fahrgastwechselzeiten zu reduzieren. Niedrige Bahnsteige mit geringeren Investitionskosten, aber vielen Stufen beim Einstieg sind allenfalls beim Regionalverkehr auf Nebenstrecken vertretbar. Die Fahrzeugtechnik eröffnet heute mit den Niederflurfahrzeugen mit Fußbödenhöhen innen von weniger als 80 cm neue Möglichkeiten, was aber die universelle Einsatzfähigkeit derartige Züge einschränkt. Wenn sehr unterschiedliche Fahrzeuge an einer Bahnsteigkante halten (z. B. Doppelstock-Züge, Regionaltrieb-wagen und IC), sind 55-cm-Bahnsteighöhen ein guter Kompromiss. (Bild 7)

Noch zu entwickelnde, luftgefederte Schienenfahrzeuge könnten sich wie moderne Busse in gewissen Grenzen den jeweiligen Bahnsteig-höhen anpassen (Kneeling). Auch durch Anordnung der Türen in den Drittelpunkten der Wagen kann bei gekrümmten Gleisen der Spalt beim Einstieg verkleinert werden. Wo immer es geht, sollten aber zu-mindest die Mittelteile der Bahnsteige an geraden und ebenen Gleisen liegen.

Die Bahnsteige könnten auch dort, wo unterschiedliche Zugtypen halten, abgestuft mit Zwischenrampen angelegt werden. Wagenlange

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Abbildung 7: Bahnsteighöhen und maximale Spaltbreite(Quelle: Lübke et al., 2008, S. 336)

Podeste in den Höhen von 76, 55 und 36 cm über Schienenoberkante (SO) wären bei dieser Idee mit Blinkmelder ausgestattet, die anzeigen, in welchem Bereich das nächste Fahrzeug ohne Stufe, mit einer Stufe oder mehr zu besteigen ist. In gleicher Weise könnten auch Abschnitte an gebogenen Gleisen angezeigt werden, wo der Spalt zu groß wird, um ohne Probleme einsteigen zu können. In einem ersten Schritt soll-ten die extrem niedrigen Bahnsteige angehoben werden. Es gibt in einigen Ländern an Regionalstrecken noch Bahnsteige mit Höhen von unter 36 cm über SO.

Die EU-Vereinheitlichungsbemühungen der europäischen Bahnsyste-me mittels der TSI (Technical Specifacation Interoperability) konnten sich bisher nicht für eine einheitliche anzustrebende Bahnsteighöhe über SO entscheiden. Dort werden noch sowohl die 55 cm als auch die 76 cm hohen Bahnsteige als Regelhöhen zugelassen. Viele Ex-perten sehen allerdings die beste Kompromisslösung bei 55 cm über

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SO, auf die sich langfristig alle Beteiligten einstellen sollten (Bitterberg, 1996).

Auch in den Fahrzeugen können die Einstiegstufen mit Schiebetrit-ten so beweglich konstruiert werden, dass sie sich dem anstehen-den Bahnsteig anpassen; ein Übersteigen einer zu niedrigen Stufe wäre dann nicht mehr erforderlich. Ein zulässiger Spalt von maxi-mal 29 cm im minimal 300 m Bogen eines Gleises am Bahnsteig, eventuell sogar verbunden mit einem Schritt nach unten, ist für viele eine zu große Hürde. Hierzu werden derzeit neue Fahrzeuge erprobt.

Für den Zugang von Rollstühlen in die Züge sind neue Techniken er-forderlich (Rüger, 2012). Bisher ist z. B. im SPFV der Einsatz eines per-sonalbedienten Lifts als spezielles Hebefahrzeug erforderlich (Bilder 8 und 9). Dieser Einstieg ist dann minutenlang für andere Fahrgäste gesperrt, was bei starkem Andrang zu Staus und auch zu Ärgernissen führen kann (Binder, 2012).

Um die Bedienungszeiten zu verkürzen und die Hebebühne univer-seller verwenden zu können, sind neu Geräte in der Entwicklung, die aber wohl noch mehr Technik benötigen und sich daher im Alltag noch bewähren müssen (Dümmler et al., 2013).

Die für Rollstühle und Gehhilfen vorgesehenen und reservierbaren Räume werden in vollbesetzten ICEs gerne mit Gepäckstücken ver-sperrt, was auf Zwischenhalten dann zu entsprechendem Umräumen führt.

Mindestens ein Wagen in Fernzügen sollte so breite Türen haben, dass Rollstuhlfahrer oder Menschen mit Kinderwagen über ausfahr-bare oder ausklappbare Rampen problemlos in den bzw. aus dem Wagen auf den Bahnsteig rollen können. Zumeist muss dabei aber das Zugpersonal helfen - was eine entsprechende Absprache verlangt - und die Haltezeit verlängert sich. Wenn die Rampen kundenbedient gestaltet wären, entsteht die Gefahr eines Missbrauches zulasten aller Kunden (Ausfahren ohne Notwendigkeit, mit Haltezeitverlängerung).

Generell sollten also breite Fahrzeugtüren, falls notwendig Rampen statt Stufen und ein nahezu spaltfreier Einstieg angestrebt werden. Die Aufstellflächen vor dem Ausstieg aus den Zügen müssen mög-

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Abbildung 8: Einstiegsverhältnisse in den ICE (Eigene Aufnahme Siegmann)

Abbildung 9: Rollstuhllift für den SPFV (Eigene Aufnahme Siegmann)

lichst groß sein, guten Halt und eine gute Sicht auf den Bahnsteig auch bei noch geschlossenen Türen bieten. Eine frühzeitige Ansage, auf welcher Seite auszusteigen ist, hilft der Orientierung der Fahrgäste und verkürzt so die Fahrgastwechselzeiten. Gerade ältere Menschen

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gehen frühzeitig zum Ausgang und stehen dort oft länger, aber beengt und unsicher, während der Zug bremst und in den Bahnhof einfährt.

UmsteigenÄltere Menschen bevorzugen direkte Relationen, selbst wenn die Rei-sezeit etwas höher ist. Umsteigen ist gerade für ältere Menschen ein Nutzungshindernis, mit dem sie Unsicherheit und Befürchtungen ver-binden. Viele Relationen, besonders im Fernverkehr, sind nicht umstei-gefrei zu befahren. In einem integralen Taktsystem sind die Taktknoten so koordiniert, dass dort Züge aus und in allen Richtungen rund um eine volle Stunde (oder zur Minute 30) gleichzeitig im Bahnhof sind. Fahrgäste haben dann ausreichend Zeit umzusteigen. In Deutschland sind zwar Überlegungen vorhanden, auch hier einen integrierten Takt von SPFV/SPNV und sonstigem ÖV (Deutschlandtakt) einzuführen, doch derzeit sind noch sehr viele Relationen unkoordiniert.

Insofern müssen sich alle Kunden, z.  B. unter Nutzung der Fahr-planauskunftssysteme, über die Umsteigebedingungen informieren. Lange Wartezeiten werden oft gemieden. Zu knapp bemessene Über-gangzeiten sind jedoch gerade für ältere Menschen ebenso unange-nehm und zudem risikoreich, besonders wenn längere Wege und Trep-pen zu überwinden sind. Wenn dann noch Verspätungen auftreten, geht ein Übergang verloren und man muss auf dem fremden Bahnhof bis zum nächsten Zug in die gewünschte Richtung warten. Im Fahr-plangefüge werden ortsspezifisch (zumeist) genügend Zeitpuffer zum Wechsel des Bahnsteigs zwischen den Zügen eingebaut. Sie können aber für ältere und/oder behinderte Fahrgäste zu knapp bemessen sein. Bei Verspätungen eines Zubringerzuges kann zudem trotz be-trieblicher Koordinierung ein Fernzug selten länger warten, so dass in einer verbleibenden Bahnsteigwechselzeit der Anschluss nicht mehr erreicht werden kann.

Abgang am ZielortDie modernen Informationssysteme via Internet erlauben eine Vorab-Orientierung über die Wege zum Ziel, sind aber bei der älteren Ge-neration nicht immer verfügbar. Ein Stadtplan im Empfangsgebäude und öffentliche Telefone sind daher sehr hilfreich. Das Abholen am Bahnhof oder die Weiterbeförderung per ÖPNV in der eventuell frem-den Zielstadt oder beim Umstieg in ein anderes Verkehrsmittel ver-langt Kommunikation oder/und Vorinformation. Auch hier bietet das Taxi den besten Komfort – allerdings zu einem relativ hohen Preis. Für

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Mobilitätseingeschränkte müssen die Bedingungen am Zielort vorab eruiert werden und ggf. ist Hilfe anzufordern.

4 Der ältere Fahrgast im Zug

Es wird erkennbar, wie aufwendig fahrzeugseitig wie auch infrastruk-turseitig gute Zugangsmöglichkeiten hergestellt werden müssen, wenn sie nicht frühzeitig und umfassend beachtet werden oder wenn deshalb vorhandene Anlagen umgestaltet werden müssen.

Selten mit dem Zug fahrende Fahrgäste müssen sich nach dem Ein-stieg zunächst erstmal orientieren, ihren Sitzplatz finden und ihr Ge-päck verstauen. Die Nummerierung der Sitze und die Reservierungs-informationen sind für viele häufig schwierig lesbar (Schriftgröße und Kontrast) und verwirrend, zumal wenn sie nicht in den Wagen mit ihrer Reservierung eingestiegen sind. Es ist auch eine Überwindung, be-setzte, aber für sich reservierte Plätze „frei zu kämpfen“.

Die Zugtoiletten zu bedienen, ist für viele Betroffene ungewohnt. Auf al-tersgerechte Gestaltung, Sauberkeit und Funktionsfähigkeit der Toilette sowie der Türöffnungs- und Verschlusssysteme ist daher besonderer Wert zu legen. Jedoch sind heute vielfach schon die Hinweise, wo sich die nächste funktionsfähige Toilette im Zug befindet, mangelhaft.

Im Zug sollten – auch zur Unterhaltung – mehr Informationen optisch an die Kunden gegeben werden (aktuelle Geschwindigkeit, Lagepläne der jeweiligen Umgebung des Zuges mit Hinweisen auf Sehenswür-digkeiten – auch Städtewerbung). Die moderne Kommunikation bietet das zwar individuell via smartphone u. ä., aber gerade das erlaubt auch eine „einfache“ Installation im Zug mit Wiedergabe für alle. Das kann die subjektiv empfundene Reisezeit verkürzen. Insbesondere bei Verspätungen sollten die aktuellen Anschlüsse nicht nur akustisch durchgegeben, sondern auch optisch angezeigt werden. Befürchtun-gen in Bezug auf das Umsteigen und das mögliche Verpassen von Anschlüssen können so verringert werden.

Fahrgäste in Fernzügen müssen Wegeleitsysteme zu Speise- oder Bistrowagen vorfinden, z. B. per Piktogramm, akustisch oder per Fly-er am Sitzplatz. Dazu ist eine Stabilisierung der Zugkonfigurationen erforderlich, wie sie heute systembedingt nur beim ICE gegeben ist.

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Die Sicherheit des Gepäcks am Sitzplatz muss gewährleistet sein. Die Sitzplätze und Gepäckfächer sollten übersichtlich sein, um Kleidungs- und Gepäckstücke vor dem Ausstieg einfach zusammen sammeln zu können und nichts zu vergessen. In den ICE und vor allem in den Regi-onalzügen werden die Gepäckablagemöglichkeiten bemängelt. Viele ältere Menschen bedürfen fremder Hilfe, Koffer in die Ablagen über den Sitzen zu hieven.

5 Besondere Anforderungen an Busse, Stadt- und Straßenbahnen

Der Aspekt des niveaugleichen Ein-/Ausstiegs in die Fahrzeuge gilt auch bei Straßen- und Stadtbahnsystemen. Soweit sie im Tunnel oder auf eigenen Bahnkörpern verkehren, ist die Abstimmung zwischen Fahrzeugen und Infrastruktur, insbesondere die Bahnsteighöhe, so zu wählen, dass ein stufenloser und nahezu spaltfreier Einstieg ermög-licht wird – auch zur Verringerung der Fahrgastwechselzeiten. Wenn allerdings die Straßenbahnen wie Busse nur im Straßenraum verkeh-ren, sind hohe Bahnsteige nur mit erheblichen Einschränkungen für den Straßenverkehr möglich, so dass Niveauunterschiede verbleiben, die schwierig zu überwinden sind.

Für Niederflursysteme gibt es auch Lösungen, stufenfreie Einstiege im Straßenraum zu realisieren, in dem bspw. die Gleise aus der Straßen-mittellage an den Bordstein verschwenkt werden und/oder der Bord-stein vorgezogen wird (Kap-Lösung, Bsp. Halle), oder die Fahrbahn im Haltestellenbereich auf Bahnsteigniveau angehoben wird (Bsp. Nordhausen, Berlin: Haltestelle Karl-Ziegler-Straße in Adlershof). Da-mit kann eine „erhebliche“ Einschränkung des Straßenverkehrs ver-bunden sein. Bei Systemen, die für den stufenfreien Einstieg in die Fahrzeuge Hochbahnsteige benötigen, gibt es neben dem Flächenbe-darf auch Probleme der städtebaulichen Integration (Bsp. Hannover, Bielefeld, Köln, Bonn und Stuttgart).

Nach Möglichkeit erhält eine leistungsfähige Stadtbahn separate Glei-se („eigener Bahnkörper“), um nahezu getrennt vom Individualverkehr betrieben werden zu können. In diesen Fällen können Hochbahnsteige angelegt werden, die allerdings zum Straßenraum mit Geländer abgesi-chert werden müssen. Rampen neben den Treppen ermöglichen auch

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Rollstuhlfahrern und Fahrgästen mit Kinderwagen oder Gepäck einen Zugang, wenn auch ggf. mit hohem Kraftaufwand (Rebstock et al., 2004).

Moderne Straßen- oder Stadtbahnen können aber auch als Niederflur-fahrzeuge mit nur 30 cm Einstiegshöhe über Straßenniveau ausgelegt werden. Dann können die Kunden von niedrigen Bahnsteigen oder den Fußwegen gut ein- und aussteigen, entsprechend sind derartige Straßenbahnsysteme besser in enge Straßen oder Fußgängerzonen zu integrieren.

Für Gehbehinderte bleibt aber der Zugang in diesen Fällen schwieriger als von einem Hochbahnsteig auf der Höhe des Fahrzeugbodens aus, also ohne Stufen und nahezu spaltfrei. Der Hochbahnsteig selbst kann aber nur über Zugänge und Rampen erreicht werden. Eine mit Nieder-flurfahrzeugen betriebene Stadt- oder Straßenbahn ist für Menschen, die Schwierigkeiten mit dem Gehen haben, dann optimal, wenn die Bahnsteighöhe mit der Fahrzeugfußbodenhöhe übereinstimmt, weil diese Bahnsteige dann über kurze Rampen erreichbar sind.

Die Wahl der geeignetsten Lösung hängt also von topografischen und stadträumlichen Gegebenheiten sowie von der in der Vergangenheit getroffenen Systementscheidung ab. Zudem hat die Finanzierung Ein-fluss, da für die Fahrzeuge und die Infrastruktur häufig unterschiedli-che Förder- und Finanzierungsbedingungen gelten.

Auch in den Bussystemen wird Barrierefreiheit angestrebt. Gegenwär-tig werden aus Kostengründen zunehmend low-entry-Busse anstatt der reinen Niederflurbusse beschafft. Kneeling, also das Nutzen der Luftfederung zum Absenken der Fahrzeuginnenhöhe an der Seite des Bussteiges, und die Anlage der Bushaltestellen an einem erhöhten und ausgerundeten Bord ermöglichen eine hohe, aber nicht vollstän-dige Barrierefreiheit in Bussystemen.

Die reinen U-Bahnsysteme, wie sie in Berlin, Hamburg, Nürnberg und München betrieben werden, streben mit großem Aufwand die barrie-refreie Nachrüstung der alten und älteren Stationen durch Fahrstühle an, da Rolltreppen durch manche mobilitätseingeschränkte Personen nicht nutzbar sind. Soweit die neueren unterirdischen Anlagen von Stadtbahnen die Barrierefreiheit noch nicht berücksichtigen, müssen auch hier Nachrüstungen erfolgen. Leider ist deren Finanzierung bis-her nicht gesichert.

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6 Sicherheitsaspekte und Zuverlässigkeit bei Nutzung des ÖV

Ältere Personen bevorzugen häufig die „sichere“ Lösung, achten also eher auf Zuverlässigkeit und Sicherheit. Zuverlässigkeit wird im ÖV durch möglichst exakte Einhaltung des Fahrplans erreicht, der ent-sprechend robust gegen kleine Störungen im Betriebsablauf sein muss.

Informationssysteme geben ggf. den Verspätungsstand visuell an den Haltestellen oder per Durchsage an die Kunden weiter, bieten Infor-mationen zu Alternativen oder empfehlen Maßnahmen wie die Nut-zung von Ersatzbussen oder -bahnen. Darüber hinaus werden aktuelle Fahrplaninformationen zum individuellen Abruf über das Internet be-reitgestellt. Die Nutzer können sich also heute viel mehr und vielfälti-ger als früher über die aktuelle „Verkehrslage“ im ÖPNV informieren.

Objektive und gefühlte SicherheitObjektiv ist das ÖV-System sehr sicher. „Während auf den Straßen im motorisierten Individualverkehr etwa 4,65 Getötete je 1 Mrd. PKm zu beklagen sind, beträgt die entsprechende Vergleichszahl für die Bahn 0,11 (Verhältnis 42 : 1)“ (Ahrens et al., 2010, S. 174). Bei die-sen Unfällen liegt zudem oftmals ein Fehlverhalten anderer Verkehrs-teilnehmer vor, etwa bei Zusammenstößen an Bahnübergängen oder an Kreuzungen mit Straßenbahnen. Auf den Bahnsteigen und in den Fahrzeugen sollten gut erkennbare Notrufeinrichtungen vorhanden sein (Bild 10), die auch das Abrufen von mündlichen Informationen ermöglichen.

Das subjektive Sicherheitsgefühl kann im Massenbetrieb der ÖV-Sys-teme beeinträchtigt werden. Der Fahrgast begibt sich unvermeidbar in eine Gruppe Unbekannter. Er kann sich fremdbestimmt durch das ÖV-System fühlen. Wenn der Fahrgast die optischen und akustischen Informationen nicht vollständig verstehen kann oder wenn er sich am Verhalten anderer Fahrgäste stört, wird er unsicher. Der schnelle Fortschritt bei den Informationssystemen, der Fahrzeuginnengestal-tung oder der Verkaufstechnik verlangt von den Nutzern eine hohe Anpassungsfähigkeit, die viele überfordert. Hinzu kommen Unregel-mäßigkeiten durch Fahrzeugausfälle/Ersatzzüge oder Verzögerungen/Umleitungen durch Baustellen, die ebenfalls einen „gewohnten Trott“ unterbrechen.

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Abbildung 10: Information und Hilferuf an einer Säule auf dem Bahnsteig in Düssel-dorf (Eigene Aufnahme Siegmann)

Ältere Menschen gewichten diese unterschiedlichen Aspekte der Sicherheit häufig anders als jüngere. Im Vergleich zur Unfallfreiheit („safety“) steigt bei älteren Menschen die Bedeutung der Sicherheit („security“) im Sinne der Vermeidung von Beeinträchtigungen und Belästigungen und von kriminellen Akten (vgl. Schlag, 2013). Diese Befürchtungen lassen Ältere teilweise auf die Nutzung öffentlicher Ver-kehrsmittel zu bestimmten Zeiten oder auf bestimmten Routen ver-zichten.

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Die Betreiber der ÖV-Systeme versuchen, Veränderungen durch vo-rausschauende Information auf allen Kanälen (Presse, Fernsehen, Rundfunk, Aushang, Durchsagen,…) an alle Kunden zu vermitteln. Personal auf dem Bahnsteig oder in den Zügen hilft bei Bedarf den Personen, in den oder aus dem Zug zu kommen.

Meldungen oder Mundpropaganda über Übergriffe auf Fahrgäste des ÖV verunsichern die Kunden, insbesondere die, die sich nicht selbst ausreichend wehren könnten. Auch Technik zur Überwachung oder gute Beleuchtung können ein Unbehagen insbesondere bei alten oder mobilitätsbehinderten Personen nicht gänzlich beseitigen.

Beim Einsatz einer Videoüberwachung ist es wichtig, alle Nutzer hie-rüber zu informieren. Solange diese nur auf große Knoten beschränkt bleibt, also noch nicht obligatorisch für den ÖV ist, sollten deutliche Hinweise und ggf. Durchsagen die Videoüberwachung in das Be-wusstsein der Nutzer bringen, damit ihr Verhalten entsprechend be-einflusst wird und sich die Kunden dadurch sicherer fühlen. Überwa-chung allein kann aber gewaltsame Übergriffe nicht verhindern.

7 Zukünftige Entwicklung und Finanzierung

Viele der dargestellten Maßnahmen finden sich auch in einer euro-päischen Regelung zur Barrierefreiheit wieder. Im Jahr 2008 wurde die „Technische Spezifikation für die Interoperabilität bezüglich ein-geschränkt mobiler Personen im konventionellen transeuropäischen Eisenbahnsystem und im transeuropäischen Hochgeschwindigkeits-bahnsystem“ (TSI PRM) veröffentlicht. Um diese nun gesetzlich ver-ankerten Anforderungen zur Realisierung der Barrierefreiheit auch um-zusetzen, wird derzeit ein detailliertes Normenpaket erarbeitet (VDV Jahresbericht 2011/12). 2013 ist mit der Veröffentlichung dieser die TSI PRM untersetzenden Regelungen zu rechnen. Gleichzeitig gehen die Erfahrungen aus diesem Regelprozess im Detail auch in eine Re-vision der TSI PRM ein.

Neben den Anforderungen an eine kontrastreiche – und daher besser wahrnehmbare – Gestaltung der Systemelemente, der entsprechen-den Gestaltung der Fahrzeuginneneinrichtungen inklusive der Toiletten werden insbesondere auch die Ein- und Ausstiegsbedingungen in die bzw. aus den Zügen nach den Bedürfnissen der alten und mobilitäts-

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eingeschränkten Menschen definiert. Auch hier sind die berechtigten Anforderungen der Betroffenen mit der wirtschaftlichen Vertretbarkeit in Einklang zu bringen. Viele der bereits nach und nach im deutschen ÖV eingeführten Komponenten wie taktile Wegeführung, akustische Bedienhinweise oder rollstuhlgerechte Toiletten werden sich durch diese Regelungen überall als Standard durchsetzen.

Für die notwendigen Zusatzausstattungen und Umbauten sind vor-rangig im Rahmen größerer Neu- und Umbaumaßnahmen Finanz-mittel vorhanden. Für den Stationsausbau im SPNV werden ca. 8 % der Regionalisierungsmittel aufgewendet. Häufig werden aber kleine Maßnahmen nicht umgesetzt, weil der dann fällige Wegfall des Be-standschutzes eine Fülle von weiteren notwendigen Umbauten nach sich zieht. Das kann in der Konsequenz auch die Aufgabe eines Hal-tepunktes oder Bahnhofes bzw. den Rückbau auf eine Minimallösung zur Folge haben, was auch keine zufriedenstellende Lösung darstellt.

8 Fazit für den öffentlichen Verkehr

Der öffentliche Verkehr hat in Deutschland ein hohes Niveau erreicht, kann aber noch nicht alle Anforderungen insbesondere der älteren und/oder mobilitätseingeschränkten aktuellen oder auch potenziellen Nutzergruppen erfüllen.

Der öffentliche Verkehr ist ein notwendiges Angebot für ältere Per-sonen, um ihre Bedürfnisse nach Reisehäufigkeit, Fahrtzeiten und -weiten, Bewegungsmöglichkeiten auch bei ggf. vorhandenen Mobili-tätseinschränkungen zu befriedigen. Mobilität (z. B. Versorgungsfahr-ten, Arztbesuche, Wahrnehmung sozialer Kontakte) muss auch dann gewährleistet werden, wenn durch altersbedingte Einschränkungen das Zufußgehen und Radfahren oder die Nutzung eines Automobils als Selbstfahrer nicht mehr oder nur noch eingeschränkt möglich sind.

Wenn auch beim ÖV in den letzten Jahren deutliche Fortschritte in Richtung Barrierefreiheit erzielt werden konnten, so gibt es doch im-mer noch hohen Nachholbedarf: System- und historisch bedingt weist der ÖV der Eisenbahn teilweise noch Hindernisse beim Zugang zu den Bahnhöfen, zu den Zügen und in den Fahrzeugen auf. Es gilt, den ÖV der Eisenbahn finanziell so zu unterstützen, dass er die er-kannten Mängel entsprechend der nun bald vorliegenden konkreten

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Ausführungsbestimmungen der TSI PRM beseitigen kann. Analog gilt das auch für nicht direkt durch diese EU-Regelung betroffene Nahver-kehrssysteme mit U-Bahnen, Stadtbahnen, Straßenbahnen und Bus-sen. Hier ist die Regelung des novellierten Personenbeförderungsge-setz (PbfG) zu beachten, nach der die vollständige Barrierefreiheit bis 2022 herzustellen ist. Der ÖV in den Städten verfügt hierzu bereits über eine bessere Ausgangslage als derjenige im ländlichen Raum. Um den Nachholbedarf zu bewältigen, gilt es, entsprechende Finan-zierungsmöglichkeiten bereit zu stellen.

Die Finanzierung der notwendigen Umbauten der ÖV-Infrastruktur und der Ersatzbeschaffungen von Fahrzeugen ist bisher jedoch noch un-klar, so dass im Jahr 2020 bzw. 2022 noch nicht mit einer vollständi-gen oder flächendeckenden Umsetzung zu rechnen ist. Angesichts des demografischen Wandels sind aber die Anpassungen an die be-rechtigten neuen Anforderungen der Kunden unbedingt erforderlich, damit der ÖV seine Funktionen auch in Zukunft umfassend erfüllen kann. Die Politik ist aufgerufen, schnellstens die notwendigen Voraus-setzungen zu schaffen, um den ÖV angesichts des demografischen Wandels neu auszurichten und dafür die notwendigen Mittel zur Ver-fügung zu stellen.

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Anpassung des Straßenverkehrs an die Anforderungen älterer Menschen: Infrastruktur und Straßenraumgestaltung

Hartmut Topp

1 Anpassung für wen? Design für Alle!

Keine andere Altersgruppe ist körperlich und geistig, gesundheitlich und sozial so heterogen wie die der über 65-Jährigen. Die Mehrheit ist fit und uneingeschränkt mobil; ein großer Teil begrüßt altersgerechte Anpassungen der Verkehrsinfrastruktur und barrierefreie Wege oder ist sogar darauf angewiesen; ein Teil ist nur noch mobil mit fremder Hilfe oder fast immobil in Pflege und Betreuung. Allen gemeinsam ist Mobilität „weit mehr als ein Mittel zur Fortbewegung …, nämlich Freu-de und Selbstbestätigung, Teilhabe an der natürlichen Umwelt und soziale Kontakte, Unabhängigkeit und Wahlfreiheit und – speziell im fortgeschrittenen Alter – das Gefühl, noch ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein.“ (Mollenkopf & Engeln, 2008, S. 246). Viele alte Menschen schätzen regelmäßige Bewegung, um Krankheiten vorzu-beugen und den Alterungsprozess zu verzögern. Gute Rahmenbedin-gungen für Zufußgehen und mit dem Fahrrad zu fahren gewinnen so in der alternden Gesellschaft eine zusätzliche Bedeutung.

Auf die Belange von Schwächeren einzugehen, gehört zu den vor-nehmsten Aufgaben der Stadt- und Verkehrsplanung. So sind An-passung und Barrierefreiheit der Verkehrsinfrastuktur Teil der Bau-kultur  – und nicht nur gesetzliche Verpflichtung. Barrierefreiheit ist Mobilitätsvorausset zung für mobilitätsbehinderte Menschen, Mobili-tätserleichterung für mobilitätseingeschränkte Menschen und Mobili-tätskomfort für alle Menschen – Barrierefreiheit nutzt allen! Die traditi-onelle Barrierefreiheit für behinderte Menschen ist weiterzuentwickeln zum Design für Alle. Langsamerer Verkehr, übersichtliche Verkehrs-räume, einfache Regeln und gute Bedingungen für gesundheitsför-dernde Mobilität zu Fuß und mit dem Fahrrad kommen allen zugute für stressfreies Erleben städtischer und ländlicher Räume.

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2 Tempo 30 als stadtverträgliches Regellimit

Das Leistungstempo lässt im Alter nach und der Zeitbedarf erhöht sich. „Der erhöhte Zeitbedarf Älterer wird vor allem dann zum Pro-blem, wenn die Umgebung hierfür keine Toleranz aufweist – was im Straßenverkehr in hohem Maße der Fall ist.“ (Schlag, 2008, S. 31)

Verkehr, auch Autoverkehr auf Hauptverkehrsstraßen, ist Teil der Stadt  – urban und belebend, solange der menschliche Maßstab in Raum, Geschwindigkeit und Menge nicht verletzt wird. Für Stadtver-träglichkeit, Rücksichtnahme und Fehlertoleranz sind die Geschwin-digkeiten wichtiger als die Verkehrsmengen. Zuverlässigkeit und Sicherheit des Straßenverkehrs werden durch die menschliche Feh-lerwahrscheinlichkeit begrenzt. Diese kann man im Mittel mit 1:1.000 ansetzen; das heißt, auf 1.000 Handlungen im Verkehr kommt eine Fehlhandlung (Pottgießer, 1971) – als Aktion oder als Reaktion. Und die Fehlerwahrscheinlichkeit nimmt im Alter tendenziell zu. Es kommt hinzu, dass die Konflikte zwischen alten Menschen als Autofahrern untereinander und mit Alten als Fußgängern oder Radfahrern bei mehr alten Menschen insgesamt häufiger werden. Das reduziert die Kom-pensationswahrscheinlichkeit von Fehlern. Nach Cohen (2000) wird die Verkehrssicherheit durch die Kombination häufigerer Fehler mit geringerer Kompensation nicht additiv, sondern hyperadditiv verrin-gert (zitiert von Rytz, 2006). Eine höhere Fehlertoleranz und Zeittole-ranz durch geringere Geschwindigkeiten ist also eine ganz wichtige Schlüsselgröße der Verkehrssicherheit und einer altengerechten und menschenfreundlichen Verkehrswelt.

Für die Stadt heißt das: Tempo 30 als Regellimit – mit zu begründen-den Ausnahmen. Das ist eine alte Forderung des Deutschen Städte-tags, die in Österreich längst umgesetzt ist, und die jetzt auch vom Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Ahrens et al., 2010) und vom Europäischen Parla-ment erhoben wird. Die Vorteile liegen klar: mehr Zeittoleranz, mehr Fehlertoleranz und mehr Verkehrssicherheit, objektiv und subjektiv, weniger Umweltbelastungen, höhere Aufenthaltsqualität  – und das alles ohne Einbußen an Leistungsfähigkeit (Schleicher-Jester, 1995), denn dafür sind die Knotenpunkte maßgebend. Der Beirat plädiert für ein „leistungsgerechtes, möglichst klein zu haltendes (Tempo 50-) Vorfahrtstraßennetz für den städtischen Verbindungsverkehr“. Fahr-dynamische Bemessungen von Straßen aus der Zeit der autogerech-

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ten Stadt sind zurückzunehmen, da sie sich am ungehinderten Fahren und an den Geschwindigkeiten orientierten.

Vorstehende Aussagen des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundes-minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Ahrens et al., 2010) haben allerdings kaum Eingang gefunden in das Verkehrssicherheits-programm 2011 der Deutschen Bundesregierung (BMVBS, 2011). Es benennt zwar den demografischen Wandel und das „zentrale gesellschaftliche(s) Anliegen, eine sichere Mobilität der Menschen bis ins Alter zu erhalten.“ Es „… bedürfen insbesondere die schwäche-ren Verkehrsteilnehmer des besonderen Schutzes und der gezielten Aufmerksamkeit in dem komplexen System Straße.“ (BMVBS, 2011, S. 11) Im Aktionsfeld Straßenraum sucht man dann allerdings vergeb-lich Maßnahmen zur Reduzierung der Komplexität. Tempo 30 als Re-gellimit innerorts wird nicht erwähnt. Der Fokus des Programms liegt auf den Außerortsstraßen, während die Verkehrsteilnahme alter Men-schen als Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer überwiegend inner-orts stattfindet.

3 Grundsätzliche Gestaltungs- und Anpassungsprinzipien

Runter mit dem Tempo muss das zentrale Ziel sein bei der Anpassung des Straßenverkehrs an die Anforderungen älterer Menschen. Das gilt nicht nur für den Stadtverkehr, sondern ebenso für die zweistreifigen Landstraßen mit Tempo 100 und für die Autobahnen ohne allgemei-nes Tempolimit. Die Landstraßen sind mit ca. 60 % der Unfalltoten die gefährlichsten Straßen, und bei den Autobahnen beeindruckt immer wieder das relativ entspannte Fahren in unseren Nachbarländern mit Tempo 120 oder 130.

Tempolimits sind kostengünstig, schnell umsetzbar und in der ganzen Breite des Straßenverkehrs wirksam. Sie sind sozusagen das Funda-ment der Anpassung der Infrastruktur und der Straßenraumgestaltung an die Anforderungen älterer Menschen (Abbildung 1). Aber nicht nur das, denn es geht um Design für Alle, es geht um eine sichere, feh-lertolerante, entspannte und komfortable Verkehrswelt für alle, für Autofahrer ebenso wie für Fußgänger, Radfahrer und Benutzer des

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öffentlichen Verkehrs auf ihren Wegen zu den Haltestellen und beim Umsteigen und Warten.

Weitere Gestaltungs- und Anpassungsprinzipien liegen in der Redu-zierung der Komplexität: simplex statt komplex, räumliche Entzerrung komplexer Verkehrssituationen, Vereinfachung und Übersichtlichkeit. Ein Beispiel ist der Kreisverkehr mit 8 Konfliktpunkten anstelle einer Kreuzung mit 32 Konfliktpunkten allein im Kfz-Verkehr; hinzu kommen die mit Fußgängern und Radfahrern.

