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Thema der Magisterarbeit ist die kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz' Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit. Mit dem von ihm konstruierten Myographen wies der Physiologe Hermann von Helmholtz Mitte des 19. Jahrhunderts nach, dass eine bestimmte Zeit vergeht, bis es zur Reaktion bzw. Zuckung eines Muskels kommt, nachdem ein elektrischer Reiz induziert wurde.
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„Ein Mikroskop für die Zeit“
Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz'
Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit
Magisterarbeit zur Erlangung des akademischen GradesMagister Artium (M.A.) im Fach Kulturwissenschaft
Humboldt-Universität zu Berlin
Philosophische Fakultät III
Institut für Kultur- und Kunstwissenschaft
Eingereicht von:
Franziska Roeder
Betreut durch: Prof. Dr. Christian Kassung
Zweitgutachter: Prof. Dr. Wolfgang Schäffner
Berlin, Dezember 2011
Inhaltsverzeichnis
1. Helmholtz und das Experimentalsystem zur Messung der Nervenleitgeschwindigkeit.............2
2. Erste Testversuche mit der graphischen Methode und dem „einfachen Apparat“.....................6
3. Hinwendung zur präziseren elektromagnetischen Methode mit dem Galvanometer..............10
3.1 Methoden der präzisen Zeitmessung in der Ballistik........................................................11
3.2 Methode der präzisen Zeitmessung in der Physiologie...................................................14
3.3 Das „Froschgestell“.........................................................................................................17
3.3.1 Exkurs: Der Frosch als Bauteil und Maschine ........................................................20
3.3.2 Tierversuche in der physiologischen Forschung .....................................................24
3.4 Zeitmessung mit Galvanometer, Spiegel und Fernrohr – Technologietransfer aus
Geophysik und Telegraphie...................................................................................................27
3.5 Berechnung der Zeit .......................................................................................................31
3.6 Fehleranalyse mit Methoden der exakten Wissenschaften..............................................32
3.7 Die Rolle des Experiments in Helmholtz' Forschungsarbeit............................................36
4. Versuche am Menschen.........................................................................................................47
5. Rückkehr zur graphischen Methode mit dem verbesserten Myographen ..............................50
5.2 Die Aufschreibeeinheit.....................................................................................................55
5.3 Antrieb und Regelung .....................................................................................................58
5.4 Die Vorrichtung zur rechtzeitigen Auslösung des elektrischen Schlages.........................62
5.5 Ablauf des Versuchs mit dem Myographen......................................................................64
5.6 Die Methode der Kurven ................................................................................................67
5.1 Kommunikation und Rezeption der Forschungsergebnisse.............................................70
6. Schluss................................................................................................................................... 72
7. Abbildungsverzeichnis............................................................................................................77
8. Literaturverzeichnis................................................................................................................78
1
1. Helmholtz und das Experimentalsystem zur Messung der Nervenleitgeschwindigkeit
Ungläubig nahm August Helmholtz (1792-1858) die am 29. März 18491 von seinem
Sohn an ihn versendeten Zeilen auf. Der im selben Jahr auf das Amt des Physiologie-
Professors in Königsberg berufene Hermann von Helmholtz2 (1821-1894) verkündete
seinem Vater in einem Brief, er habe nachgewiesen, dass eine gewisse Zeit vergeht, bis
ein Reiz einen Muskel in Bewegung setzt.3 Der junge Helmholtz hatte im Experiment
an Froschmuskeln den Beweis erbracht, dass bis zur Reaktion eines Muskels auf einen
Stromstoß eine „messbare Zeit“4 vergeht und vergleichbare Versuche auch am
Menschen vollzogen.5 Dem Vater erschien „das Resultat [der Untersuchungen] etwas
wunderlich“6, sah er doch die „Gedanken und körperlichen Affecte nicht als ein
Nacheinander, sondern als ein Zugleich“7 an. Helmholtz' Vater stand mit dieser
Sichtweise nicht allein da. Die meisten Physiologen dieser Zeit nahmen an, Nervenreize
würden sich mit Lichtgeschwindigkeit fortpflanzen und die Messung der
Nervenleitgeschwindigkeit würde darum ausgeschlossen sein. Selbst Helmholtz' Lehrer,
der angesehene Physiologe Johannes Müller (1801-1858), hatte nur wenige Jahre zuvor
erklärt, dass aufgrund der Schnelligkeit, mit der sich Nervenreize, ähnlich wie das Licht,
fortbewegen würden, es wohl nie möglich wäre, ihre Geschwindigkeit zu ermitteln.8
Helmholtz' Entdeckung widerlegte diese Annahme. Im Zentrum dieser Arbeit steht die
Apparatur, die diese Entdeckung ermöglichte, genauer gesagt: die Apparaturen. Denn
Helmholtz bediente sich bei der Erforschung der Muskeltätigkeit und des
Nervenprinzips zweier verschiedener Methoden und infolgedessen auch
unterschiedlicher Apparate. Der erste Apparat ist der – allerdings erst später so genannte
1 Vgl.: Koenigsberger, Leo (1902): Hermann von Helmholtz. 3 Bände. Braunschweig: Friedrich Viehweg und Sohn (1). S. 1202 Vgl.: Ebd. S. 1113 Vgl.: Ebd. S. 1204 Helmholtz, Hermann von (Januar 1850): Vorläufiger Bericht über die Fortpflanzungs-Geschwindigkeit der Nervenreizung. Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin. In: Monatsbericht der Königlichen Akademie der Wissenschaften, S. 71–73, hier S. 715 Helmholtz in einem Brief vom 5. April 1850 an du Bois-Reymond. Vgl.: Dokumente einer Freundschaft. Briefwechsel zwischen Hermann von Helmholtz und Emil du Bois-Reymond 1846-1894 (1986). Hg. v. Christa Kirsten. Berlin. S. 94f.6 Koenigsberger 1902 – Hermann von Helmholtz (1). S. 1227 Ebd.: S. 1228Vgl.: Ebd. S. 118f.
2
– Myographen (Myo-, griechisch für Muskel, und -graph, von griechisch graphein für
zeichnen, also „Muskelschreiber“) ein Gerät zur automatischen Aufzeichnung der
Muskelbewegung. Helmholtz konnte mit diesem „einfachen Apparat“ bereits
nachweisen, dass eine bestimmte Zeit vergeht, bis es zur Reaktion beziehungsweise
Zuckung eines Muskels kommt, nachdem ein elektrischer Reiz induziert wurde. Um
aber präzisere Ergebnisse zu erhalten, unternimmt Helmholtz ausgedehnte Versuche mit
einer elektromagnetischen Methode. Der Anschaulichkeit halber wiederholt der
Forscher die Versuche schließlich mit einem verbesserten graphisch arbeitenden
Myographen.
In dieser Arbeit suche ich nach Faktoren, die dieses Experiment bedingten und
beeinflussten. Meine These ist, dass Helmholtz' Versuche nicht im luftleeren Raum
stattfanden, sondern dass eine Reihe von Faktoren – seien es Personen, Dinge, Wesen,
Praktiken – das Zustandekommen dieses Experiments bedingten und ihren
nennenswerten Anteil daran hatten. Mich interessiert außerdem der Kontext dieses
Experiments, in dessen Zentrum eine Maschine steht. Ausgehend von dieser Maschine,
die im Verlauf der Arbeit detailliert beschrieben und deren Einsatz im Versuchsablauf
genau nachgezeichnet werden soll, gehe ich einzelnen Aspekten nach, die eine
besondere Rolle für die Versuche spielen. Ziel dieses Unterfangens ist der Entwurf einer
Art Karte, die die beteiligten Akteure in ihrem gegenseitigen Wechselspiel und ihrem
funktionalen Zusammenwirken aufzeigt. Es wird sich zeigen, dass Helmholtz' Leistung
im Bereich der zu beschreibenden Versuche keineswegs das Produkt eines einsam in
seinem Labor werkelnden Forschergenies war, sondern ganz im Gegenteil: Der Erfolg
dieser Versuche hing maßgeblich von einer ganzen Reihe von Faktoren ab. Die
Grundlage dieser Arbeit bildet eine genaue Beschreibung des Experiments mit all seinen
Komponenten. In Anlehnung an den Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger,
der den Begriff des „Experimentalsystems“ prägte9, werde ich nicht eine Person,
Institution, Idee oder einen Diskurs in den Mittelpunkt stellen, sondern mich auf das
konkrete Experiment beziehungsweise Experimentalsystem konzentrieren. Die Rede
9 Vgl.: Schmidgen, Henning (1999): Experimentalisierung als Thema einer kulturwissenschaftlich orientierten Physiologie- und Psychologiegeschichtsschreibung. In: Physiologische und psychologische Praktiken im 19. Jahrhundert: ihre Beziehungen zu Literatur, Kunst und Technik. Workshop, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, S. 11–22. Online verfügbar unter http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/Preprints/P120.PDF, zuletzt geprüft am 22.03.2011. S. 12f.
3
von dem System zielt auf die Tatsache ab, dass im Experiment schon immer
verschiedene Komponenten zusammenwirken. Henning Schmidgen spricht in
Anlehnung an die soziologische Akteur-Netzwerk-Theorie von einem Zusammenwirken
von Aktanten, also menschlichen und nicht-menschlichen Handelnden, wie
Wissenschaftlern, Labormitarbeitern sowie diversen Apparaten zur Messung,
Manipulation und Berechnung.10 Wie ein Geograph beim Erstellen einer Landkarte
sollen auch die in dieser Arbeit gesammelten Abhängigkeitsfaktoren gleichsam einen
Beitrag zur „Kartographie“ des kulturellen Feldes leisten.11 Diesem Ansatz folgend
betrachte ich Helmholtz' Experimente zur Nervenreizung auch als ein System, in dem
verschiedene Komponenten beziehungsweise Aktanten, anorganisches und organisches
Material zusammenwirken. All diese „Teilnehmer“ generieren im Ensemble neue
Zeichen, wissenschaftliche Erkenntnisse, die im Falle des Myographen sprichwörtlich
in Form der Muskelzuckungskurven „aufgeschrieben“ werden. Sie alle, Tier, Mensch
und Maschine, humane und nonhumane Aktanten – nicht nur ein einzelnes Subjekt –
arbeiten mit an der „Graphosphäre“, die mit der Mechanosphäre des Versuchsaufbaus
verbunden ist.12
Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) entstammt der Wissenschafts- und
Technikforschung und stellt die Beziehung zwischen Mensch und Technik in den
Vordergrund.13 Ziel der Theorie ist es aber nicht, Menschen als Objekte zu betrachten
und Subjektivität auf Dinge zu übertragen, sondern ihre Trennung zu umgehen und
vielmehr von einer Verflechtung von Dingen, Menschen und Zeichen in einem hybriden
Netzwerk beider auszugehen.14 Die ANT bricht klassische Dichotomien wie
Natur/Kultur oder Subjekt/Objekt auf und setzt sie miteinander in Beziehung. Sie
betrachtet die Sphären nicht als voneinander getrennt sondern als sich schon immer
gegenseitig beeinflussend und miteinander verwoben. Insofern versteht sich die ANT
auch als Kritik der Moderne, die die Welt in sich gegenüberliegende Bereiche eingeteilt
und voneinander getrennt hat.15 Ein zentraler Begriff der ANT ist der des „Akteurs“ oder 10 Vgl.: Ebd. S. 16f.11 Vgl.: Ebd. S. 12f.12 Vgl.: Ebd. S. 1913 Vgl. im Folgenden: Belliger, Andréa; Krieger, David J. (2006): Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. In: Andréa Belliger und David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: transcript Verlag, S. 13–4714 Vgl.: Ebd. S. 1515 Vgl.: Ebd. S. 23
4
„Aktanten“ – damit kann sowohl ein Mensch als auch eine nicht-menschliche Entität
gemeint sein. Unter der Devise, die Dinge sprechen zu lassen, wird auch nicht-
menschlichen Akteuren die Fähigkeit zu handeln zugesprochen. Ein Akteur definiert
sich aber nicht als Subjekt mit Selbstbewusstsein und freiem Willen – dieser
Eigenschaften bedarf er nicht notwendigerweise.16 Und da dies sämtliche Akteure, also
auch die menschlichen, betrifft, ebnet die ANT auch den Weg für ein verändertes
Subjektverständnis, in dem das Subjekt weniger autonom und rational erscheint.17
Akteure selbst sind auch komplex, sie können im hybriden Netzwerk andere Identitäten,
Funktionen und Rollen einnehmen. Ein Beispiel dafür ist das Netzwerk von
Schusswaffe und Mensch. Die Behauptung "Schusswaffen töten Menschen" ist
materialistisch und technikdeterministisch. Die Aussage "Menschen töten Menschen,
nicht Schusswaffen" ist dagegen sozialdeterministisch, da sie davon ausgeht, dass alle
Handlung vom Menschen ausgeht und die Schusswaffe nicht zur Handlung beiträgt.
Von diesen beiden Sichtweisen distanziert sich die ANT, da sie das hybride und
heterogene Wesen der Akteure nicht mitdenken. Die Waffe für sich genommen tötet
noch nicht von selbst und der Mensch ohne Waffe will vielleicht nur verletzen. Der
Mensch mit der Waffe in der Hand beziehungsweise die Waffe in der Hand des
Menschen, werden aber zu etwas transformiert, das die Absicht hat zu töten. Beide
verschmelzen miteinander und werden jeweils zu etwas anderem, „denn der Mensch ist
ein anderer mit der Waffe in der Hand und die Waffe ist eine andere in der Hand des
Menschen.“18 Diese Beispiel soll illustrieren, dass im Zusammenwirken verschiedener
Teilnehmer etwas entsteht, das nicht als Eigenschaft einer einzelnen Komponente
zugeschrieben werden kann, sondern nur in eben diesem Zusammenwirken eine
Eigenschaft des gesamten Ensembles ist. Übertragen auf Helmholtz' Versuche zur
Nervenleitgeschwindigkeit heißt das, dass nicht ein Apparat mit seinen Einzelteilen, der
Froschmuskel und auch nicht Helmholtz als sein Konstrukteur allein verantwortlich
sind für dessen Wirkung, sondern dass sie Akteure neben vielen weiteren sind, die erst
im Zusammenspiel das Experiment ermöglichen.
16 Vgl.: Ebd. S. 3517 Vgl.: Ebd. S. 3518 Ebd. S. 42
5
Diese Arbeit ist in fünf Bereiche geteilt: Der erste Teil behandelt unter Punkt 2 den
Vorläufer des eigentlichen Myographen, einen graphisch arbeitenden Prototypen, mit
dem Helmholtz bereits erste Erkenntnisse sammelte. Da dieser Apparat aber zu
unpräzise arbeitete, entschied sich Helmholtz bei seinen weiteren Versuchen für eine
andere, genauere Methode, die mit Hilfe des Elektromagnetismus arbeitete, siehe dazu
Punkt 3. Im Laufe der Arbeit mit der elektomagnetischen Messemethode stellte
Helmholtz bereits Versuche am Menschen an – diese werden unter 4. näher beleuchtet.
Unter Punkt 5 wird schließlich der verbesserte Myograph mit all seinen Komponenten
betrachtet. Helmholtz entschied sich für neue Versuchsreihen mit diesem selbst
schreibenden Apparat, mit dem er seine bereits bewiesenen Erkenntnisse einem
Publikum viel schneller und anschaulicher präsentieren konnte.
2. Erste Testversuche mit der graphischen Methode und dem „einfachen Apparat“
Ich habe gefunden, dass eine messbare Zeit vergeht, während sich der Reiz, welchen ein momentaner elektrischer Strom auf das Hüftgeflecht eines Frosches ausübt, bis zum Eintritt des Schenkelnerven in den Wadenmuskel fortpflanzt. Bei großen Fröschen, deren Nerven 50 – 60 Millim. lang waren, und welche ich bei 2 – 6° C. aufbewahrt hatte, während die Temperatur des Beobachtungszimmers zwischen 11 und 15° lag, betrug diese Zeitdauer 0,0014 bis 0,0020 einer Sekunden.19
In seinen Versuchen zur Muskelzuckung und Nervenleitgeschwindigkeit reizte
Helmholtz den Froschmuskel und später auch den vom Muskel freigelegten – aber
immer noch mit ihm verbundenden – Nerv an unterschiedlichen Stellen. Über die im
Oktober 184920 begonnenen Versuche lieferte Helmholtz schon im Januar 1850 eine
erste Publikation ab mit dem Titel „Vorläufiger Bericht über die Fortpflanzungs-
Geschwindigkeit der Nervenreizung“.21 Helmholtz verkündete darin seine zentrale
19 Helmholtz, Hermann von (Januar 1850): Vorläufiger Bericht über die Fortpflanzungs-Geschwindigkeit der Nervenreizung. Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin. In: Monatsbericht der Königlichen Akademie der Wissenschaften, S. 71–73, hier S. 7120 Vgl.: Schmidgen, Henning (2009): Die Helmholtz-Kurven. Auf der Spur der verlorenen Zeit. Berlin: Merve Verlag. S. 7421 Helmholtz, Hermann von (Januar 1850): Vorläufiger Bericht über die Fortpflanzungs-Geschwindigkeit
6
Erkenntnis, dass sich nämlich Nervenreize in einer „messbaren Zeit“ fortbewegen. Nun
glaubten die Physiologen bis dahin, wie bereits erwähnt, dass die Reizleitung im Nerven
ähnlich wie in metallischen elektrischen Leitern mit Lichtgeschwindigkeit22 vor sich
ginge und nicht messbar sei. Aber schon Helmholtz' Kollege und Freund Emil du Bois-
Reymond (1818-1896) konnte in seinen „Untersuchungen zur thierischen Elektricität“
von 1848 zeigen, dass die Fortleitung des Reizes in den Nerven bis auf molekulare
Ebene wirksam wird und deshalb andere Vorgänge daran beteiligt sind.