Gute Straßen erklären sich selbst, das heißt, sie vermitteln intuitiv, wie man sich hier als Autofahrer zu verhalten, und was man als Fußgänger und Radfahrer zu beachten hat: Gilt hier kooperatives eigenverant-wortliches Sozialverhalten im Geschwindigkeitsbereich um 20 km/h oder verrechtlicht-geregeltes Verkehrsverhalten mit Geschwindigkei-ten um 50 km/h? Zur selbsterklärenden Straße gehört auch die Einheit von Bau und Betrieb, die beispielsweise bei der abknickenden Vor-fahrt verletzt wird. Die subjektive Wahrnehmung – insbesondere auch durch ältere Menschen – sollte nicht von der objektiven Regelung ab-weichen. Bei der Vorfahrtregelung rechts-vor-links kann das der Fall sein, weshalb sie nur bis Tempo 30 angewendet werden darf.

Tempolimits: langsamer . entspannter . sicherer

Altengerechte und menschenfreundliche Verkehrswelt

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Abbildung 1: Fundament und Säulen einer altengerechten und menschenfreundlichen Verkehrswelt (Darstellung: Topp)

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Im Straßenverkehr kommen ganz überwiegend Standardlösungen und Standardelemente der einschlägigen Entwurfsrichtlinien zur An-wendung. Das erleichtert die Orientierung und die in hohem Maße rou-tinierten Verkehrsabläufe. Für ältere Menschen ist das ein besonders wichtiger Aspekt, denn die Fähigkeit, sich auf neue, ungewohnte Situ-ationen einzustellen, nimmt im Alter ab.

Barrierefreiheit ist seit dem Behindertengleichstellungsgesetz von 2002 gesetzliche Verpflichtung. In einer alternden Gesellschaft wer-den immer mehr Menschen in ihrer Mobilität mehr oder weniger auf eine barrierefreie Verkehrswelt angewiesen. Die Gruppen der sehge-schädigten und hörgeschädigten Personen werden größer, ebenso die der Gehbehinderten und Rollatorbenutzer sowie der geistig und mental weniger leistungsfähigen Menschen. Barrierefreiheit als Design für Alle wird in der Mitte der Gesellschaft selbstverständlicher und we-niger additiv.

4 Trennprinzip, Bordstein, Mischprinzip

Die klassische Stadtstraße gliedert sich in Seitenraum, Fahrbahn, Sei-tenraum mit der klaren Trennung durch einen Hochbord. Daneben gab es schon immer untergeordnete Straßen und Gassen mit durchgehen-der Pflasterung von Haus zu Haus, oft durch eine Gossenpflasterung optisch gegliedert. Höher belastete Hauptverkehrsstraßen folgen dem Trennprinzip.

Insbesondere für alte Menschen – sowie für Kinder und Behinderte – hat die Trennung der Verkehrsarten den Vorteil eines eindeutig defi-nierten Schutzraums in Form des Gehwegs. Der Bordstein zieht eine klare Grenze zwischen sicherem Seitenraum und gefährlicher Fahr-bahn. Damit diese wichtige Schutzfunktion nicht unterlaufen wird, muss der Gehweg freigehalten werden von parkenden Fahrzeugen und von Fahrradverkehr. Dies gilt generell; das heißt, auch legales Gehwegparken und Radwege in zu schmalen Seitenräumen (Abbil-dung 2) sollten grundsätzlich vermieden werden.

Der Bordstein ist für Blinde und Sehbehinderte neben der inneren Leitlinie aus Gebäuden, Mauern und Bordkanten die wichtige äußere Leitlinie. Bodenindikatoren, zum Beispiel in Fußgängerzonen, sind nur ein schwacher Ersatz für den Bordstein. Für Gehbehinderte, Rollator-

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benutzer und Rollstuhlfahrer dagegen ist der Bordstein ein Hindernis. Deshalb muss er an allen Querungsstellen – auch zwischen den Kno-tenpunkten – abgesenkt werden. Für den Blindenstock ist ein mindes-tens 6 cm hoher Bord ideal, für Rollatoren und Rollstühle die Nullab-senkung. Zur Auflösung dieses Konflikts gibt es mehrere Ansätze: den

Abbildung 2: Radfahrer und Fußgänger in zu schmalem Seitenraum (Foto: Topp)

Abbildung 3: Fahrbahnüberquerung mit 3 cm-Bord, Nullabsenkung oder Doppellö-sung

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Abbildung 4: Flachborde als Alternative zum Hochbord (Nyvig, 2007)

3 cm-Bord, abgerundet oder schräg als Kompromiss, die durch Bode-nindikatoren gesicherte Nullabsenkung und die doppelte Lösung mit Nullabsenkung für die einen und mit leicht ertastbarem Bord für die anderen (Abbildung 3).

Die Bordsteinfrage ist nicht abschließend geklärt, wenngleich der 3 cm-Bord mit geringer Ausrundung sich international bewährt. Aus England gibt es dazu eine umfangreiche empirische Untersuchung (The Guide Dogs for the Blind Association & University College Lon-don, 2008) verschiedener Leitstreifen und Bordsteine (Abbildung 4). Danach kann keine der getesteten Alternativen die unterschiedlichen Anforderungen beider Nutzergruppen gleichzeitig optimal abdecken. Auch hier bietet sich der leicht abgerundete 3 cm-Flachbord als Kom-promiss an (Nyvig, 2007). Die Doppellösung  – Nullabsenkung und tastbarer Bord – kommt bei engen Knotenpunkten kaum in Frage; sie entspricht auch nicht dem Prinzip des Design für Alle. Zurzeit läuft im Forschungsprogramm Stadtverkehr (FOPS) des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) ein Projekt „Barriere-freie Querungsstellen an Hauptverkehrsstraßen – Ausgestaltung von Bordsteinabsenkungen und Bodenindikatoren im Detail“.

Beim Mischprinzip ohne Bordstein gibt es denselben Konflikt: ideal für Gehbehinderte, Rollatorbenutzer und Rollstuhlfahrer, Orientierungs-probleme für Blinde und Sehbehinderte. Mischflächen mit Blindenleit-streifen als Ersatz für den Bordstein sind häufig gestalterisch unbe-friedigend (Abbildung 5). Andererseits ist der Bordstein ein bewährtes Gliederungs- und Gestaltungselement in Stadtstraßen ab etwa 10 m

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Breite zwischen den Häusern. Der Bordstein dient auch als optisches Fundament für die Randbebauung der Straße. Gestalterisch ist ein fla-cher Bord mit oder ohne Belagwechsel besser als ein durchgehender Belag ohne jede Gliederung des Straßenprofils. Ein breiter, 3 cm hoher Bordstein hat funktionale und gestalterische Vorteile. Er eignet sich auch als Kompromiss in Shared-Space-Bereichen und Begegnungs-zonen (siehe Kapitel 6).

Unabhängig vom Entwurfsprinzip – Trennprinzip oder Mischprinzip -, Straßen und Plätze müssen städtebaulich, ortsspezifisch, städtisch oder dörflich und weniger verkehrstechnisch angelegt werden. Das kann je nach Situation im Trennprinzip oder im Mischprinzip – oder so-wohl als auch – erreicht werden. Neben der Sicherheit ist die Gestalt-qualität des Umfelds entscheidend. Sie beeinflusst unser Verhalten; so färben Verkehrsanlagen ab auf das Verkehrsverhalten: Autistisch-funktionalistische Anlagen fördern Stress und Aggression, integrierte, gut gestaltete entspannen.

Abbildung 5: Große, kaum gegliederte Mischfläche mit Blindenleitstreifen in Bohmte (Foto: Topp)

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5 Städtebauliche Bemessung von Hauptverkehrsstraßen

Im Zuge der sprunghaft steigenden Motorisierung in den 1960/70er Jahren wurden städtische Hauptstraßen verkehrstechnisch und fahr-dynamisch zu monofunktionalen Hauptverkehrsstraßen überformt. Leitbild war die autogerechte Stadt; Maßstab waren die Autofahrer und Erwachsene im Leistungsalter. Der Stadtraum diente dem Auto-verkehr. Der verkehrstechnische Entwurf (Abbildung 6, links) spiegelt das wider. Er geht vom Autoverkehr aus und verweist Fußgänger (und Radfahrer) auf die verbleibenden Restflächen.

Die städtebauliche Bemessung (Abbildung 6, rechts) dagegen leitet sich aus dem städtebaulichen Kontext und der Randbebauung der Straße ab. Die Breite der Seitenräume wird aus den Randnutzungen, den Funktionen der Seitenräume und aus angenehmen Proportionen des Straßenraums abgeleitet. Der Rest ist für die Fahrbahn und defi-niert deren städtebaulich mögliche Breite. Die sich so ergebende Fahrbahnbreite wird mit der verkehrstechnisch notwendigen Breite abgeglichen.

Abbildung 6: Städtebauliche Bemessung versus Verkehrstechnischer Entwurf (Dar-stellung: Topp)

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Die städtebauliche Bemessung ist die Antwort auf einen einseitigen verkehrstechnischen Entwurf und dessen Umkehrung. Sie wurde in den 1990er Jahren entwickelt (Heinz, 2000) und ist seit 2006 Bestand-teil der Entwurfsrichtlinien (FGSV, 2006). Die breiten Seitenräume die-nen der Nahmobilität und den nicht-verkehrlichen Straßennutzungen, wie Aufenthalt, Treff oder Gespräch, Straßenmöbeln, Fahrrad-Abstell-plätzen, Bäumen etc. Der wieder gewonnene menschliche Maßstab und die Gestaltqualität kommen allen zugute, insbesondere aber auch älteren und mobilitätseingeschränkten Menschen mit ihrem größeren Platzbedarf wegen unsicheren Gangs mit Gehstock oder Rollator.

6 Shared Space und Begegnungszonen

Ein weiterer neuer Ansatz liegt im verträglichen Miteinander von Fuß-gängern, Radfahrern und Autofahrern, im sicheren Miteinander von Kindern, Erwachsenen, alten und behinderten Menschen in holländi-schen Shared-Space-Bereichen und schweizerischen Begegnungszo-nen (Abbildung 7). Basis des verträglichen und sicheren Miteinanders im Straßenraum ist Blickkontakt und soziale Verhaltensabstimmung, und das braucht niedrige Geschwindigkeiten und Rücksichtnahme. Wie weit sich alte Menschen mit anderen, insbesondere stärkeren Ver-kehrsteilnehmern per Blickkontakt verständigen, in komplexen Ver-kehrssituationen zurecht finden und sich auf gemeinsam genutzten Flächen sicher fühlen, bedarf weiterer Untersuchungen. Andererseits sind niedrige Geschwindigkeiten, hohe Aufenthaltsqualität und Über-sichtlichkeit ohne parkende Autos – gerade auch für alte Menschen – erst einmal ein Vorteil.

Anders als in klar definierten, durch Borde abgegrenzten Seitenräumen traditioneller Stadtstraßen gibt es in Begegnungszonen und Shared-Space-Bereichen meistens keine baulich abgegrenzten Schutzräume. Für Alte wie für Kinder kann das nachteilig sein. Deshalb sollten die Prinzipien von Shared Space und der städtebaulichen Bemessung (Abbildung 6, rechts) so überlagert werden, dass auf der Fahrbahn das gleichberechtigte Miteinander gilt, im Seitenraum jedoch die Fuß-gänger unter sich bleiben (Abbildung 8 – FGSV, 2011a). Die Begeg-nungszone mit klarem Vorrang für querende Fußgänger und Tempo 20 hat für schwächere Verkehrsteilnehmer und alte Menschen Vorteile gegenüber Shared Space mit Verhandlungslösungen über Blickkon-takte.

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Abbildung 7: Begegnungszone Zentralplatz Biel mit ca. 12.000 Kfz pro Tag (Foto: Topp)

Abbildung 8: Shared Space plus Städtebauliche Bemessung (nach FGSV, 2011a)

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Die Begegnungszone gibt es in der deutschen Straßenverkehrsord-nung – StVO – (noch) nicht. Der verkehrsberuhigte Geschäftsbereich mit Tempo 20 oder Tempo 10 ist gerade aus der Sicht alter Menschen kein vollwertiger Ersatz, weil der Vorrang für querende Fußgänger fehlt. So arbeiten einige Städte ersatzweise mit dem verkehrsberu-higten Bereich, zum Beispiel Duisburg (Stadt Duisburg, 2010) auf dem Opernplatz mit ca. 13.000 Kfz pro Tag oder auf dem Hamborner Alt-markt mit ebenfalls ca. 13.000 Kfz pro Tag (Abbildungen 9a und 9b). Unabhängig davon, dass diese Beispiele mit ihren Verkehrsbelastun-gen über die Regelungen der StVO hinausgehen, sie funktionieren gut: Straßen und Plätze werden wieder Lebensräume mit Aufenthaltsquali-tät und Urbanität.

Wichtig sind die Sichtbeziehungen zwischen Fußgängern, Radfahrern und Autofahrern. Deshalb darf in Shared-Space-Bereichen nicht ge-parkt werden; in Begegnungszonen ist Parken nur auf entsprechend gekennzeichneten Flächen erlaubt. Das schafft Übersicht und wird so zum wesentlichen Sicherheitsargument. In Stadtgebieten mit hohem Parkdruck ist das jedoch kaum möglich. Es stellt sich deshalb die Fra-ge, wie viel Parken in welcher Anordnung vertretbar ist.

Shared Space oder Begegnungszonen führen nicht per se zum besse-ren Straßenentwurf. So ist manche übergroße Pflasterfläche in Shared-Space-Straßen ästhetisch problematisch. Auch Bohmte (Abbildung 5) – lange ein deutsches Referenzbeispiel – ist gestalterisch unbefrie-digend: Die durchgehend roten Pflasterflächen sind zu groß, zu wenig gegliedert und deshalb eintönig; die spät in die Planung aufgenomme-nen Blindenleitstreifen wirken fremd und aufgesetzt; die Aufenthalts-qualität wurde in Bohmte nicht verbessert. Diese Kritik am Einzelfall wird relativiert durch viele gut gestaltete Bereiche, wie Zentralplatz in Biel (Abbildung 7), Opernplatz und Hamborner Altmarkt (Abbildung 9b) in Duisburg oder Sonnenfelsplatz in Graz (Abbildung 10).

Das Grazer Beispiel (Abbildung 10) zeigt auch, wie ein Leitsystem für Blinde und Sehbehinderte unaufdringlich und selbstverständlich ge-stalterisch integriert werden kann. Das taktile Leitsystem wird ergänzt durch einen tastbaren Plan (Abbildung 11), und zusätzlich wird ein Mobilitätstraining angeboten.

Soziales Verhalten funktioniert in den holländischen Shared-Space-Bereichen in aller Regel gut. Aber wie sieht das im seltenen Fall aso-

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zialen Verhaltens und zu hoher Geschwindigkeit aus? Dann kann es leicht zu einer Überforderung und Benachteiligung der schwächeren Verkehrsteilnehmer kommen – frei nach dem Ausspruch eines blinden Fußgängers: „Neun von zehn Autofahrern halten für mich an, mein Problem ist, den zehnten zu erkennen.“

Abbildung 9a: Hamborner Altmarkt in Duisburg, gestern: vierspurige Fahrbahn mit ca. 18.000 Kfz pro Tag (Foto: Stadt Duisburg)

Abbildung 9b: Hamborner Altmarkt in Duisburg, heute: verkehrsberuhigter Bereich mit ca. 13.000 Kfz pro Tag (Foto: Topp)

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Die schweizerischen Begegnungszonen sind deutlich stärker reguliert als die holländischen Shared-Space-Bereiche: Hier gilt Tempo 20, und Fußgänger haben Vorrang. Das schützt natürlich auch nicht vor aso-zialem Verhalten, aber es zieht für die Autofahrer klare Grenzen. Und im Konfliktfall ist Fehlverhalten zu definieren und zu ahnden.

Abbildung 10: Sonnenfelsplatz in Graz mit ca. 15.000 Kfz pro Tag und ca. 3000 que-renden Fußgängern in der Spitzenstunde (Foto: Stadt Graz)

Abbildung 11: Tastplan des Grazer Sonnenfelsplatzes für blinde und sehbehinderte Menschen (Stadt Graz, 2011)

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7 Verkehrssicherheit versus Leistungsfähigkeit

Zwischen der Leistungsfähigkeit und der Sicherheit von Straßenver-kehrsanlagen gibt es Konkurrenzen. Höhere Leistungsfähigkeit wird in vielen Fällen mit höherer Komplexität des Verkehrsablaufs erreicht. Das aber kann insbesondere für alte Menschen als Fußgänger, Rad-fahrer und Autofahrer zu reduzierter Verkehrssicherheit führen. Sie fühlen sich bei höherer Komplexität subjektiv unsicher, und das kann sich in Verhaltensunsicherheit wie auch objektiv im Unfallgeschehen niederschlagen.

So leistet ein kleiner Kreisverkehr mit einspurigen Zufahrten und ein-spuriger Kreisfahrbahn weniger als ein zweispuriger, ist aber siche-rer, weil weniger komplex. Ähnliches gilt für signalgesteuerte Knoten-punkte, wenn bedingt verträgliche Verkehrsströme gleichzeitig frei gegeben werden. Klassische Beispiele sind Rechtsabbieger und Fuß-gänger oder Linksabbieger und Geradeausfahrer im Gegenverkehr. In anderen Fällen geht es weniger um Leistungsfähigkeit als vielmehr um verfügbare Fläche. Ein Beispiel sind Fußgängerfurten mit oder ohne Fahrbahnteiler.

Ein zügiges Grün für Fußgänger ist unabhängig davon immer anzu-streben.

Die Konkurrenz zwischen Leistungsfähigkeit und Sicherheit ist nicht aufzulösen. Aber in der alternden Gesellschaft wird sich die Abwägung in Richtung Sicherheit verschieben müssen. Und das kommt nicht nur alten Menschen entgegen, sondern letztlich allen. Auch nach der Ver-waltungsvorschrift (VwV) zur StVO „geht die Verkehrssicherheit aller Verkehrsteilnehmer der Flüssigkeit des Verkehrs vor“ (StVO, 2010).

8 Knotenpunktformen und -elemente

Missverständnisse, Fehler, Konflikte und schließlich Unfälle älterer Au-tofahrer ereignen sich ganz überwiegend an Knotenpunkten und resul-tieren oft aus Problemen mit den Vorfahrtsregelungen (Schlag, 2008).

Knotenpunkte im Straßennetz können einfach, übersichtlich und lang-sam befahrbar oder sehr groß und komplex sein. Einfach, auch für alte Menschen als Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer leicht zu bewälti-

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gen, sind kleine Einmündungen und Kreuzungen zweistreifiger Straßen mit rechts-vor-links-Regelung mit Verkehrsbelastungen bis etwa 8.000 Kfz pro Tag in Tempo 30-Zonen. Das gilt auch für kleine Einmündun-gen und Kreuzungen mit Vorfahrtregelung, wenn sie in den Zufahrten nicht mehr als eine Zusatzspur für das Abbiegen haben und Fußgän-gerüberwege mit Mittelinseln. Komplex und daher nicht geeignet sind Einmündungen oder Kreuzungen mit abknickender Vorfahrt, die auch nach der Verwaltungsvorschrift (VwV) zur StVO nur ausnahmsweise zulässig sind (Straßenverkehrs-Ordnung, 2010). Alternativ zu kleinen Kreuzungen mit rechts-vor-links- oder Vorfahrtregelung kommen Mi-nikreisel in Frage. Größere Einmündungen und Kreuzungen sollten signalgesteuert werden mit möglichst wenig gleichzeitiger Freigabe bedingt verträglicher Ströme. Aspekte der Signalsteuerung werden in einem separaten Beitrag behandelt (Boltze, in diesem Band). Auch hier sind je nach Verkehrsbelastung Minikreisel oder kleine Kreisver-kehre eine Alternative. Blinde und sehbehinderte Menschen bevorzu-gen allerdings die signalgesicherten Überwege.

Kleine Kreisverkehre mit einstreifigen Zufahrten und einstreifiger Kreisfahrbahn sind wesentlich einfacher als Kreuzungen: Sie haben viel weniger Konfliktpunkte, Vorfahrt hat nur ein Fahrzeugstrom aus ei-ner Richtung, und es wird – geometrisch bedingt – langsam gefahren. Falschfahrten können einfach durch zweites Umrunden oder Wende-fahrt am nächsten Kreisel korrigiert werden. Aus der Sicht älterer Men-schen und anderer schwächerer Verkehrsteilnehmer sind Fußgänger-überwege in jedem Kreiselarm erwünscht. Die Überquerungslängen sind kurz, da im Vergleich zur Kreuzung die Vorsortierspuren entfal-len. Deutlich komplexer und deshalb schwieriger wird die Situation an mehrstreifigen Kreisverkehren. Allerdings endet die Leistungsfähigkeit des kleinen Kreisverkehrs bei etwa 20.000 Kfz pro Tag.

Trotz ihrer Vorteile sollten Kreisverkehre aber nur dort angewendet wer-den, wo sie auch städtebaulich vertretbar sind. Kreisverkehre haben städtebaulich Gewicht; sie heben Orte gegenüber anderen heraus. Längst nicht immer passen städtebauliche Figur eines Ortes – zum Beispiel ein quadratischer Platz oder eine Kreuzung mit ausgeprägter Eckbebauung – und Kreis zusammen.

Frei fahrende Rechtsabbieger – außerhalb der Signalsteuerung – ent-lang großer Radien mit Dreiecksinsel sind ein typisches Relikt der autogerechten Stadt. Die hier gefahrenen hohen Geschwindigkeiten

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gefährden Fußgänger und Radfahrer. Dreiecksinseln sollten zurückge-baut werden unter Zugrundelegung der Schleppkurven für langsame Kurvenfahrt.

Wichtig sind klare Fahrbahnmarkierungen mit ausreichend langer Vor-sortierung der abbiegenden und geradeaus fahrenden Fahrzeugströ-me zur Vermeidung plötzlicher Spurwechsel sowie eine eindeutige, auch intuitiv erfassbare Zuordnung der Signalgeber zu den einzelnen Spuren.

An Knotenpunkten des Straßenverkehrs laufen in der Regel die Fahr-bahnen durch, während die Gehwege unterbrochen sind. Bei Gehwe-gen in Hauptlaufrichtung über untergeordnete Zufahrten macht die Umkehrung dieses Prinzips Sinn: Der Gehweg läuft in gleichem Belag durch, und die Fahrbahn wird unterbrochen (Abbildung 12). Das er-leichtert den Fußgängern das Queren und erhöht die Aufmerksamkeit der abbiegenden und kreuzenden Autofahrer.

9 Ältere Menschen zu Fuß unterwegs

Im Alter ist Zufußgehen die häufigste und wichtigste Mobilitätsform. Hier wird Mobilität mit Bewegung im Alltag und mit Fitness kombiniert. Für viele Hochbetagte ist es die letzte autonome Mobilitätsform.

Geschlossene Fußwegenetze für alle  – insbesondere auch barriere-frei für Sehbehinderte, Blinde, Gehbehinderte, Rollatorbenutzer und Rollstuhlfahrer (siehe auch Kapitel 11 zu Barrierefreiheit) – verbinden

Abbildung 12: Durchgezogener Gehweg über Kreuzungsast (Foto: Topp)

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die wichtigen Ziele in der Stadt. Im Nahbereich haben Aufenthalts-qualität und Erreichbarkeit der Haltestellen des ÖPNV eine besondere Bedeutung. Das gilt auch für die subjektive und objektive Sicherheit bei Dunkelheit durch transparente Gestaltung, soziale Kontrolle und gute Beleuchtung (siehe auch Kapitel 12 zu sozialer Sicherheit im öf-fentlichen Raum).

Entlang der Hauptwege benötigen ältere Menschen Sitzgelegenhei-ten, um größere Distanzen in Etappen zu bewältigen. Und worüber man kaum spricht, das sind Toiletten, die alte Menschen häufiger brauchen; viele haben Hemmungen, in Gaststätten oder Geschäften um Toilettenbenutzung zu bitten.

Die Mindestbreite des nutzbaren, hindernisfreien Gehstreifens für Begegnungen zweier Fußgänger liegt nach den Empfehlungen für Fußgängerverkehrsanlagen  – EFA (FGSV, 2002b) bei 1,80 m. Dar-aus ergibt sich zuzüglich der Sicherheitsräume die Regelbreite eines Seitenraums von 2,50 m für einen straßenbegleitenden Gehweg.

Diese Breite ist als Mindestmaß zu verstehen, das sich aus der Begegnung zweier Fußgänger ableitet. Aus der Städtebaulichen Bemessung (Abbildung 6) werden sich in aller Regel breitere Sei-tenräume ergeben. Das ist für Gehbehinderte, Rollatorbenutzer und Rollstuhlfahrer mit ihrem größeren Platzbedarf auch funktional angemessen.

Ein Problem, nicht nur für Rollstuhlfahrer, sind die häufig mit Ge-schäftsauslagen, Werbeträgern, Verkehrsschildern etc. zugestellten Gehwege. Natürlich gehören diese Dinge auch zur Funktion eines Gehwegs – aber dann so geordnet, dass innerhalb des Gehwegs eine ausreichend breite Gehbahn hindernisfrei bleibt – etwa so wie SRL & Fuss e.V. (2001) vorschlagen mit Oberstreifen, Gehbahn und Unter-streifen – Berliner Gehwegstruktur (Abbildung 13).

Gehwegparken ist eine rücksichtslose Unsitte, die auch mit hohem Parkdruck nicht zu entschuldigen ist. Gerade die schwächeren Ver-kehrsteilnehmer werden dadurch behindert und sogar gefährdet. Völ-lig unverständlich ist deshalb die Praxis vieler Städte, dies zu dulden oder sogar zu legalisieren. Auf den Konflikt zwischen Radfahrern und Fußgängern (Abbildung 2) in zu schmalen Seitenräumen wird im Kapi-tel 10 zum Fahrradverkehr eingegangen.

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Abbildung 13: Gehweg mit hindernisfreier Gehbahn (SRL & FUSS eV, 2001)

Gehwege – als Bestandteile eines „Glattwege“-Netzes – müssen leicht begehbar sein für Gehbehinderte, berollbar für Rollatoren, befahrbar für Rollstühle, erkennbar für Sehbehinderte und ertastbar für Blinde. Viele Stadtzentren – insbesondere in Mittelstädten – sind weitgehend kongruent mit den jeweiligen Altstädten. Deren Straßen- und Platzräu-me zeichnen sich durch mehr oder weniger unebene Pflasterbeläge aus. Das gehört zur Altstadt, und wir mögen es. Aber Gehbehinderte, Rollstuhlfahrer und Rollator-Benutzer haben damit ein Problem. Ab-helfen kann ein ebener Gehstreifen aus Natur- oder Kunststein, Geh-wegplatten (Abbildung 14) oder in manchen Situationen auch Asphalt (Abbildung 15). Die Beläge müssen eben und griffig sein und die Be-lagwechsel taktil und optisch kontrastreich, damit sie als Leitlinie für Blinde und Sehbehinderte taugen. Beispiele zeigen (Abbildung 14), dass solche Gehstreifen – selbst in denkmalgeschützten Altstadtbe-reichen – stadträumlich verträglich sind (Topp, 2007).

Das Überqueren von Fahrbahnen, insbesondere in mehrspurigen Hauptverkehrsstraßen, kann für alte Menschen zum Hindernis und Risiko werden, letztlich zum einschränkenden Faktor ihrer Mobilität. Das Unfallrisiko ist hier am höchsten. Wichtig sind gute Sichtverhält-nisse, zum Beispiel durch Vorziehen der Gehwegkante oder durch

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Abbildung 14: Ebener Mittel-Gehstreifen in Landau (Foto: Topp)

Abbildung 15: Asphalt-Streifen in Lemgo (Foto: Topp)

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Gehwegnasen, die gleichzeitig die Überquerungsstrecke verkürzen. Ältere Menschen bevorzugen signalgesicherte Fußgängerfurten oder aber Fußgängerüberwege mit Zebrastreifen, deren Einsatzgrenzen er-weitert worden sind (BMVBS, 2001). Die Problematik des Bordsteins für Gehbehinderte, Rollatorbenutzer und Rollstuhlfahrer einerseits und Sehbehinderte andererseits wurde bereits in Kapitel 4 behandelt.

Im Alter lässt das Sehvermögen nach. Eine kontrastreiche Straßen-raumgestaltung kann das kompensieren (siehe auch Böhringer, 2012). Allerdings wird das je nach Situation mit stadtgestalterischen Aspek-ten abzuwägen sein. Auch hier gilt, von Anfang an mitgedacht passt besser als nachträglich kontrastiert. Wichtig ist die optische Hervorhe-bung von Hindernissen und Niveauwechseln in Form von Stufen und Rampen. Kontrastreiche Straßengestaltung erhöht die Lesbarkeit des Straßenraums.

10 Ältere Menschen und das Fahrrad

Das Fahrrad ist für die meisten älteren Menschen nicht das bevorzug-te Verkehrsmittel. Aber für viele ist es dennoch Spaß an der Bewe-gung, Lust an empfundener Geschwindigkeit und Fitnessübung bei moderater Belastung oder einfach ein Verkehrsmittel. Gleichgewicht- und Spurhalten wird im Alter und bei geringeren Geschwindigkeiten schwieriger. Deshalb und auch bei künftig mehr Dreirädern und Lasträ-dern sollten Radstreifen an Hauptverkehrsstraßen nach Möglichkeit 2 m breit sein statt der in den Richtlinien (FGSV, 2006) als Mindestbreite geforderten 1,60 m. Die Empfehlungen für Radverkehrsanlagen – ERA (FGSV, 2010) weisen ebenfalls darauf hin, dass „bei sehr starkem Rad-verkehr und bei häufigerer Nutzung mehrspuriger Fahrräder größere Breiten zweckmäßig sind“.

Beim Radverkehr ist der Hinweis auf ein geschlossenes Netz noch wichtiger als beim Fußverkehr (Kapitel 9). Denn Lücken im Netz gibt es in vielen Städten mit der Folge geringen Komforts und niedriger Sicherheit beim Radfahren. Pedelecs werden immer beliebter, nicht nur bei älteren Menschen. Sie werden den Radverkehr in der Stadt verändern – dieser wird schneller und nimmt zu. Heute schon zu sch-male Radwege im Seitenraum (Abbildung 2) – häufig in Konflikt mit Fußgängern – taugen dann noch weniger. Der künftig schnellere und stärkere Radverkehr gehört in Verbindung mit Tempo 30 im Mischver-

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kehr auf die Fahrbahn beziehungsweise auf den verbleibenden Tempo 50-Straßen auf ausreichend breite Radstreifen. Das ist aufgrund der besseren Sichtbarkeit der Radfahrer, insbesondere auch an den Kno-tenpunkten, sicherer als Radwege im Seitenraum. Auch ältere Radfah-rer haben damit bei geringeren Verkehrsbelastungen kein Problem, bei höheren Verkehrsbelastungen bevorzugen sie allerdings Radwege im Seitenraum (Hagemeister & Tegen-Klebingat, 2011).

Ältere Radfahrer berichten, dass sie viel befahrene Straßen meiden. „Sie planten ihre Routen entsprechend und nutzten vor allem weniger befahrene Straßen mit wenig Lkw-Verkehr. Einige fühlten sich so si-cherer, anderen machte es keinen Spaß, an viel befahrenen Straßen zu fahren; viele beschrieben es mit dem Wort <stressig>.“ (Hagemeister & Tegen-Klebingat, 2011, S. 88) 81 % der befragten älteren Radfahrer äußerten, lieber auf Radwegen als auf Radfahrstreifen zu fahren (Ha-gemeister & Tegen-Klebingat, 2011, S. 100). Es wird dabei allerdings nicht deutlich, vor welchem Erfahrungshintergrund bezüglich der Brei-te der Radfahrstreifen und der Qualität der Radwegführung an Kno-tenpunkten diese Präferenzen zustande kamen.

Wie kann man die Forderung, den Radverkehr grundsätzlich auf die Fahrbahn zu verlagern, und den Wunsch älterer Menschen, nicht auf Fahrbahnen hochbelasteter Hauptverkehrsstraßen zu radeln, zusam-menbringen? Es sollte Alternativen geben in dem Sinne, dass die wichtigen Ziele jeweils auch über Nebenstraßen erreichbar sind, und dass zum Beispiel die Hauptverbindungen des Radverkehrs als Fahr-radstraßen (Abbildung 16) parallel zu Hauptverkehrsstraßen angelegt werden.

Linksabbiegen ist für Radfahrer eine Situation, die hohe Aufmerksam-keit erfordert. Dies gilt insbesondere für mehrstreifige Zufahrten. Hier wird unterschieden zwischen direktem und indirektem Linksabbiegen. Direkt ist kürzer und schneller, aber komplexer, da der Autoverkehr in der Zufahrt gequert werden muss. Indirekt wird als umwegig, aber sicherer eingestuft. Insofern überrascht es, dass ältere Menschen zu vier Fünfteln angeben, „beim Linksabbiegen auf der Fahrbahn zu blei-ben und sich dort links einzuordnen. Ein Viertel der Befragten stieg meistens ab. Weniger als ein Fünftel bog indirekt links ab, d. h. über-querte erst die eine und dann die andere Fahrbahn, …“ (Hagemeister & Tegen-Klebingat, 2011, S. 132). Mehrfachnennungen waren mög-lich. Allerdings korreliert die Häufigkeit des indirekten Linksabbiegens

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Abbildung 16: Fahrradstraße in Lemgo (Foto: Topp)

mit dem Alter. Hier fehlen offensichtlich Informationen zu Typ und Ver-kehrsbelastung der Straßen: An kleinen Nebenstraßen ist der Befund plausibel, an Hauptverkehrsstraßen nicht.

An Hauptverkehrsstraßen mit Tempo 50 gerät das direkte Linksabbie-gen in Konflikt mit hohen Geschwindigkeiten der geradeaus fahrenden Kraftfahrzeuge. Deshalb sollte dort indirektes Linksabbiegen – gege-benenfalls als sichere Alternative zum direkten – angeboten werden.

11 Barrierefreiheit und Orientierung

Der öffentliche Verkehrsraum wurde in der Vergangenheit ganz über-wiegend nach den Bedürfnissen und Fähigkeiten von erwachsenen, gesunden Menschen im Leistungsalter gestaltet. Das schafft uns heu-te die teuren Aufgaben des barrierefreien Nachrüstens. Wird dagegen Barrierefreiheit von Anfang an mitgedacht, dann führt das kaum zu zusätzlichem Aufwand.