Gegenwärtig wissen wir aus den Untersuchungen über die elektromotorischen Eigenschaften der Nerven von du Bois-Reymond, dass diejenige Thätigkeit derselben, durch welche die Fortleitung einer Reizung vermittelt wird, mit einer veränderten Anordnung ihrer materiellen Moleküle mindestens eng verbunden, vielleicht sogar wesentlich durch sie bedingt ist.23
Wenn also bei der Nervenleitung Veränderungen auf molekularer Ebene stattfinden, so
ist dieser Prozess nicht den imponderablen (i.e. nicht wägbaren), wie viele Physiologen
glaubten, sondern im Gegenteil den ponderablen (i.e. wägbaren) Abläufen zuzuordnen.24
Helmholtz stellt gern den Vergleich mit der Ausbreitung des Schalls her und
verdeutlicht, dass die Geschwindigkeit der Nervenleitung allein aus diesen
Gegebenheiten eine gar nicht so unmessbar schnelle sein kann.
der Nervenreizung. Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin. In: Monatsbericht der Königlichen Akademie der Wissenschaften22 Der französische Physiker Hippolyte Louis Fizeau ermittelte im Jahr 1849 auf experimentellem Wege die Lichtgeschwindigkeit mit 313.000 Kilometern pro Sekunde. Bereits im Jahr 1676 errechnete Olaf Römer anhand seiner Beobachtungen der Himmelskörper einen Wert von 311.000 Kilometern pro Sekunde. (Vgl.: Brockhaus' Konversationslexikon (1894-1896). Hg. v. Autorenkollektiv. 14. Aufl. 17 Bände. Leipzig, Berlin und Wien: F. A. Brockhaus (Leber – More, 11). Online verfügbar unter http://www.retrobibliothek.de/retrobib/stoebern.html?bandid=100181, zuletzt geprüft am 08.11.2011, S. 151) Die Geschwindigkeit der Elektrizität in metallischen Leitern ermittelte Charles Wheatstone (1802-1875) bereits im Jahre 1834, allerdings wurde die sehr hohe Geschwindigkeit (460.000 Kilometer pro Sekunde) einige Jahre später unter anderem Fizeau im Experiment korrigiert. Letzterer kam auf Werte von rund 100.000 km/s im Eisendraht und ca. 180.000 km/s im Kupferdraht. (Vgl.: Fizeau, Hippolyte Louis; Gounelle (1850): Untersuchungen über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Elektricität. In: Polytechnisches Journal (Band 117, No. XXV), S. 125–128. Online verfügbar unter http://dingler.culture.hu-berlin.de/article/pj117/ar117025, zuletzt geprüft am 08.11.2011) Helmholtz waren die Experimente zur Ermittlung der Lichtgeschwindigkeit durch Fizeau und Foucault sowie der Ermittlung der Geschwindigkeit der Elektrizität in metallischen Leitern durch Wheatstone bekannt, er erwähnte diese auch ins seinem Vortrag “Ueber die Methoden”: Helmholtz, Hermann von (1850): Ueber die Methoden, kleinste Zeittheile zu messen, und ihre Anwendung für physiologische Zwecke. Gelesen in der physikalisch-ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg, am 13. Dezember 1850. In: Königsberger Naturwissenschaftliche Unterhaltungen (2), S. 169–189. S. 176f.23 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 330f.24 Vgl.: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 330
7
Danach würde die Leitung im Nerven in die Reihe sich fortpflanzender Molekularwirkungen der ponderablen Körper gehören, zu denen z. B. die Schallleitung in der Luft und in elastischen Stoffen oder das Abbrennen einer mit explodierender Mischung gefüllte Röhre zu rechnen ist. Bei dieser Sachlage kann es nicht mehr so überraschend sein, dass die Geschwindigkeit der Leitung nicht nur messbar, sondern wie sich ergeben wird, sogar sehr mäßig ist.25
Schon in seinen früheren Versuchen fand Helmholtz heraus, dass auch bei
Muskelbewegungen chemische Prozesse ablaufen und dabei Wärme erzeugt wird (Vgl.
Kapitel 3.7).
Im Jahr 1850 veröffentlichte er den ausführlicheren 90 Seiten starken Bericht
„Messungen über den zeitlichen Verlauf der Zuckung animalischer Muskeln und die
Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den Nerven“.26 Darin beschreibt er die
verwendeten Instrumente und den Ablauf der Experimente, mit deren Hilfe er kleinste
Zeitabläufe so exakt wie möglich erfassen wollte. Das folgende Kapitel widmet sich
detailliert den in diesem Text beschriebenen Versuchen. Helmholtz' Interesse galt
zunächst den mechanischen Eigenschaften des Muskels. Dabei dienten ihm Eduard
Webers (1806-1871) Untersuchungen zur Muskelbewegungen27 als Grundlage für seine
eigenen Versuche auf dem Gebiet.28 Anders als Weber, der sich für langanhaltende
Muskelbewegungen interessierte, wollte Helmholtz momentane Muskelzuckungen
untersuchen, die durch einen kurzen Stimulus erzeugt wurden. Für ihn stellte sich damit
das Problem, einen Prozess zu betrachten, der nur für einen Bruchteil einer Sekunde
ablief.29 Um die Reaktion des Muskels auf den Reiz in seinem zeitlichen Verlauf zu
messen, wendete Helmholtz zu Beginn eine graphische Methode an. Dabei wurde ein
Froschmuskel elektrisch gereizt und die daraus folgende Zuckung auf eine gleichmäßig
rotierende Trommel aufzeichnet. Die Zuckung in ihrem zeitlichen Verlauf notierte sich
als proportionaler Raumunterschied auf die bewegte Fläche und und ermöglichte
dadurch die Ermittlung der Zeitunterschiede.30
25 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 330f.26 Helmholtz, Hermann von (1850): Messungen über den zeitlichen Verlauf der Zuckung animalischer Muskeln und die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den Nerven. Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin, S. 276–36427 Weber, Eduard (1846): Muskelbewegung. In: Rudolph Wagner (Hg.): Handwörterbuch der Physiologie mit Rücksicht auf physiologische Pathologie, 3, Teil 2. Braunschweig: Vieweg, S. 1–122.28 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 276f. 29 Vgl.: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 27830 Vgl.: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 279
8
Bereits Helmholtz' Kollege Carl Ludwig (1816-1895) bediente sich 1847 der
graphischen Methode: Sein Kymograph („Wellenschreiber“) stellte den Blutdruck sowie
Schwankungen des Luftdrucks in der Brusthöhle graphisch dar.31 Seinen eigenen
„einfachen Apparat“ ließ Helmholtz
in ganz ähnlicher Weise, wie es Ludwig mit den Höhen des Blutdruckmessers that, die Höhe aufzeichnen, bis zu welcher ein an den Muskel gehängtes Gewicht in den aufeinanderfolgenden Zeitpunkten der Zuckung erhoben wird.32
Der Apparat diente ihm vorerst nur für Testzwecke, mit dem er sich seinem
Forschungsgegenstand näherte, und auch als Modell, um sich später „den definitiven
construiren zu können“.33 Helmholtz hatte also schon in dieser Phase den Bau eines
verbesserten Apparats im Hinterkopf. Abgesehen davon, dass die graphische Methode
mit dem „einfachen Apparat“ noch mit zu vielen Fehlerquellen behaftet war, gewann
Helmholtz bereits Erkenntnisse über den Verlauf der Muskelzuckung: Im Widerspruch
zu Weber belegten die Versuche bereits, dass nicht nur organische, sondern auch
animalische Muskeln nicht im selben Augenblick der Reizung ihre Zuckung ausführen,
sondern diese erst nach der Reizung allmählich ansteigt, ihren Höhepunkt erreicht und
dann wieder verschwindet.34 Weber hatte bei seinen Versuchen festgestellt, dass
organische Muskel auf eine Reizung zeitverzögert reagieren. Bei animalischen Muskeln
könnte er diese Verzögerung nicht beobachten und betrachtete die Reaktion als
instantan. Helmholtz' Experimente konnten nun auch bei animalischen Muskeln eine
Zeitverzögerung feststellen, insofern widerlegte er Webers Erkenntnisse in diesem
31 Vgl.: Ludwig, Carl (1847): Beiträge zur Kenntnis des Einflusses der Respirationsbewegungen auf den Blutlauf im Aortensysteme. In: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin , Hg.: Johannes Müller, Berlin, Von Veit et Comp., S. 242–30232 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 279f.33 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 279f.34 Vgl.: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 282f.
9
Abbildung 1: Graphische Darstellung der Muskelbewegung als Kurve, die mit dem einfachen Apparat erstellt wurde.
Punkt.35 Allerdings erschien Helmholtz sein erster einfacher Apparat nicht präzise und
akkurat genug, um mehr Aufschluss über den genauen Verlauf der Muskelzuckung zu
geben.