Das Alter allein kann Mobilität beschwerlich machen, und Beeinträch-tigungen jeglicher Art treten im Alter häufiger auf. Die größten Grup-

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pen mobilitätseingeschränkter alter Menschen sind Gehbehinderte, Benutzer von Rollatoren, Sehschwache, Hörschwache und Menschen mit mentalen Problemen. Sie alle haben unterschiedliche Ausprägun-gen ihrer Mobilität und ganz unterschiedliche Anforderungen an barri-erefreie Straßen und Plätze.

Für barrierefreie Verkehrsanlagen gibt es  – nach den spezifischen Mobilitätseinschränkungen differenziert – gute Arbeitshilfen und Re-gelwerke. Zu nennen sind die Hinweise der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV, 2011b), die einschlägigen DIN-Vorschriften, das Handbuch des Sozialverbandes VdK (2008), das Buch über kontrastreiche Gestaltung (Böhringer, 2012), die Inter-netplattform von imove <www.mobil-und-barrierefrei.de> sowie die „Empfehlungen zur Mobilitätssicherung älterer Menschen im Straßen-raum“ von Boenke et al. (2010). Es wird deshalb mit Verweis auf diese Arbeitshilfen darauf verzichtet, die umfangreiche Materie – beispiels-weise zu Blindenleitsystemen – hier abzuhandeln.

Hilfen für Blinde und Sehbehinderte bieten auch digitale Leitsysteme. Ein GPS-gestütztes Navigationssystem mit Sprachsynthesizer identi-fiziert und sagt die aktuelle Position an; ein zusätzlicher Routenplaner gibt Information über Wege, Zebrastreifen, Ampeln, Bushaltestellen etc. Ein solches System wird unter dem Projektnamen NAV4BLIND in Soest (Kreis Soest, 2012) getestet. Das ist letztlich kein Sonderweg für behinderte Menschen, sondern allgemeiner Trend des Zusammen-wachsens von Mobilität und Kommunikation. der auch forschungspo-litisch stark gefördert wird. Man kann davon ausgehen, dass künftige Altengenerationen so selbstverständlich mit Informationstechnologien umgehen wie die heutige mit dem Auto. Dass IT-Geräte auch barrie-refrei sein müssen, versteht sich dabei von selbst; und die Gestaltung kann man sogar spezifizieren für Sehschwache, Hörschwache, Geh-behinderte oder feinmotorisch eingeschränkte Menschen.

12 Soziale Sicherheit und Kriminalprävention

Interviews mit älteren Menschen haben gezeigt, dass deren subjektive Sicherheit stärker von der Angst vor Bedrohungen, Belästigungen und Kriminalität geprägt ist als vor Verkehrsunfällen (Haustein & Kemming, 2008). Das führt zu Einschränkungen der Mobilität in den Abendstun-den oder zumindest zur Einschränkung der Verkehrsmittelwahl auf

323

Auto und Taxi (Limbourg & Matern, 2009). Bisher jedoch wird unter Sicherheit oft etwas einseitig Verkehrssicherheit verstanden. Gerade aus der Situation älterer Menschen und ihren subjektiven Empfindun-gen sollte die soziale Sicherheit im öffentlichen Raum ein ähnlich hoch gewichtetes Anliegen sein.

Die Maßnahmen zur sozialen Sicherheit im öffentlichen Raum, wie Transparenz und Übersichtlichkeit, überschneiden sich mit Prinzipien und Maßnahmen zur Verkehrssicherheit. Bessere Straßenbeleuchtung wird immer wieder gewünscht, ebenso die Vermeidung dunkler oder verwinkelter Unterführungen und einsamer Stellen, die nicht nur von älteren Menschen als Angsträume empfunden werden. Auch Halte-stellen des ÖPNV können nachts leicht zu Angsträumen werden.

Der Gesamtverband der Deutschen Versicherer – GDV – und die Po-lizei-Führungsakademie haben einen Vorschlag für ein Audit zur so-zialen Sicherheit und Kriminalprävention im Verkehrsraum vorgelegt (Baier & Schäfer, 2004). Das folgt in etwa analog dem Sicherheitsaudit von Straßen (FGSV, 2002a), das sich mit der Verkehrssicherheit im Straßenentwurf befasst.

Transparenz, Übersichtlichkeit, Sichtbeziehungen und Beleuchtung sind Grundvoraussetzungen für mehr soziale Sicherheit im öffent-lichen Raum, insbesondere auch für die empfundene subjektive Si-cherheit älterer Menschen. Soziale Kontrolle durch ausreichend hohe Fußgänger- und Radfahrerfrequenzen ist ein ganz wesentlicher As-pekt, auch langsamer Autoverkehr hat eine gewisse soziale Kontrolle. Alternativrouten und Ausweichmöglichkeiten, Seitenwechsel der Stra-ße, geringe erzwungene Wartezeiten, Haltestellen in frequentierten Bereichen, Sicht- und Rufkontakte sind weitere Aspekte. Verschmut-zung, Verfall, Bauschäden, Verwahrlosung und Spuren von Vandalis-mus beeinträchtigen das subjektive Sicherheitsempfinden.

13 Fazit

Mobilität ist, insbesondere auch für ältere Menschen, ein Grundbe-dürfnis  – als Fortbewegung, Teilhabe und Kontakte und als Freude an Bewegung. Infrastruktur und Straßenraumgestaltung können die Mobilität älterer Menschen erleichtern oder erschweren. In der Ver-gangenheit waren Autoverkehr und Erwachsene im Leistungsalter

324

Maßstab der Straßenraumgestaltung. Der verkehrstechnische Ent-wurf spiegelt das wider. Die Antwort darauf und die Korrektur ist die städtebauliche Bemessung der städtischen Hauptverkehrsstraßen mit breiten Seitenräumen.

Runter mit dem Tempo und weniger Hektik sind das Fundament einer altengerechten und menschenfreundlichen Verkehrswelt. Hinzu kom-men die Reduzierung der Komplexität, Zeit- und Fehlertoleranz, die selbsterklärende Straße, Standardlösungen und Standardelemente. Die traditionelle Barrierefreiheit ist weiter zu entwickeln zum Design für Alle.

Für Hauptverkehrsstraßen gilt die Trennung der Verkehrsarten mit  – durch den Bordstein  – klar definierten Schutzräumen für Fußgän-ger und Aufenthalt. Nebenstraßen – auch höher belastete mit bis zu 18.000 Kfz pro Tag – werden nach dem Trennprinzip oder nach dem Mischprinzip (Shared Space) mit einem verträglichen Miteinander der Verkehrsarten gestaltet. Bordstein und Shared Space haben für ältere Menschen je spezifische Vorteile und Nachteile.

Zwischen der Leistungsfähigkeit und der Sicherheit von Straßenver-kehrsanlagen gibt es Konkurrenzen. Höhere Leistungsfähigkeit wird in vielen Fällen mit höherer Komplexität des Verkehrsablaufs erreicht. In der alternden Gesellschaft wird sich die Abwägung in Richtung Sicher-heit verschieben müssen. Auch die Sicherheitsaudits (FGSV, 2002a) sind auf die besonderen Belange älterer Menschen zu erweitern.

Im Alter ist Zufußgehen die häufigste und wichtigste Mobilitätsform. Geschlossene Fußwegenetze für alle  – insbesondere auch barriere-frei für Sehbehinderte, Blinde, Gehbehinderte, Rollatorbenutzer und Rollstuhlfahrer – müssen die wichtigen Ziele verbinden. Die subjektive Sicherheit älterer Menschen ist häufig stärker geprägt von der Angst vor Bedrohungen, Belästigungen und Kriminalität als vor Verkehrsun-fällen. Die soziale Sicherheit im öffentlichen Raum sollte deshalb ein ähnlich hoch gewichtetes Anliegen sein wie die Verkehrssicherheit.

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327

Berücksichtigung der Belange älterer Ver-kehrsteilnehmer in der Straßenverkehrs-technik

Manfred Boltze

1 Einleitung

Die Gruppe der älteren Verkehrsteilnehmer, hier verstanden als Grup-pe der Senioren im Alter von über 65 Jahren, hat in Deutschland und in den meisten anderen OECD-Ländern zunehmenden Anteil am Ge-samtverkehr. Prognosen von mehr als 25 % der Bevölkerung über 65 Jahre ab 2030 und mehr als 12 % über 80 Jahre bis 2050 machen dies deutlich (vergleiche hierzu Schlag, in diesem Band).

Um die Mobilität und Verkehrssicherheit der Senioren zu gewährleis-ten, sind die besonderen Anforderungen dieser am schnellsten wach-senden Bevölkerungsgruppe an die Verkehrssysteme zu berücksich-tigen. Dies betrifft nicht nur die bauliche Gestaltung der Infrastruktur, sondern auch betriebliche Maßnahmen. Die Straßenverkehrstechnik – mit Lichtsignalanlagen, Markierungen, Beschilderung, Leit- und Infor-mationssystemen sowie weiteren Verkehrsbeeinflussungssystemen – spielt für einen sicheren und barrierefreien Verkehr eine wichtige Rolle.

Wesentliche Eigenschaften der Gruppe der Senioren im Vergleich zu anderen Altersgruppen sind• schlechteres Sehvermögen und Hörvermögen,• Einschränkungen der motorischen Beweglichkeit (z. B. Gehbehin-

derungen einschließlich Rollstuhl- und Rollatornutzung),• geringere Aufmerksamkeitsleistung und Reaktionsfähigkeit,• häufigere Überforderung bei neuen, hohen und komplexen Leis-

tungsanforderungen sowie• verringerte Belastungsfähigkeit und schnellere Ermüdbarkeit(vergleiche Limbourg, 1999; Boenke, 2011; Boenke & Gerlach, 2011; Schlag, 2008; Schlag, in diesem Band).

Während immer mehr ältere Menschen aktiv am Straßenverkehr teil-nehmen, sind sie im Vergleich zu jüngeren Menschen einem größeren Unfallrisiko ausgesetzt. Unabhängig von der Verkehrsmittelwahl steigt

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das Risiko, tödlich zu verunglücken, ab einem Alter von 75 Jahren deutlich an (Gerlach et al., 2007; Schlag, in diesem Band).

Dabei sind Schwerpunkte bei den Unfallursachen deutlich zu erken-nen. Eine detaillierte Analyse zur Unfallbeteiligung älterer Menschen findet sich in Boenke & Gerlach (2011). Nicht zuletzt weil ältere Men-schen noch mehr als andere dazu neigen, Umwege zu vermeiden, ge-schehen Unfälle älterer Fußgänger zu einem großen Teil beim Über-queren von Straßen abseits gesicherter Querungsmöglichkeiten. Ältere Radfahrer verunglücken besonders häufig an vorfahrtgeregel-ten Knotenpunkten. Oft ist auch eine nicht situationsgerechte Gestal-tung der Infrastruktur Ursache für das unfallverursachende, nicht re-gelkonforme Verhalten älterer Radfahrer. Der größte Teil der Unfälle mit Beteiligung älterer Menschen ereignet sich bei der Pkw-Nutzung, wobei sich sehr gut typische Konfliktsituationen identifizieren lassen. Boenke & Gerlach (2011) stellen hierzu beispielsweise fest, dass Un-fälle beim Linksabbiegen an Lichtsignalanlagen sowie beim Einbiegen oder Kreuzen an Knotenpunkten ohne Lichtsignalanlage besonders häufig vorkommen.

Auslöser für Überlegungen und Maßnahmen zur Berücksichtigung der Belange älterer Verkehrsteilnehmer in der Straßenverkehrstechnik können neben einer grundlegenden Vorsorge also auch Erfahrungen sein, die sich bereits in der Unfallstatistik niederschlagen. Selbstver-ständlich ist umgehend nach Verbesserungsmöglichkeiten zu suchen, sobald eine auffällig hohe Unfallbeteiligung von Senioren festgestellt wird. Auch wenn beim Bearbeiter einer verkehrstechnischen Aufga-benstellung aus eigener Beobachtung oder durch andere Hinweise Kenntnis über eine besondere Gefährdung von Senioren vorliegt oder wenn bewusst ist, dass an der jeweiligen verkehrstechnischen Anlage aufgrund der vorherrschenden Quelle-Ziel-Beziehungen ein wesent-licher Anteil von Senioren auftritt, ist besondere Aufmerksamkeit ge-boten.

Angesichts der großen Vielfalt straßenverkehrstechnischer Aspekte wurden für die Inhalte dieses Beitrags drei Themen ausgewählt. We-gen ihrer großen Bedeutung für die Verkehrssicherheit und insbeson-dere für den Stadtverkehr werden Lichtsignalanlagen ausführlich be-handelt. Als Beispiel für Elemente der Straßenausstattung wird auf die Berücksichtigung der Belange von Senioren bei Straßenmarkierungen und Beschilderung eingegangen. Und schließlich werden mit Blick

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auf die zukünftige Entwicklung Hinweise zu den Anforderungen älte-rer Verkehrsteilnehmer an individuelle Leit- und Informationssysteme formuliert. Weitere Aspekte der Straßenverkehrstechnik finden sich in diesem Band darüber hinaus in den Beiträgen zur Infrastruktur- und Straßenraumgestaltung, zur visuellen Barrierefreiheit, zur Anpassung von Kraftfahrzeugen und zur Gestaltung des Öffentlichen Verkehrs.

2 Grundanforderungen

Aus den Veränderungen der Leistungsfähigkeit bei älter werdenden Menschen und den Erfahrungen aus dem Unfallgeschehen lassen sich die allgemeinen verkehrstechnisch relevanten Aspekte und ent-sprechende Grundanforderungen an die Gestaltung verkehrstechni-scher Systeme ableiten. Im Wesentlichen sind dies:• Reduzierung der Komplexität von Verkehrssituationen.• Verbesserung der Wahrnehmbarkeit verkehrlicher Regelungen und

verkehrstechnischer Anlagen.• Schaffung von gesicherten Querungsmöglichkeiten; Vermeidung

von Umwegen für (ältere) Fußgänger und Radfahrer.

Eine wichtige allgemeine Grundanforderung an Entscheidungsträger und Ingenieure ist, die vielfältigen Anforderungen in unterschiedlichen Zielbereichen (Sicherheit, Mobilität, Umwelt und Umfeld, Wirtschaft-lichkeit) und von unterschiedlichen Verkehrsmitteln, Nutzergrup-pen und Betroffenen (Verkehrsteilnehmer, Betreiber, Anlieger) in der Straßenverkehrstechnik ausgewogen zu berücksichtigen. Bei allen Anstrengungen zur besseren Berücksichtigung der Belange älterer Verkehrsteilnehmer in der Straßenverkehrstechnik darf nicht aus dem Auge verloren werden, dass auch hier Zielkonflikte und Synergien all-gegenwärtig sind. Die Zielkonflikte erfordern in jedem Einzelfall eine sorgfältige und für die Betroffenen transparente Abwägung. Oft kann durch Maßnahmenkombinationen ein guter Kompromiss erreicht wer-den. Synergien machen deutlich, dass durch viele Maßnahmen, die zur Verbesserung der Situation für ältere Menschen umgesetzt wer-den, auch Vorteile für andere Verkehrsteilnehmer entstehen und die Qualität insgesamt verbessert wird.

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3 Lichtsignalanlagen

3.1 Allgemeines

Für die Gestaltung von Lichtsignalanlagen enthalten die „Richtlinien für Lichtsignalanlagen RiLSA“ (FGSV, 2010) umfassende Vorgaben und Hinweise. Ganz überwiegend ist festzustellen, dass die Belan-ge älterer Menschen hinreichend berücksichtigt werden, wenn bei der Umsetzung den Anforderungen der RiLSA gefolgt werden kann. Al-lerdings sind die zahlreich entstehenden Zielkonflikte in der Praxis in vielen Fällen bisher nicht zu Gunsten der Senioren gelöst. Es geht im Weiteren also vor allem darum, bei der Gestaltung von Lichtsignal-anlagen Aufmerksamkeit für die Belange der Senioren zu schaffen, damit diese angemessen in die Abwägung und in den Ausgleich von Zielkonflikten einbezogen werden. In diesem Abschnitt sollen dazu mit Bezug auf die inhaltliche Struktur der RiLSA einige besondere Aspekte herausgearbeitet werden1.

1 Auf Sonderformen der Signalisierung (nicht vollständig signalisierte Knotenpunkte, Engstellensig-nalisierung, Fahrstreifensignalisierung, Zuflussregelung zu Verflechtungs- oder Einfädelungsberei-chen) wird hier nicht eingegangen.

Abbildung 1: Die Richtlinien für Lichtsignalanlagen (FGSV, 2010) enthalten detaillierte Hinweise zur Berücksichtigung älterer Verkehrsteilnehmer. (Foto: Boltze)

331

3.2 Entwurf des Signalprogramms

Um den Belangen älterer Verkehrsteilnehmer gerecht zu werden, müs-sen grundsätzlich vor allem komplexe Verkehrssituationen vermie-den werden. Für ältere Autofahrer sind zum Beispiel Linksabbiege-vorgänge, bei denen der Vorrang mehrerer Ströme zu beachten ist, besonders zu vermeiden. Dies gilt auch für ältere Fußgänger, die z. B. beim Queren von mehreren Richtungsfahrbahnen für Kraftfahrzeuge und möglicherweise zusätzlich von besonderen Busfahrstreifen oder Straßenbahngleisen unterschiedliche Signalisierungszustände zu be-achten haben.

Bei der Phaseneinteilung und Phasenfolge ist also eine vollständig gesicherte Führung der Verkehrsströme besonders anzustreben. Da-durch ist in der Regel ein wesentlicher Gewinn an Verkehrssicherheit zu erreichen. Die durch zusätzliche Zwischenzeiten nach aktuellem Regelwerk rechnerisch entstehenden Kapazitätseinbußen sind unter Berücksichtigung der effektiven Freigabezeit kritisch zu betrachten (Boltze &Wolfermann, 2011). Soweit Kapazitätsgründe einer vollstän-dig gesicherten Führung insbesondere von Linksabbiegern entge-genstehen, ist zu bedenken, dass diese Probleme in der Regel nur in wenigen Spitzenstunden auftreten. Veränderliche Führungen (im Tagesverlauf teils gesichert, teils nicht gesichert) kommen in der Re-gel nicht in Betracht, weil dabei signaltechnische Voraussetzungen zu beachten sind (separate Richtungssignalgeber erfordern immer eine gesicherte Führung) und Probleme aus der Gewöhnung an bestimm-te Regelungen entstehen können (Kraftfahrer erwarten dann mögli-cherweise immer eine gesicherte Führung). Vorgabezeiten, die aus Sicherheitsgründen ohnehin nur besonders umsichtig eingesetzt wer-den sollten, müssen mit Blick auf ältere Autofahrer wegen Gefahr der Überforderung zusätzlich kritisch gesehen werden.

Zu den komplexeren Verkehrsvorgängen, bei denen ältere Kraftfah-rer und Fußgänger eher überfordert sein können, gehört auch das Rechtsabbiegen mit Grünpfeilschild. Die RiLSA weisen bereits auf zahlreiche Aspekte hin, die bei der Einrichtung einer solchen Rege-lung zu beachten sind. Sie machen auch deutlich, dass die Grün-pfeil-Regelung an Knotenpunkten, die häufig von Blinden, seh- oder mobilitätsbehinderten Personen gequert werden, nicht angewandt werden sollte (FGSV, 2010, Abschnitt 2.3.1.3). Auch in den USA, wo das Rechtsabbiegen bei Rot verbreitet ist, wird zur Berücksichtigung

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der Belange älterer Fahrer und Fußgänger von einer solchen Rege-lung besonders abgeraten (FHWA, 2001). Detailliertere Hinweise zu den Nachteilen der Grünpfeil-Regelung für ältere Verkehrsteilnehmer finden sich in Boenke et al. (2010). Danach hat diese auch den er-heblichen Nachteil, dass sich Sehgeschädigte nicht mehr klar anhand der Umgebungsgeräusche nach fließendem und haltendem Verkehr orientieren können. Die Autoren weisen auch darauf hin, dass die Grünpfeil-Regelung vor allem für ältere Kraftfahrer zu problematischen Situationen führen kann, weil die Eindeutigkeit der Regelung fehlt und sie möglicherweise nicht mit Fahrzeugströmen aus der durch Lichtsi-gnal gesperrten Richtung rechnen.

Fußgänger-Lichtsignalanlagen werden zunehmend erforderlich, um Gefährdungen älterer Verkehrsteilnehmer bei der Fahrbahnque-rung vorzubeugen. Hierzu enthalten die RiLSA (FGSV, 2010, Abschnitt 2.3.1.5) umfassende Hinweise, aus denen gut die Vorteile und Nach-teile verschiedener Gestaltungsmöglichkeiten für die Gruppe der Senioren ablesbar sind. So sollten Fußgänger-Lichtsignalanlagen in der Regel als Anforderungssignalanlagen betrieben werden, um die Wartezeiten für den Fußgängerverkehr kurz zu halten. Dabei kann den Fußgängern durch ein Informationssignal (z. B. „Signal kommt“) an-gezeigt werden, dass ihre Anforderung registriert wurde. Wegen Fuß-gängern, die sich am Kraftfahrzeugverkehr und seinen Signalen orien-tieren, sollten Fahrzeugströme aus beiden Richtungen gleichzeitig Rot erhalten. In „Grünen Wellen“ sollten die Freigabezeiten, die für Kraft-fahrzeuge nicht benötigt werden, für die Verlängerung der Fußgänger-freigabezeiten genutzt werden. Die RiLSA enhalten auch detaillierte Hinweise zur Signalisierung für Querungsanlagen unabhängiger und besonderer Bahnkörper. Unter anderem wird dort ausgeführt, dass bei gesicherter Führung der ÖPNV-Fahrzeuge der Gleisbereich auch für Blinde und Sehbehinderte zu signalisieren und die Freigabezeit dabei akustisch und gegebenenfalls zusätzlich taktil anzuzeigen ist. Für äl-tere Fußgänger ist die Einrichtung von Fußgänger-Lichtsignalanlagen auch wichtig, weil an alternativ einzurichtenden Fußgängerüberwegen („Zebrastreifen“) zwar eine formale Vorrangregelung für Fußgänger be-steht, diese aber in der Praxis ohne enge Überwachung und Ahndung immer wieder zu Fehlverhalten von Kraftfahrern und Unsicherheiten bei Fußgängern führt.

Die in Deutschland bestehenden Regelungen zu den Übergangszei-ten GELB und ROT/GELB haben sich für den Kraftfahrzeugverkehr und

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Abbildung 2: Restzeitanzeige für Fußgänger in Japan (Foto: TU Darmstadt, Verkehrs-planung und Verkehrstechnik)

Radverkehr grundsätzlich gut bewährt und erfordern auch für ältere Menschen keine Anpassung. Es ist davon auszugehen, dass altersbe-dingt veränderte Reaktionszeiten bei den zurzeit zu signalisierenden Übergangszeiten und verkehrsgerechtem Verhalten gut kompensiert werden können. Für den Fußgängerverkehr erscheint es aber beden-kenswert, zukünftig auch in Deutschland eine Anzeige der Räumzeit einzuführen. Dadurch könnte die Verkehrssituation insbesondere den älteren Menschen, welche langsamer gehen und die Räumzeiten eher ausnutzen, besser verständlich gemacht werden. Zur Machbarkeit der verschiedenen Lösungsansätze (Gelbsignal, Grünblinken, Rotblinken, Anzeige der Restzeit bis zum Ende der Fußgängerräumzeit) besteht noch Forschungsbedarf.

Zwischenzeiten haben wesentlichen Einfluss auf Sicherheit und Ka-pazität von Knotenpunkten mit Lichtsignalanlage. Kritisch sind die längeren Räumzeiten älterer Menschen aufgrund geringerer Gehge-schwindigkeit. Hierzu gab es in den Fachgremien zur Erstellung der RiLSA 2010 umfassende Diskussionen und Abwägungen auch mit den Interessensverbänden der mobilitätseingeschränkten Personen. Das Ansetzen einer deutlich geringeren Gehgeschwindigkeit beim

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Räumen würde die Zwischenzeiten verlängern und die Kapazität von lichtsignalgeregelten Knotenpunkten erheblich verringern. Die prakti-schen Auswirkungen wurden als drastisch angesehen, und es blieb für die Neufassung der RiLSA nach Abwägung schließlich bei dem Regelwert für die Räumgeschwindigkeit von Fußgängern von 1,2 m/s, mit der Möglichkeit von Variationen im Bereich von 1,0 bis 1,5 m/s. „Der untere Grenzwert soll nur dort eingesetzt werden, wo Furten überwiegend zum Schutz für mobilitätseingeschränkte Menschen ein-gerichtet werden“ (FGSV, 2010, Abschnitt 2.5.2). Bereits die Hinweise für barrierefreie Verkehrsanlagen H BVA (FGSV, 2011) führen aus, dass im Sinne der Barrierefreiheit mit einer Räumgeschwindigkeit von 1,0 m/s gerechnet werden sollte.

Ein sehr wichtiges Argument für die erforderliche Abwägung bei der Wahl der Fußgänger-Räumgeschwindigkeit ist, dass besonders lang-same Personen sich ihrer Situation bewusst sein und die Furt zu Beginn der Freigabezeit betreten sollten. Die Mindestfreigabezeit ist nach RiLSA für die Querung der halben Fußgängerfurt und die Räum-zeit für die Querung der gesamten Furt auszulegen. Deshalb können Personen, die bereits bei Fußgänger-Grünbeginn starten, rechnerisch – bei Bemessung nach dem Regelwert für die Räumgeschwindigkeit von 1,2 m/s – noch mit einer Geschwindigkeit von 0,8 m/s die Furt bis zum Ende der Räumzeit vollständig queren. Sind akustische Zusatz-einrichtungen für Blinde und Sehbehinderte vorhanden, ist nach den RiLSA die Mindestfreigabezeit für die Querung der gesamte Furtlän-ge auszulegen; bei Bemessung nach dem unteren Grenzwert von 1,0 m/s können dann auch Personen mit 0,5 m/s noch rechtzeitig räumen, wenn sie bei Grünbeginn starten.

In diesem Zusammenhang wurde auch bereits gefordert, langsameren Menschen besondere Taster oder Berührungsdetektoren zur Anforde-rung einer längeren Fußgängerfreigabezeit und -räumzeit zur Verfü-gung zu stellen. Angesichts der grundsätzlich hinreichend erscheinen-den Regelungen nach den RiLSA, der Wirkungen auf die Kapazität für die sonstigen Verkehrsteilnehmer, des technischen Aufwandes und der Missbrauchsgefahr erscheint dies jedoch nicht verbreitet anwendbar.

Dieses Beispiel der Zwischenzeiten und Räumgeschwindigkeiten für Fußgänger macht sehr deutlich, dass Kompromisse auch bei der Berücksichtigung der Belange älterer Verkehrsteilnehmer notwendig sind.

335

Sinngemäß gelten die Ausführungen zu den längeren Räumzeiten von Fußgängern auch für ältere Radfahrer. Dies ist nicht zuletzt auch bei der Entscheidung über die Signalisierungsform für Radfahrer mit zu berücksichtigen.

Zu Umlaufzeit und Freigabezeiten enthalten die RiLSA umfassende Hinweise, die bei angemessener Berücksichtigung auch den Belan-gen älterer Verkehrsteilnehmer gut entsprechen. Insbesondere für äl-tere Fußgänger sind kurze Wartezeiten und damit kurze Umlaufzeiten anzustreben. Allerdings steht dies im Zielkonflikt u.a. mit der Forde-rung nach gesicherter Führung von Linksabbiegern und nach hinrei-chend langen Freigabezeiten für (ältere) Fußgänger. Eine Abwägung im Einzelfall ist erforderlich.

Die RiLSA führen zu den Mindestfreigabezeiten aus, dass diese ge-nerell 5 s nicht unterschreiten dürfen. „Bei Fußgängern ist zusätzlich zu gewährleisten, dass bei nur einer zu querenden Furt während der Freigabezeit rechnerisch mindestens die halbe Furtlänge zurückgelegt werden kann. Dieser Wert erhöht sich bei Furten, die mit akustischen Zusatzeinrichtungen für Blinde und Sehbehinderte ausgerüstet sind, auf die gesamte Furtlänge. Sind in der gleichen Phase zwei hinterein-anderliegende Furten zu queren, sollte die Freigabezeit so lang sein, dass die längere der beiden Furten, die Mittelinsel/der Fahrbahntei-ler und die Hälfte der zweiten Furt gequert werden können“ (FGSV, 2010, Abschnitt 2.7.4). Insgesamt fordern die RiLSA bereits ausdrück-lich eine möglichst fußgängerfreundliche Gestaltung des Signalpro-gramms. Damit kann bei konsequenter Umsetzung den Belangen äl-terer Fußgänger gut entsprochen werden.

3.3 Knotenpunktentwurf

Bereits beim Entwurf der Knotenpunkte mit Lichtsignalanlagen sind zahlreiche Aspekte zu beachten, um den Belangen älterer Verkehrs-teilnehmer und den oben genannten Grundanforderungen gerecht zu werden. Hierzu gehören u.a.• eine insgesamt einfache, übersichtliche Knotenpunktgestaltung,• ein möglichst rechtwinkliger Kreuzungswinkel,• ausreichende Sichtweiten,• hinreichend breite Fahrstreifen,• geringe Abbiegeradien (um den Knotenpunkt kompakt und Ge-

schwindigkeiten niedrig zu halten),

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• hinreichend lange Verflechtungsstrecken bei Fahrstreifensubtrakti-on in Knotenpunktausfahrten sowie

• hinreichend breite Fahrbahnteiler und Mittelstreifen.

Grundsätzlich erscheinen die Regelungen für diese Entwurfselemente im Richtlinienwerk auch für ältere Verkehrsteilnehmer ausreichend. Es ist allerdings festzustellen, dass in der Praxis bisher oftmals geringe-re Werte in Kauf genommen werden, um vorhandenen Restriktionen oder anderen Zielen gerecht zu werden. Hier ist der Abwägungspro-zess im Einzelnen zu überdenken.

Besondere Aufmerksamkeit beim Knotenpunktentwurf braucht sicher die Führung der Fußgänger und Radfahrer. Hier ist für ältere Ver-kehrsteilnehmer besonders darauf zu achten, dass die Führung leicht verständlich ist und dass Umwege, z. B. durch abgesetzte Furten oder durch Entfall von Querungsmöglichkeiten in einzelnen Zufahrten, so weit wie möglich vermieden werden. Für ältere Radfahrer sollte als Alternative zur direkten Führung an komplexen Knotenpunkten die Möglichkeit des indirekten Linksabbiegens mit entsprechenden Auf-stellflächen angeboten werden (Boenke et al., 2010). Eine gute Über-sichtlichkeit von Knotenpunkten ist auch für ältere Autofahrer wichtig, um Konflikte mit Fußgängern und Radfahrern zu vermeiden.

Dreiecksinseln erscheinen für ältere Menschen eher nachteilig, weil sie den Knotenpunkt in der Regel unübersichtlicher machen und zu längeren Wegen für Fußgänger führen. Besonders kritisch erscheint die freie Führung von Rechtsabbiegern hinter einer Dreiecksinsel, die dann bei hohen Geschwindigkeiten zu Konflikten mit ungesichert querenden Fußgängern kommen. Sofern Dreiecksinseln eingerichtet werden müssen, ist besonders auf die klar verständliche und gut gesi-cherte Führung der Fußgänger und Radfahrer zu achten. An Dreiecks-inseln sind gesicherte Querungs möglich keiten über die Rechtsabbie-gerfahrbahn grundsätzlich zu bevorzugen. Detaillierte Ausführungen hierzu enthalten die RiLSA (FGSV, 2010, Abschnitt 2.3.1.3).

Detaillierte Hinweise zum Knotenpunktentwurf finden sich auch in „Hinweise für barrierefreie Verkehrsanlagen“ (FGSV, 2011) sowie in Topp (in diesem Band).

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3.4 Steuerungsverfahren

Die praktisch angewendeten Steuerungsverfahren auf der mikroskopi-schen und insbesondere auf der makroskopischen Steuerungsebene werden von den Verkehrsteilnehmern in der Regel nicht direkt wahrge-nommen. Hierzu sind über die allgemeinen Hinweise der RiLSA hinaus nur wenige besondere Aspekte älterer Verkehrsteilnehmer zu berück-sichtigen.

Zu beachten ist, dass ältere Verkehrsteilnehmer sich mehr als andere an bestimmte Abläufe gewöhnen, ihr Verhalten ist dann in besonderem Maße durch Erwartungen gesteuert. Überraschende Veränderungen der Signalprogrammabläufe können deshalb eher zu einem Fehlver-halten führen. Dies spricht dafür, die im zeitlichen Verlauf aktivierten Signalprogramme nicht zu unterschiedlich zu gestalten.

Um Wartezeiten insbesondere für Fußgänger und Radfahrer zu redu-zieren, bieten sich verkehrsabhängige Steuerungsverfahren an, bei denen Fußgänger und Radfahrer ihre Freigabezeit anfordern können. Bei Tastern oder Berührungsdetektoren zur Anforderung der Freiga-bezeit durch Fußgänger und gemeinsam mit ihnen signalisierte Rad-fahrer ist darauf zu achten, dass diese gut erkennbar, auffindbar und erreichbar sind und dass sie die getätigte Anforderung gut wahrnehm-bar bestätigen. Ein verbreiteter Einsatz und eine weitere Entwicklung von Detektionstechnik für Fußgänger und Radfahrer, die keine Aktion der Verkehrsteilnehmer mehr erfordert, ist zu unterstützen.

Da gerade ältere Verkehrsteilnehmer eine Sicherung durch Lichtsignal-anlagen benötigen, ist in ihrem Interesse von einer Nachtabschaltung abzusehen. In keinem Fall sollten Lichtsignalanlagen abgeschaltet werden, wenn sie mit Zusatzeinrichtungen für blinde und sehbehin-derte Menschen ausgestattet sind (vgl. Boenke et al., 2010).

3.5 Technische Ausführung

Zur technischen Ausführung der Signalleuchten gibt es bereits um-fassende lichttechnische Vorschriften, die in den RiLSA im Einzelnen benannt sind (FGSV, 2010, Abschnitt 6.2.1).

Der Erkennbarkeit der Signale ist mit Blick auf ältere Verkehrsteilneh-mer besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Die Anforderungen hierzu

338

sind ebenfalls in den RiLSA dargestellt. „Im Regelfall werden Signal-geber mit Leuchtfelddurchmessern von 200 mm verwendet“ (FGSV, 2010, Abschnitt 6.2.4). Die RiLSA benennt Situationen, in denen sich der Einsatz von Signalgebern mit einem größeren Leuchtfelddurch-messer (300 mm) empfiehlt. Bei diesbezüglichen Entscheidungen sollte zukünftig unter Berücksichtigung der Belange älterer Verkehrs-teilnehmer die Wahl sicher häufiger zu Gunsten größerer Signalgeber ausfallen. Bei längeren Fußgängerüberwegen ist zu beachten, dass Fußgänger mit Sehbehinderungen den auf der anderen Fahrbahnseite angebrachten Signalgeber noch gut erkennen können. Im Zweifelsfall sind größere oder hellere Signalgeber zu erwägen oder Zusatzeinrich-tungen für Blinde und Sehbehinderte zu verwenden.

Durch die größere Anzahl älterer Menschen wird es auch mehr Blinde und Sehbehinderte geben. Akustische und taktile Signalgeber wer-den deshalb zunehmend wichtig und verbreitet einzusetzen sein. Die RiLSA (FGSV, 2010, Abschnitt 6.2.8) und die DIN 32981 „Zusatzein-richtungen für Blinde und Sehbehinderte an Straßenverkehrs-Signal-anlagen (SVA) – Anforderungen“ enthalten für Deutschland hierzu de-taillierte Vorgaben auf hohem internationalen Niveau.

Um die Aufmerksamkeit der älteren Verkehrsteilnehmer an problemati-schen Stellen zu erhöhen, sollten gezielt Hilfssignalgeber zur Warnung vor Gefahren zum Einsatz kommen. Der in den RiLSA (FGSV, 2010, Abschnitt 6.2.11) aufgeführte Grundsatz der sparsamen Verwendung bleibt aber bestehen, „um den Warneffekt des gelben Blinklichts nicht durch zu häufige Anwendung abzunutzen“ (FGSV, 2010, Abschnitt 6.2.11).

Um insbesondere für ältere Verkehrsteilnehmer den für sie geltenden Signalisierungszustand eindeutig zu vermitteln, ist auf die hinreichen-de Anzahl und Anordnung der Signalgeber zu achten. Detaillierte Ausführungen hierzu, die bei sorgfältiger Planung und konsequenter Umsetzung auch den Belangen älterer Verkehrsteilnehmer gut gerecht werden, enthalten die RiLSA (FGSV, 2010, Abschnitt 6.4).

3.6 Qualitätsmanagement

Zu einem systematischen Qualitätsmanagement für Lichtsignalanla-gen wurden in den RiLSA (FGSV, 2010) erstmals umfassende Hinwei-se gegeben. Auch wenn in dieser Ausgabe der Richtlinien noch keine

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spezifischen Hinweise zur besonderen Berücksichtigung der Belange älterer Verkehrsteilnehmer enthalten sind, liegt es nahe, dies in das Qualitätsmanagement in allen Phasen (verkehrstechnische Projektie-rung, Implementierung, Betrieb) aufzunehmen. Kriterien zur Bewer-tung der Qualität aus Sicht älterer Verkehrsteilnehmer ergeben sich aus den vorangegangenen Ausführungen; zum größten Teil sind sie deckungsgleich mit den allgemeinen Qualitätsanforderungen. Beson-dere Bedeutung für ältere Verkehrsteilnehmer haben das Vermeiden zu komplexer Verkehrssituationen, der Verzicht auf Grünpfeilschilder, Nachtabschaltungen und Dreiecksinseln, ausreichend lange Freiga-bezeiten und Zwischenzeiten, kurze Wartezeiten sowie gute Erkenn-barkeit der Signalgeber. Einige Hinweise zum Qualitätsmanagement für Barrierefreiheit enthalten die „Hinweise für barrierefreie Verkehrs-anlagen H BVA“ (FGSV, 2011, Abschnitt 2.5.1).

Beim Qualitätsmanagement im laufenden Betrieb erscheint es – mit Bezug auf die Schritte des Qualitätsmanagements nach RiLSA – be-sonders wichtig, in der flächendeckenden Unfallanalyse, bei den ört-lichen Unfalluntersuchungen sowie bei den Inspektionen und Beob-achtungen am Knotenpunkt auf die Gefährdungen und Belange der Senioren zu achten.

4 Straßenmarkierungen und Beschilderung

4.1 Straßenmarkierungen

Straßenmarkierungen werden verwendet, „um den Verkehr zu regeln, die Verkehrsteilnehmer zu warnen und die Verkehrsteilnehmer optisch zu führen“ (FGSV, 1993). Alle Verkehrsteilnehmer, insbesondere aber ältere Fahrer, können Schwierigkeiten haben, schlecht entworfene oder schlecht unterhaltene Markierungen zu erkennen. Dies gilt be-sonders bei Nacht, nasser Fahrbahn oder schlechten Witterungsbe-dingungen, wie Nebel, Regen oder Schneefall, und auf schwach be-leuchteten und schnell befahrenen Straßen (Lynott, 2011).

Grundlegende verkehrstechnische Anforderungen an Markierungszei-chen sind „hohe Tagsichtbarkeit (Kontrast zur Fahrbahndecke), hohe Nachtsichtbarkeit (Retroreflexion), Griffigkeit, Geometrie (randscharf und vollflächig gleichmäßig), Haltbarkeit“ (FGSV, 1993). Diese Anfor-

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derungen sind für ältere Verkehrsteilnehmer mit Einschränkungen der Sehfäh igkeit besonders relevant. Die Griffigkeit ist für Senioren, die als Fußgänger markierte Flächen begehen, ebenfalls besonders wichtig, weil Senioren häufiger sturzgefährdet sind.

Für Straßenmarkierungen gibt es in Deutschland ein sehr umfassendes Regelwerk. Detaillierte Grundlagen für die Gestaltung von Markierun-gen sind in den „Richtlinien für die Markierung von Straßen (RMS), Teil 1: Abmessungen und geometrische Anordnung von Markierungszei-chen“ (FGSV, 1993) und „Teil 2: Anwendung von Fahrbahnmarkierun-gen“ (FGSV, 1980) enthalten. Allerdings wurden innerörtliche Straßen-markierungen zwar bei der Bearbeitung der RMS mit berücksichtigt, „die sehr allgemein gehaltenen Empfehlungen der RMS haben in der Praxis jedoch zu einer großen Lösungsvielfalt geführt“ (Giesa & Bald, 2003). Mit den Überarbeitungen der RMS ist nicht nur im Sinne älterer Verkehrsteilnehmer anzustreben, Straßenmarkierungen innerorts stär-ker zu vereinheitlichen.

Detaillierte Anforderungen an Straßenmarkierungen, Festlegungen zu Materialien und auch Prüfvorschriften sind inzwischen in Europäischen Normen (EN) dokumentiert, die in CEN-Gremien und hierzu eingerich-teten Spiegelausschüssen als Gemeinschaftsausschüssen des Deut-schen Instituts für Normung (DIN) und der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) erarbeitet wurden. Dies wird er-gänzt durch „Technische Lieferbedingungen“ und „Zusätzliche Tech-nische Vertragsbedingungen“ sowie die oben genannten „Richtlinien für die Markierung von Straßen“ (FGSV, 1993 und 1980), welche die Basis für die Ausschreibung und Vergabe von Markierungsarbeiten bil-den. Dieses Regelwerk bietet insgesamt bereits eine gute Grundlage, um auch die Belange älterer Verkehrsteilnehmer zu berücksichtigen.

Dass dennoch Mängel in der Praxis festzustellen sind, hat vor allem finanzielle Gründe. Aus Kostengründen werden teilweise Markierun-gen nicht mit den besten Materialien angelegt oder sie werden – so-weit sie nicht verbindlich vorgeschrieben sind  – gar nicht angelegt, obwohl sie durchaus sinnvoll wären. Kosten entstehen zudem nicht nur bei der ersten Anlage der Markierung, sondern auch immer wieder bei der Erneuerung, die durch den permanenten Verschleiß von Fahr-bahnmarkierungen erforderlich wird. So werden zum Beispiel auf eini-gen Kreis- und Gemeindestraßen aus Kostengründen keine Fahrbahn-begrenzungen mehr markiert. Und vielfach sind Markierungen

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abgefahren und auch für Verkehrsteilnehmer mit guter Sehfähigkeit, insbesondere bei Nässe, kaum noch zu erkennen. Es ist davon auszu-gehen, dass durch mangelnden Aufwand hierfür bereits heute erheb-liche Sicherheitseinbußen in Kauf genommen werden.

Diese Kostengründe sind wesentlicher Ansatzpunkt, um Markierun-gen allgemein und besonders auch für ältere Verkehrsteilnehmer zu verbessern. Die vorhandenen Regelungen sind bereits gut, aber es ist eine Frage des Geldes, wie umfassend und hochwertig Markierun-gen ausgeführt und wie weit fällige Erneuerungen umgesetzt werden können.

Um die Belange älterer Verkehrsteilnehmer zu unterstützen, sollten Markierungen vollständig nach aktuellem Regelwerk ausgeführt wer-den. Darüber hinaus ergeben sich folgende Empfehlungen:• Besondere Berücksichtigung der retroreflektierenden Eigenschaf-

ten von Markierungen (insbesondere am Ende der Nutzbarkeit), um die Nachtsichtbarkeit von Markierungen weiter zu verbessern. Ziel-konflikte mit der dabei reduzierten Tagsichtbarkeit sind zu beach-

Abbildung 3: Verschlissene Markierung (Foto: Boltze)

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ten und durch die Entwicklung neuer Materialien zukünftig mög-lichst zu mindern.

• Verwendung möglichst haltbarer Materialien, um die positiven Wir-kungen der Markierung lange zu erhalten und die Häufigkeit von notwendigen Erneuerungen zu reduzieren.

• Verstärkte Verwendung sogenannter profilierter Markierungen, um die Sichtbarkeit bei Nässe zu verbessern. Profilierte Markierungen ragen aus einem Wasserfilm auf der Fahrbahn heraus und sind da-durch besser erkennbar.

• Verstärkte Verwendung profilierter Markierungen mit zusätzlicher vibratorischer und akustischer Warnwirkung (Rütteleffekt), um ins-besondere Gegenverkehrsunfälle und Unfälle durch Abkommen von der Fahrbahn zu vermeiden.

• Konsequente Markierung der Fahrbahnbegrenzung auf Außerorts-straßen, bei Bedarf auch innerorts.

• Anlage kontrastierender Sicherheitsstreifen zwischen Geh- und Fahrwegen und zwischen niveaugleichen Geh- und Radwegen (vergleiche Boenke & Gerlach, 2011).

• Vermehrte Markierung der Bordsteinkanten bei Mittelinseln und Fahrbahnteilern (vergleiche Lynott, 2011). Das Problem, diese Mar-kierungen sauber zu halten, ist zu beachten.

• Weiter gehende flächenhafte Einfärbungen von Verkehrsanlagen für Fußgänger und Radfahrer sowie von unfallkritischen Bereichen (z. B. Fußgängerfurten).

• Verbesserung der Straßenbeleuchtung, um auch die Sichtbarkeit der Markierungen zu verbessern.

Alle möglichen Verbesserungen von Markierungen sind kritisch zu prüfen und erfordern insbesondere eine Abwägung mit gestalteri-schen und wirtschaftlichen Aspekten. Zu einigen der Empfehlun-gen ist auch eine Anpassung des Regelwerks zu prüfen, um eine höhere Verbindlichkeit für die Verwendung solcher Markierungen zu schaffen.

Das Regelwerk sollte auch in stärkerem Maße dazu beitragen, dass Markierungen regelmäßig überprüft werden und eine Mindestqualität auch unter Verschleiß im laufenden Betrieb gewährleistet bleibt. Dazu sind angemessene und verbindliche Regelungen für die Überprüfung und rechtzeitige Erneuerung von Markierungen erforderlich (verglei-che z. B. FGSV, 2007), und eine entsprechende Mittelbereitstellung ist einzufordern.

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4.2 Beschilderung

Für Deutschland gibt es auch zur Beschilderung ein umfassendes Re-gelwerk. Die „Hinweise für das Anbringen von Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen HAV“ (Giesa & Bald, 2003) bieten einen umfas-senden verkehrstechnischen Kommentar der zahlreichen relevanten Gesetze, Vorschriften und Erlasse und vermitteln Empfehlungen und Anregungen für die Praxis. Wie bei der Markierung bietet das Regel-werk auch bei der Ausführung der Beschilderung bereits eine sehr gute Grundlage, um bei sorgfältiger Anwendung und angemessener Abwä-gung auch die Belange älterer Verkehrsteilnehmer zu berücksichtigen. Und wie bei den Straßenmarkierungen sind auch hier meistens Kos-tengründe verantwortlich für in der Praxis festzustellende Mängel.

Für eine bessere Gestaltung der Beschilderung im Sinne älterer Ver-kehrsteilnehmer sind allgemein folgende Punkte zu beachten.

Die Anzahl an Verkehrsschildern ist insgesamt auf das Notwendi-ge zu reduzieren. Dabei sollte aber immer sichergestellt werden, dass den Verkehrsteilnehmern die bestehenden Regelungen zweifelsfrei vermittelt werden. Um den Fähigkeiten der Wahrnehmung von Auto-fahrern, insbesondere auch älteren Autofahrern, zu entsprechen, soll eine Häufung von Verkehrszeichen an einer Stelle vermieden werden (vergleiche Giesa & Bald, 2003, dort Abschnitt 2.4.3).

Die Wahl der Größe der Verkehrszeichen erfordert eine sorgfältige Abwägung. Grundsätzlich sind die Größen vorgegeben (innerorts im Regelfall Größe 2 nach „Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßen-verkehrs-Ordnung VwV-StVO“). Während große Schilder sicher eher den Fähigkeiten älterer Verkehrsteilnehmer entsprechen, verlangen die aktuellen Vorschriften ausdrücklich, dass unnötig groß dimensio-nierte Zeichen zu vermeiden sind. „Übergrößen der Verkehrszeichen können verwendet werden, wenn das an wichtigen Straßenstellen zur besseren Sichtbarkeit aus größerer Entfernung zweckmäßig ist“ (VwV-StVO nach Giesa & Bald, 2003). Bei Wegweisern können auch eine besonders sorgfältige Zielauswahl und Gestaltung den Belangen älte-rer Verkehrsteilnehmer entgegenkommen.

Der Aufstellort der Verkehrsschilder soll berücksichtigen, dass de-ren Beachtung insbesondere älteren Kraftfahrern leichter fällt, wenn die Informationen frühzeitig und in kleineren Paketen übermittelt wer-

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den und längere Entscheidungs- und Reaktionszeiten beachtet wer-den (Boenke et al., 2010). Daneben ist die Sichtbarkeit aller Verkehrs-schilder dauerhaft sicherzustellen. Einzelheiten zu möglichen Einschränkungen durch Blendgefahr, Hintergrund, Pflanzenwuchs, Verschmutzungsgefahr etc. sind ebenfalls in den HAV (Giesa & Bald, 2003) enthalten.

Die Erkennbarkeit der Verkehrsschilder ist mit Rücksicht auf die nachlassende Sehleistung von Senioren zu gewährleisten. Neben der Schrift (Schrifttyp, Schrifthöhe, Schriftschnitt) ist hierfür die Farbkom-bination (Farb- und Leuchtdichtekontrast) sehr wichtig. Da Sehpro-bleme älterer Verkehrsteilnehmer insbesondere nachts auftreten, ist die Verwendung hochwertiger, stark retroreflektierender Folien bei der Schilderherstellung zu unterstützen (Giesa, 2004). Auch fluoreszieren-de Materialien kommen in Frage. Auf eine ausreichende Beleuchtung ist besonders zu achten. Empfehlungen zur Ausführung für die Fuß-gängerwegweisung enthalten die H BVA (FGSV, 2011).

In einigen Ländern, z. B. in den USA, werden verbreitet Informations-tafeln eingesetzt, um auf bestehende Verkehrsregeln hinzuweisen. So wird beispielsweise das richtige Verhalten von Fußgängern an Licht-

Abbildung 4: Frühzeitige Information vermeidet Überforderung (entnommen: Küting & Krüger, 2002)

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signalanlagen erläutert, oder es wird für Rechtsabbieger an Lichtsig-nalanlagen auf die Wartepflicht gegenüber freigegebenen Fußgängern hingewiesen (vergleiche FHWA, 2001). Der Einsatz zusätzlicher Schil-der hat sicher Nachteile bezüglich Informationsmenge und Straßen-raumgestaltung, er könnte aber für besondere Situationen auch für ältere Verkehrsteilnehmer vermehrt in Betracht kommen.

Alle möglichen Verbesserungen der Beschilderung sind kritisch zu prüfen und erfordern wie bei den Markierungen eine Abwägung mit gestalterischen und wirtschaftlichen Aspekten.

4.3 Qualitätsmanagement

Die Qualität von Straßenmarkierungen und Beschilderung hat wesent-lichen Einfluss auf die Verkehrssicherheit nicht nur für ältere Verkehrs-teilnehmer. Als wesentliche Ursache für in der Praxis festzustellende Mängel sind begrenzte finanzielle Mittel zu benennen.

Es ist zu empfehlen, ein systematisches Qualitätsmanagement für Straßenmarkierungen und Beschilderung weiter zu etablieren, durch das nicht nur bestehenden Mängeln entgegengewirkt werden kann, sondern wodurch auch die Erfordernisse für den Ressourceneinsatz und die Zusammenhänge zwischen Aufwand und Qualität transparent werden.

Wesentliches bereits bestehendes Instrument eines solchen Quali-tätsmanagements ist die Verkehrsschau (FGSV, 2007). Giesa (2004) formulierte bereits praktische Hinweise zur Durchführung von Ver-kehrsschauen mit besonderem Blick auf ältere Verkehrsteilnehmer. Trotz allgegenwärtigem Zeitmangel bei den dafür Zuständigen, müs-sen diese Überprüfungen hinreichend oft stattfinden. Gut aufbereitete Unfallunterlagen müssen dazu bereit stehen. Um die Wirkung der Mar-kierungen und der Beschilderung bei Dunkelheit erfassen zu können, müssen insbesondere die notwendigen Nachtverkehrsschauen mit der erforderlichen Gründlichkeit durchgeführt werden. Bei den Schil-dern ist insbesondere darauf zu achten, dass die mit zunehmendem Alter nachlassende Reflexion noch hinreichend gut ist (Giesa, 2004).

Zur Klärung des Zusammenhangs zwischen der Qualität von Markie-rungen und Beschilderung einerseits und dem Unfallgeschehen ande-rerseits besteht Forschungsbedarf.

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5 Individuelle Leit- und Informationssysteme

5.1 Allgemeines

„Barrierefreie Leit- und Informationssysteme sollten dazu beitragen, dass Wege selbstständig bewältigt und notwendige Informationen aufgefunden und verstanden werden können.“ (FGSV 2011, Abschnitt 3.1.6) Leit- und Informationssysteme können eine wesentliche Hil-festellung für ältere Menschen sein und müssen von Ihnen deshalb nicht nur uneingeschränkt genutzt werden können, sondern sollten ihre Belange auch besonders berücksichtigen. Die Berücksichtigung der Belange von Senioren bei den Leit- und Informationssystemen im Straßenraum ist teilweise durch den vorangegangenen Abschnitt zur Beschilderung abgedeckt. Hinweise zur Wegweisung für ältere Verkehrsteilnehmer im öffentlichen Raum wurden von Boenke et al. (2010) zusammengestellt. Dazu gehören für Kraftfahrer zum Beispiel eine Begrenzung der Anzahl der Schilder und frühzeitige Hinweise auf vorhandene Fahrtmöglichkeiten mittels Vorwegweisern und Hinweis-tafeln. Detaillierte Hinweise für eine barrierefreie Ausführung der Fuß-gängerwegweisung und von Informationssystemen im Straßenraum sind in den H BVA (FGSV, 2011) enthalten. Diese umfassen Hinweise zur Routenwahl, die Auswahl von Wegweisertypen, die Auswahl der Informationsinhalte, die Lesbarkeit der Beschilderung sowie ergän-zende haptische Leitinformationen.

Während heute noch die Übermittlung von Informationen vorrangig im öffentlichen Raum durch statische Beschilderung stattfindet, ist „ab-zusehen, dass zukünftig die Übermittlung elektronischer, dynamischer Orientierungsinformationen auch für zu Fuß Gehende im städtischen Raum an Bedeutung gewinnen wird“ (FGSV, 2011, Abschnitt 3.1.6). Individuelle Leit- und Informationssysteme bieten gegenüber den kol-lektiven Informationen im Straßenraum deutlich mehr Möglichkeiten, besondere Anforderungen älterer Verkehrsteilnehmer zu berücksich-tigen. Dies betrifft sowohl die Kommunikation zwischen Mensch und Endgerät (Mensch-Maschine-Schnittstelle) als auch die Auswahl und Gestaltung der vermittelten Informationsinhalte. Individuelle Systeme sind zudem grundsätzlich überall verfügbar und machen unabhängig von Informationen im Straßenraum.

In vielen Fällen mag heute noch die Medienkompetenz als Hemm-nis für den Einsatz individueller Leit- und Informationssysteme gelten.

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Für die Zukunft ist aber zum einen abzusehen, dass die Bedienung der Systeme einfacher wird. Zum anderen ist zu erwarten, dass Men-schen, die bereits an die Verwendung von Smartphones und anderen elektronischen Informationssystemen gewöhnt sind, auch im Alter von solchen Systemen Gebrauch machen. Dies gilt besonders, wenn es ihnen dadurch möglich wird, leichter mit altersbedingten Einschrän-kungen umzugehen. In diesem Sinn ist dieser Teil dieses Beitrags ein in die Zukunft gerichteter Appell, die Möglichkeiten neuer Technologi-en zu Gunsten der älteren Verkehrsteilnehmer zu nutzen.

5.2 Endgeräte

Ältere Menschen haben besondere Anforderungen an die Bedienung der Endgeräte von Leit- und Informationssystemen.

Wesentlicher Grundsatz muss die Einfachheit der Bedienung sein. Betrachtet man die Entwicklung der Bedienung von Kraftfahrzeug-Navigationssystemen seit ihrer ersten Verbreitung in den 90er Jahren, ist bis heute schon eine wesentliche Verbesserung festzustellen. Zum Beispiel konnten komplexe manuelle Eingaben kodierter Ortsinforma-tionen schrittweise verbessert werden durch einfache Adresseingaben mit Auswahlunterstützung, Ersatz der Ortseingabe durch Eingabe der Postleitzahl (in einigen Ländern auch Ersatz der Eingabe einer kom-pletten Adresse durch die Telefonnummer eines Festnetzanschlusses) und schließlich Ersatz der manuellen Eingabe durch Spracheingabe. Lernende Systeme, die Erfahrungen aus der Bedienung sammeln und kontextabhängig – insbesondere zeitabhängig und ortsabhängig – re-agieren, sind absehbar. So kann zum Beispiel ein Navigationssystem seinem Nutzer am Dienstagmorgen zu Hause automatisch den Haus-arzt als Ziel vorschlagen, weil dieser Weg schon häufiger am Diens-tagmorgen gewählt wurde. Beispielsweise ist auch ein Abgleich des vorgeschlagenen Ziels mit dem elektronischen Terminkalender mög-lich. Auch bei der intuitiven Benutzerführung mit klar strukturierten Eingabemöglichkeiten, kontextabhängigen Menüs und anderen un-terstützenden Merkmalen sind über den heutigen Stand hinaus sicher weitere Fortschritte zu erwarten.

Um älteren Menschen die Bedienung zu erleichtern, ist eine Anpas-sung der Eingabe und Ausgabe an die Fähigkeiten der Nutzer erfor-derlich. In den meisten Systemen kann bereits heute die Schriftgröße in grafischen Anzeigen gewählt werden, und alternativ zur manuellen

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Bedienung gibt es eine Spracheingabe und -ausgabe. Bei den Mobil-telefonen haben sich bereits Geräte etabliert, die in Funktionsumfang und Bedienung den Bedürfnissen älterer Menschen angepasst sind. Die Fortschritte, die bei der Sprachsteuerung von Smartphones in den vergangenen Jahren gemacht wurden, sind beeindruckend und gehen in die richtige Richtung. Diese Entwicklungen sind nicht zuletzt auch voranzutreiben, um eine verstärkte Nutzung von elektronischen Leit- und Informationssystemen durch ältere Menschen im Verkehr zu er-möglichen. Besondere Aufmerksamkeit benötigen die Anforderungen von älteren Fußgängern an die Endgeräte, die in engem Zusammen-hang mit den bei der Fußgängerführung zweckmäßigen Informations-inhalten stehen.

Insgesamt ist abzusehen, dass der zu erwartende Fortschritt schon bald auch vielen älteren Menschen die Nutzung von individuellen Leit- und Informationssystemen im Verkehr ermöglichen wird.

5.3 Informationsinhalte

Individuelle Leit- und Informationssysteme bieten sehr gute Möglich-keiten, eine geschlossene Informationskette darzustellen und Orien-tierungshilfen verständlich und frühzeitig erkennbar zu machen. We-sentliche Funktionen sind die Routenplanung und die Routenführung. Beides wird zukünftig verstärkt auf individuelle Bedürfnisse abge-stimmt werden können.

Bei der Routenplanung für ältere Autofahrer sollten beispielsweise be-sonders sichere Routen unter Vermeidung komplexer Verkehrssituati-onen gewählt werden können. Bei der Routenführung haben individu-elle Navigationssysteme den großen Vorteil, dass den älteren Fahrern ergänzend zur Beschilderung im Straßenraum frühzeitig und eindeutig Hinweise zu bevorstehenden Fahrmanövern (Einordnen, Abbiegen etc.) gegeben werden können. Hierzu wäre eine Möglichkeit zur indivi-duellen Einstellung der Informationsbedürfnisse (und gegebenenfalls auch der Abstände zu Entscheidungspunkten) im Navigationssystem sinnvoll.

Ältere Radfahrer sollten ihre Route unter Vermeidung komplexer Ver-kehrssituationen und entsprechend ihren physischen Fähigkeiten planen können. Hierzu sind besondere Radroutenplaner mit mög-lichst detaillierten Informationen zur Art der Radverkehrsführung, zu

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Längsneigungen etc. zu versehen. Bei der Routenführung sollten die Radfahrer mit möglichst einfachen Anzeigen und Ansagen unterstützt werden.

Ältere Fußgänger sollten sich bei der Routenplanung Klarheit darüber verschaffen können, dass die gewählte Route ihren Fähigkeiten ent-spricht. Deshalb sind möglichst detaillierte Informationen über Längs-neigungen, Treppen, Aufzüge, Querungsmöglichkeiten von Straßen, vorhandene Unterstützungssysteme (z. B. Bodenindikatoren, akusti-sche und taktile Zusatzeinrichtungen) etc. bereitzustellen. Ein gutes individuelles Leit- und Informationssystem wird die optimale Route anhand eines persönlichen Benutzerprofils vorschlagen. Idealerwei-se sollten die Informationen auch dynamisch aktuell gehalten werden, z. B. bei Baustellen oder defekten Aufzügen oder Rolltreppen. Bei der Routenführung für ältere Fußgänger gibt es sicher noch weiteren Ent-wicklungsbedarf. Von älteren Menschen kann nicht erwartet werden, dass sie sich mit einem Smartphone in der Hand durch den Stadtver-kehr bewegen und sich dabei anhand komplexer Kartenausschnitte orientieren. Zum Beispiel würde ein Endgerät, das am Handgelenk oder an einer Gehhilfe montiert ist und einfach nur einen Richtungs-pfeil zeigt und die zu gehende Route bei Bedarf über Sprachausga-be erläutert, den Belangen der Senioren deutlich besser entsprechen. Wichtig können für einige Nutzer auch Informationen zur verbleiben-den Gehstrecke und zu Ausruhmöglichkeiten sein.

Die intermodale Verknüpfung von Informationen wird für ältere Men-schen eine große Rolle spielen. Wichtig erscheint insbesondere die Zusammenführung von Informationen zu Wegen, die mit dem Auto oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden, mit Infor-mationen zu Wegen, die zu Fuß gegangen werden. Sehr hilfreich wäre beispielsweise, wenn ein Auto-Navigationssystem geeignete zielnahe Parkmöglichkeiten vorschlagen könnte, von denen aus das Ziel barri-erefrei erreichbar ist. Die für den öffentlichen Verkehr vielerorts schon bereitgestellten Informationen zur Barrierefreiheit auch im Umfeld der Haltestellen sind ein gutes Beispiel hierfür.

6 Zusammenfassung und Ausblick

Die Straßenverkehrstechnik kann erheblich dazu beitragen, Mobilität und Verkehrssicherheit für ältere Menschen zu gewährleisten. Dazu ist

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es erforderlich, die Belange älterer Menschen bei Planung, Realisie-rung und Betrieb verkehrstechnischer Anlagen stärker in den Vorder-grund zu stellen.

Zu den ausgewählten Themen Lichtsignalanlagen sowie Straßenmar-kierungen und Beschilderung konnte festgestellt werden, dass im deutschen Regelwerk auch die Belange älterer Verkehrsteilnehmer be-reits weitgehend berücksichtigt sind. Dass diese verkehrstechnischen Einrichtungen in der Praxis doch nicht immer den Bedürfnissen der Senioren entsprechen, hat zwei wesentliche Ursachen. Zum einen ist dies der Mangel an finanziellen Mitteln, um die Anlagen umfassend und hochwertig auszuführen und angemessen zu unterhalten. Zum anderen sind es die allgegenwärtigen Konflikte mit anderen Zielen und mit den Bedürfnissen anderer Verkehrsteilnehmergruppen. In dem dadurch er-forderlichen Abwägungsprozess werden die Belange älterer Verkehrs-teilnehmer bisher oftmals noch nicht hinreichend berücksichtigt.

Dementsprechend ist für zukünftige Verbesserungen für Senioren in Deutschland weniger eine grundlegende Anpassung des verkehrs-technischen Regelwerks erforderlich, als vielmehr eine angemesse-ne Berücksichtigung in den Planungs- und Entscheidungsprozessen. Hierzu gehört es, dass Zielkonflikte klar herausgestellt und transpa-rent abgewogen werden. Und schließlich verlangt es auch, dass in den politischen Entscheidungsprozessen hinreichende finanzielle Mit-tel bereitgestellt werden, um die verkehrstechnischen Anlagen auf ei-nem auch für Senioren guten Stand zu bringen und zu halten. Dabei darf die Berücksichtigung der Belange älterer Verkehrsteilnehmer kein einmaliges Anliegen sein, sondern ist in einen kontinuierlichen Ver-kehrsplanungsprozess und in ein systematisches Qualitätsmanage-ment einzuordnen.

Neben diesen grundsätzlichen Anforderungen konnten einige konkre-te Handlungsansätze zur besseren Berücksichtigung der Belange von Senioren und in einigen Punkten auch Forschungsbedarf aufgezeigt werden. Schließlich wurde verdeutlicht, dass individuelle Leit- und In-formationssysteme zukünftig eine wichtige Rolle spielen können, um ältere Verkehrsteilnehmer im Verkehr zu unterstützen.

Die Anstrengungen zugunsten älterer Verkehrsteilnehmer lohnen, denn in der Regel wird damit nicht nur für ältere Menschen, sondern für alle Verkehrsteilnehmer ein Vorteil erreicht.

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Schlag B ed. (2008) Leistungsfähigkeit und Mobilität im Alter. Köln: TÜV Media. (Schriftenreihe Mobilität und Alter der Eugen-Otto-Butz-Stiftung, Band 3).

Schlag B (2013) Persönliche Veränderungen der Mobilität und der Leistungsfähigkeit im Alter. In diesem Band.

Topp H (2013) Anpassung des Straßenverkehrs an die Anforderungen älterer Men-schen: Infrastruktur und Straßenraumgestaltung. In diesem Band.

353

Visuelle Barrierefreiheit – Besondere Heraus-forderung an die VerkehrsinfrastrukturChristoph Schulze

1 Einleitung

Welche Verkehrsanlagen werden den Anforderungen älterer Menschen am besten gerecht? Eine häufig gegebene Antwort lautet: barrierefreie Verkehrsanlagen. Die hohe gesellschaftliche Bedeutung der Barriere-freiheit manifestiert sich im Behindertengleichstellungsgesetz.

Darin heißt es:

„Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, tech-nische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbei-tung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikati-onseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne be-sondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.“ (§ 4 BGG 2007)

Für das Verkehrswesen als zentraler Lebensbereich wird Barrierefrei-heit besonders hervorgehoben (§ 8, Abs.2 BGG 2007). Barrierefreie Verkehrsanlagen ermöglichen die Erfüllung der Mobilitätsansprüche eines wachsenden Bevölkerungsanteils. Sie tragen somit zur Chan-cengleichheit und Integration bei. Das Zufußgehen und die Nutzung des Öffentlichen Personenverkehrs sind hierfür in der bisherigen Be-trachtung die zentralen Mobilitätsformen. Planungsgrundlagen für die barrierefreie Gestaltung des öffentlichen Verkehrsraumes beanspru-chen Geltung für ältere Personen, für körperlich, motorisch, geistig und sensorisch eingeschränkte Nutzer (z. B. DIN 18024 „Barrierefreies Bauen“ oder H BVA 2011).

Ein zunehmend beachteter Aspekt der Barrierefreiheit betrifft Ein-schränkungen der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit. Dadurch sind optische Eigenschaften der Verkehrsanlagen in den Fokus der Be-trachtungen gerückt. Da sich gerade die Wahrnehmungssicherheit im höheren Lebensalter regelmäßig ungünstig entwickelt (vgl. Schlag, in diesem Band), empfiehlt sich eine genauere Betrachtung der Anforde-

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rungen an die visuelle Barrierefreiheit auch im Hinblick auf den demo-graphischen Wandel.

2 Einordnung visueller Barrierefreiheit

Barrierefreiheit wurde zunächst vor allem mit der Gestaltung für kör-perlich-motorische Einschränkungen (z.  B. rollstuhl- und rollatorge-recht) verknüpft. Vielfältige Gestaltungsdetails der Bewegungsergo-nomie sind dabei zu berücksichtigen. Sie werden seit vielen Jahren auch in der Planung von öffentlichen Außenräumen sowie der Ver-kehrsinfrastruktur in unterschiedlichem Maße berücksichtigt (vgl. Topp, in diesem Band).