3. Hinwendung zur präziseren elektromagnetischen Methode mit dem Galvanometer
Um präzisere Ergebnisse zu erhalten, entschied sich Helmholtz bei seinen weiteren
Versuchen für eine andere Methode der Zeitmessung, die sich an einen von Claude
Pouillet36 (1791-1868) konstruierten Apparat anlehnte. Dieser verwendete die Methode
1844 bereits für artilleristische Zwecke.37 Als Messgerät diente ein Galvanometer, also ein
verfeinerter Multiplikator. Helmholtz hatte bei seinen Experimenten zum Stoffverbrauch in
Muskeln schon mit Multiplikatoren (dazu mehr im Kapitel 3.7) gearbeitet und nutzte nun
das präzisere Galvanometer. Jede Änderung der Stromstärke wurde bei dieser Methode
durch eine bewegliche Magnetnadel auf einer Skala angezeigt. Der Bogen, den der in
Schwingung versetzte Magnet beschrieb, war dabei der zu messenden Zeit proportional.38
Diese Methode ermöglichte die präzise Messung kleinster Zeiteinheiten. Helmholtz
schwärmte, dass „bis jetzt noch keine Grenze der Kleinheit von Zeittheilen abzusehen [ist],
deren Messung auf diese Weise nicht möglich werden sollte […].“39
35 Webers Definition animalischer und organischer Muskeln in Wagner (1846): „Animalische Muskeln nenne ich die, welche, wenn sie gereizt werden, augenblicklich in Zusammenziehung geraten, und auch ebenso schnell wieder in dieser Zusammenziehung nachlassen, sobald die Reizung aufhört. Organische Muskeln sind die, welche nicht im Momente einer schnell vorübergehenden Reizung, sondern erst eine Zeit darauf zur Zusammenziehung angereizt werden und deren Bündel dadurch successiv in einer gewissen Ordnung und Aufeinanderfolge in Zusammenziehung gerathen könnte.“ (Weber, Eduard (1846): Muskelbewegung. In: Wagner, Rudolph (Hg.): Handwörterbuch der Physiologie mit Rücksicht auf physiologische Pathologie. Braunschweig: Vieweg, 3, Teil 2, S. 1–122, hier S. 3) Zu den animalischen Muskeln zählte Weber „alle Haut- und Skelettmuskeln: die Muskeln der Zunge, des Gaumens, des Rachens und Kehlkopfes, das Zwerchfell, die Muskeln des Afters, des Gliedes, und die, durch welche wir den Austritt des Harnes hemmen oder gestatten können.“ (Ders. S. 2)36 Pouillet, Claude (1845): Pouillet, über ein Mittel zur Messung äußerst kurzer Zeiträume. In: Polytechnisches Journal 96, S. 196–20137 Vgl.: Helmholtz, Hermann von (1850): Ueber die Methoden, kleinste Zeittheile zu messen, und ihre Anwendung für physiologische Zwecke. Gelesen in der physikalisch-ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg, am 13. Dezember 1850. In: Königsberger Naturwissenschaftliche Unterhaltungen (2), S. 169–189, hier S. 179f.38 Vgl.: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 27939 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 284f.
10
Diese Methode machte Zeit sichtbar, ohne sie zu fixieren, schrieb sie nicht als Kurve, verwandelte sie in keine Spur, sondern machte sie – ähnlich wie bei einer Uhr – auf einer Skala ablesbar, um sie dann in Zahlenwerten notieren zu können.40
In Helmholtz' Anwendung dieser Methode schlug die Nadel des Galvanometers aus,
sobald ein elektrischer Stromstoß in den Muskel induziert wurde. Mit dem elektrischen
Schlag begann also der zeitmessende Strom und die daraufhin erfolgende
Muskelzuckung sorgte wiederum dafür, dass derselbe Stromkreis unterbrochen wurde.41
3.1 Methoden der präzisen Zeitmessung in der Ballistik
Das Messen kleinster Zeiträume war zwar ein Novum zu jener Zeit, aber zu
vergleichbaren Zwecken waren bereits vor Pouillet Apparate zur Messung der
Geschwindigkeit von Geschützkugeln gebaut worden. Helmholtz waren Versuche dieser
Art bekannt und er berichtet darüber in seinem Vortrag „Ueber die Methoden, kleinste
Zeittheile zu messen, und ihre Anwendung für physiologische Zwecke“, den er am 13.
Dezember 1850 in der physikalisch-ökonomischen Gesellschaft in Königsberg hielt.42
Die Vorrichtungen zur präzisen Geschwindigkeitsmessung waren so konstruiert, dass sie
Zeitunterschiede in Raumunterschiede umwandelten. Ein rotierender und mit einer
Skala versehener Zylinder wurde dazu mit einer bestimmten Geschwindigkeit in
Drehung versetzt. Eine Spitze sollte dann beim jeweiligen Ereignis, also beim Abschuss
einer Kugel sowie beim Auftreffen derselben an einer Stelle mit bekannter Entfernung,
auf der Zylinderfläche eine Markierung einritzen. Das Hauptproblem bei diesen
Messungen war, den Registriervorgang mit dem zu messenden Vorgang zu
synchronisieren. Die Lösung dieses Problems stellte auch bei Helmholtz' eigenen
Versuchen eine äußerst große Herausforderung dar und wird im Kapitel 3.4 genauer
erläutert. Im Fall der ballistischen Versuche setzte man anfangs noch einen Beobachter
ein, der beim Auftreffen der Kugel den rotierenden Zylinder mit der angelegte Spitze
ritzen. Diese Methode war absolut ungeeignet für das Messen kleinster Zeiteinheiten.
40 Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 7541 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 28542 Vgl. im Folgenden: Helmholtz 1850 – Ueber die Methoden
11
Helmholtz begründet dies mit der Ungenauigkeit der menschlichen Sinne, insbesondere
wenn an der Zeiteinschätzung verschiedenen Sinnesorgane beteiligt sind, wie im Fall
der Geschützkugeln Ohr – Hören des Auftreffens – und Auge – Setzen der Markierung
auf dem Zylinder.
Helmholtz zog zum besseren Verständnis seines Arguments ein Beispiel aus der
Astronomie heran, wo verschiedene Beobachter immer wieder zu unterschiedlichen
Zeitangaben in Bezug auf die Bewegung von Himmelskörpern kamen. Die Astronomen
orientierten sich nämlich am Pendelschlag der Uhr und glichen das akustische Signale
mit dem durch das Fadenkreuz des Fernrohrs beobachteten Weg des Sternes ab. Die
Versuchsreihen der einzelnen Astronomen waren durchaus stimmig, aber im Vergleich
zu Beobachtungen anderer Astronomen ergaben sich Abweichungen von bis zu einer
Sekunde. Mit einer Zeitverzögerung von einer ganzen Sekunde scheidet die
menschliche Wahrnehmung als Messmittel kürzester Zeitvorgänge jedoch aus. „Sobald
1/10 Secunde oder noch kleinere Theile mit Sicherheit beobachtet oder gar gemessen
werden sollen, müssen wir künstliche Hülfsmittel anwenden“43, konstatierte Helmholtz.
Jeder kann selbst an sich beobachten, wie einzelne optische oder akustische Signale ab
einer bestimmten Taktfrequenz miteinander verschmelzen und nicht mehr
auseinandergehalten werden können. Zwei hintereinander wahrgenommene optische
Erscheinungen werden mit bis zu einer Zehntelsekunde Unterbrechung noch als
getrennt erkannt. Sobald die Unterbrechung jedoch geringer wird, verschmelzen die
Erscheinungen miteinander, wie „der continuirliche Feuerkreis, den eine glühende
Kohle rasch im Kreise geführt hervorbringt“.44 Und auch das Ohr kann ab einer
gewissen Takfrequenz – Helmholtz nennt 32 Signale pro Sekunde als Limit – einzelne
Töne nicht mehr voneinander unterscheiden und nimmt stattdessen „einen gleichmäßig
anhaltenden Ton, diesen desto höher, je schneller die Stöße sich folgen“45 wahr. In den
ballistischen Versuchen behalf man sich inzwischen mit mechanischen Vorrichtungen
zur Vermittlung des Auftreffens der Kugel zur Registrierapparatur, aber auch dieser