Ein weiterer Aspekt der Barrierefreiheit besteht in der gezielten Ge-staltung taktiler Merkmale für Blinde. Im Verkehrsbereich gehören bei-spielsweise Blindenleitstreifen (DIN 32984) dazu. Hierbei werden eben-falls überwiegend geometrisch-bautechnische Merkmale gefordert (z. B. „Querungsstelle mit differenzierter Bordhöhe“ gemäß DIN 32984). Trotz vieler Herausforderungen in der Gestaltung liegen zu diesen bei-den Aspekten der Barrierefreiheit recht umfängliche Erfahrungen vor.

Seit einigen Jahren werden die Merkmale visueller Barrierefreiheit konkretisiert. Auslöser und Gestaltungshorizont sind vor allem die Belange Sehbehinderter. Die besonderen Herausforderungen Sehbe-hinderter im Umgang mit der Verkehrsinfrastruktur sind für Außenste-hende oft schwieriger nachzuvollziehen als die Einschränkungen von Rollstuhlnutzern oder diejenigen von Blinden. Anders als bei Rollstuhl-nutzern oder Blinden können außenstehende Personen zudem das Vorliegen einer Sehbehinderung häufig nicht ohne genaue Beobach-tung erkennen.

Sehbehinderung ist keine einfach beschreibbare Einschränkung. Un-ter dem Oberbegriff Sehbehinderung ist eine sehr heterogene Gruppe von Einschränkungen zusammengefasst. Gemeinsames Merkmal ist eine bedeutsame Einschränkung des visuellen Wahrnehmungsver-mögens. Einschränkungen können jedoch in verschiedenen Aspekten des Sehvermögens bestehen. Zentrale sehphysiologische Parameter zur Beschreibung sind die Tagessehschärfe sowie das Gesichtsfeld. Die Tagessehschärfe beschreibt das Auflösungsvermögen für kleine Details mit hohem Kontrast. Das Gesichtsfeld beschreibt die Topo-

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grafie des visuell abgebildeten Außenraumes bei unbewegtem Auge. Einschränkungen können in einem der beiden Merkmale, in beiden oder auch in anderen, zusätzlichen Merkmalen bestehen. Als häufiges Beispiel sei die hohe Blendempfindlichkeit genannt.

So ist es möglich, dass betroffene Personen nahezu über ein norma-les Gesichtsfeld verfügen, jedoch verschwommen sehen und nur auf sehr kurze Entfernungen Details erkennen können. Andere Sehbehin-derte können aufgrund von Gesichtsfeldeinschränkungen nur kleine Ausschnitte ihrer Umgebung gleichzeitig erfassen. Je nachdem in welchem Bereich der Netzhaut diese Einschränkungen auftreten, sind zentrale oder periphere Bereiche des Sehens betroffen. In jedem Fall ist dadurch die Orientierung bedeutsam verlangsamt. Daraus resul-tiert Unsicherheit in der Interaktion mit der Umwelt. Häufig stellen die Wahrnehmung von und die Interaktion mit bewegten Objekten eine große Herausforderung dar.

In Deutschland werden keine Zahlen über die Häufigkeit von Blindheit und Sehbehinderung erhoben. Schätzungen zufolge lebten zum Stand 2002 etwa 1,2  Millionen Blinde und Sehbehinderte in Deutschland (Bertram, 2005). Basierend auf Zahlen der Weltgesundheitsorganisati-on WHO erwarten Resnikoff et al. (2004) für Europa einen Anstieg der Anzahl Sehbehinderter und Blinder im Rahmen der fortschreitenden Alterung der Gesamtbevölkerung.

Zudem ist bei einem Anteil älterer Personen von bedeutsamen Ein-schränkungen des Sehvermögens auszugehen, ohne dass das Merk-mal der Sehbehinderung erfüllt wird. Seheinschränkungen korrelieren mit dem Alterungsprozess des Wahrnehmungsapparates. Sie entwi-ckeln sich oft langsam und sie werden von den Betroffenen häufig erst bei deutlich fortgeschrittener Einschränkung bemerkt. Das betrifft Gesichtsfeldausfälle, die Verminderung der Sehschärfe, aber auch viele weitere Sehleistungsbereiche wie das Akkommodations- und Adaptationsvermögen und damit auch das Sehen in Dämmerung und Dunkelheit.

Die Beschreibung und Umsetzung visueller Barrierefreiheit erfordert explizite Merkmale. Die gebaute und natürliche Umwelt bietet eine große Vielfalt visueller Merkmale. Ein Merkmal für die visuelle Orientie-rung ist zunächst die ausreichende Größe von Objekten und Details. Informations- und orientierungsrelevante Elemente im Verkehrswesen

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bedürfen daher einer entsprechenden Dimensionierung zur Erkenn-barkeit und Lesbarkeit. In einigen Fällen, beispielsweise bei komple-xen Aushanginformationen in Form von Schrift, Zahlen oder Plänen, sind sehr große Ausführungen nicht möglich oder praktikabel. Hier ist es wichtig, anhand geeigneter baulicher Gestaltung und Anbringung ein sehr nahes Herantreten bis zum Kontakt zu ermöglichen. Dies ge-stattet den Einsatz vergrößernder Sehhilfen und auch die Abbildung auf geeignete Gesichtsfeldbereiche.

Das neben der Größe zentrale Merkmal zur Wahrnehmung stellt der optische Kontrast dar. Nur unterscheidbare, somit visuell kontrastie-rende Oberflächen bzw. Details können wahrgenommen werden. Die auch in den Diskussionen der Fachöffentlichkeit dominierende Anfor-derung an visuelle Barrierefreiheit lautet daher „kontrastreiche Gestal-tung“. Hierzu sind Richtlinien und Normen verfügbar, die entsprechen-de Forderungen erheben.

Zunächst lassen sich Vorschriften abgrenzen, die Anforderungen be-schreiben, ohne diese selbst in explizite Kontrastkennwerte zu über-setzen. Darin wird allgemein eine „kontrastreiche Gestaltung“ gefor-dert und auf die beiden im nächsten Absatz aufgeführten Normen verwiesen. Dies trifft beispielsweise auf die Normen DIN 18024 („Bar-rierefreies Bauen“) und DIN 18040 („Barrierefreies Bauen – Planungs-grundlagen“), aber auch auf die „Hinweise für barrierefreie Verkehrs-anlagen“ (H BVA 2011) der FGSV zu.

Die Übersetzung der Forderung „kontrastreicher Gestaltung“ in vor-schreib- und messbare Kennwerte erfolgt in den beiden Normen DIN 32975 („Gestaltung visueller Informationen im öffentlichen Raum zur barrierefreien Nutzung“) und DIN 32984 („Bodenindikatoren im öf-fentlichen Raum“).

3 Merkmale kontrastreicher Gestaltung

DIN 32975 beschäftigt sich allgemein mit der barrierefreien Gestaltung visueller Informationen im öffentlichen Raum. Hierzu gehört auch der Bereich des öffentlichen Personenverkehrs inklusive der Verkehrsmit-tel sowie öffentlicher Gebäude. Die Zielgruppe sind primär sehbehin-derte Personen, jedoch können nahezu alle Nutzer der Infrastruktur von einer barrierefreien Gestaltung visueller Informationen profitieren.

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Im Sinne der Norm sind Verkehrs- und Wegeleitinformationen kont-rastreich zu gestalten. Sie können aus statischen und dynamischen Anzeigen, Beschilderungen und Wegeleitsystemen bestehen. Es wer-den außerdem Forderungen an Sicherheitskennzeichnungen sowie Bedienelemente von Automaten und technischen Einrichtungen for-muliert. Sie betreffen etwa die Markierung von Hindernissen und Ge-fahrenstellen, Absturzkanten und Treppen, aber auch Türöffner und Automaten.

DIN 32984 fokussiert die besonderen Anforderungen Blinder und Seh-behinderter an bodengebundene Leitstrukturen. Diese Norm definiert taktile, akustische und visuelle Anforderungen an explizit gestaltete Bodenindikatoren sowie sonstige Leitelemente.

Besondere Bodenindikatoren werden dann notwendig, wenn andere Leit- und Orientierungsmöglichkeiten nicht gegeben sind oder kei-ne ausreichende Absicherung ermöglichen. Dies trifft regelmäßig auf ausgedehnte ebene Flächen, wie etwa Plätze oder große Innenräume zu. Weiterhin kommt der Höhe des Gefahrenpotenzials eine besonde-re Bedeutung zu. Hierzu zählen beispielsweise höhengleich angeord-nete Verkehrsbereiche für den Fußgänger- und Fahrzeugverkehr. Sehr bedeutsam sind auch die Interaktionsbereiche zu den Fahrwegen des öffentlichen Verkehrs und der Einstieg in diese Fahrzeuge.

Die Forderung nach optisch kontrastreicher Gestaltung von Leit-, Si-cherheits- und Informationselementen umfasst zunächst den Betrag

Abbildung 1: Anwendungsbeispiele zur DIN 32975 (Fotos: Schulze)

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des Kontrastes (K). Er wird gemäß der Formel nach Michelson unter Verwendung der Leuchtdichten von Objekt (LO) und Umfeld (LU) be-rechnet:

K = LO – LU

LO + LU

Für Bodenindikatoren und Leitelemente gemäß DIN  32984 wird ein Kontrast von K>0,4 gefordert. Alle Bedienelemente und Orientierungs-systeme ohne Schrift- bzw. Bildzeichen gemäß DIN 32975 erfordern mindestens K=0,4. Orientierungssysteme mit Schrift- bzw. Bildzei-chen, die Bedienelemente von Notrufeinrichtungen, Hindernisse und Absperrungen sollen gemäß DIN 32975 mit einem Kontrast von min-destens K=0,7 ausgeführt bzw. markiert werden. Kommen im letzt-genannten Bereich Schwarz-Weiß-Kontraste zur Anwendung, sollen diese mindestens K=0,8 aufweisen.

Im so definierten Sinne ist ein Kontrast ein gewichteter Helligkeitsun-terschied. Die zur Berechnung verwendete Leuchtdichte ist die licht-technische Größe, die der wahrgenommenen Helligkeit einer Ober-fläche im Tagessehen (photopisches Sehen) angenähert entspricht. Bei dieser Form der Beschreibung gehen die farblichen Unterschiede nicht explizit ein. Daraus ergibt sich, dass farblich gut unterscheidbare Flächen durchaus kleine Helligkeitsunterschiede und damit geringere Kontraste im Sinne der Normen aufweisen können.

Abbildung 2: Anwendungsbeispiele zur DIN 32984 (Fotos: Schulze)

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Abbildung 3: Messung von Kontrasten gemäß DIN  32975 und DIN  32984 (1-Pro-be, 2-Ulbrichtsche Kugel zur Erzeugung diffuser Beleuchtung, 3-Messrichtung für Leuchtdichtemessungen bei γ=45°)

Diese Art der Beschreibung stellt für das Vorstellungsvermögen eine gewisse Herausforderung dar. Die meisten Menschen sind bei der Beschreibung einer Oberfläche gewohnt, Farbe als erste Qualität vor der Helligkeit anzusehen. Hier wird jedoch die Helligkeit als erste und einzige Qualität bewertet. Diese Betrachtung ist näherungsweise einer Abbildung als Schwarz-Weiß-Fotografie vorstellbar. Für diese Art der Beschreibung gibt es mehrere Gründe.

Helligkeitsunterschiede können auch von Personen mit eingeschränk-tem Farbsehvermögen gut wahrgenommen werden. Helligkeits-unterschiede beleuchteter Oberflächen können mit ausreichender Lichtmenge auch bei beliebiger spektraler Qualität der künstlichen Beleuchtung wahrgenommen werden. Für eine korrekte Wahrneh-mung der farblichen Qualität sind jedoch hohe Anforderungen an die verwendeten Lichtquellen hinsichtlich des Farbwiedergabevermögens zu stellen. Ungeachtet dessen kann eine kontrastierende Farbgestal-tung die Orientierung für die meisten Personen in vielen Situationen deutlich unterstützen.

Die Helligkeit kontrastrelevanter Flächen verändert sich mit wechseln-der Beleuchtung und auch mit wechselndem Beobachtungsstand-punkt. Daher werden für die Normung entsprechende Messbedingun-gen definiert. Zur Messung wird eine diffuse Beleuchtung mit derjenigen Lichtart gefordert, die auch in der Anwendungsumgebung vorzufinden ist (DIN 32975) bzw. Normlichtart A oder D65 (DIN 32984). Messun-gen werden zumeist mit der am besten reproduzierbaren Normlicht-

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art A („Glühlampenlicht“) vorgenommen. Die Beobachtung der Ober-flächen erfolgt unter dem Winkel von γ=45° (DIN 32984). DIN 32975 fordert die Messung mindestens senkrecht zur Oberfläche (γ=0°). Darüber hinaus werden auch weitere praxisrelevante Messwinkel zugelassen.

Für Messungen bedeutsam ist zudem die variable Größe des zu re-alisierenden Messfeldes. Es sollen kleinere Details (z.  B. Schriftzei-chen) und auch größere Messflächen (z. B. Bodenindikatoren) erfasst werden. Schließlich ist für Messungen im Bestand die Dokumenta-tion der abgebildeten Oberfläche bedeutsam. Ursprünglich glei-che Oberflächen können nach einer Nutzungszeit und bei im Feld nicht auszuschließenden Verschmutzungen unterschiedliche opti-sche Eigenschaften aufweisen. Hier spielen beispielsweise Abnut-zung, Bewitterung und Besonnung eine Rolle. Dies trifft etwa auf den teilweise um- oder überbauten Außenraum zu, wie er für Ver-kehrsanlagen insbesondere des Öffentlichen Personenverkehrs ty-pisch ist. Aber auch in Gebäuden können baugleiche Oberflächen je nach konkretem Ort sehr unterschiedlichen Veränderungsprozessen unterliegen.

Aus Sicht der Wahrnehmbarkeit reicht die alleinige Vorgabe einer lichttechnischen Kontrastforderung jedoch nicht aus. Die Kontrast-empfindlichkeit des menschlichen Auges folgt nicht-linearen Geset-zen und ist abhängig vom Adaptationszustand und der Größe des Sehobjektes. Vor allem bei Paarung dunkler Oberflächen führt ein Kontrastwert nach oben beschriebener Formel zu unbefriedigenden praktischen Wahrnehmungsergebnissen. So ergibt eine Kombinati-on aus einer dunkelgrauen mit einer tiefschwarzen Oberfläche einen normgerechten Kontrastwert, jedoch keine akzeptable Wahrnehmbar-keit. Um diese Effekte zu berücksichtigen, soll gemäß beider Normen die hellere der Kontrastflächen einen Reflexionsgrad von mindestens ρ=0,5 aufweisen. Außerdem wird in beiden Normen eine „angemesse-ne Beleuchtung“ gefordert, ohne diese weiter zu spezifizieren.

Der Reflexionsgrad ist eine lichttechnische Materialkennzahl. Er be-ziffert den von der Oberfläche zurückgeworfenen Anteil des Lichtes. Prinzipiell kann auftreffendes Licht von Oberflächen transmittiert, ab-sorbiert oder reflektiert werden. Tritt praktisch keine Transmission auf (undurchsichtige Materialien), charakterisiert der Reflexionsgrad die durch Beleuchtung entstehende Helligkeit der Oberfläche, sofern die

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Intensität der Beleuchtung berücksichtigt wird. Glasscheiben hinge-gen lassen den größten Anteil des Lichtes passieren (Transmission), nur ein kleiner Anteil wird reflektiert und absorbiert. Dies ist jedoch auch von der Beleuchtungs- und Beobachtungsgeometrie abhängig. Tritt beispielsweise Totalreflexion auf, erhöht sich auch bei Glas der reflektierte Anteil sprunghaft und es kommt zum „Spiegeleffekt“.

4 Herausforderungen kontrastreicher Gestaltung

4.1 Umsetzung der definierten Kennwerte

Um die geforderten Kontrast- und Reflexionsgradwerte gezielt in Planungen umsetzen zu können, müssen sie für eine gewählte Material- oder Farbkombination bestimmt werden. Diese Messun-gen können unter Normbedingungen bislang nur in lichttechnischen Laboren durchgeführt werden. Die Literatur bietet praxisorientier-te Hilfestellungen, anhand derer eine näherungsweise Einschätzung möglich sein soll (Böhringer, 2012). Die Güte dieser Vorgehensweise ist bislang ungeprüft. Sie dürfte jedoch stark von der konkreten Situ-ation und den lichttechnischen Eigenschaften der beteiligten Materi-alien abhängen.

Die Höhe der von den Normen gewählten Werte führt ebenfalls zu Herausforderungen bei der Umsetzung. Ein Leuchtdichtekontrast von K=0,4 kann mit relativ vielen Material- und Farbkombinationen erreicht werden. Der Mindestkontrast K=0,7 für wichtige Orientierungs- und Sicherheits elemente gemäß DIN 32975 erlaubt eine deutlich geringere Freiheit der Farb- und Materialwahl. Als bedeutsamer erweist sich je-doch die Forderung des Reflexionsgrades.

Die hellere der kontrastierenden Flächen soll einen Reflexionsgrad von mindestens ρ=0,5 aufweisen. Somit unterliegt praktisch die Hälfte der kontrastierend zu gestaltenden Oberflächen der Verkehrsinfrastruktur dieser Anforderung. Sie kann jedoch nur von einer kleinen Minderheit der praxisrelevanten Oberflächen erfüllt werden. Besonders typische Bodenmaterialien im Verkehrs- und öffentlichen Bereich erreichen die-sen Reflexionsgrad nur in wenigen Fällen (z. B. weiße Betonwerkstei-ne als Bodenindikatoren).

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Wird die reine Farbe wirksam, wie es beispielsweise bei vielen Druck- und Kunststoffoberflächen der Fall ist, beschränkt sich für ρ≥0,5 die Auswahl neben Weiß auf helle Gelb- und Grüntöne, sehr helle Rottöne sowie ihre Mischungen, z.  B. helles Rosa oder sehr helles Orange. Kräftige Farbtöne sind demnach ungeeignet, die Anforderung als „hel-lere Oberfläche in der Kontrastpaarung“ zu erfüllen. Dies schließt star-ke Bunt-Bunt-Kontraste als Gestaltungsvariante selbst bei erfülltem Helligkeitskontrastwert aus.

Schließlich entstehen Herausforderungen immer dann, wenn beste-hende oder alternative Lösungen bewertet werden sollen. In einigen Situationen, wie etwa beim Vorliegen von Denkmalschutzauflagen oder anderweitigen Materialvorgaben können oder sollen keine Bode-nindikatoren eingesetzt werden. Hierbei und in vielen anderen Situati-onen wird der Fachplaner vor der Aufgabe stehen, alternative Lösun-gen größtmöglicher Barrierefreiheit zu entwickeln. Die vorliegenden Richtlinien und Normen zur visuellen Barrierefreiheit leisten dazu bis-lang jedoch keine wesentliche Hilfe.

4.2 Grenzen der definierten Kennwerte

Die in den einschlägigen Normen aufgeführten Größen und Mess-bedingungen definieren Kennwerte einer optisch kontrastierenden Gestaltung. Sie sind primär für nachprüfbare Messungen unter kont-rollierten Bedingungen ausgelegt. Diese Funktion kann in lichttechni-schen Laboren umfassend erfüllt werden.

Die Kennwerte und Labormessungen erreichen jedoch nur eine be-grenzte Aussagekraft über die kontrastreiche Gestaltung oder gar visuelle Barrierefreiheit in einer konkreten Situation. Praktische Feld-messungen sind daher oft besser geeignet, die erreichte Barrierefrei-heit der Infrastruktur bewerten zu können. Sie sind jedoch nur bedingt geeignet, Rückschlüsse auf die definierten Norm- und Laborwerte zu ziehen. In beiden Fällen spielen die Komplexität der Situationen, die Vielfalt der Oberflächen sowie der nur begrenzt kontrollierbare Einfluss der Umgebung eine relevante Rolle.

So kann beispielsweise für räumlich getrennte kontrastierende Ober-flächen keine angemessene und gleichzeitig normgemäße Charakteri-sierung realisiert werden. Bereits der recht einfach erscheinende Kon-trast eines Automaten an der ÖV-Haltestelle zu seinem Hintergrund,

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Abbildung 4: Markierung von Glasflächen; links: Gebäudezugang aus der Innensicht; rechts: Abgrenzung eines Wartebereiches im überdachten Außenraum (Fotos: Schulze)

beispielsweise einem Gehweg, illustriert dies. In der Regel wird der Beobachter die beiden Oberflächen perspektivisch aneinander an-grenzend wahrnehmen. Sein Blick wird dabei die beiden Oberflächen aber jeweils in einem anderen Winkel erreichen. Die zumeist senkrecht stehende seitliche Oberfläche des Automaten wird zudem sowohl bei Tageslicht als auch bei künstlicher Beleuchtung anders beleuchtet sein als die horizontale Oberfläche des Gehweges. Der normgerecht ermittelte Kontrastwert kann nur eine geringe Aussagekraft für die praktische Situation erlangen.

Das obige Beispiel steht stellvertretend für eine sehr große Gruppe der „äußeren Kontraste“. Sie treten beispielsweise zwischen einem Objekt und dem entfernten Hintergrund (Gebäude, Verkehrswege, Himmel, Landschaft, usw.) auf. Weiter kommt hinzu, dass Planung und Betrieb der Infrastruktur vor allem im Außenraum auf die meisten dieser Kon-traste keinerlei Einfluss ausüben können (z. B. angrenzende Grund-stücksoberfläche).

Viele Objekte und Oberflächen weisen eine bedeutsame räumliche Ausdehnung auf. Sie kontrastieren in der Praxis vor verschiedenen Hintergründen oder werden ungleichmäßig beleuchtet. So erscheinen verschiedene Teile einer Oberfläche in unterschiedlicher Helligkeit. Stets entsteht eine Vielzahl von sichtbaren „Kontrasten“ des Objektes.

Eine besondere Herausforderung ist es, wenn durchsichtige Mate-rialien an der Gestaltung beteiligt sind. Ein häufiges Beispiel ist die

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optisch barrierefreie Markierung von Wänden, Türen und Böden aus Glas. Glas weist einen Reflexionsgrad von ρ<0,1 auf. Undurchsichtige dunkelgraue oder dunkelblaue Oberflächen zeigen vergleichbare Wer-te. Bei Glas handelt es sich jedoch selten um eine optisch „dunkle“ Oberfläche. Der geringe Reflexionsgrad wird nicht durch eine hohe Absorption, sondern den hohen Transmissionsanteil bedingt.

Dies führt dazu, dass Glas als Kontrastpartner im Wesentlichen die Helligkeit der dahinter durchscheinenden Oberfläche(n) annimmt. Zu-dem verändert sich deren Helligkeit mit den herrschenden Lichtver-hältnissen. Beispiele hierfür sind Gebäudeaußentüren oder Glasschei-ben am Wartebereich von ÖV-Haltestellen.

Der durch das Glas gesehene Hintergrund ist unter Tageslichtbe-dingungen oft hell. Soll ein hoher Kontrast erreicht werden, ist eine dunkle Glasmarkierung günstig. Bei Dunkelheit ändert sich jedoch die Situation. Der Hintergrund ist oft schwächer oder gar nicht be-leuchtet und somit dunkel, während die Innenräume von Gebäuden und Wartebereichen gezielt beleuchtet werden. In dieser Situation ist ein hoher Kontrast mit einem hellen, stark reflektierenden Material zu erreichen.

4.3 Beeinflussung durch weitere Anforderungen

Eine Vielzahl weiterer Anforderungen ist direkt oder indirekt mit der kontrastreichen Gestaltung der Infrastruktur verbunden. Zu mehre-ren Aspekten enthalten die Normen Hinweise. Für sie ist eine geziel-te Berücksichtigung nicht nur im Sinne der visuellen Barrierefreiheit wünschenswert. Eine Quantifizierung der benannten Effekte ist indes weder in den Normen selbst, noch in der internationalen Literatur ver-fügbar. Daher können bislang konkrete Prüf- bzw. Gestaltungwerte weder definiert noch gefordert werden.

So beeinflussen die Haltbarkeit und die Möglichkeit der Überprüfung im gebauten Zustand, ob eine als optisch kontrastierend errichtete Kombination auch praktisch in diesem Sinne wahrgenommen werden kann. Für den Außenraum stellt die Witterung einen zentralen Einfluss dar. Zumindest die Berücksichtigung regennasser Zustände ist hier erstrebenswert. Die Beleuchtung hat ebenfalls eine große Bedeutung für die Wahrnehmung optischer Kontraste und damit die visuelle Bar-rierefreiheit. Mit ihr sind verschiedene Aspekte verbunden.

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Viele Sehbehinderte, aber auch ältere Personen leiden unter einer er-höhten Blendempfindlichkeit. Zu viel Licht, zu stark gerichtetes Licht oder zu hell leuchtende einzelne Oberflächen können daher die Wahr-nehmung beeinträchtigen. Dies betrifft sowohl das Tageslicht als auch die künstliche Beleuchtung. Zu wenig Licht oder zu dunkle Oberflä-chen erschweren oder verhindern jedoch auch die Orientierung. Vor allem die nicht selbstleuchtenden Informations-, Leit- und Warnele-mente können nur bei ausreichender Allgemeinbeleuchtung wirksam zur barrierefreien Gestaltung beitragen.

Auch die Forderung zur Vermeidung glänzender Oberflächen erfolgt in den Normen ohne zugeordnete technische Prüfwerte oder Heran-gehensweisen. Vor allem für Informationselemente im Verkehrswesen (z. B. Anzeigen) ist die wahrnehmbarkeitsvermindernde Glanzwirkung gerade durch Sonnenlicht praktisch selten vollständig vermeidbar. Hier ist die Forderung eines Nachweises aussichtsreich, ob zu jeder Zeit durch eine einfache Positionsänderung des Beobachters der Glanz bzw. die Reflexblendung umgangen werden kann. Der Zugang zur Information wäre dann barrierefrei möglich. Diese Betrachtung wirft eine weitere Herausforderung der kontrastreichen Gestaltung der Verkehrsinfrastruktur auf.

Für solche und ähnliche Betrachtungen bedarf es entsprechend quali-fizierter Fachplaner. So sollten im optimalen Fall die Belange aus Bau und Betrieb der Verkehrsanlage mit den komplexen Betrachtungen der Wahrnehmung verbunden werden. Dafür ist auch eine angepasste lichttechnische Qualifikation notwendig, da beispielsweise Sonnen-standverläufe und Beleuchtungsplanungen berücksichtigt werden müssten.

5 Erweiterung zur visuellen Barrierefreiheit

Die Betrachtungen zeigen, dass eine kontrastreiche Gestaltung im bis-lang genormten Sinne für ausgesuchte und explizit gestaltete innere Kontraste von Einzelelementen möglich und praktikabel ist. Schon die Übertragung auf äußere Kontraste und komplexe praktische Wahr-nehmungssituationen führt jedoch zu Herausforderungen, die das für die Normung gewählte Beschreibungsinstrumentarium „reflexions-gradbezogener Helligkeitskontrast“ nicht oder nicht befriedigend ab-zubilden vermag.

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Somit sind auf dem Weg zur visuellen Barrierefreiheit mehrere erwei-ternde Schritte notwendig. Sie umfassen zunächst das Verständnis von „kontrastreicher Gestaltung“, dann aber auch die komplexe Funk-tion der verhaltensbezogenen Orientierung in praktischen Verkehrs-umgebungen.

5.1 Erweiterung des Kontrastverständnisses

Dem optischen Kontrast kommt eine zentrale Rolle in der visuellen Wahrnehmung zu. Psychologische Modellvorstellungen beschreiben die visuelle Wahrnehmung zu großen Teilen als Rekonstruktion der natürlichen Umwelt. Die Umgebung wird in sinnhafte, zusammenhän-gende Objekte strukturiert. Das zentrale Kriterium zur Objektwahr-nehmung stellen optische Kontraste dar. Äußere Kontraste erlauben die Abgrenzung zwischen Objekt und Umgebung bzw. zwischen be-nachbarten Objekten. Innere Kontraste hingegen geben Aufschluss über die Binnenstruktur. In diesem in Objekte und Bewegungsflä-chen strukturierten inneren Abbild der Umwelt werden bewusste Handlungs- und damit Bewegungsentscheidungen möglich (Gibson 1982).

Die Strukturierung geschieht anhand bekannter oder aktuell ersichtli-cher Merkmale der Objekte selbst. So sind die Textur von Oberflächen, ihre Orientierung zueinander und die daraus durch unterschiedliche Lichtreflexion entstehenden Kanten und Helligkeiten wichtige Merk-male zur Strukturierung. Auch die Regelmäßigkeit von Strukturen, die Homogenität künstlicher Oberflächen im Vergleich zur Heterogenität vieler natürlicher Oberflächen bis hin zu den Erfahrungen über typi-sche Gestaltungsformen von Wegen und Objekten sind dabei bedeut-sam.

Der reflexionsgradbezogene Leuchtdichtekontrast, so wie er in den Normen festgeschrieben ist, ist nur eine von vielen Grundlagen eines optischen Kontrastes. Er stellt in bestimmten künstlich gestalteten Umwelten eine notwendige Rückfallebene dar. Wenn beispielsweise alle Oberflächen im Sichtbereich ähnlich in Material, Struktur und Ori-entierung im Raum angeordnet sind, kommt dem reflexionsgradbezo-genen Helligkeitskontrast eine enorme Bedeutung zu.

In der Verkehrsinfrastruktur lässt sich eine optisch kontrastierende Gestaltung in dafür geeigneten Fällen auch durch die gezielte Struktu-

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rierung und Materialwahl erreichen. Durch die Wahl unterschiedlicher Materialien, Oberflächenformen und Oberflächenorientierungen sowie durch die Anordnung von Objekten zu optischen Linien entstehen mit Licht- und Schattenwirkungen Raumkanten, die auch bei geringeren Unterschieden im Reflexionsgrad eine gute Orientierung ermöglichen.

Eine Grundlage für die angemessene Beschreibung kontrastreicher Gestaltung der Verkehrsinfrastruktur kann dabei das Verständnis der Funktion wesentlicher Wahrnehmungs- und Orientierungselemente sein. Hierzu sind Erkenntnisse darüber notwendig, welches die zent-ralen Elemente und Informationen sind und auf welche Weise sie un-ter welchen Umständen wahrgenommen werden und zur Orientierung beitragen. Entsprechende Erkenntnisse fehlen bislang überwiegend.

Orientierung und Verhaltensentscheidungen basieren auf dem Zusam-menspiel sensorischer Information mit Gedächtnisinhalten. Erfahrun-gen spielen somit eine zentrale Rolle. Sie schaffen Erwartungen und helfen bei der Strukturierung in dem Umfang, in dem sie der aktuellen Situation entsprechen. Die Fülle der Erfahrungen steigt mit dem Alter an. Sie kann auch sensorische Defizite kompensieren helfen und wird daher umso wichtiger, je eingeschränkter die sensorischen Wahrneh-mungsmöglichkeiten sind. Eine erwartungskonforme Gestaltung ist somit als übergreifende Anforderung wichtig. Auch hierzu bestehen nur sehr lückenhafte Dokumentationen.

In diesem Sinne benennen DIN 32975 und DIN 32984 auch mehre-re Funktionen und visuelle Eigenschaften, die nur sehr mittelbar ei-ner Kontrastforderung im oben dargestellten Normkontext zuzuord-nen sind. Dazu gehören etwa geschlossene Informationsketten, gut auffindbare Standorte von Informationen oder die Vermeidung von Stör- und Ablenkungswirkungen durch Werbung. Diesen Ansprüchen werden Empfehlungen der Wegeleitung, der sinnfälligen Anordnung und gezielten Beleuchtung sowie das Verbot von Werbung auf Fußbö-den in Gefahrenbereichen zugeordnet. Zentrales Merkmal ist nicht der Kontrast im definierten Sinne, sondern sind vielmehr kognitive Ergo-nomie, Auffälligkeit und Wiedererkennbarkeit als abstrakte Wahrneh-mungsqualitäten.

Ausgehend von diesen und ähnlichen Ansätzen könnte eine differen-zierte Funktionsbeschreibung erfolgen. Darauf aufbauende funktionell gegliederte Anforderungen können helfen, die gezielte Gestaltung der

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Verkehrsinfrastruktur zur visuellen Barrierefreiheit zu qualifizieren. So wäre es etwa möglich, zwischen inneren und äußeren Kontrasten oder auch Lesbarkeit und Auffälligkeit zu unterscheiden und jeweils ange-passte Gestaltungsanforderungen und -möglichkeiten zu eröffnen.

5.2 Erweiterung durch zielorientierte Anforderungsdefinition

Ein in Kontrast- und Funktionsverständnis differenziertes Anforde-rungskonstrukt unterliegt immer noch dem Nachteil, explizit Ansprü-che an Einzelelemente durch gesonderte Merkmale zu formulieren. Es erlaubt jedoch keine abstrakte Beschreibung visueller Barrierefreiheit. Hierfür wäre zunächst die Zielstellung visueller Barrierefreiheit heran-zuziehen. Nach der allgemeinen Definition wäre diese erreicht, wenn sich seheingeschränkte Personen mit definierten Eigenschaften im öf-fentlichen Verkehrsraum selbständig orientieren und sicher bewegen können.

Bislang lässt sich aus den Anforderungen der Normen kein verallge-meinerbares Erfolgskriterium dazu ableiten. Erkenntnisse über den Ist-Zustand der Orientierung und zugeordnete Merkmale der Infrastruktur bestehen praktisch nicht. Jedoch ermöglicht allein der Ansatz über den Zielzustand eine abstrakte Beschreibung visueller Barrierefreiheit. Dies eröffnet nicht nur die Suche nach angepassten, alternativen und optimalen Gestaltungslösungen. Es bietet auch die Chance der spar-samen, umfassenden und nachhaltigen Anforderungsbeschreibung.

Dabei könnten psychophysiologische Modellvorstellungen zur Be-schreibung von Wahrnehmungs- und Orientierungsprozessen hilfreich sein. Nur in Ausnahmefällen ist eine vollständige sensorische Erfas-sung aller Merkmale der Umwelt oder aller Details eines Objektes not-wendig. Als Beitrag zur Barrierefreiheit ist es jedoch notwendig, eine bestimmte Situation hinsichtlich der relevanten Verhaltensmöglich-keiten, Verhaltensge- und -verbote sowie des eventuell vorliegenden Gefahrenpotenzials angemessen erfassen und verstehen zu können. Eine visuell barrierefreie Situation sollte somit im Sinne des grundle-genden Mobilitäts- und Sicherheitsanspruches „erkennbar“ sein.

Verhaltensbezogene Orientierung hat einen größeren Bedeutungsum-fang als bloße Wahrnehmung. Auffälligkeit, einfache Begreifbarkeit sowie die klare und verständliche Gestaltung von Informationen und

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Funktionen gehören ebenso dazu. Die Forderungen nach optisch kon-trastreicher Gestaltung sind sinnvoll und notwendig. Und doch greifen sie zu kurz. Der Fokus verschiebt sich von der herausgehobenen Ge-staltung auf die verhaltensrelevanten Besonderheiten der konkreten Verkehrsanlage bzw. einer jeweiligen Situation. Über den Bedarf nach Einordnung der Situation in die Erfahrungswelt hinaus sind vor allem Abweichungen von größter Wichtigkeit. Unterscheidet sich eine Situa-tion in verhaltensrelevanten Details von vergleichbaren oder typischen Konstellationen, sollte primär dieses hervorgehoben werden.

Visuelle Barrierefreiheit wird erreicht, wenn Sehbehinderte und älte-re Personen ihre Mobilitätsziele im Normalfall ohne fremde Hilfe er-reichen können. Dazu muss ihnen ein in vielfacher Hinsicht sicheres Verhalten und Erleben ermöglicht werden (umfassende Handlungssi-cherheit). Dies beinhaltet das Finden des beabsichtigten Weges bzw. Verkehrsmittels. Es umfasst auch die Erfolgskontrolle und somit die Rückmeldung, sich tatsächlich auf dem beabsichtigten Weg, im inten-dierten Verkehrsmittel oder am beabsichtigten Ziel (Mobilitäts- oder Zwischenziel) zu befinden. Es erfordert die selbstständige Interaktion mit den Objekten der Verkehrsinfrastruktur inklusive Bedienhandlun-gen im mobilitätsnotwendigen Umfang. Schließlich ist die Sicherheit des Weges sowohl im Sinne von safety als auch security zu berück-sichtigen. Hierbei sind sowohl systembedingt unvermeidliche und temporär besondere Gefahrenstellen als auch das Sicherheitsgefühl wichtig.

Die hier skizzierte nutzerorientierte und ganzheitliche Herangehens-weise gibt Anregungen für methodische Zugänge und erlaubt die In-tegration der visuellen Barrierefreiheit nicht nur in den Gesamtkontext barrierefreier Gestaltung, sondern auch in allgemeine ergonomische Grundsätze menschenzentrierter Technikgestaltung. Visuell barrie-refreie Verkehrsumwelten sind demnach gut vorhersehbare Verhal-tensumgebungen. Je umfänglicher typische Erfahrungswerte auf die Gestaltung der aktuellen Situation zutreffen, umso geringer wird der Anspruch an die optische Gestaltung von „Besonderheiten“. Optisch besonders hervorgehobene Einzelmerkmale können ein schlechtes grundsätzliches Design bestenfalls „abmildern“.

Ein solcher Ansatz kann umfassender als die kontrastreiche Gestal-tung einzelner Details der hohen Komplexität praktischer Umgebun-gen gerecht werden und so zu einer dem demografischen Wandel an-

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gemessenen Sichtweise bei der Gestaltung der Verkehrsinfrastruktur beitragen.

6 Ausblick

Visuelle Barrierefreiheit durch kontrastreiche Gestaltung ist ein kom-plexes Feld mit hohen planerischen Anforderungen. Sie ist jedoch nur eine Anforderung unter vielen bei der Dimensionierung der Verkehrs-infrastruktur. Bautechnische Anforderungen der konstruktiven Belast-barkeit, der Widerstandsfähigkeit gegenüber äußeren Einflüssen aus Witterung, aber auch Vandalismus, der Haltbarkeit und Kapazität, der geometrisch-dynamischen Nutzbarkeit (z. B. Begeh- und Befahrbar-keit) und natürlich vielfältige Aspekte der Sicherheit beeinflussen ne-ben weiteren Merkmalen des Betriebes die Gestaltung der Verkehrs-anlagen.

Die von der Normung zur expliziten Beschreibung kontrastreicher Gestaltung gewählten Merkmale sind mit einigen Herausforderungen verbunden. Die Normung optischer Kontraste ist dennoch als ein gro-ßer Fortschritt auf dem Weg zur visuellen Barrierefreiheit zu bewerten. Neben der unmittelbaren Wirkung in der Infrastruktur ist auch die sym-bolische Wirkung in der Öffentlichkeit und Fachöffentlichkeit wichtig. Die mittelfristig zentrale Herausforderung an Wissenschaft, Praxis und Normung wird es daher sein, Kontrastanforderungen in allen ihren Fa-cetten noch besser, expliziter und praxisgerechter zu gestalten.

Die oben als Einschränkung und Herausforderung angeführten Punkte lassen die adäquate explizite Beschreibung von Merkmalen visueller Barrierefreiheit recht aufwändig erscheinen. Der abschließend dar-gestellte Ansatz abstrakter Charakterisierung visueller Barrierefrei-heit anhand von Orientierungsmerkmalen in komplexen Situationen müsste ebenfalls in untersuchbare Paradigmen übersetzt werden. Der Aufwand dafür ist erheblich. Der zu erwartende Gewinn durch operati-onalisierte abstrakte Anforderungen ist jedoch ungleich größer.

Mit dem Versuch einer angemessenen Beschreibung visueller Barri-erefreiheit sind vielfältige Vorteile verbunden. Neben der komplexen Definition von Anforderungen werden diese dadurch auch einer wis-senschaftlichen Untersuchung zugänglich. Diskussionen um Forde-rungen und Details könnten objektiviert werden. Ihr Fokus könnte sich

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von abstrakten technischen Details hin zur Nutzbarkeit aus der Per-spektive gerade auch älterer Nutzer verschieben. Viele Aspekte dazu sind zum derzeitigen Stand der Erkenntnisse unbeschrieben. Die An-forderungen sind vielfach zu unkonkret, als dass sie direkt in Planun-gen für gebaute Infrastruktur umgesetzt werden könnten. Es bedarf also ohnehin vieler umfangreicher Untersuchungen und Studien unter enger Beteiligung der Betroffenen, hier Standards und Forderungen begründet zu entwickeln.

Schließlich fordert der Anspruch visueller Barrierefreiheit vom Fach-planer durch den hohen Planungsaufwand eine intensive Auseinan-dersetzung mit der Verkehrsanlage aus Sicht eines sehbehinderten Verkehrsteilnehmers. Das führt wahrscheinlich zu einer gezielt gestal-teten Benutzbarkeit und hohen ergonomischen Güte. So gestaltete Verkehrsanlagen ermöglichen leichtere und schnellere Orientierungen. Das dürfte auch die Flüssigkeit und Leichtigkeit des Fußgängerver-kehrs und die Nutzbarkeit des ÖPNV unterstützen. Auch sind positive Wirkungen auf die Verkehrssicherheit zu erwarten, da insgesamt die Fehlertoleranz des Verkehrssystems erhöht wäre. Diese Punkte be-treffen alle Altersgruppen, insbesondere jedoch dürfte der positive Ef-fekt bei den Personen mit geringerer Verhaltensplastizität größer sein. Sowohl ältere als auch behinderte Personen können somit mehrfach profitieren.

Insgesamt ermöglicht dies, dem Anspruch der Barrierefreiheit umfas-send nahe zu kommen. Dies ist erreicht, wenn denjenigen Personen die Teilnahme am Leben durch selbstständige individuelle Mobilität ermöglicht wird, die mit Einschränkungen umgehen müssen. Der An-teil dieser Personen nimmt mit der Alterung der Bevölkerung mittel- und langfristig erheblich zu, so dass ihre verstärkte Berücksichtigung bei Entwurf, Bau und Betrieb von Verkehrsanlagen eine wachsende Bedeutung erfährt.

372

7 LiteraturBertram B (2005) Blindheit und Sehbehinderung in Deutschland: Ursachen und Häu-

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373

Demographic Challenges for the Transporta-tion IndustryWolfgang Stölzle und Oliver Ivisic

Zusammenfassung:

Herausforderungen der demografischen Entwicklung für die Transportwirtschaft

Die Auswirkungen der demografischen Entwicklung auf den Güterver-kehr und damit die Transportwirtschaft wurden in der Praxis bislang meist nur im Hinblick auf den Fahrermangel im Strassengüterverkehr diskutiert. Die latent unzureichende Verfügbarkeit von ausgebildetem Fahrpersonal hat allerdings multiple Ursachen und wird mittlerweile in vielen europäischen Ländern als permanenter Engpass wahrgenom-men.

Aus wissenschaftlicher Sicht gilt die systematische Durchdringung des demografischen Einflusses auf den Güterverkehr als weitgehend unbearbeitet – sowohl in konzeptioneller als auch in empirischer Hin-sicht. Vor diesem Hintergrund spannt der vorliegende Beitrag einen Analyserahmen auf, der mögliche Zusammenhänge zwischen demo-grafischer Entwicklung einerseits und Güterverkehr andererseits iden-tifiziert und beschreibt. Die Argumentation konzentriert sich dabei auf Deutschland, Österreich und die Schweiz und bedient sich zur Illustra-tion sekundärstatistischer Daten. Spezielles Datenmaterial zur empiri-schen Verifizierung der Zusammenhänge liegt bislang noch nicht vor.

Das für die konzeptionelle Analyse entwickelte „Ageing Framework“ setzt Argumentationsketten auf demografischen Veränderungen wie der Entwicklung der Geburten- und Sterberaten, der Lebenserwartun-gen oder der Migrationsflüsse auf und stellt Zusammenhänge mit der Transportwirtschaft her. Direkte Einflüsse in Gestalt so genannter „Sin-gle-Stage-Effekte“ werden von mehrstufigen „Multi-Stage Effekten“ unterschieden. Erstere reflektieren u.a. die Verfügbarkeit von Fahrper-sonal und lassen beispielsweise Rückschlüsse auf die Entwicklung der Personalkosten und die Anstellungskonditionen zu. Letztere weisen eine deutlich höhere Komplexität auf, weil es zunächst darum geht, demografische Phänomene im Hinblick auf den internationalen Wa-

374

renaustausch, die Technologieentwicklung, die Staatsverschuldung oder das Konsumentenverhalten zu identifizieren und dann – über die veränderte Wirtschaftsleistung – Rückschlüsse auf die Transportwirt-schaft zu ziehen.

Mit Blick auf die Erkenntnisse des Beitrags zu den möglichen Wirk-zusammenhängen zwischen demografischer Entwicklung und Gü-terverkehr steht künftig dringend eine empirische Analyse an, um für Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik den quantifizierten Handlungsbedarf sichtbar zu machen. Hierfür sind aber zunächst aufwendige Primär erhebungen nötig. Schliesslich können die Konse-quenzen für die Akteure der Transportwirtschaft selbst auch vertiefend untersucht werden, z. B. im Hinblick auf das Rekrutierungsverhalten oder Anpassungen der Stellenprofile ihrer Mitarbeitenden.

1 Relevance of Demographic Changes for the Transportation Industry

European countries face serious challenges in various spheres of in-fluence. Current slow economic rebound and high financial volatility pressurise in general the international goods traffic. The transportation industry is challenged to implement precautionary measures due to unstable future economic forecasts which usually include numerous influencing factors and their future development. However, demogra-phic development is on the one hand, largely foreseeable in detail but on the other hand, challenging to identify the long-term effects. It is known that most western societies are seriously ageing mainly be-cause of constantly increasing life expectancy and low birth rates. It is analysed that life expectancy at birth will increase by about twenty years from 1955 to 2060 in the DACH countries Germany, Austria, and Switzerland (United Nations, 2010). For example, the Swiss populati-on was at birth expected to live for 69.3 years in 1955. In 2060, the life expectancy at birth will rise to about 87.5 years.

Logistics, and with that the transportation industry, is the backbone of exporting countries such as Germany, Austria, and Switzerland. Ac-cording to the number of employees, logistics is the third largest sec-tor in Germany with 2.82 million people employed (Kille and Schwem-mer, 2012). Therefore, a well-functioning logistics industry is a major

375

competitive advantage for a country and its aggregate value-added. It is essential for future and sustainable economic growth. Considering demography, changes cannot be realised overnight but they require a process where proactive actions are needed.

This paper presents future demographic challenges for the transpor-tation industry in DACH. According to publicly available informati-on, the transportation industry generally overlooks the demographic factor of influence. Solely high labour demand is frequently, but still superficially investigated. The purpose of this paper is to highlight the absolute necessity to consider demography in future develop-ment analysis. Demographic-related consequences and possibilities for the transportation industry are analysed in regard to labour de-mand. Additionally, changes in consumer behaviour, the impact on the transportation industry and opportunities are investigated. Fi-nally, a look is taken at the constantly increasing state indebtedness. It is examined if demographic changes have a negative impact on the worrisome conditions of public budgets and which challenges as well as potential chances exist for the industry. This paper is limited to goods traffic. Aspects of e.g. public transportation go beyond the scope of this paper, but transportation industry is used for the sake of convenience.

Chapter 2 is devoted to highlight general demographic challenges for the transportation industry. It provides short explanations and an over-view of various demographic factors of influence. These challenges are then used to construct an „ageing framework“ where single- and multi-stage effects are grouped. Based on this framework, three main propositions are discussed in chapter 3. Section 3.1 considers single-stage effects and suggests labour demand as a direct demographic challenge for the transportation industry. Sections 3.2 and 3.3 contain multi-stage effects where consumer behaviour and public indebted-ness are analysed as indirect demographic challenges. Moreover, in each section of a main proposition the status quo, future challenges, and first potential approaches are shown. It needs to be mentioned that each additional stage-effect increases the degree of complexity. Finally, chapter 4 illustrates some implications for further research.

The general method of investigation is based on qualitative desk re-search where possible and own illustrations of economic conceptions of causal relations.

376

2 Demographic Factors of Influence on the Transportation Industry in DACH – Ageing Framework

Regarding the population development in DACH, three different paths can be observed in figure 1.

On the one hand, a slow population growth of 5 % in Austria and a high growth of 20 % in Switzerland are presumed during the next 50 years. This development is mainly affiliated with expected immigra-tion. On the other hand, Germany’s population will constantly decli-ne and count 19 % less people in 2060. One could assume that the operating level of the German transportation would decline sharply as well. However, a decrease in the number of inhabitants does not necessarily lead to the same relative change in the demanded quantity for transportation services (Ickert et al., 2007). Nevertheless, there are various demographic factors of influence as for example development of population distribution, migration flows, life expectancy, and birth rates which have to be considered in a thorough analysis.

The demand for transportation services is derivative and depends on domestic and international exchanges of commodities. The causal re-lationship between demography and the transportation industry there-fore typically implicates various stages. Demography initially influen-ces the goods traffic which in turn causes effects on the transportation

60

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2010 2015 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050 2055 2060

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Ger

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10

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Germany

Austria

Switzerland

Figure 1: Population forecasts for DACH, 2010 – 2060 (see data from European Com-mission, 2012)

377

industry. Nevertheless, there are also direct factors of influence as for example labour demand.

The following part of this chapter provides an overview of the demo-graphic impact on the transportation industry in order to approach the „ageing framework“.

International trade is growing due to globalisation, and population distributions are changing due to demographic trends as shown in fi-gure 2 for Germany.

Austria and Switzerland show similar developments (European Com-mission, 2012). These changes will influence economies on the de-mand as well as supply side. For example, goods demand and supply will be affected by the changing consumption behaviour as the pro-portion of the elderly population, 65 and older, will increase and gain on importance. Due to a shrinking workforce in developed nations such as the DACH countries, labour demand will increase whereas mi-gration will influence labour supply. Lastly, more capital is in the hands of the aged generation compared to the youth which will affect eco-nomies due to their future investment decisions. These demographic shifts will not only change the flow of goods but also transportation dimensions, geographical distributions, and the degree of transporta-tion intensity.

12,9% 12,6% 12,6% 12,5% 12,3% 12,1% 12,0% 12,1% 12,3% 12,5%

65,8% 64,4% 62,4% 59,5% 56,9% 56,2% 56,1% 55,6% 55,0% 54,7%

15,7% 15,9% 17,0% 20,0% 21,8% 21,2% 19,2% 17,9% 18,6% 19,3%

5,7% 7,2% 8,1% 8,1% 9,0% 10,5% 12,7% 14,4% 14,2% 13,5%

0%

10%

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2015 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050 2055 2060

80+

65-79

15-64

0-14

Figure 2: Population distribution in Germany, 2015 – 2060 (see data from European Commission, 2012)

378

Economic Power is dependent on a strong transportation industry and vice versa. The world economic crises had a negative impact on the dynamic expansion of the logistics industry which is closely linked with transportation (Pohl and Vornholz, 2011). In Germany, pre-crisis, above average growth rates have not yet been achieved, but it is ex-pected that the industry will soon gain on strength again. Neverthel-ess, demography will shape the balance between workers, from age 15 to 64, and the unemployed. This will be an additional burden for future economic growth and with that the transportation industry.

Public Indebtedness of European countries may have a long-lasting negative impact on the transportation industry. In this case, cons-tantly ageing population and potentially increasing long-term treat-ment costs are used as an example. Treatment costs increase the costs of social welfare benefits and pressurise public budgets even more. Hence, governments would be forced to increase their inco-mes through raising taxes which then would affect their inhabitant’s disposable income and therefore the spending and saving rate. Such political decisions may have adverse consequences for the transpor-tation industry because of lower expected consumption and therefore decreasing demand for transportation services.

Consumption behaviour affects not only the amount which is con-sumed but also what goods and services are demanded. On average, consumers will get older and live a healthier life. Their consumption behaviour will change and become more influential due to the pos-sibility to consume for a longer period of time. This will shape the economy and what it offers. Thus, when the economy adapts to de-mographic changes, the transportation industry will be forced to do so as well. With the purpose of identifying potential consumers the major challenge for the transportation industry is therefore the analysis of the causal relationship with demography and its derivative role in an economy.

Technology changes the world constantly and will be important in future demographic development as people demand advanced and innovative goods and services. However, not only does consumption change due to technological advances, but also the possibilities for an industry such as transportation. In case the industry faces a lack of human resources, technological progress e.g. IT advancements will become essential so as to optimize the transportation procedure ac-

379

cording to demographic changes. Aspects such as further automation development and simplification of ageing-related tasks are conside-red to be relevant. Physically demand work should be made simpler according to technology changes. As an example, computer-based systems such as advanced driving assistance may create new oppor-tunities for ageing employees. However, technological improvements require large amounts of financial resources.

Human resources are scarce in the transportation industry due to a shrinking workforce as already mentioned. Nowadays, people are ex-pected to live almost 15 years longer than in year 1955 but the line of succession sharply dropped after 1965 as shown in figure 3.

Although, future fertility rates might grow again as estimated by the United Nations, there will be a gap of human supply and an increase in labour demand due to fluctuating fertility rates and constantly increa-sing life expectancy. It will be challenging for political decision makers and transportation experts to react appropriately according to chan-ging demographic characteristics. For example, restrictions in driving and rest period may need to be adjusted according to the needs of older generations which is not only related to the retirement age but also to adjustments of total driving hours and required rest periods. Additionally, current weak attractiveness of the transportation indus-try as an employer is a major hurdle. Thus, it is questionable if active information and know-how exchange between the parties can take

1

1,2

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3

1955 1970 1985 2000 2015 2030 2045 2060

Years

Germany

Austria

Switzerland

Figure 3: DACH fertility rates (children per woman – medium variant), 1955 – 2060 (see data from United Nations, Department of Economic and Social Affair, 2010)

380

place in order to undertake necessary steps as for example adjusting conditions of employment.

Retirement age is a continuously debated topic due to the demogra-phic development as social insurance systems are pressurised by the increasing number of dependent welfare recipients. At the same time, certain industries need more manpower as previously mentioned. In regard to the debate, the government is still reluctant to changes which might also have a demographic reason because of the higher participation rate of older generations in political elections. A change to a higher retirement age would potentially support the need for la-bour in the transportation industry. However, retirement age changes to e.g. 67 years in Germany or Switzerland would require many resour-ces and efforts in order to raise public awareness.

Urbanisation is part of regional demographic development. In ge-neral, urban regions will count more inhabitants although a country’s population might decrease as shown in figure 1 in the case of Ger-many (Oeltze et al., 2006). The reason for this population movement is mainly because of urban region’s economic attractiveness, such as the city Zurich in Switzerland, which is why rural areas might become less important. The transportation industry, as distributor and deliverer of goods, depends on covered distances which in turn affect reve-nues. Lower demand in rural areas might not only decrease covered

birth rates mortality rates life expectancy migration �ows marriages and divorces

Demography

Challenges

tons of transported goods transportation variety methods industry expansion demand for transportation services technological possibilities labour supply/demand industry attractiveness know-how exchange transportation distances transportation intensities

Transportation Industry

Economic Power

International Trade Public Indebtedness (Ch. 3.3)

Consumption Behaviour (Ch. 3.2)

Technology

Human Resources(Ch. 3.1)

Retirement Age Other Single Stage-

Effects

Other Multi-Stage Effects

Mu

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e Effects

Examples of demographic factors of in�uence Challenges for the transportation industry Examples of consequences for the transportation industry

Connection arrows of the chain of effects

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ffects

Figure 4: Ageing framework for the transportation industry

381

distances and therefore revenues, but also lower the average load fac-tor per transportation vehicle. Consequently, transportation networks which require high fix costs might lead to an economic challenge if the load factor diminishes. Additionally, demographic sprawl might incre-ase the distances between attractive regions which then challenges the supply possibilities of the transportation industry (Kritzinger et al., 2008).

So far, several demographic challenges for the transportation indus-try have been presented. It should be highlighted that the factors are mostly interrelated and depend on precedent events. Figure 4 illus-trates the ageing framework which represents causal relationships between demography and the transportation industry by utilising the covered challenges.

With the purpose of understanding the causal relationship between demography and the transportation industry, the ageing framework considers the stages of cause-and-effect relationships. Therefore, de-mographic challenges are separated into single-stage and multi-stage effects.

According to figure 4, it can be observed that most challenges are ac-tually multi-stage effects. Nevertheless, the interdependence between the groups, challenges, and stages still hold true. The difference bet-ween the stage groups is related to the direct and indirect demogra-phic impact on the transportation industry. For example, a change in retirement age has an instant impact on future employment conditions and therefore a direct effect on the transportation industry. In contrast, international trade affects e.g. export and import quantity and there-fore the economy which then changes the demand for transportation services.

In order to highlight the importance and difference of cause-and-effect relationships between demography and the transportation industry, the following three stages are illustrated in the subsequent chapter.

• Single-stage effect: human resources• Multi-stage effect (short): consumption behaviour• Multi-stage effect (long): public indebtedness

382

3 Main Demographic Propositions for the Transportation Industry in DACH

This chapter elaborates on three main propositions which are based on the previously presented ageing framework. Firstly, the single-sta-ge challenge and therefore direct factor of influence „human resour-ces“ is analysed in more detail. Secondly, the multi-stage challenge „consumption behaviour“ is presented which contains few intermedi-ate stages until it has an effect on the transportation industry. Thirdly, another multi-stage challenge „public indebtedness“ is considered because it results from a more complex analysis with several interme-diate stages.

3.1 Human Resources in the Transportation Industry

To ensure the general supply of goods and services for industries and consumers, human resources are essential. Lack of employees would lead to an interruption of the logistics processes. Hence, ex-ceptional urgency will remain in place according to the demographic development and various possibilities, for example education, indus-try attractiveness, and employment conditions need to be allowed for.

3.1.1 Conditions of Employment in the Transportation IndustryThe transportation industry is a labour-intensive business. Commer-cial drivers are responsible for the execution of transportation servi-ces which were planned in advance by either transport dispatcher or directly by the management. An impending threat of labour shortage would therefore be a matter of urgency.

The transportation industry has just realized the underemployment of commercial drivers. For example, a study which was conducted by TÜV Rheinland (2012) disclosed that about 47 % of the responding companies are affected by the absence of qualified commercial dri-vers and 84  % noticed the scarcity during the last few years. The problem can also be identified when considering the share of aged commercial drivers in Germany as shown in figure 5.

Figure 5 illustrates that the share of the older generation is increasing among commercial drivers in Germany. Furthermore, German male commercial drivers retired in 2009 on average at the age of 60.0 and

383

3,4% 3,7% 3,0% 2,5% 2,5% 2,4% 2,5%

25,1% 21,9%19,0% 16,7% 15,3% 14,5% 14,3%

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23,9% 25,4% 27,5% 29,6% 32,0% 35,6% 37,2%

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1999 2001 2003 2005 2007 2009 2010

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-25

Figure 5: Age distribution of commercial drivers in Germany, 1999 – 2010 (see data from Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 2012)

female at 58.6 which is lower than the statutory retirement age of 65 (Bundesamt für Güterverkehr, 2011).

Moreover, access to educated managerial staff or transport dispat-chers and planners is not guaranteed. In general, all logistics sectors and with that the transportation industry report difficulties in finding as well as attracting sufficient talents.

3.1.2 Challenge: Demand for Labour in the Transportation Industry due to the Demographic Development

A well-functioning transportation process and future increase in ser-vice efficiency depend on access to talented employees. In future, the transportation industry will be challenged by finding young workers as well as by an increased demand for labour if economic growth is achieved.

Figure 3 presented a sharp decline of fertility rates after 1965 when the baby boomer period came to an end. The causes for this change might be found in the near-future. On the one hand, available or nee-ded vehicles will potentially not be operated as the demand for com-mercial drivers cannot be covered. On the other hand, comparing the age development of commercial drivers, as shown in figure 5, and the average retirement age for the same type of workers it is evident that the industry will face a challenge of interruption of continuous suc-

384

cession. Already today emotional stress, physical work load, salaries which cannot compete with other industries, and pressure to perform well are seen as major barriers (TÜV Rheinland, 2012). Additionally, supply of old age labour will increase on a percentage basis compared to younger employees. Around year 2030, the transportation industry will have difficulties because the retired baby boomer generation will need to be replaced. It is therefore expected that „war for talents“ will increase. Hence, personnel cost pressure will grow further. In 2008, labour expenses largely contributed to total costs although oil prices were rising (Ehmer et al., 2008).

3.1.3 Approach: Structural Alteration of Engagement of Personnel in the Transportation Industry

Since labour demand is already high today and will grow in future due to the demographic development, the transportation industry will have to look for different approaches in order to achieve changes in employment structure. Current unattractiveness of the transportation industry makes the access to new and young employees difficult.

First of all, conditions of employment need to be reconsidered. Despi-te of unattractive working hours and long-distance transports, healthy old age labours would probably be willing to work for the same com-pany if conditions of employment are adjusted according to their phy-sical and psychological capabilities. In contrast, younger generations tend to change a company frequently. Strong and well-known emplo-yer branding may affect the commitment period and at the same time attract immigrants, women, and young men to work for the transpor-tation industry.

Demographic development also changes the conditions of healthy ageing. This phenomenon may take part in future employment struc-tures if determining factors are adjusted. Increase in retirement age, for example, becomes reasonable because people can and will be able to remain healthy in order to work and actively live for a longer time. However, needs of the elderly generation, e.g. health conscious-ness, have to be considered. On the one hand, younger employees are more flexible and stress resistant, but accidents and temporary disability occur more frequently (Rimser, 2006). On the other hand, elder people bring along practical experience and social responsibility, but require longer recovery time in case of illness. The transportati-on industry should therefore foster know-how exchange in order to

385

improve intergenerational appreciation and to avoid brain drain. Ad-ditionally, technological innovations may make it possible to imple-ment flexible drive and rest periods as for example, regular medical examination for elderly commercial drivers in order to avoid general disposal of driving licenses so as to increase the number of potential employees (Oeltze et al., 2006). Driving assistance and intelligent op-tical signalling systems could also enable to define a specific reaction rate which would be required to retain the driving license. Therefore, more emphasis should be placed on creating the link between techno-logical advances and medical examinations which already exist in the DACH countries. However, its effects on the evaluation of employees’ driving ability may be different in each country.

Based on population forecasts, Switzerland and Austria will probably increase their number of inhabitants mainly due to migration inflows which could be a damper on the shrinking workforce. German immig-ration will have a weak impact as the share of young workers will drop until 2050 (Ickert et al., 2007). Nevertheless, youth unemployment rates in neighbouring countries could be an advantage in order to increase the attractiveness of the domestic market. The transportation industry would need to invest effort with the purpose of increasing public awa-reness. However, language barriers should not be underestimated. In this regard, solution approaches need to be further elaborated.

Additionally, the transportation industry is still a male world. Figure 6 is based on estimations in year 2004 and shows that the female share of

3,4%

3,8%3,9%

3,7%3,8%

4,2%

4,3%

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3,20%

3,40%

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4,80%

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1999 2001 2003 2005 2007 2009 2010

Figure 6: Development of share of female commercial driver in Germany, 1999 – 2010 (see data from Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 2012)

386

employed commercial drivers was expected to increase slowly to a low level of 4.3 % in 2010.

As the female activity rate will increase in future, the transportation industry could undertake changes in order to make use of the demo-graphic development (Rimser, 2006).

3.2 Consumption and the Transportation Industry according to the Demographic Development

This chapter focuses on demographic shifts in consumption as young and elderly people consume differently, and the impact on consumer behaviour which then affects the transportation industry.

3.2.1 Youth and Aged Consumer BehaviourDifferences between youth and aged consumer behaviour can be found in age-related consumption and saving rates, income distribu-tion, and preferences.

Propensity to consume depends on the stage of life. On the one hand, the young population has a relatively low income, but a high spending

59,6% 59,5% 56,2% 56,3%69,7%

61,9%

29,5% 33,2% 36,4% 39,8%

35,7%37,8%

15,1% 11,5% 12,0% 8,1%0,5%

5,8%

−4,2% −4,3% −4,5% −4,1% −5,8% −5,4%

-20%

0%

20%

40%

60%

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100%

-34 35-44 45-54 55-64 65-74 75+

Other Income Saving rate Transfer costs Consumption rate

Figure 7: Consumption and saving rates of Swiss households according to age groups from 2006 – 2008 (see data from Bundesamt für Statistik, 2012)

387

rate. Figure 7 shows consumption and saving rates at different stages of life of the Swiss population.

It is assumed that elderly people have a higher spending power com-pared to the younger population due to generally higher income and higher youth unemployment rates. Although, Swiss people from 45 to 64 years might spend a lower share of their income according to figure 7, in absolute terms it is probably more. Furthermore, people at this age are more prone to save financial resources for their late period of life due to age-related preferences. On average, they enjoy a healthy life and high education which enables longer and independent con-sumption.

3.2.2 Challenge: Demographic Consumption Effects on the Transportation Industry

The demographic challenge for the transportation industry becomes as of now more complex because of the wide-ranging factors of in-fluence.

As previously mentioned, consumption differences depend partially on differences between generations in income distribution. Due to low unemployment rates during the last decades, the baby-boomer gene-ration was able to build up large fortunes which will enable higher con-sumption in future. However, the income effect is not only related to a quantitative consumption increase, but also to a change in demanded high-value and high-quality goods. Table 1 presents that the income share of people aged over 60 will increase in Germany and all other countries which are considered in the study until year 2020.

Table 1: Evolution of income share for the over-60s from 2005 – 2020 (e=estimated) (Walker and Mesnard, 2011)

Country 2005 2020e

Belgium 26.60 % 32.30 %

Bulgaria 14.80 % 19.20 %

Denmark 18.90 % 23.50 %

Finland 23.90 % 34.10 %

France 24.80 % 31.60 %

Germany 27.10 % 29.70 %

Italy 24.00 % 24.10 %

Netherlands 20.90 % 27.80 %

Norway 22.20 % 28.80 %

388

Country 2005 2020e

Romania 14.40 % 20.80 %Spain 21.60 % 24.40 %Sweden 30.20 % 34.30 %Turkey 11.60 % 15.70 %United Kingdom 23.40 % 29.20 %

Due to the relatively higher participation rate, it is expected that the elderly generation will substantially influence consumption behaviour in future and with that allocated goods and services in an economy. Reza Attar-Zadeh, today retail director at Santander, said (Walker and Mesnard, 2011):

„The 50-plus segment of society is already transforming the way we live and work. They hold 60 percent of all savings and are responsible for more than 40 percent of all consumer demand.”

Furthermore, urban areas will probably attract potential consu-mers which will leave rural regions behind. Thus, consumption would become more concentrated on cities, and rural demand for goods and services would decline. Not only does the life sty-le have an impact on the consumption behaviour, but also healthy ageing. The facts that the share of the older society increases as shown in figure 2, that they will live a longer and healthier life, and that they will have the necessary financial resources indicates chan-ges of the goods traffic especially for the consumer goods indust-ry. Thus, transportation quantities and intensities modify from multi-stage effects as well as the spatial dimension of the transportation processes.

Demographic effects on consumption such as changing characteris-tics of target consumers and age-related preferences will determine which goods and services an economy will offer. Consequently, the transportation industry will probably have to follow the trend. Additi-onally, generational differences in propensity to consume will induce growth or decline of the transportation market. This may lead to an additional analysis which differentiates age-related and cohort effects. For example, age-related effects may occur if today’s young popula-tion consumes similarly to today’s elderly people at old age. On the contrary, cohort effects may appear if today’s young population consu-

Table 1 (contin.): Evolution of income share for the over-60s from 2005 – 2020 (e=estimated) (Walker and Mesnard, 2011)

389

mes differently at their old age because of their own past experience. Nevertheless, this differentiation goes beyond the scope of this paper.

3.2.3 Approach: Transportation Service Adaption due to Demographic Changes

Preventive measures will be the key to success. Appropriate com-prehension of potential coherences from demography to demanded goods and transportation services is therefore recommended.

Anticipation of target consumers’ constantly changing needs and the understanding of influential factors on the economy should make the transportation industry aware of what precautionary measures could be undertaken. This basically means that first of all, the relationship between the transportation industry and significant economic sectors need to be understood. Figure 8 presents that in various Swiss indus-try sectors the major proportion of total logistics costs are transporta-tion expenditures.