Vorgang nahm zu viel Zeit in Anspruch. Louis Breguet (1804-1883) und Charles
43 Ebd. S. 17244 Ebd. S. 170f.45 Ebd. S. 170f.
12
Wheatstone (1802-1875) waren die ersten, die zur Übertragung des Aufpralls der Kugel
Strom einsetzten. Der Stift, der auf dem Zylinder die Markierung setzen sollte, wurde
bei dieser Variante von einem Elektromagneten gehalten und stand in elektrisch
leitender Verbindung mit einem Netz. Traf die Kugel auf dieses Netz, wurde die
Stromkreis unterbrochen und die Magnetisierung aufgehoben. Der Magnet gab den Stift
frei, welcher sodann die Markierung auf dem Zylinder setzte. Aber auch dieses Prinzip
war noch zu ungenau, wie Helmholtz bemängelte: Zum einen brauchte die Spitze, bis
sie vom Elektomagneten losgelassen wurde, zu lange um auf den Zylinder zu fallen –
dadurch waren die Messungen nicht genauer als eine Sechzigstel Sekunde. Zum anderen
war der Magnetismus nicht konstant zu halten, was sich wiederum auf die
Fallgeschwindigkeit der Zeichenspitze auswirkte.46
Ernst Werner Siemens (1816-1892), damals Lieutenant der preußischen Artillerie,
perfektionierte den Apparat schließlich auf eine Genauigkeit von bis zu einer
Vierzigtausendstel Sekunde.47 Er hatte in seiner Konstruktion alle mechanischen
Vermittlungsstücke beseitigt und die „Elektricität selbst zeichnen […] lassen“.48 Indem
alle Teile – die Zeichenspitze, der rotierende Zylinder und das metallische Netz, auf das
die Geschützkugel traf – in leitender Verbindung standen, konnte ein elektrischer Funke
im entsprechenden Moment auf der polierten stählernen Zylinderoberfläche eine dunkle
Spur hinterlassen, die als Markierung diente. Sowohl der elektrische Funke als auch die
Leitung des Stromes dauerten nur eine verschwindend geringe Zeit.49 „Diese Methode
erlaubt es, die ganze Genauigkeit, welche der rotirende Cylinder zulässt, nutzbar zu
machen, also die Zeit bis auf Vierzigtausendtheile einer Secunde zu beflimmern.“50
Helmholtz hatte mit Siemens' Apparatur also eine Methode entdeckt, die zwar aus dem
militärischen Gebrauch stammte, die aber die Genauigkeit erreichte, die er auch bei
seinen eigenen Versuchen erzielen wollte.
46 Vgl.: Ebd. S. 17547 Siemens, Werner (1845): Ueber die Anwendung des elektrischen Funkens zur Geschwindigkeits-messung. Gelesen in der physikalischen Gesellschaft zu Berlin am 3. Oktober 1845. In: Poggendorff's Annalen 66, S. 435–445. Online verfügbar unter http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k15151j.langEN, zuletzt geprüft am 21.10.201148 Helmholtz 1850 – Ueber die Methoden, S. 17549 Vgl.: Ebd. S. 175f.50 Ebd. S. 175f.
13
3.2 Methode der präzisen Zeitmessung in der Physiologie
Jedoch war Helmholtz nicht der erste, der die Methoden zur präzisen Zeitmessung aus
der Ballistik in die Physiologie übernahm. Vor ihm stellte sein Freund und Kollege Emil
du Bois-Reymond (1818-1896) erste Überlegungen zum Einsatz der Kurzzeitmessung
nach Pouillet in der physiologischen Forschung an und erörterte das Thema am 7. März
1845 vor der Physikalischen Gesellschaft.51 In der Physikalischen Gesellschaft trafen
sich regelmäßig junge Forscher aus der Physik und anderen Disziplinen, Ingenieure,
Mechaniker und sogar Militär-Lieutenants, wie Werner von Siemens52, und diskutierten
Ideen und Theorien.53 Im Rahmen dieser Treffen entwickelten die Teilnehmer auch die
Idee für das Forschungsprogramm der Organischen Physik. Die Vertreter der
Organischen Physik wollten „aus der Physiologie anstatt der Lehre vom Leben eine
Lehre von feinen elektrischen, optischen, akustischen und anderen Apparaten“54
machen. Die Methoden entnahmen sie der modernen Physik, hatten sie selber doch
keine physiologischen Experimente gelernt.55 Eine zentrale Figur in der Entwicklung
dieser Forschungsrichtung war Heinrich Gustav Magnus (1802-1870), Helmholtz'
Lehrer in der Physik, der auch die Physikalische Gesellschaft gründete. Über den
Vortrag, den du Bois-Reymond im März 1845 in dieser Gesellschaft hielt, schrieb ein
Jahr später das französische Magazin „Revue scientifique et industrielle“56:
Herr du Bois-Reymond hat das Projekt einer Methode vorgestellt, um die Geschwindigkeit der Fortpflanzung des Nervenprinzips und der der Muskeltätigkeit experimentell zu bestimmen. Diese Methode beruht wesentlich auf dem von Herrn Pouillet angegebenen Prinzip für die Messung […] äusserst kurzer Zeiträume. […] Man muss dies nur so anstellen, dass der Strom durch die Wirkung und genau im Augenblick der Kontraktion unterbrochen wird, welche durch die Herstellung des [Strom-]Kreislaufs bewirkt worden ist.57
51 Vgl. : Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 11552 Vgl: Brain, Robert M.; Wise, Norton M. (1994): Indicator Diagrams and Helmholtz's Graphical Methods. In: Lorenz Krüger (Hg.): Universalgenie Helmholtz. Rückblick nach 100 Jahren. Berlin: Akademie Verlag, S. 124–145, S. 12653 Hörz, Herbert (1994): Physiologie und Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Briefe an Hermann von Helmholtz. Marburg (Lahn): Basilisken-Presse. S. 169f.54 Radl, Emanuel (1909): Geschichte der biologischen Theorien in der Neuzeit. 2 Bände. Leipzig: Verlag von Wilhelm Engelmann (2), S. 81 55 Vgl.: Ebd. S. 81 56 Anonymus (1846): Progrès des sciences physiques hors de France, Revue scientifique et industrielle 11, S. 81-96, Zitiert nach: Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 11557Anonymus (1846): Progrès des sciences physiques hors de France, Revue scientifique et industrielle 11, S. 81-96, S. 82, Zitiert nach: Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 115
14
Du Bois-Reymonds Tätigkeit beschränkte sich zunächst nur auf theoretische
Erwägungen, entsprach aber im Prinzip der Methodik und Herangehensweise, derer
Helmholtz sich vier Jahre später bediente. Noch vor Helmholtz' Versuchen zu diesem
Thema, im Jahr 1847, ein Jahr nach Erscheinen des kleinen Berichts über du Bois-
Reymonds in der „Revue“ und zwei Jahre nach dessen Vortrag, beschäftigte sich auch
der italienische Physiker und Telegraphenexperte Carlo Matteucci (1811-1868) mit den
neuen Chronographen58 und berichtete über seine ersten Experimente in den
„Philosophical Transactions“.59 Ähnlich wie Helmholtz später, stellte er Messungen zur
Dauer der Kontraktion von Froschmuskeln an und arbeitete dabei ebenfalls mit
Gewichten und elektrischem Strom zur Reizung. Matteuccis „Chronometer“ basierte auf
der bereits erwähnten Methode zur Messung der Geschwindigkeit von Projektilen, wie
sie Wheatstone und Breguet anwendeten. Letzterer fertigte sogar Matteuccis Apparat in
Paris an. Im Gegensatz zu Helmholtz interessierte sich Matteucci aber für die Zeit
zwischen zwei Muskelkontraktionen und nicht für die Muskelkontraktion selbst,
geschweige denn die Nervenreizung. Außerdem basierte das elektromagnetische
Verfahren, das Matteucci bei seinen ersten Versuchen anwendete, nicht auf der Pouillet-
Methode.
In einer zweiten Versuchsreihe setzte Matteucci plötzlich auf ein anderes, nämlich ein
graphisches Verfahren aus der Dampfmaschinentechnik und berief sich dabei auf James
Watt, der mit dieser Technik die sogenannten Indikatordiagramme erstellte, die
Aufschluss über die Geschwindigkeit der Kolben in den Maschinen gaben.60 Matteucci
wendete also, ein Jahr bevor Helmholtz sein Myographion und im selben Jahr, in dem
Carl Ludwig sein Kymographion konstruierte, bereits eine an der Dampfmaschinen-
technik orientierte Kurvenzeichnungsmethode für die physiologische Forschung an
Muskeln ein. Leider lieferte Matteucci keine konkreten Ergebnisse sondern nur
summarische Feststellungen, und er war auch nicht in der Lage, mit der graphischen
Methode präzise Zeitmessungen vorzunehmen. Gleichwohl war der italienische
Forscher derjenige, der die neuen Methoden der präzisen Zeitmessung in der
58 Vgl. im Folgenden: Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven , S. 11759 Matteucci, Carlo (1847): Electro-Physiological Researches. Seventh and Last Series. Upon the Relation between the Intensity of the Electric Current, and That of the Corresponding Physiological Effect. In: Transactions of the Royal Society London (137), S. 243–24860 Ebd.: S. 246
15
Physiologie anwendete, nachdem du Bois-Reymond diese Anwendung zuerst als Idee
vorbrachte. Und es gibt eine weitere Parallele zu Helmholtz' Herangehensweise: Schon
Matteucci nutzte für seine Versuche zwei verschiedene Methoden – eine
elektromagnetische und eine graphische. Du Bois-Reymond war mit Matteuccis
Arbeiten zur tierischen Elektrizität vertraut – er war von Johannes Müller damit betraut
worden, die Versuche des Italieners zu diesem Thema zu wiederholen und
weiterzuführen.61 Gleichwohl stand du Bois-Reymond ihm und seiner Arbeit kritisch
gegenüber, sowohl was die technischen Aspekte betraf als auch die Art und Weise des
Veröffentlichens.62 Er versuchte insgesamt sorgfältiger zu arbeiten und bemängelte
außerdem Matteuccis fehlende Anerkennung von fremder Urheberschaft in seinen
Veröffentlichungen. Du Bois-Reymond hatte in dieser Hinsicht bereits Erfahrungen mit
Matteucci gemacht. In einem nicht abgeschickten Brief an Humboldt vom 20. Mai
1845, in dem auch Matteuccis Name fiel, beklagte du Bois-Reymond die
Tendenz einiger Physiker, das Studium ihrer eigenen Untersuchungen vorausgegangener Schriften völlig zu unterlassen und niemals die Namen derjenigen zu nennen, denen sie mitunter die grundlegende Idee ihrer Arbeit verdanken.63
Matteucci unterließ es auch in seinen elektro-physiologischen Versuchen zur
Muskelkontraktion von 1847, auf den möglichen Ideengeber du Bois-Reymond zu
verweisen.64 Möglicherweise hatte du Bois-Reymond Helmholtz auf Matteuccis
Arbeiten auf diesem Gebiet hingewiesen. Helmholtz bat du Bois-Reymond jedenfalls in
einem Brief Ende Juli 1847, ihm den „Aufsatz von Matteucci“ zu verschaffen.65 Es lässt
sich allerdings nicht mehr feststellen, ob es sich tatsächlich um jene Veröffentlichung
Matteuccis in den Philosophical Transactions von 1847 handelte.