In order to be able to identify if transportation service modifications are necessary, potential demographic impact and future development of these sectors should be estimated. For example, the Swiss chemi-cal industry will be driven by demographic changes and will therefore probably pursue growth as well as be subject to changes. Figure 8

56% 53%46%

58% 57%49%

39%

15%31%

26%

17% 22%33%

19%

20%

10%

15% 10%

15%16%

20%

9% 6%14% 15%

6% 2%

23%

0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

90%

100%

1 2 3 4 5 6 7

Other

Inventory

Cargo Handling

Transportation

Figure 8: Logistics costs in various Swiss industry sectors (Stölzle et al., 2012)1) Chemistry and Polymer, 2) Metal, 3) Vehicular, Mechanical Engineering, Electro, and Fine Mechanics, 4) Pa-per, Publishers, Printing, 5) Textile and Leather, 6) Food and Luxury Food, 7) Wholesale, Retail, and Mail Order

390

shows that the transportation industry put 56 % to expense of total logistics costs of the chemical industry and polymer processing in 2011. Consequently, expected growth rates for the chemical market based on demographic development might increase the demand for transportation services.1 Depending on the transported goods, it might also be possible that services need to be adapted according to legal or transportation requirements. For various other industries as shown in figure 8, demographic influence might again be different and needs therefore to be analysed carefully.

Due to the diversified economic exposure of exporting countries such as DACH, negative demographic effects on the demand side of a country can be partially compensated (Schneider, 2002). Existing trade channels allow that transportation services could be offered ab-road if the economy is competitive enough to gain share in internati-onal markets.

3.3 Ageing and Public Indebtedness as Determinants for the Transportation Industry

DACH governments seek prosperity, but slow rebound and financial volatility threaten economic growth. In this regard, the demographic development will be an issue for the transportation industry due to a long and complex chain of effects.

Ageing populations as in DACH will probably burden public budgets because of higher social welfare benefits which in turn will cause governmental reactions such as increasing tax rates. Thus, share of individual transfer costs would increase, as shown in figure 7 for Swit-zerland, which induces a relative consumption decline and a lower demand for transportation services.

3.3.1 Public IndebtednessThe European financial crisis obliges various states to intervene finan-cially and mechanically as for example Germany. It provides among others high financial assistance to countries such as Greece which are encumbered with debts. Switzerland accomplished a foreign ex-change intervention on 6 September 2011, when the exporting indus-try and with that the international goods traffic were at high pressure.

1 Logistics costs are in each industry sector different. It is calculated as a percentage figure of total revenue (Weber and Wallenburg, 2010)

391

0,90%

1,30%

0,60%

2,40%2,50%

1,90%

0,00%

0,50%

1,00%

1,50%

2,00%

2,50%

3,00%

Germany Austria Switzerland

2007

2060

Figure 9: Comparison of expenses of long-term treatment of elderly aged 65+ in % of GDP in DACH in 2007 and 2060 (Eidgenössisches Finanzdepartement, 2012)

It does not seem that pressure from political or economic directions will decrease. Moreover, demographic factors of influence add to total governmental expenditures as will be presented in the subsequent chapter. Public indebtedness, debt to GDP, worsened in Germany and Austria from 2000 to 2010 when the financial crisis hit the global eco-nomy in 2008 according to data from OECD.

On the contrary, Switzerland was able to keep the debt level under control due to the debt limit which became law in 2003 (Eidgenössi-sches Finanzdepartement, 2010).

3.3.2 Challenge: Impact of Ageing on Public Indebtedness and Effects on the Transportation Industry

Independent of the current debt level, future demographic changes will put social welfare systems under pressure. Until 2030, baby-boo-mers will retire and drop out as important taxpayers (Geier and Zahno, 2012). Due to low birth rates and increased age-related costs the bur-den to public budgets will rise as shown in figure 9.

More patients go hand in hand with higher care costs. Ageing en-tails an increased risk of long-term care which is already today one of the major expense factors of total welfare costs (Eidgenössisches Fi-nanzdepartement, 2012). In regard to the demographic development, this cost pressure will tighten again until the baby-boomer generation

392

reaches the care-dependent age due to the population distribution in DACH. However, healthy ageing might be supportive in relation to health care costs. Elderly in good health usually rely less on the welfa-re system of a country than the ones facing diseases or illnesses, and put treatment costs less to expense.

In case of missing income, governments will probably be willing to intervene in order to generate revenues. As an example, Switzerland would have to compensate accumulated debt for legal reasons. In general, it is assumed that the possibility to change tax rates on the state-level could therefore be realised (European Commission, 2011). A change in the tax rates affects transfer payments in the same way and decreases the individual disposable income which is available for consumption. A probable decrease in the consumption rate would cause lower economic growth as economic performance depends on consumer confidence. Consequently, the transportation industry could not evade the related multi-stage effects.

Because economic development is an important driver for the de-mand of goods traffic, the transportation industry could be negatively affected from an ageing society and its economic consequences (Ins-titut für Mobilitätsforschung, 2010). In periods of economic downturn, excess capacity of vehicles and drivers is perceivable especially in the transportation industry (Ehmer et al., 2008).

Increased competition and price reductions are potential causes for the industry. In contrast, the challenging demand for labour would be reduced due to the weak market performance. On the state-le-vel, reintroduced cabotage ban due to economic downturn could affect transportation costs which would probably grow and interna-tional exchange of goods as empty runs would increase. Further-more, compliance with legally binding debt limits as in Switzerland would potentially influence investment decisions. Financial resour-ces which will be put at disposal of the transportation industry in or-der to constantly improve the infrastructure or technology could be curtailed.

393

3.3.3 Approach: Adjustment of the Transportation Industry to Causes of Demography and Public Indebtedness

Because approaches to multi-stage effects are needed, the transpor-tation industry should not only focus on directly related developments, the single-stage effects.

From the perspective of the transportation industry, influence can probably not be taken on every single part of the relationships as for example on demographic changes as it depends on the population and level of indebtedness as it relies on political decisions as well as economic performance. Nonetheless, the transportation industry should identify the possibilities it has on each level in order to under-take necessary steps according to the proper method when needed. The interests of the transportation industry should also be made clear to groups of interest through e.g. lobbying effort. Additionally, a cul-ture of adaptive responsiveness would enable the industry to react properly when exogenous conditions are changing.

A demographic change might have an impact on the transportation in-dustry from different point of views. As an illustration for the difference in single and multi-stage effects the demographic cause „healthy ageing“ is reconsidered. Healthy ageing enables the transportation industry to consider elderly people as potential employees with the in-tention to cover the demand for labour (see chapter 3.1). Additionally, aged people are able to consume for a longer period of time due to their mental and physical condition (see chapter 3.2). Finally, healthy ageing might have a positive impact on the social welfare system if long-term treatment costs are kept under control (see chapter 3.3).

4 Implications for Further Research

This paper emphasizes the importance to consider demographic factors of influence in future research activities also in logistics. The „ageing framework“ is therefore provided to illustrate several cause-and-effect relationships between demography and the transportation industry in form of single- and multi-stage effects.

The purpose of future research should be on the one hand, to elabo-rate presented challenges for the transportation industry in more de-tail so as to conceptualize the framework. As an example, the aspect

394

of human resources is in this paper mainly related to labour scarcity (see chapter 3.1). However, a profound perspective should also con-sider further features e.g. educational requirements for each level of responsibility. Additionally, other single- and multi-stage challenges should be recognised in order to extend the framework as well as to recognize the demographic impact on the transportation industry. Fur-thermore, managerial and scientific approaches should be identified with the purpose of finding ways to effective adjustments to the se-quence of effects. It is also important to question if the transportation industry is placed correctly at the end of the multi-stage effects. The range of influence of the transportation industry should therefore be reflected in future research as well due to a constant economic cyc-le. For example, the cause-and-effect relationship is only illustrated from demography to public indebtedness, and to the transportation industry (see chapter 3.3). Future research should also try to disco-ver if the transportation industry could have an effect on demography with e.g. implementing fair conditions of employment for families. A further important step would be to give evidence of single- and multi-stage effects in form of empirical, quantitative research. There the goal should be to categorise which industries are most important in regard to demography and the transportation industry. In addition to that, an analysis of differences between age-related and cohort effects may need to be conducted if demographic-related consumer behaviour need to be understood.

Finally, numerous dimensions of the transportation industry in relati-on to demography should find general approval in further research. Considering the form of goods, e.g. consumer and investment goods, demographic effects might appear differently. Furthermore, the trans-portation industry varies strongly in its structure. Aspects as the trans-portation mode e.g. road, railway, deep sea or air cargo might be af-fected differently by the demographic changes.

395

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397

Anpassung der Verkehrsinfrastrukturen für ältere Menschen: Analyse von Finanzierungskonzepten

Jürgen Gies

1 Einführung

Die deutsche Gesellschaft wird älter: Nicht nur steigt die Lebenser-wartung dank des medizinischen Fortschritts und höherer Standards für den Gesundheitsschutz, auch nimmt der prozentuale Anteil älterer Menschen bei sinkender Gesamtbevölkerung weiter zu. Während in Deutschland gegenwärtig 81,8 Millionen Menschen leben, werden es im Jahr 2050 voraussichtlich nur noch knapp 74 Mio. sein. Der An-teil der über 65-Jährigen wird in diesem Zeitraum von derzeit 19 % auf 32 % ansteigen. In einzelnen Regionen führt der demographische Wandel dazu, dass die Zahl Hochbetagter – das heißt über 80-Jährige – massiv zunehmen wird (Müller, 2009; KfW, 2007).

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung gilt es, den Anforderungen älterer Menschen an die Verkehrsinfrastrukturen eine besondere Auf-merksamkeit zu widmen. Unter Verkehrsinfrastrukturen werden hier die Wege für den Fuß- und Radverkehr sowie für den motorisierten Individualverkehr und für den öffentlichen Verkehr verstanden. Hin-zu kommen Leit- und Informationssysteme als Suprastrukturen sowie beim öffentlichen Verkehr auch die Fahrzeuge („rollende Infrastruktur“) und das Fahrtenangebot. Eine ausschließliche Betrachtung der Ver-kehrsinfrastruktur in einer eng gefassten Bedeutung ist beim öffent-lichen Verkehr nicht sinnvoll, weil hier die Verkehrsinfrastruktur erst zusammen mit Fahrzeugen und Fahrtenangeboten für Teilhabe und Teilnahme wirksam ist.

In den folgenden Abschnitten werden die spezifischen Anforderungen älterer Menschen an Verkehrsinfrastrukturen herausgearbeitet und mit allgemeinen Anforderungen an die Barrierefreiheit in Beziehung ge-setzt. Anschließend werden Konzepte für die Finanzierung behandelt, die allerdings eng mit allgemeinen Fragen der Verkehrsinfrastrukturfi-nanzierung und der Finanzierung der Angebote des öffentlichen Ver-kehrs verknüpft sind.

398

2 Anforderungen älterer Menschen an die Verkehrsinfrastrukturen

Betrachtet man den Prozess des Alterns aus der Perspektive der Physiologie, Sensorik und Psychologie, so geht er mit einer Vielzahl von Veränderungen einher. Dazu gehören Veränderungen der Sinnes-wahrnehmung, des Bewegungsapparates, der Lernfähigkeit, des Ge-dächtnisses und der Informationsverarbeitung (vgl. Schlag, in diesem Band). Die Sehschärfe verringert sich im Alter, ebenso können Kont-raste weniger gut wahrgenommen werden. Der Prozess des Alterns verläuft bei den einzelnen Menschen teilweise sehr unterschiedlich und steht nicht zuletzt auch in einem engen Zusammenhang mit dem praktizierten Lebensstil. Wie stark die Einschränkungen in einzelnen Funktionsbereichen ausfallen, kann interindividuell sehr verschieden sein. Es gibt keine deterministischen, sondern nur probabilistische Zusammenhänge. So geht man beispielsweise davon aus, dass ein Mensch, der regelmäßig sportlich wie auch geistig aktiv war und sich gesund ernährt hat, im Alter länger fit ist (vgl. Poschadel, in diesem Band).

Wenn im weiteren Verlauf die Anforderungen älterer Menschen an die Verkehrsinfrastrukturen näher spezifiziert werden, so liegt dem ein funktionales Verständnis von Alter zugrunde. Es wird von physischen Einschränkungen ausgegangen, die tatsächlich in unterschiedlichem Alter relevant werden können (Pohlmann, 2004).

Die Anforderungen an die Verkehrsinfrastrukturen differieren aufgrund von Beeinträchtigungen der körperlichen Leistungsfähigkeit, ebenso aufgrund veränderter Nutzungsansprüche, beispielsweise durch den Austritt aus dem Erwerbsleben, zunehmender Notwendigkeit von Arzt-besuchen und veränderter räumlicher Orientierungen in der Freizeit. Viele Anforderungen älterer Menschen an die Verkehrsinfrastrukturen können durch eine barrierefreie Gestaltung erfüllt werden. Gleichwohl muss auch der Frage nachgegangen werden, welche spezifischen An-forderungen ältere Menschen an die Verkehrsinfrastrukturen sowie an die Angebote des öffentlichen Verkehrs haben.

Durch Änderungen bei den Wegezielen (u. a. Erreichbarkeit medizini-scher Versorgungseinrichtungen und von Angeboten der Nahversor-gung im Wohnumfeld) ist beispielsweise eine an die Bedürfnisse älte-rer Menschen angepasste Verkehrsinfrastruktur für das Zufußgehen

399

und Radfahren im Nahbereich wichtig. Ebenfalls ändern sich mit den Wegezielen die Anforderungen ältere Menschen an die Liniennetz-gestaltung beim öffentlichen Verkehr. In nachfolgender Übersicht werden beispielhaft einige typische Veränderungen der körperlichen Leistungsfähigkeit beim Menschen durch den Alterungsprozess und mögliche Konsequenzen für die Verkehrsinfrastrukturen dargestellt.

Tabelle 1: Beispiele für altersbedingte Einschränkungen und ihre Konsequenzen für Verkehrsinfrastrukturen, inklusive Fahrzeuge und Angebote des öffentlichen Verkehrs (eigene Darstellung, vgl. Schlag, in diesem Band)

Altersbedingte Einschränkungen

Beispiele für auftretende Probleme Beispiele für mögliche Handlungsansätze

Abnehmende Sehschärfe

Lesen von Fahrplänen und Hinweistafeln

Kontrastreiche Gestaltung von Serviceeinrichtungen wie Fahrkartenautomaten und Aushänge in ausreichender Schriftgröße

Abnehmende Hörfähigkeit

Lokalisation von Geräuschquellen (z. B. Wahrnehmung möglicher Gefahren durch herannahende ÖPNV-Fahrzeuge)

Einbau akustischer Warnsysteme

Abnehmende Beweglichkeit von Gelenken

Treppensteigen, Einsteigen in Fahrzeuge und Linksabbiegen beim Radfahren

Einbau von Rolltreppen/Aufzügen bzw. Schaffung ebenerdiger Zu- und Abgangswege, konsequente Umsetzung der Höhenangleichung von Bahnsteigen und Fahrzeugen, Knotenpunkgestaltung im Straßennetz mit der Möglichkeit des indirekten Linksabbiegens für Radfahrer

Abnehmende Körperkraft

Tragen von Gepäck, Bewältigung langer Wege

Erhöhung der Haltestellendichte, neue ÖPNV-Angebote (Feinerschließung, Direktverbindungen), Aufstellung zusätzlicher Ruhebänke im Straßenraum, Einsatz von Aufzügen, Rolltreppen und Rollbändern

Verlangsamung der Bewe-gungsabläufe

„Mitschwimmen“ im Verkehrsfluss

Verlängerung der Grünphasen an Ampeln und der planmäßig vorgese-henen Umsteigezeiten beim ÖPNV, Entschleunigung des Verkehrs ins-gesamt durch Geschwindigkeitsbe-schränkungen und verlangsamende Straßenraumgestaltung (z. B. schmale Fahrgasse, Ausweisung als „verkehrs-beruhigter Bereich“)

Höherer Zeit-bedarf für Informations-aufnahme und -verarbeitung

Nutzung von Fahrkar-tenautomaten

Vereinfachung des Tarifsystems (z. B. Einführung von Seniorentickets als „Flatrate“)

400

3 Verkehrsinfrastrukturen (auch) für ältere Menschen

Die kursorische Darstellung der Anforderungen älterer Menschen an die Verkehrsinfrastrukturen hat verdeutlicht, dass neben Anforderungen, die spezifisch für ältere Menschen sind, wesentliche Anforderungen an die Verkehrsinfrastrukturen mit denjenigen mobilitätseingeschränk-ter Menschen übereinstimmen. Der Begriff „mobilitätseingeschränkte Menschen“ hat sich aus dem Begriff „behindertengerecht“ entwickelt. Neben dieser Begriffsverwendung im engeren Sinne gibt es mobili-tätseingeschränkte Menschen im weiteren Sinne, hierunter werden auch ältere Menschen subsumiert (vgl. FGSV, 2011).

Mobilitätseingeschränkte Menschen1

im engeren Sinne:• körperbehinderte Menschen: gehbehinderte Menschen, Roll-

stuhlfahrer, Arm- und Handbehinderte, Klein- und Großwüchsige• sehbehinderte Menschen: Sehschwache, Blinde• hörbehinderte Menschen: Schwerhörige, Gehörlose• sprachbehinderte Menschen• Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen: lernbehinderte

Menschen, geistig behinderte Menschen• psychisch behinderte Menschen

im weiteren Sinne:• lebenslagenbedingt: Menschen mit Gepäck, Kinderwagen, Fahr-

rädern und Hunden; werdende Mütter, übergewichtige Menschen, ortsunkundige Menschen, Menschen mit temporären Beschrän-kungen, Menschen mit Allergien, sprachunkundige Menschen

• altersbedingt: ältere Menschen, Kleinkinder

3.1 Gesetzliche Bestimmungen und Handlungsrahmenbedingungen

Auf internationaler Ebene behandelt die Behindertenrechtskonventi-on der United Nations (UN) das Thema Barrierefreiheit. 2009 trat in der Bundesrepublik Deutschland das Übereinkommen aus dem Jahr 2006 in Kraft (Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behin-

1 nach FGSV, 2011, S. 3, verändert.

401

derungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 21. Dezember 2008). Der UN-Behindertenrechtskonvention liegt das Verständnis zugrunde, dass die Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft im Wesentlichen vom jeweiligen Umfeld abhängt. Demnach führt nicht die Behinderung im medizinischen Sinn selbst zu Barrieren, sondern erst die Wechselwir-kung zwischen individueller Fähigkeit des Einzelnen und der Gestal-tung der Umwelt.

Ebenfalls befassen sich auf europäischer Ebene verschiedene Do-kumente mit dem Thema Barrierefreiheit. Zu nennen sind hier unter anderem ein Grundsatzpapier für ein hindernisfreies Europa für Alle (Europäische Kommission, 2003a), ein europäischer Aktionsplan zur Chancengleichheit für Menschen mit Behinderungen (Europäische Kommission, 2003b) sowie beispielsweise die europäische „Busricht-linie“ (Richtlinie 2001/85/EG), die unter anderem Regelungen über die Zugänglichkeit für Personen mit eingeschränkter Mobilität, ein-schließlich Rollstuhlfahrern, in Bussen enthält. Mit einer Änderung der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO) wurde die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt.

Die Grundlage für die Integration behinderter Menschen in das öffentli-che Leben wurde in der Bundesrepublik Deutschland 1994 durch eine Ergänzung des Grundgesetzes geschaffen, nach der niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf (Art. 3 Abs. 3 GG). Die Regelungen des im Frühjahr 2002 in Kraft getretenen (Bundes-)Ge-setzes zur Gleichstellung behinderter Menschen (Behindertengleich-stellungsgesetz – BGG) konkretisieren dies, unter anderem durch die Forderung nach Herstellung von weitgehender Barrierefreiheit in den Bereichen Bau und Verkehr (§ 8 BGG). Behinderten soll die Bewegung ohne fremde Hilfe ermöglicht werden.

Ebenfalls sind die Barrierefreiheit im Sozialgesetzbuch IX sowie im All-gemeinen Gleichbehandlungsgesetz verankert. Dem BGG liegt eine Definition von Behinderung orientiert am Konzept von Norm und Ab-weichung zugrunde: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperli-che Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebens-alter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“ (§ 3 BGG)

402

Das BGG gilt vorrangig für Aufgaben, die im Kompetenzbereich des Bundes liegen (vgl. hierzu bspw. §§ 7 und 8 BGG). Zur Umsetzung entsprechender Inhalte auf Länderebene haben die Bundesländer ei-gene Gleichstellungsgesetze (z. B. das hessische Gesetz zur Gleich-stellung von Menschen mit Behinderungen – Hessisches Behinderten-Gleichstellungsgesetz-BGG) mit teilweise abweichenden Regelungen erlassen.

Mit der Einführung des BGG wurden zahlreiche Änderungen weite-rer Gesetze und Verordnungen für den Bereich Planung und Bau von Infrastrukturen und den Betrieb von Verkehrsanlagen vorgenommen: Zu nennen sind insbesondere das Bundesfernstraßengesetz (FStrG), das Personenbeförderungsgesetz (PBefG), die Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO), die Straßenbahn-Bau- und Betriebsordnung (BOStrab) und das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG). Auf der Ebene der Ländergesetzgebung wurden beispielsweise die Bauordnungen geändert.

Wesentliche Teile der Gestaltung des öffentlichen Raums liegen in der Gesetzgebungskompetenz der Bundesländer (beispielsweise kom-munale Straßen, Wege und Plätze, öffentliche Grünanlagen) und un-terliegen damit landesgesetzlichen Regelungen.

Als erstes Bundesland verfolgte Hessen 2006 mit dem „Leitfaden unbehinderte Mobilität“ die Umsetzung einer einheitlichen Syste-matik zumindest für das eigene Land (Hessische Straßen- und Ver-kehrsverwaltung, 2006). Auch Nordrhein-Westfalen veröffentlichte 2009 einen – allerdings weniger umfassenden – Planungsleitfaden (Landesbetrieb Straßenbau Nordrhein-Westfalen, 2009). Infolge der Föderalismusreform liegen seit Beginn des Jahres 2007 weite-re Kompetenzen im Bereich der kommunalen Verkehrsfinanzierung bei den Bundesländern, und es wurden eigene Investitionsrichtlinien erlassen.

Vor dem Hintergrund der verschiedenen Zuständigkeiten bei der Fest-legung des rechtlichen Rahmens gibt es bisher noch keine einheitli-che Vorgehensweise in der Umsetzung der Barrierefreiheit (Kohaupt, 2010). Die verschiedenen gesetzlichen Regelungen greifen zudem in erster Linie bei Neubauten sowie großen Um- oder Erweiterungsbau-ten. Die Umsetzung der Barrierefreiheit im Bestand erfolgt schrittwei-se im Rahmen der wirtschaftlichen Möglichkeiten.

403

Ansätze zur Vereinheitlichung werden in verschiedenen Regelwerken und Normen vorgenommen:

Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV)• Empfehlungen für die Anlagen des öffentlichen Personennahver-

kehrs (EAÖ, 2003, in Überarbeitung) (FGSV, 2003)• Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen (RASt, 2006) (FGSV,

2006)• Richtlinien für Lichtsignalanlagen (RiLSA, 2010) (FGSV, 2010)• Hinweise für barrierefreie Verkehrsanlagen (H BVA, 2011) (FGSV,

2011)

Deutsches Institut für Normung (DIN)• DIN 18024-1 Barrierefreies Bauen – Teil 1: Straßen, Plätze, Wege,

öffentliche Verkehrs- und Grünanlagen sowie Spielplätze; Pla-nungsgrundlagen (Ausgabe: 1998-01) (in grundlegender Überar-beitung als DIN 18030)

• DIN 32975 Gestaltung visueller Informationen im öffentlichen Raum zur barrierefreien Nutzung (Ausgabe 2009-12)

• DIN 32981 Zusatzeinrichtungen für Blinde und Sehbehinderte an Straßenverkehrs-Signalanlagen (SVA) – Anforderungen (Ausgabe 2002-11)

• DIN 32984 Bodenindikatoren im öffentlichen Raum (Ausgabe 2011-10)

Die Deutsche Bahn AG fasst die Richtlinien für die Gestaltung ihrer Zugangsstellen in der Modulfamilie 813 „Personenbahnhöfe planen“ zusammen. Eine überarbeitete Version trat im Mai 2012 in Kraft (Bun-deskompetenzzentrum Barrierefreiheit, 2012). Sie beinhaltet unter anderem die Gestaltung taktiler Leitsysteme im hindernisfreien Weg nach der „Technischen Spezifikation für die Interoperabilität bezüg-lich eingeschränkt mobiler Personen im konventionellen transeuropä-ischen Eisenbahnsystem und im transeuropäischen Hochgeschwin-digkeitsbahnsystem“ (TSI PRM) auf Bahnsteigen sowie im Bereich der Bahnsteigzugänge und Bahnhofsgebäude. Um möglichst viele blinde und sehbehinderte Reisende in den Informationsfluss einzu-beziehen, soll das Zwei-Sinne-Prinzip bei der Entwicklung dynami-scher Informationssysteme zur Anwendung kommen. Nach dem Zwei-Sinne-Prinzip müssen Informationen durch mindestens zwei der drei Sinne „Sehen“, „Hören“ und „Tasten“ wahrnehmbar sein (FGSV, 2011).

404

Vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) wurde in Zu-sammenarbeit mit dem damaligen Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (BMVBW) 2003 ein Handbuch zur Umset-zung eines barrierefreien ÖPNV herausgegeben, in dem Lösungsan-sätze vorgestellt werden; 2012 erschien die überarbeitete zweite Auf-lage (VDV, 2012).

Ebenfalls gibt es kommunale Planungsleitfäden (u.a. in Erfurt und Münster) mit beispielsweise Richt- und Musterzeichnungen für öf-fentliche Räume (Stadt Münster, 2005; Landeshauptstadt Erfurt et al., 2004).

Ein Ansatzpunkt für eine Kompromisslösung, die versucht, den un-terschiedlichen Anforderungen mobilitätseingeschränkter Menschen möglichst gerecht zu werden, ist eine Gestaltung auch der Verkehrs-infrastrukturen nach dem „Design für Alle“-Prinzip. Es stellt eine Wei-terentwicklung des Prinzips der Barrierefreiheit dar, das in Deutsch-land – wie oben dargestellt – gesetzlich verankert und damit Standard bei Neubauten sowie großen Um- oder Erweiterungsbauten ist (Ger-lach et al., 2007). Barrierefreiheit sollte so ausgeführt werden, dass entsprechend gestaltete Räume möglichst vielen Menschen zugute-kommen; bisher ist Barrierefreiheit zu oft noch einseitig mit „behin-dertengerecht“ assoziiert. Der Begriff „Design für Alle“ steht für ei-nen Gestaltungsansatz, „der die menschliche Vielfalt und Fähigkeiten beim Design von Produkten und Dienstleistungen von Anfang an im Blick behält“ (Dziekan et al., 2010, S. 13). Neben den unterschiedli-chen Fähigkeiten werden auch die Lebensphasen und Lebenssituati-onen berücksichtigt. So kann nicht nur das Alter zu Einschränkungen der Beweglichkeit führen, sondern beispielsweise auch der mitgeführ-te Kinderwagen. Neben der Suche nach Kompromisslösungen ist ein weiteres Ziel der Aufbau barrierefreier Wegeketten. Wenn Barrierefrei-heit vor dem Hintergrund des Design-für-Alle-Prinzips umgesetzt wird, wird ein Qualitätsgewinn für alle Nutzer realisiert.

3.2 Beispiele für den Handlungsbedarf zur Herstellung barrierefreier Verkehrsinfrastrukturen

In einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Urbanistik wurde der Investitionsrückstand und Investitionsbedarf der Kommunen un-tersucht. Für den öffentlichen Verkehr wird hier zur Herstellung der Barrierefreiheit an unterirdischen Stationen oder Stationen in Hochla-

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ge von U-Bahnen, Stadt- und Straßenbahnen ein Nachholbedarf von 428 Mio. Euro für den Zeitraum von 2006 bis 2020 errechnet. In die-ser Summe ist nur die Ausstattung mit Aufzügen berücksichtigt, nicht quantitativ ausgewiesen werden der Nachholbedarf beispielsweise für Blindenleitsysteme und Ausstattung von Haltestellen mit „Kasseler Sonderborden“, die durch ihre Konstruktion ein sehr nahes Heranfah-ren an die Haltestelle zulassen und dadurch den Ein- und Ausstieg erleichtern (Reidenbach et al., 2008; Topp, in diesem Band).

Während in städtischen Bereichen eine Barrierefreiheit sowohl infra-strukturseitig als auch an der Schnittstelle von Fahrzeug und stati-onärer Infrastruktur beispielsweise durch den Einsatz von Nieder-flurstraßenbahnen und -bussen sowie einen Umbau der Haltestellen bereits vielfach realisiert werden konnte, sind im ländlichen Raum noch zahlreiche Mängel zu verzeichnen. Nur wenige Haltestellen sind beispielsweise mit dem Kasseler Sonderbord ausgestattet, welches beim Einsatz von Niederflurbussen einen barrierefreien Ein- und Aus-stieg ermöglicht. Allerdings werden Niederflurfahrzeuge im ländlichen Raum oft nicht eingesetzt, aber auch keine Hochflurfahrzeuge, die über eine fahrzeuggebundene Einstiegshilfe verfügen (bspw. für Berlin und Brandenburg: VBB, 2012).

Deutliche Fortschritte bei der Barrierefreiheit können beim Schienen-verkehr seit der Regionalisierung 1996 und hier – verglichen mit der Zeit vor der Regionalisierung – besonders auch im ländlichen Raum registriert werden (bspw. für Rheinland-Pfalz Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen, 2009). Aber auch hier be-steht nach wie vor Handlungsbedarf. Nach Angaben der Allianz pro Schiene (2009) sind rund 70 % der Bahnhöfe in Deutschland barri-erefrei zugänglich, jedoch mit großen Unterschieden zwischen den Bundesländern: Während im Saarland nur 44 % der Bahnhöfe barri-erefrei sind, sind es in Rheinland-Pfalz 65 %, in Nordrhein-Westfalen 82 % und in Thüringen sogar 86 %. Problematisch erscheint es, dass oft technisch aufwändige Lösungen wie Aufzüge umgesetzt werden müssen, die nicht nur hohe Anfangsinvestitionen erfordern, sondern auch hohe Aufwendungen für den Betrieb nach sich ziehen. Diese können nicht immer geleistet werden, so dass Anlagen ausfallen (vgl. Verkehrsverbund Rhein-Ruhr, 2012; VBB, 2012). Schwer wiegt, dass in den Bundesländern teilweise unterschiedliche Bahnsteighöhen als Normhöhen für die Inanspruchnahme von Fördermitteln gefordert wer-den. Ebenso wird die Höhe des Fußbodens über Schienenoberkante

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an unterschiedlichen Bahnsteighöhen ausgerichtet. Weil eine bundes-weite Vereinheitlichung kaum mehr möglich erscheint, sollte die Ver-einheitlichung der Bahnsteighöhe auf regionale Netze fokussiert sein und dort die passenden Fahrzeuge eingesetzt werden (Engel, 2005).

Der Investitionsbedarf zur Herstellung einer flächendeckenden Barri-erefreiheit lässt sich anhand der vorliegenden Daten nicht ermitteln, ebenso wenig ist eine weitere Differenzierung nach den Anforderun-gen älterer Menschen möglich. Bei Neu- und Ersatzinvestitionen wird die Barrierefreiheit hergestellt und ist Standard; Kosten für die Nach-rüstung bestehender Infrastrukturen sowie für ein optimales Zusam-menspiel von Fahrzeug und Zugangsstelle sind nicht bekannt. Sowohl für eine Abschätzung der Gesamtkosten zur Herstellung barrierefreier Verkehrsinfrastruktur als auch bezüglich der Aufwendungen für spe-zielle Maßnahmen zur Anpassung von Verkehrsinfrastrukturen an die Bedürfnisse ältere Menschen besteht weiterer Forschungsbedarf.

Gerade auch beim Betrieb barrierefreier Infrastrukturen bestehen deut-liche Unterschiede in den finanziellen Aufwendungen je nach Art der Ausstattung, z. B. zwischen Aufzug und Rampe. Zukünftig sollte vor dem Hintergrund langfristiger Finanzierungsmöglichkeiten größerer Wert auf die Betriebskosten barrierefreier Infrastrukturen gelegt wer-den, bspw. durch Schaffung ebenerdiger Zugänge statt des Einbaus von Aufzügen (Der Beauftrage für Menschen mit Behinderungen beim Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit, 2006).

4 Finanzierungskonzepte

Im Folgenden wird der Frage nach den derzeitigen und zukünftigen Finanzierungskonzepten für barrierefreie Verkehrsinfrastrukturen mit einem besonderen Fokus auf die Anforderungen älterer Menschen nachgegangen.

In der Finanzierung von Verkehrsinfrastrukturen ist zwischen Neuin-vestitionen, Ersatzinvestitionen und Erhaltung zu unterscheiden. Un-ter Neuinvestitionen wird die erstmalige Anlage einer Infrastruktur ver-standen („Erstinvestitionen“). Eine Ersatzinvestition im engeren Sinne stellt eine Erneuerung der Infrastruktur dar, ohne dass dabei eine qua-litative Verbesserung realisiert wird. Bei Ersatzinvestition im weiteren Sinne wird gleichzeitig eine qualitative Verbesserung erzielt. Unter

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Erhaltung werden der Betrieb und die Reparatur von Infrastrukturen verstanden, so dass ihre Funktionsfähigkeit gewährleistet ist (Reiden-bach et al., 2008).

4.1 Aufteilung der finanziellen Verantwortung für Verkehrsinfrastrukturen

Die Finanzierungsverantwortung für Verkehrsinfrastrukturen ist im fö-deralen System der Bundesrepublik Deutschland zwischen den ver-schiedenen staatlichen Ebenen geteilt, wobei die Baulastträgerschaft nicht mit den Einnahmen aus dem Verkehr kongruent ist.