Im Gegensatz zu Matteucci wendete sich Helmholtz nach seinen ersten Versuchen mit
der graphischen Methode wie erwähnt der elektromagentischen Messmethode nach
Pouillet zu. Wie er diese Methode für seine Zwecke adaptierte, soll im Folgenden
61 Du Bois-Reymond, Emil (1848): Untersuchungen über thierische Elektricität. 2 Bände. Berlin: Georg Reimer (1). Online verfügbar unter http://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/references?id=lit92&page=a0001, zuletzt geprüft am 01.12.2010. S. V62 Vgl.: Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 12263 Zitiert nach: Ebd. S. 126f.64 Vgl.: Ebd. S. 13065 Vgl.: Ebd. S. 130
16
genauer erläutert werden. Die Apparatur, die Helmholtz für seine Versuche benutzte,
und in den „Messungen“66 beschreibt, erfüllte drei Funktionen: Ein Teil der Vorrichtung
diente der „Erregung, Leitung und [...] Messung der Wirkung des zeitmessenden
Stromes“67. Weitere Bauteile waren für die Erregung eines zweiten Stromes
verantwortlich, der entweder den Muskel oder den Nerv reizen sollte. Danniellsche
Elemente (galvanische Batterien)68 lieferten im Zusammenspiel mit den Strom
verstärkenden Drahtspiralen den Stromstoß. Die Leitung erfolgte durch Kupferkabel,
die über Kontakte aus verschiedenen Metallen (Platin, Gold, Amalgam) oder über
Quecksilbernäpfe verbunden waren. Ein dritter Vorrichtungsteil sorgte dafür, dass
sobald der Muskel zuckt, der zeitmessende Strom unterbrochen wurde. Vom
letztgenannten Apparatsteil fertigte Helmholtz eine detaillierte Skizze an, die in den
„Messungen“ in Figur 1 und Figur 2 in verschiedenen Ansichten abgebildet ist.69 Mit
diesem „Froschgestell“ beginnt seine Beschreibung, die im folgenden Kapitel
zusammenfasst ist.70
3.3 Das „Froschgestell“
Das Gestell war gerüstartig zu einem Turm aufgebaut, wobei der obere Teil von einer
Glaskuppel bedeckt war. Unter dieser Kuppel war der freigelegte Wadenmuskel eines
Frosches aufgehängt. Mittels einer Schraube ließ sich die Aufhängung drehen,
verschieben sowie höher und tiefer stellen. Der Nerv war freigelegt, blieb aber mit dem
Muskel verbunden. Der Raum unter der Kuppel war fast vollständig geschlossen, sodass
66 Vgl. im Folgenden: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 285f.67 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 28568 Daniellsche Elemente funktionieren nach dem Prinzip der galvanischen Batterie, wie Volta sie erfunden hat. Dabei werden zwei verschiedene Metalle, in diesem Fall Kupfer und Zink, in Säuren getaucht und leitend verbunden. „Das Daniellsche Element [...] besteht aus Zink in verdünnter Schwefelsäure und Kupfer in einer gesättigten Lösung von Kupfervitriol; die verdünnte Schwefelsäure befindet sich in einem cylindrischen Gefäß [...] aus porösem Thon (Biskuit), die Kupfervitriollösung in dem Glasgefäß selbst; die fein poröse Scheidewand verhindert die Vermischung der Flüssigkeiten, aber nicht den Durchgang des Stroms, da sie wie Fließpapier von der Flüssigkeit durchtränkt und dadurch leitend wird.“ Vgl.: Meyers Konversationslexikon (1885-1892). Hg. v. Autorenkollektiv. 4. Aufl. 19 Bände. Leipzig und Wien: Verlag des Bibliographischen Instituts (China - Distanz, 4), S. 872. Online verfügbar unter http://www.retrobibliothek.de/retrobib/stoebern.html?bandid=100157, zuletzt geprüft am 25.11.201169 Vgl.: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 36570 Vgl. im Folgenden: Ebd. S. 287ff.
17
er mit Feuchtigkeit angereichert werden konnte. „Die Luft in der Glocke wird durch
nasse Pappe feucht erhalten […]; es wurde dadurch möglich, den ganz frei liegenden
Nerven 3-4 Stunden leistungsfähig zu halten.“71 Nerv und Muskel wurden über
Kupferdrähte an die Stromquelle angeschlossen. Die Drähte standen an verschiedenen
Stellen über Quecksilbernäpfe in leitender Verbindung und konnten an einer beliebigen
des Nerven oder direkt am Muskel befestigt werden, je nachdem, wo der Stromschlag
induziert werden sollte.
An der Unterseite des Muskels war ein stählerner
Haken eingehängt, der ein leitendes
Zwischenstück trug, an dessen unteren Ende eine
Schale mit Gewichten befestigt war. Das
Zwischenstück bestand aus einem stählernen
Rahmen und einem Strom leitenden Teil, welcher
zur Leitung des „zeitmessenden Stroms“ diente.
Zum Strom leitenden Teil gehörten zwei
Kupferschrauben, von denen die obere eine
abgerundete Goldkuppe und die untere eine
amalgamierte Spitze hatte. Die Goldkuppe ruht
auf einem Goldplättchen und die amalgamierte
Spitze der unteren Schraube konnte mit einem
Quecksilbernapf, das auf einer isolierenden
Guttapercha72-Platte ruhte, in Berührung gebracht
werden. Von dem Quecksilbernapf führte ein
Draht in ein weiteres mit Quecksilber gefülltes Gefäß und stellte damit eine Strom
leitenden Kontakt her. Durch die Belastung des Zwischenstücks und mit Hilfe der
Höhenverstellung wurde der Muskel so weit gesenkt, dass die Goldkuppe das
Goldplättchen gerade berührt. Bei der geringsten Energiesteigerung würde der Muskel
71 Ebd. S. 28772 Guttapercha ist ein kautschukähnliches Material, dass aus dem Milchsaft des Guttaperchabaumes gewonnen wird. Ab 1844 wurde das aus Indien importierte Material auch im deutschen Kulturkreis bekannt und für technische Zwecke eingesetzt. Es zeichnet sich im Unterschied zum Kautschuk durch eine besondere Zähigkeit und Dehnbarkeit aus, denn es wird erst bei Wärmeinwirkung weich und formbar. Kühlt es wieder ab, erlangt das Material wieder seine vorherige Festigkeit. Vgl.: Guttapercha. In: Autorenkollektiv (Hg.) (1884): Merck's Warenlexikon. 3. Aufl. Leipzig: Verlag von G. A. Gloeckner. S. 183. Online verfügbar unter http://www.retrobibliothek.de/retrobib/stoebern.html?bandid=384, zuletzt geprüft am 15.11.2011
18
Abbildung 2: Das Froschgestell beherbergte unter der Glaskuppe oben den eingehängten Froschmuskel, an dem der stromleitende Teil mit mehreren Kontakten und die Schale mit den Gewichten hing.
das Zwischenstück minimal anheben und die Goldkuppe von dem Goldplättchen lösen.
Zusätzlich zu dieser Einstellung wurde in die untere Schalenaufhängung ein bestimmtes
Gewicht gelegt, sodass der Muskel überbelastet war und nicht stärker gespannt werden
konnte.
Wenn jetzt der Muskel gereizt wird, ist es klar, dass er das Gewicht erst dann heben kann, wenn seine elastische Spannung gleich der Summe der Belastung und Überbelastung geworden ist. Es wird also jetzt der zeitmessende Strom, welcher […] durch das stromführende Zwischenstück und die amalgamierte Kupferspitze in das Quecksilber […] übergeht, erst in dem Augenblicke unterbrochen werden, wo die elastische Spannung des Muskels sich um eine, durch die Schwere der Überbelastung genau zu messende Größe vermehrt haben.73
Helmholtz variierte das Gewicht, mit dem er den
Muskel zusätzlich belastete, um näher
charakterisieren zu können, mit welcher
Geschwindigkeit dieser das Gewicht hob, welcher
Leistung der Muskel also erbringen konnte.74 Die
Elastizität des Muskels bereitete Helmholtz
allerdings auch Probleme, denn er blieb selten in
ein und derselben Position – wurde er belastet,
dehnte er sich immer noch ein Stück weiter und
nach der Kontraktion dauerte es eine Weile, bis er wieder die ursprüngliche Position
einnahm. Man spricht hier von der Dilatation des Muskels.75 Um die Probleme, die die
Dilatation bei der Schließung und Öffnung des Stromkreises verursachte, zu umgehen,
hatte Helmholtz unter dem Goldkontakt einen weiteren Kontakt in das leitende
Zwischenstück eingefügt, der, wie oben erwähnt, auf der Guttapercha-Platte ruhte. Der
Kontakt bestand aus einer amalgamierten Kupferspitze, die sich oberhalb eines
Kupfernäpfchens befand. Für den Versuch hob man die Guttapercha-Platte mit dem
Quecksilbernapf leicht an, sodass die Kufperspitze in denselben eintauchte, und legte
die Platte wieder vorsichtig ab. Dabei zog sich das Quecksilber kegelförmig nach oben
(Vgl. Abb. 4) und blieb so mit der Kupferspitze im leitenden Kontakt. Zuckte nun
infolge einer elektrische Reizung der Muskel und zog sich dabei zusammen, riss der
73 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 28974 Vgl.: Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 7975 Vgl.: Ebd. S. 83
19
Abbildung 3: Der Quecksilberkontakt wirkte dem Problem der Dilatation des Muskels entgegen.Die Kupferspitze (violett) stand mit dem in Tropfenform gezogenen Quecksilber (grün) in leitender Verbindung. (Grafikausschnitt eingefärbt von d. Verf.)
Quecksilberkontakt. Das Quecksilber nahm seine ursprünglich rundliche Form wieder
an und der Kontakt blieb dauerhaft unterbrochen.
Die Verbindung zwischen den ersten beiden Bereichen der Forschungsmaschine von Helmholtz, dem Froschgestell und dem Galvano-Chronometer, war also keine punktuelle. Es war eine kegel- oder tropfenartige nasse Schnittstelle, gebildete durch nichts anderes als die Oberflächenspannung des Quecksilbers.76
3.3.1 Exkurs: Der Frosch als Bauteil und Maschine
Helmholtz verwendete für seine Versuche die ausgeschnittenen Wadenmuskel von
Fröschen. Die Muskeln warmblütiger Tiere verloren nach dem Tod schnell ihre
Reizbarkeit und auch Fischmuskeln reagierten viel schwächer auf Reize.77 Stefan Rieger
geht in dem Beitrag „Der Frosch – ein Medium?“78 der Frage nach, inwieweit das
Experimentalobjekt Frosch als Medium und Messgerät betrachtet werden kann. Den
Ursprung dieser Betrachtungsweise findet er in der Kontroverse zwischen Galvani und
Volta. Der Werdegang des Frosches als eine „Figur des Wissens“ ist eng verknüpft mit
den Experimenten, die Luigi Galvani (1737-1798) anstellte. Dieser entdeckte zufällig,
dass die Schenkel eines sezierten Frosches jedes Mal zuckten, sobald ein Funke aus der
im Labor befindlichen Elektrisiermaschine79 schlug.80 Galvani meinte die Lebenskraft
entdeckt zu haben, die als eine in den Froschmuskeln gespeicherte thierische Elektrizität
zu Tage träte.81 Die Idee der Lebenskraft diente im 18. und zu Beginn des 19.
Jahrhunderts in der Physiologie als Erklärungsmodell für bislang unerforschte Prozesse
76 Ebd. S. 8377 Vgl.: Helmholtz, Hermann von (1845): Ueber den Stoffverbrauch bei der Muskelaktion. In: Johannes Müller (Hg.): Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin. Berlin: Veit & Comp., S. 72–83. S. 73f.78 Vgl. im Folgenden: Rieger, Stefan (2008): Der Frosch – ein Medium? In: Stefan Münker und Alexander Roesler (Hg.): Was ist ein Medium? Frankfurt/M., S. 285–30379 Zu Begriff und Funktion der „Elektrisiermaschine“ vgl.: Autorenkollektiv (Hg.) (1885-1892): Meyer's Konversationslexikon. 4. Aufl. 19 Bände. Leipzig und Wien: Verlag des Bibliographischen Instituts (Distanzgeschäft - Faidherbe, 5). S. 527f. Online verfügbar unter http://www.retrobibliothek.de/retrobib/stoebern.html?bandid=100158, zuletzt geprüft am 13.11.201180 Vgl.: Galvani, Aloisius (1791): Abhandlung über die Kräfte der Elektricität bei der Muskelbewegung. Oswald’s Klassiker der exakten Wissenschaften Nr. 52, Hg. von A.J. von Oettingen. Leipzig. S. 481 Rieger, Stefan (2008): Der Frosch – ein Medium? In: Stefan Münker und Alexander Roesler (Hg.): Was ist ein Medium?, 285-303. Frankfurt/M. S. 291
20
im Organismus. Der sogenannte Vitalismus beherbergte verschiedene
Erscheinungsformen dieser Idee. Georg Ernst Stahl (1659-1734) zum Beispiel
postulierte die „anima sive natura“82, eine Art Lebensseele, die „über den passiven Stoff
und die Apparate des Organismus“83 herrscht und diese dirigiert. In Christoph Wilhelm
Hufelandts (1762-1836) Theorie ist die Lebenskraft „das feinste, durchdringendste,
unsichtbarste Agens der Natur, das wir bis jetzt kennen“84, er verglich es auch mit dem
Licht sowie der elektrischen und magnetischen Kraft. Sogar Johannes Müller hing noch
der Lehre von der Lebenskraft an, wie schon eingangs erwähnt. Seine Schüler jedoch
betrachteten dieses Konzept als „eine unnötige, mit den Experimenten nicht in Einklang
stehende Annahme.“85
Die „Organischen Physiker“ wollten den Vitalismus und die Idee einer übernatürlichen,
naturwissenschaftlich nicht feststellbaren86 Lebenskraft aus der Physiologie verbannen
und stattdessen die „Physiologie als einen Zweig der Physik und Chemie cultiviren“87.
Das Konzept der Lebenskraft war mit den experimentell ausgerichteten
Naturwissenschaften nicht vereinbar. Zur Zeit von Galvanis Versuchen mit tierischer
Elektrizität erlebten die Ideen von der Lebenskraft jedoch noch ihre volle Blüte.
Kurz nach Galvani führte Alessandro Volta (1745-1827) die Versuche nach dessen
Beispiel durch. Ihm fiel die leichte Reizbarkeit des Froschpräparats auf. Es reagierte
schon bei geringsten Ladungen, bei denen jedes Strommessgerät jener Zeit versagt
hätte.88 Für Volta war der Frosch ein besseres Messgerät für die Elektrizität; er verglich
das organische Material des Frosches also mit einer Maschine: „Dieser thierische
Elektrometer, mit Recht kann man ihn so nennen, übertrifft alle andere noch so
empfindlichen Elektrizitätsmesser, durch das Anzeigen der schwächsten Ladungen.“89
82 Rothschuh, Karl E. (1968): Physiologie. Der Wandel ihrer Konzepte, Probleme und Methoden vom 16. bis 19. Jahrhundert. Freiburg/München: Karl Alber. S. 15283 Ebd. S. 15284 Ebd. S. 17385 Hörz 1994 – Physiologie und Kultur, S. 165f.86 Vgl.: Hörz, Herbert; Wollgast, Siegfried (1986): Hermann von Helmholtz und Emil du Bois-Reymond. Wissenschaftsgeschichtliche Einordnung in die naturwissenschaftlichen und philosophischen Bewegungen ihrer Zeit. In: Dokumente einer Freundschaft. Briefwechsel zwischen Hermann von Helmholtz und Emil du Bois-Reymond 1846-1894 (1986). Hg. v. Christa Kirsten. Berlin, S. 11–6487 Koenigsberger, Leo (1902): Hermann von Helmholtz. 3 Bände. Braunschweig: Friedrich Viehweg und Sohn (1). S. 5088 Vgl.: Rieger 2008 – Der Frosch – ein Medium?, S. 29189 Volta, Alessandro (1900): Briefe über thierische Elektricität (1792). Oswald’s Klassiker der exakten
21
Entgegen Galvani vermutete Volta im Frosch eine metallische Elektrizität, wie sie bei
der Verbindung unterschiedlicher Metalle mit einer leitenden Flüssigkeit, zum Beispiel
Schwefelsäure, auftritt.90 Das ist das Prinzip der Batterie oder des Akkumulators. „In
den Froschschenkeln Galvanis zuckt also nicht, wie von naturphilosophischen Kreisen
gerne behauptet, die Lebenskraft irgendeiner animalischen Elektrizität, sondern der
Bauplan einer ersten Batterie.“91 Volta ließ jedoch jegliche Formen von Bioelektrizität
außer acht, wie sie zum Beispiel in Elektrofischen auftritt, was Galvani bereits
beobachtet hatte.92
Zusammenfassend lässt sich sagen, und die darauffolgende Geschichte zeigte es, dass
sowohl Galvani, mit der Entdeckung der den Tieren innewohnenden Elektrizität, also
auch Volta, mit der Entdeckung der metallischen Elektrizität, des Prinzips der Batterie
in Fröschen, zum Teil Recht hatten, bloß nicht in ihrer jeweiligen Ausschließlichkeit
und einseitigen Auslegung. Kurioserweise sind die auf Voltas Entdeckung
zurückführenden metallischen Ströme und Batterien auf seinen eigenen Vorschlag hin
nach Galvani benannt, obwohl dieser die zugrundeliegenden Prinzipien gar nicht
erkannt hatte und auch Zeit seines Lebens bestritt.93 Mit der Verfeinerung der Apparate
und Messtechniken war es in der Epoche nach Galvani und Volta möglich, Bioelektrizät
zu messen. Neben Helmholtz war du Bois-Reymond ein Vorreiter auf diesem Gebiet.