Das Ungleichgewicht bei den verkehrsspezifischen Einnahmen und Ausgaben der Gebietskörperschaften hat das Deutsche Institut für Weltwirtschaft in einer Untersuchung für den Zeitraum 1997 bis 2000 identifiziert. Demnach wies der Bund in diesem Zeitraum immer ei-nen deutlich positiven Saldo auf (Laaser et al., 2001). Obgleich diese Studie nicht mehr fortgeführt wurde, besteht kaum ein Grund zu der Annahme, dass es zu grundlegenden Änderungen im Finanzierungs-gefüge bei den einzelnen staatlichen Ebenen gekommen ist.Tabelle 2: Saldo der verkehrsspezifischen Einnahmen und Ausgaben der Gebietskör-perschaften in Mio. Deutsche Mark (eigene Darstellung nach Laaser et al., 2001, S. 79)

Gebietskörperschaft 1997 1998 1999 2000

Bund 14.399 16.100 24.772 19.985

Länder 7.579 9.635 8.187 9.347

Kommunen -15.729 -15.311 -15.906 -15.563

Die Straßeninfrastruktur gliedert sich in Gemeinde-, Kreis-, Landes- und Bundesstraßen sowie Bundesautobahnen. Die kommunale Ebene ist Baulastträger für Gemeindestraßen und Kreisstraßen sowie für die Ortsdurchfahrten von Landes- und Bundesstraßen in Gemeinden mit mehr als 30.000 bzw. 80.000 Einwohnern (Reidenbach et al., 2008). Der Straßenbaulast angegliedert ist die Verantwortung für begleitende Fuß- und Radwege. Die Finanzierung des barrierefreien Umbaus dieser Straßen tragen die Kommunen, während für Landesstraßen in Landes-verantwortung und Bundesstraßen in Auftragsverwaltung der Länder für den Bund das jeweilige Land bzw. der Bund verantwortlich sind. Die Zuständigkeit für Bundes- und Landesstraßen begleitende Fußwege in Ortsdurchfahrten von Gemeinden mit weniger als 80.000 bzw. 30.000 Einwohnern liegt bei den jeweiligen Gemeinden selbst (Richtlinien für

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die rechtliche Behandlung von Ortsdurchfahrten im Zuge der Bundes-straßen – Ortsdurchfahrtenrichtlinien – ODR; Wächtler, 2011).

Die barrierefreie Gestaltung der Infrastrukturen von U-Bahnen, Stra-ßen- und Stadtbahnen liegt in der Verantwortung des jeweiligen Un-ternehmens bzw. in der ihrer Eigentümer, d. h. meistens kommuna-ler Gebietskörperschaften. Die vom Eisenbahnsektor her bekannte Trennung von Infrastruktur und Verkehr ist bei den U-Bahnen, Stra-ßen- und Stadtbahnen die Ausnahme. Für die Infrastrukturanlagen der Stadtbahn Hannover ist seit 2001 die Infrastrukturgesellschaft Region Hannover GmbH (infra) zuständig, die neben dem Verkehrs-betrieb „üstra“ ebenfalls unter dem Dach der Versorgungs- und Ver-kehrsgesellschaft Hannover mbH (VVG) agiert. An der VVG sind die Stadt Hannover mit 80,49 %, und die Region Hannover mit 19,51 % beteiligt. Überwiegend sind bei U-Bahnen, Straßen- und Stadtbah-nen jedoch Infrastruktur und Verkehr in einem Unternehmen zusam-mengefasst, das meistens ein Tochterunternehmen der Stadtwerke ist, weil so die Steuervorteile des kommunalwirtschaftlichen Querver-bunds genutzt werden können. Teilweise sind die kommunalen Ver-kehrsunternehmen nicht direkt mit den Kosten für den Unterhalt von Tunnelstrecken und Tunnelbahnhöfen belastet, da diese bei den Städ-ten liegen (Groneck, 2011). Als problematisch erweist sich, dass für die mit öffentlichen Zuschüssen geförderten Infrastrukturen auf Grund der kameralen Behandlung keine Abschreibungen gebildet wurden, so dass keine Rücklagen vorhanden sind und sich ein hoher Erneue-rungsbedarf aufgestaut hat (Reidenbach et al., 2008).

Wenn Haltestellen des öffentlichen Verkehrs im Straßenraum liegen, kann die Verantwortung zwischen Gebietskörperschaft, Verkehrsun-ternehmen und Straßenbaulastträger aufgeteilt sein. Das Verkehrs-unternehmen ist für die Fahrgastinformationen an den Haltestellen zuständig, in den Städten in der Regel auch für die Ausstattung der Haltestelle mit Wetterschutz, Beleuchtung und Bänken. Im ländlichen Raum liegt dies dagegen meist im Aufgabenbereich der Gemeinde. Für die Wartefläche der Haltestelle und damit auch für ihre barriere-freie Gestaltung ist innerorts die Gemeinde und außerhalb geschlos-sener Ortschaften der jeweilige Straßenbaulastträger verantwortlich.

Der überwiegende Teil der mit regelmäßigem Personenverkehr ge-nutzten deutschen Eisenbahninfrastruktur inklusive der Zugangsstel-len befindet sich im Eigentum der Deutschen Bahn (DB) Netz AG bzw.

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der DB Station & Service AG. Die Zuständigkeit für eine barrierefreie Gestaltung liegt bei diesen Unternehmen bzw. letztlich beim Eigentü-mer der DB AG, d. h. dem Bund. Für den barrierefreien Ausbau der Zugangsstellen spielen neben den Eigenmitteln der DB  AG, Mitteln aus dem Bundesschienenwegeausbaugesetz und der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung (LuFV) für die bestehende Infrastruktur der DB AG auch weitere Finanzierungsprogramme in den Bundesländern, die die Aufgabenträger des Schienenpersonennahverkehrs sind, eine wichtige Rolle.

Weil sich die DB AG von ihren Bahnhofsgebäuden im ländlichen Raum sowie in Klein- und Mittelstädten trennt, kommt hier den Kommunen eine zunehmend wichtiger werdende Rolle zu, wenn das Gesamten-semble Bahnhof barrierefrei gestaltet werden soll. Dies gilt für die Ver-knüpfung der Zugangswege mit dem innerörtlichen Wegenetz sowie für den barrierefreien Umbau des Gebäudes, wenn die Kommunen dieses in eigene Verantwortung übernommen haben.

Für die Barrierefreiheit des öffentlichen Verkehrs ist das Zusammen-spiel von Fahrzeug und Infrastruktur (rollende und stationäre Infra-struktur) entscheidend. Hier haben die Aufgabenträger des öffentlichen Verkehrs – in der Regel die Kommunen für Busse, U-Bahnen, Straßen- und Stadtbahnen sowie die Länder für den Schienenpersonennahver-kehr (SPNV) – sowohl eine koordinierende Funktion, als auch über ihre finanzielle Verantwortung eine steuernde Funktion. Ihre Konzepte zur Umsetzung der Barrierefreiheit sind Bestandteile der Nahverkehrsplä-ne der jeweiligen Aufgabenträger für SPNV und öffentlichen Personen-nahverkehr (ÖPNV) mit Bussen, U-Bahnen, Straßen- und Stadtbahnen. Beispiele hierfür sind die Ausführungen im Nahverkehrsplan der Stadt Essen (Stadt Essen, 2008) und im „Plan des öffentlichen Personennah-verkehrs des Landes Sachsen-Anhalt – ÖPNV-Plan“ (Ministerium für Bau und Verkehr des Landes Sachsen-Anhalt, 2006).

4.2 Finanzierung barrierefreier Verkehrsinfrastrukturen

Auswirkungen der Föderalismusreform auf die Finanzierung von VerkehrsinfrastrukturinvestitionenDas GVFG und seine Nachfolgeregelungen in den Bundesländern sind gegenwärtig das wichtigste Finanzierungsinstrument für Verkehrsinf-rastrukturinvestitionen. Mit dem BGG des Bundes aus dem Jahr 2002

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wurde das GVFG dahingehend geändert, dass die Herstellung einer weitgehenden Barrierefreiheit die Voraussetzung für die Gewährung von Fördermitteln wurde. Das GVFG regelte die Verwendung derjeni-gen Finanzhilfen des Bundes für Investitionen zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden im Bereich des kommunalen Straßenbaus – ausgenommen Anlieger- und Erschließungsstraßen – und des ÖPNV, die der Bund den Ländern im Rahmen des Art. 104 a Abs. 4 GG gewährte. Bevor die Regelungen der Föderalismusreform in Kraft traten, gliederte sich das GVFG in ein Landes- und ein Bundes-programm. Hierfür stand zuletzt ein jährlicher Finanzrahmen in Höhe von rund 1,667 Milliarden Euro zur Verfügung. Beim Bund verblieben 20 Prozent der GVFG-Mittel für Projekte mit einem Investitionsvolu-men von über 50 Mio. Euro („Bundesprogramm“). Den Ländern wur-den nach einem Schlüssel 80 Prozent der Mittel zugeteilt.

Im Zuge der Föderalismusreform 2006 wurden nicht nur Gesetzge-bungskompetenzen, sondern auch Mischfinanzierungen entflochten. Im Rahmen der Föderalismusreform wurde das Landesprogramm nach dem GVFG zum 31. Dezember 2006 beendet. Nach § 3 des Ent-flechtungsgesetzes (EntflechtG) steht den Ländern bis 31. Dezember 2013 jährlich ein Betrag von 1,335 Milliarden Euro aus dem Haushalt des Bundes für Investitionen zur Verbesserung der Verkehrsverhält-nisse der Gemeinden zu. § 6 EntflechtG enthält eine Revisionsklausel, wonach Bund und Länder gemeinsam bis Ende 2013 prüfen, in wel-cher Höhe die Beträge nach § 3 EntflechtG für den Zeitraum vom 1. Januar 2014 bis zum 31. Dezember 2019 zur Aufgabenerfüllung der Länder noch angemessen und erforderlich sind. Die Entflechtungsmit-tel verlieren zudem ab 2014 ihre am ursprünglichen Gesetz orientierte Zweckbindung, so dass jene Mittel, die das ehemalige GVFG-Landes-programm substituieren, durch die Länder auch anderweitig investiv verwendet werden können.

Das Bundesprogramm des GVFG wird auch nach 2006 fortgeführt, ist jedoch wie die Kompensationsmittel entsprechend den Regelun-gen des Entflechtungsgesetzes nach derzeitigem Rechtsstand bis Ende 2019 befristet. Es gibt noch keine Nachfolgeregelungen, was im Hinblick auf lange Planungs- und Umsetzungszeiten bei Verkehrs-projekten zunehmend problematisch wird. Weil im Jahr 2019 auch der Solidarpakt ausläuft, markiert dieses Datum eine grundsätzliche Not-wendigkeit für eine Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehun-gen.

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GVFG-BundesprogrammDas auch nach der Föderalismusreform fortgeführte Bundespro-gramm, einschließlich der Investitionshilfen für die Deutsche Bahn AG umfasst jährlich rund 332,6 Millionen Euro. Aus diesen Mitteln können ÖPNV-Schienenverkehrswege in Verdichtungsräumen und den zuge-hörigen Randgebieten gefördert werden. Der Fördersatz beträgt bis zu 60 % der zuwendungsfähigen Kosten.

Im verbleibenden Bundesprogramm des GVFG ist die Barrierefreiheit sowie die Anhörung von Interessenvertretern behinderter Menschen eine Fördervoraussetzung. Das aktuelle Bundesprogramm gilt für die Jahre 2010 bis 2014. Zu den Projekten gehört unter anderem der Aus-bau der S-Bahn Rhein-Neckar (Projekt der DB AG); im kommunalen Bereich werden derzeit beispielsweise der Ausbau der Nürnberger U-Bahn (U 3) sowie in Hamburg die U-Bahn-Anbindung der Hafencity gefördert.

Förderung von Verkehrsinfrastrukturinvestitionen in den BundesländernNeben dem fortbestehenden Bundesprogramm des GVFG gibt es in den Ländern unterschiedliche Regelungen zum Umgang mit den Mit-teln aus dem Entflechtungsgesetz, die das frühere Landesprogramm des GVFG kompensieren. Die Fördermöglichkeiten in den verschiede-nen Bundesländern orientieren sich teilweise eng an den ehemaligen GVFG-Regelungen, teilweise sind aber auch weitere Möglichkeiten hinzugekommen.

Zuwendungsvoraussetzung in den Länderregelungen zur Verwendung der Entflechtungsmittel ist die Barrierefreiheit für behinderte Menschen und andere Menschen mit Mobilitätseinschränkungen sowie die Ein-beziehung von Behindertenbeauftragten oder -beiräten in die Planung. Es gibt auch Beispiele, in denen die Länderregelungen weitergehend sind: So hat Thüringen eine Regelung zur Vergabe von Finanzmitteln für ÖPNV-Investitionsvorhaben eingeführt, nach der neben der Anhö-rung und Einbindung der Beauftragten bzw. Beiräte von Menschen mit Behinderungen in die Vorhabenplanung zusätzlich auch förder-spezifische Checklisten zur Barrierefreiheit von den Vorhabenträgern beachtet werden müssen. In Hessen bildet der Leitfaden zur Gestal-tung barrierefreier Verkehrsanlagen ein Instrument zur Durchsetzung landesweit einheitlicher Standards (FGSV, 2011). In Brandenburg sind beispielsweise auch die Nachrüstung von Stationen mit Fahrtreppen

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und Aufzügen bei mehr als 1000 Ein- und Aussteigern pro Tag sowie der Bau von Rampen förderfähig (Hintzke, 2010).2

Die Bedeutung der Finanzausgleichsgesetze der LänderNeben dem Bundes-GVFG und den Nachfolgeregelungen in den Ländern sind die Finanzausgleichsgesetze (FAG) der Länder von Be-deutung für die Herstellung von Barrierefreiheit. Insbesondere für die Finanzierung kommunaler Straßen spielt der kommunale Finanzaus-gleich eine wichtige Rolle. Hierbei geht es um die Erhaltung sowie investive Maßnahmen in Straßen in kommunaler Baulast. Finanz-schwachen Kommunen werden beispielsweise Mittel zur Aufbringung des Eigenanteils an Projekten, die aus Entflechtungsmitteln gefördert werden, zur Verfügung gestellt. Entsprechend Art. 106 Abs. 7 GG fließt den Gemeinden und Gemeindeverbänden von dem Länderanteil am Gesamtaufkommen der Gemeinschaftssteuern von Bund und Län-dern ein von der Landesgesetzgebung zu bestimmender Prozentsatz zu. Ziel des kommunalen Finanzausgleichs ist es, den Gemeinden und Gemeindeverbänden die finanziellen Grundlagen ihrer Selbstverwal-tung (Art.  28 Abs.  2  GG) zu sichern. Dazu regeln die Länder in je-weils eigenen Landesgesetzen die Verteilung von Landesmitteln an die Kommunen (vertikaler Finanzausgleich) und die Umverteilung von Mitteln zwischen den Kommunen (horizontaler Finanzausgleich). Die konkrete Ausgestaltung des kommunalen Finanzausgleichs variiert sehr stark zwischen den Ländern, so dass hier eine nach den Bun-desländern unterschiedene Darstellung nicht möglich ist. Grundsätz-lich werden beim kommunalen Finanzausgleich drei Zuweisungsar-ten unterschieden: Schlüssel-, Zweck- und Bedarfszuweisungen. Die Schlüsselzuweisungen beruhen auf einem Schlüssel, den das jewei-lige Bundesland entwickelt. Der Zuweisungsschlüssel berücksichtigt unter anderem die Einwohnerzahl, gegebenenfalls ergänzt um einen Flächen- und einen Demographiefaktor. Während die Schlüsselzuwei-sungen aus Sicht der jeweiligen Gemeinde wie die eigenen kommu-nalen Steuereinnahmen in der Verwendung frei sind, sind die Zweck-zuweisungen an eine bestimmte Verwendung gebunden. Diese sind meist für Investitionen bestimmt. Die Bedarfszuweisungen stehen in einem Kontext mit Haushaltsnotlagen der Gemeinden (Finanzministe-rium Baden-Württemberg, 2010).

2 Eine detaillierte Darstellung, welche Regelungen die einzelnen Bundesländer bei der Verwendung der Entflechtungsmittel allgemein und im Hinblick auf Barrierefreiheit getroffen haben, kann Hintz-ke (2010) entnommen werden.

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Barrierefreie Umgestaltung bestehender StraßenDie barrierefreie Umgestaltung bestehender Straßen wird derzeit vor-wiegend von den Baulastträgern – Kommune, Land, Bund – selbst finanziert. Eine Reihe von Kommunen erhebt Straßenausbaubeiträge für die grundhafte Erneuerung von Verkehrsanlagen (Straßen, Wege und Plätze), soweit dies die Kommunalabgabengesetze (KAG) der Länder ermöglichen oder erfordern. Der Straßenausbaubeitrag ist ein Ausgleich für Aufwendungen, welche Kommunen für die grundhafte Erneuerung, Verbesserung oder Erweiterung ihrer Verkehrsanlagen entstehen. Eine Pflicht zur Zahlung der Ausbaubeiträge trifft in erster Linie die Grundstückseigentümer, welchen diese Verkehrsanlage ei-nen möglichen Vorteil vermittelt. Die Straßenausbaubeiträge stoßen bei dem zur Zahlung verpflichteten Kreis häufig auf starke Kritik. Einige Kommunen verzichten daher auf die Erhebung der Beiträge. Diskutiert werden auch wiederkehrende statt einmaligen (sehr hohen) Beiträgen. Die bisher vorliegenden Erfahrungen beispielsweise aus Rheinland-Pfalz zeigen, dass die Bevölkerung das Prinzip wiederkehrender Bei-träge akzeptiert. Hierzu müssten allerdings die Kommunalabgabenge-setze der meisten Bundesländer geändert werden (Schlünder et al., 2012).

Eine barrierefreie Nachrüstung von Straßen nur im Rahmen von Grunderneuerungen würde einen deutlich zu langen Zeitraum in An-spruch nehmen. Es bietet sich daher an, die Öffnungen von Straßen-anlagen für Leitungsarbeiten durch Ver- und Entsorgungsträger für eine barrierefreie Ausstattung zu nutzen. Der Leitungsträger muss die Straßenanlage anschließend nur so wieder herstellen, wie er sie vor-gefunden hat. Es sollte daher geprüft werden, ob bei der Wiederher-stellung Verbesserungen im Sinne der Barrierefreiheit erzielt werden können. Allerdings muss der Straßenbaulastträger die Mehrkosten, z. B. für abgesenkte Bordsteine, erstatten. Dennoch kann so mit rela-tiv geringem finanziellem Einsatz an vielen Stellen nachgerüstet wer-den (FGSV, 2011).

Weitere FinanzierungsmöglichkeitenNeben diesen Hauptsträngen der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung existieren weitere Fördermöglichkeiten, von denen einige exempla-risch genannt werden: Hierzu zählt beispielsweise die Förderung von Maßnahmen durch Finanzierungsinstrumente der europäischen Re-gionalpolitik. Von besonderer Bedeutung ist hierbei der Europäische Fonds für regionale Entwicklung (EFRE), dessen Ziel die Verringerung

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der wirtschaftlichen und sozialen Differenzen in der Europäischen Uni-on ist, wozu unter anderem auch Infrastrukturinvestitionen gefördert werden. Die Programmplanung und Verwaltung der finanziellen Mittel erfolgt in Deutschland weitgehend durch die Bundesländer. Bei durch den EFRE geförderten Maßnahmen ist eine Kofinanzierung durch na-tionale Stellen notwendig. Grundsätzlich gilt beim Einsatz von euro-päischen Fördermitteln, dass die Barrierefreiheit des jeweiligen Vorha-bens zu gewährleisten ist (FGSV, 2011).

Eine weitere Finanzierungsmöglichkeit für Kommunen zur barriere-freien Gestaltung bieten die seit 1971 geschaffenen verschiedenen Programme der Städtebauförderung. Der Bund gewährt den Ländern Finanzhilfen gemäß Artikel 104 b GG, die durch Mittel der Länder und Kommunen ergänzt werden. Auch die barrierefreie Gestaltung der Straßenräume kann gefördert werden.

Über Kommunalkredite finanziert die KfW die barrierefreie Ausgestal-tung von Straßen, Fußwegen und Einrichtungen des ÖPNV. Durch Landesbanken werden diese Programme modifiziert (z.  B. L-Bank Baden-Württemberg und Sächsische Aufbaubank).

Finanzierung der Angebote des öffentlichen VerkehrsDie Finanzierung des SPNV stützt sich auf die Regionalisierungsmittel, die die Bundesländer auf Basis des Art. 106 a GG und des Regio-nalisierungsgesetzes (RegG) erhalten. Diese Finanzmittel gehen auf die Bahnreform 1994 zurück, im Rahmen derer die Verantwortung für den SPNV auf die Länder ab 1996 übertragen wurde. Die Länder fi-nanzieren das SPNV-Angebot und legen im Rahmen von Leistungs-ausschreibungen fest, welche Kriterien die Fahrzeuge beispielsweise bezüglich der Barrierefreiheit sowie der Anzahl verfügbarer Sitzplätze und Ausstattung mit sanitären Einrichtungen erfüllen müssen. Teil-weise werden aus den Regionalisierungsmitteln auch Erneuerungen bestehender Zugangsstellen zum SPNV oder auch der Bau neuer Haltepunkte finanziert, so dass sie auch die Barrierefreiheit der sta-tionären Infrastruktur verbessern. Beim Regionalisierungsgesetz wird bis Ende 2014 eine Überprüfung vor dem Hintergrund der Fragestel-lung erfolgen, in welcher Höhe die bisher zugewiesenen Mittel zur Aufgabenerfüllung der Länder noch angemessen und erforderlich sind. Von den Verhandlungsergebnissen hängt es ab, in welchem Umfang die derzeitigen SPNV-Angebote aufrechterhalten werden können.

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Die Angebote des öffentlichen Verkehrs mit Bussen, U-Bahnen sowie Straßen- und Stadtbahnen wurden 2010 bei den im Verband Deutscher Verkehrsunternehmen organisierten Unternehmen – dies sind über-wiegend die kommunalen Verkehrsunternehmen in den Städten – zu 48,3 % durch Beförderungserträge und damit durch die Fahrgäste fi-nanziert (VDV, 2012). Zu den Standardtarifangeboten in vielen Verkehrs-verbünden zählen günstige Zeitkarten für Senioren (z. B. „Karte ab 60“), die die Nutzung des öffentlichen Verkehrs attraktiv machen. Sie sind gleichzeitig auch ein Instrument der Kundenbindung und tragen damit zur Verlässlichkeit der Beförderungserträge bei, was letztlich auch den Fortbestand der Angebote sichern kann. Der Finanzierung der Angebo-te dient auch der Verlustausgleich im steuerlichen Querverbund oder direkt durch die Kommune in ihrer Funktion als Aufgabenträger.

Die finanzielle Basis der ÖPNV-Angebote mit Bussen im ländlichen Raum ist der Schülerverkehr und die an ihn geknüpften Ausgleich-zahlungen nach § 45 a des Personenbeförderungsgesetzes (PBefG), bzw. entsprechend den Regelungen der Bundesländer, die diese auf-grund der „Öffnungsklausel“ des § 64 a PBefG erlassen haben. Die zurückgehenden Schülerzahlen und ein Abschmelzen der Ausgleichs-zahlungen gefährden den Fortbestand von ÖPNV-Angeboten in ländli-chen Räumen, und insbesondere auch den von Fahrten außerhalb der Schülerverkehrszeiten, wie sie für ältere Menschen relevant sind. So-wohl für ländliche Räume als auch für Städte muss konstatiert werden, dass die finanziellen Handlungsspielräume der Verkehrsunternehmen und der Aufgabenträger für zusätzliche Angebote für die Zielgruppe „ältere Menschen“, speziell zugeschnitten auf deren Anforderungen, zunehmend enger werden.

4.3 Weiterentwicklung der Finanzierungskonzepte

Rahmenbedingungen und HandlungserfordernisseGrundsätzlich ist zu beachten, dass die Finanzierung barrierefreier und damit vielfach auch den Anforderungen älterer Menschen genügender Verkehrsinfrastrukturen (Design-für-Alle-Prinzip) nicht losgelöst von der allgemeinen Diskussion um die Finanzierung von Verkehrsinfra-strukturen und Angeboten des öffentlichen Verkehrs erfolgen kann. Für die gegenwärtige Umbruchphase gilt, dass noch keine verlässlichen Aussagen für die Zeit nach 2019 getroffen werden können. Der Wis-senschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung geht von einem zurückgehenden Bedarf an Großin-

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vestitionen im ÖPNV aus, während andererseits die Aufwendungen für die bestehenden Anlagen zunehmen (Wissenschaftlicher Beirat beim BMVBS, 2008). Gerade auch für die Herstellung der Barrierefreiheit sind die Erhaltung und die Ersatzinvestitionen von hoher Bedeutung, weil in ihrem Rahmen die notwendigen Nachrüstungen vorgenommen werden können. Ebenso wichtig ist aber auch eine bessere Abstim-mung der Schnittstelle von Fahrzeug und Bahnsteig bzw. Haltestelle, so dass die Barrierefreiheit nicht an jeweils für sich optimierten Lö-sungen scheitert. Die Gewährleistung der Barrierefreiheit erfordert eine kontinuierliche Erhaltung der Verkehrsinfrastrukturen, so dass beispielsweise keine Unebenheiten in der Oberfläche von Fußwegen entstehen oder Leitsysteme schadensfrei bleiben. Die bisherige Pra-xis wird diesem Anspruch oft nicht gerecht, nicht zuletzt auch aus finanziellen Gründen (ADAC, 2012, KfW, 2012). Auch die veränderten Anforderungen an die Netzstruktur des öffentlichen Verkehrs in einer Gesellschaft mit mehr älteren Menschen, wodurch der Gesichtspunkt der Erschließungsqualität ein größeres Gewicht erhält, führt aufgrund einer höheren Haltestellendichte zu tendenziell steigenden Kosten für die Angebotserstellung und die Infrastrukturvorhaltung.

Barrierefreie Verkehrsinfrastrukturen und Angebote des öffentlichen Verkehrs ausgerichtet auf die Bedürfnisse älterer Menschen lassen ei-nen steigenden Finanzierungsbedarf erwarten, der auch die Erschlie-ßung neuer Finanzierungsquellen erforderlich macht. Ein nicht uner-heblicher Teil des Finanzierungsbedarfs erklärt sich allerdings auch aus dem Nachrüstungsbedarf bestehender Verkehrsinfrastrukturen, bei deren Erstellung die Barrierefreiheit nicht „mitgedacht“ wurde, so dass heute aufwändige Lösungen zu ihrer Umsetzung notwendig sind. Bei aktuellen Handlungsansätzen zur Realisierung der Barrierefreiheit sollten den langfristigen Aufwendungen für die Erhaltung eine gestei-gerte Aufmerksamkeit gewidmet werden.

Neue Finanzierungsmöglichkeiten durch stärkere Einbeziehung der Nutzer und NutznießerNeben der Debatte um einen Fortbestand der bekannten Finanzie-rungsinstrumente werden auch für Deutschland neue Möglichkeiten diskutiert. Gegenwärtige ist die Daehre-Kommission mit Fragen der zukünftigen Verkehrsfinanzierung befasst (Kommission „Zukunft der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung“, 2012, Roeser, 2012). Kernpunkt der Diskussion ist die Frage, inwiefern Verkehr zukünftig stärker durch die Nutzer und Nutznießer statt aus dem Steueraufkommen finanziert

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werden sollte (Wissenschaftlicher Beirat beim BMVBS, 2008, Kossak, 2011). Besonders durch die starken Belastungen der Staatshaushal-te zur Bewältigung der Wirtschaftskrise, die Bemühungen zur Einhal-tung der Maastricht-Kriterien und die in Deutschland grundgesetzlich verankerte Schuldenbremse ergibt sich die Notwendigkeit, nach al-ternativen Quellen für die Verkehrsfinanzierung zu suchen. Auch die zukünftig höheren Aufwendungen für den sozialen Ausgleich in einer alternden Gesellschaft lassen die Suche nach neuen Finanzierungs-konzepten geboten erscheinen.

Bereits die 1999 eingesetzte „Regierungskommission Verkehrsinf-rastrukturfinanzierung“ – die sogenannte „Pällmann-Kommission“ – hatte sich mit der Instandhaltungskrise der Bundesverkehrswege beschäftigt. Sie kam zu dem Schluss, dass die traditionelle Steuerfi-nanzierung zur qualifizierten Erhaltung und Weiterentwicklung der Ver-kehrsinfrastruktur für die Zukunft nicht mehr geeignet ist. Stattdessen empfahl sie eine konsequente Umstellung auf die Nutzerfinanzierung, d. h. für einen direkten Zusammenhang zwischen Nutzung und finan-zieller Belastung (BMVBW, 2000).

Bei der Straße könnte die Nutzerfinanzierung durch die Einführung einer netzweiten Maut umgesetzt werden. Beim öffentlichen Verkehr gibt es zusätzlich zur Finanzierung durch die öffentliche Hand mit den Fahrgelderlösen bereits eine teilweise erhebliche Finanzierung des Betriebs durch die Nutzer, die durch eine Beteiligung der indirekten Nutzer oder Nutznießer auch auf Investitionen erweitert werden könn-te. In Frankreich stellt beispielsweise die Nahverkehrsabgabe, die durch die Arbeitgeber getragen wird, eine solche Nutznießerfinanzie-rung dar. Die Arbeitgeber profitieren von einem ÖPNV-Netz, da so die Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz besser erreichen können. Die Erträge aus der Nahverkehrsabgabe sind eine wesentliche Basis der kommu-nalen ÖPNV-Finanzierung in Frankreich, allerdings nicht nur für die In-frastruktur – in den letzten Jahren entstanden zahlreiche neue ÖPNV-Netze –, sondern auch für den Betrieb (Bundesamt für Verkehr, 2010).

Im Bereich der Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur verfügen die USA über eine lange Tradition der privaten Finanzierung. Gewerbe-treibende und Immobilienbesitzer beteiligen sich an den Kosten der ÖPNV-Infrastruktur, da sie unmittelbar von der Verbesserung der Er-reichbarkeit profitieren. Baulandentwicklungsmaßnahmen entlang von ÖPNV-Trassen sind ein mögliches Instrument zur Abschöpfung

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des Erschließungsvorteils aufgrund des damit verbundenen ökono-mischen Eigeninteresses von Grundstückseigentümern (Transit Ori-ented Development – TOD). Daneben sind LID (Local Improvement District: „Öffentliches Sanierungsgebiet“) und BID (Business Improve-ment District: „Händlergemeinschaft“) rechtliche Instrumentarien zur Abschöpfung des Erschließungsvorteils: LID werden von den Gebiets-körperschaften und BID von den örtlichen Grundstückseigentümern administriert (Mietzsch, 2010).

Für zukünftige Finanzierungskonzepte stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Nutzer- und Nutznießerfinanzierung einerseits und Fi-nanzierung durch die öffentliche Hand andererseits. Dies gilt generell für die Verkehrsfinanzierung und damit auch für den Aspekt der Bar-rierefreiheit, aber auch mit Blick auf zielgruppenorientierte Speziallö-sungen für ältere Menschen. Verdeutlicht werden kann diese Frage durch Finanzierungskonzepte für speziell auf die Belange älterer Men-schen zugeschnittene Lösungen. Zur Substitution für ältere Menschen mangels Barrierefreiheit nicht erreichbarer Stationen oder einer zu geringen Stationsdichte können ergänzende ÖPNV-Angebote (bspw. Stadtteilbus oder Quartiersbus) eingeführt werden, die die Wege zu den Haltestellen verkürzen und den älteren Menschen zur nächsten barrierefrei erreichbaren Haltestelle bringen. Weil sich solche Angebo-te kaum aus dem regulären ÖPNV-Budget finanzieren lassen, könnten hierfür besondere Komfortzuschläge erhoben werden, wobei älteren Menschen mit geringem Einkommen entsprechend des Konzepts der Subjektförderung die zusätzlichen Kosten ausgeglichen werden soll-ten. In Leipzig wird allerdings ein Stadtteilbus, der Wohngebiete mit einem Versorgungszentrum verknüpft, auch durch die Einzelhändler finanziert (Flache et al., 2011). Als eine weitere unkonventionelle Fi-nanzierungsmöglichkeit sind Bürgerbuskonzepte möglich („Senioren fahren Senioren“). Hierfür werden die Fahrzeuge durch die öffentliche Hand oder private Sponsoren zur Verfügung gestellt, während die Fahrer ehrenamtlich tätig sind.

Lösungen, die den Einzelhandel und gastronomische Betriebe mit einbeziehen, sind beispielsweise für die Aufstellung zusätzlicher Ru-hebänke im Straßenraum und die Einrichtung öffentlich zugänglicher Sanitäranlagen möglich.

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5 Resümee

Die Finanzierung der Anpassung der Verkehrsinfrastrukturen an die Anforderungen älterer Menschen berührt alle Bereiche der aktuellen Diskussion um die Verkehrsinfrastrukturfinanzierung sowie um die Finanzierung der Angebote des öffentlichen Verkehrs. Wesentliche Anforderungen älterer Menschen können durch eine barrierefreie Ge-staltung entsprechend des „Design für Alle“-Prinzips erreicht werden. Um diese Anforderungen an die Verkehrsinfrastrukturen und die An-gebote des öffentlichen Verkehrs zukünftig zu erfüllen, ist die Sicher-stellung einer soliden Basisfinanzierung durch die öffentliche Hand notwendig. Darüber hinaus sollten aber auch neue Finanzierungsan-sätze für Infrastruktur und Angebot geprüft werden, die die Nutzer und Nutznießer stärker als bisher in die Verantwortung nehmen. Gerade auch zusätzliche Dienstleistungen bzw. „Infrastruktur-Add-ons“ mit dem speziellen Fokus auf die Anforderungen älterer Menschen – wie beispielsweise zusätzliche Ruhebänke im öffentlichen Straßenraum und spezielle ÖPNV-Angebote – bieten Ansatzpunkte, die Nutzer und Nutznießer mehr als bisher üblich in die Finanzierung einzubinden.

Bei knapper werdenden Finanzmitteln ist eine stärkere Prioritäten-setzung unabdingbar. Angesichts einer älter werdenden Gesellschaft sollte bei den damit verbundenen Entscheidungen den Anforderungen älterer Menschen ein größeres Gewicht gegeben werden.

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Band 07 Bernhard Schlag und Klaus J. Beckmann (Hrsg.)

Mobilität und demografischeEntwicklung

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ISBN 978-3-8249-1757-0ISSN (Print) 1862-6432ISSN (Internet) 1862-6424

Erschienen bei TÜV Media

Eine Schriftenreihe der Eugen-Otto-Butz-Stiftung

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