Ähnlich wie Volta hob auch du Bois-Reymond in seinen „Untersuchungen über
thierische Elektricität“94 von 1848 die Qualitäten des Froschs, im folgenden Beispiel ist
es der grüne Wasserfrosch, als Messgerät hervor und verglich ihn, beziehungsweise
seine präparierten und für die Experimente vorgesehenen Gliedmaßen, mit anderen
Apparaten und Werkzeugen.
Sämmtliche Versuche, von denen nicht ausdrücklich das Gegentheil bemerkt ist, sind an R. esculenta [grüner Wasserfrosch, Anm.d.Verf.]95 angestellt. R. temporaria ist durchweg zu
Wissenschaften Nr. 114, Hg. von A. J. von Oettingen. Leipzig, S. 4990 Mehr zur galvanischen Batterie in: Autorenkollektiv (Hg.) (1885-1892): Meyers Konversationslexikon. 4. Aufl. 19 Bände. Leipzig und Wien: Verlag des Bibliographischen Instituts (Faidit - Gehilfe, 6). S. 870. Online verfügbar unter http://www.retrobibliothek.de/retrobib/stoebern.html?bandid=100154, zuletzt geprüft am 08.11.201191 Rieger 2008 – Der Frosch – ein Medium?, S. 29592 Vgl.: Ebd. S. 29593 Vgl.: Ebd. S. 29794 Du Bois-Reymond 1848 – Untersuchungen über thierische Elektricität (1)95 Vgl.: Frösche (Metamorphose; Gruppen, Familien und Arten). In: Autorenkollektiv (Hg.) (1885-1892):
22
klein und ermangelt auch, wie mir hat scheinen wollen, jener Lebenszähigkeit, welche die abgelösten Glieder der ersteren Thierart zeitweise gleichsam zu ächten physikalischen Vorrichtungen, welche sich wie eine Maschinen studieren lassen, macht.96
Was den reinen Physikern ihre Apparate, wären den Organischen Physikern, gemäß du
Bois-Reymond, ihre wie Apparate eingesetzten organischen Werkzeuge: die
Gliedmaßen und Muskeln des Froschs.
Die anorganische Physik verschmäht es nicht, sich mit den besten Vorschriften zur Verfertigung ihrer Beobachtungswerkzeuge, Thermometer, Barometer u.s.w. bis ins Einzelne zu befassen; ich halte es daher nicht unter der Würde der organischen Physik, sich über das Verfahren Aufschluss zu verschaffen, wie ihr absolutes Organ, der Frosch, der für einen großen Theil derselben in der That das ist, was dem Nacheiferer Moser's oder Melloni's die wohlgeputzte Daguerre'sche Platte oder die Thermosäule, am leichtesten und besten, trotz dem Wechsel der Jahreszeiten das ganze Jahr hindurch in hinreichender Menge und tauglichem Zustande zu erhalten sei.97
Dass der abgetrennte Froschmuskel, wie in Helmholtz' Versuchen, stundenlang seine
Leistungsfähigkeit behielt, begründet, laut Sven Dierig, auch seine Maschinenart.98 Das
Tier ist bereits tot, aber ein Teil seines organischen Materials ist in Verbindung mit den
anderen Apparatsteilen innerhalb des Experiments noch in der Lage, Arbeit zu
verrichten – die gleiche Arbeit, die er vorher am noch lebenden Organismus ausübte.
Der Laborfrosch war lebende und tote Materie zugleich. Das noch funktionierende Bauteil der tierischen Maschine war weder vollkommen tot, noch war es vollkommen lebendig. […] Der Frosch überlebte seinen eigenen Tod gewissermaßen in Form einer entleibten Maschine.99
Die Organischen Physiker verstanden sowohl den tierischen Organismus und seine noch
nach dem Tod funktionierenden Körperteil als auch das gesamte Ensemble der
Experimentieranordnung als Maschine.100 Sie betrachteten die einzelnen Komponenten
organischen oder anorganische Materials nicht als Erweiterungen des jeweiligen
Einzelteils, sondern als ein zusammen als Einheit wirkendes System. Ähnlich betrachten
Meyers Konversationslexikon. 4. Aufl. 19 Bände. Leipzig und Wien: Verlag des Bibliographischen Instituts (Faidit - Gehilfe, 6). S. 751. Online verfügbar unter http://www.retrobibliothek.de/retrobib/stoebern.html?bandid=100154, zuletzt geprüft am 08.11.201196 Du Bois-Reymond 1848 – Untersuchungen über thierische Elektricität (1), S. 45897 Ebd. S. 45898 Vgl. Dierig, Sven (2006): Wissenschaft in der Maschinenstadt. Emil-Du Bois-Reymond und seine Laboratorien in Berlin. Göttingen: Wallstein. S. 10299 Ebd. S. 102100 Vgl.: Ebd. S. 107
23
auch Gilles Deleuze und Felix Guattari in ihrem „Anti-Ödipus“101 Systeme, in denen
Maschinen und Menschen oder Tiere zusammenwirken.
Nicht mehr geht es darum, Mensch und Maschine zu konfrontieren, um darin die möglichen Korrespondenzen, Verlängerungen und Ersetzungen des einen oder anderen einzuschätzen, vielmehr darum, beide zu verbinden und zu zeigen, wie der Mensch mit der Maschine, oder wie er mit anderen Dingen zu einem Stück (einer Einheit) wird, um so eine Maschine zu konstituieren. Die anderen Dinge mögen Werkzeuge, selbst Tiere oder andere Menschen sein.102
Diese Formulierung ähnelt auch Rheinbergers Rede vom „Experimentalsystem“ und
dieser Gedanke wird auch in der Akteur-Netzwerk-Theorie fortgeführt. Dabei wird die
Maschine jedoch ausgeweitet auf weitere beteiligte Akteure: Neben den menschlichen
wie Helmholtz, als Ausführender und Planer, seiner Frau Olga als Assistentin, du Bois-
Reymond als Zuhörer, Berater und Kritiker, den die Apparate bauenden Mechaniker
gehören auch nicht-menschliche Akteure, wie das Galvanometer, dazu – und eben der
Frosch, als tierisches Bauteil und Maschine.
3.3.2 Tierversuche in der physiologischen Forschung
Tierversuche wurden schon in der experimentellen Forschung vor Helmholtz praktiziert
und waren jeher ein Streitthema sowohl in der Wissenschaft als auch der gesamten
Gesellschaft. Helmholtz' Lehrer Johannes Müller und auch Carl Ludwig, wie Helmholtz
Organischer Physiker und Mitglied der Physikalischen Gesellschaft, waren sich der
Problematik bei der Anwendung von Tierversuchen bewusst und versuchten jede
überflüssige Quälerei zu vermeiden.103 Als „Märtyrer der Wissenschaft“104 bezeichnete
Helmholtz zum Beispiel die sehr häufig für elektrische Versuche verwendeten Frösche
und versuchte damit ihren Verdienst aber auch ihr, wenn auch unfreiwilliges, Leiden für
101 Deleuze, Gilles; Guattari, Félix (1997): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. 8. Aufl. Frankfurt/M.: Suhrkamp102 Ebd. S. 498103 Hörz 1994 – Physiologie und Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, S. 182f.104 Helmholtz, Hermann von (1845): Ueber den Stoffverbrauch bei der Muskelaktion. In: Johannes Müller (Hg.): Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin. Berlin: Veit & Comp., S. 72–83. S. 73f.
24
die experimentelle Erforschung des Lebens zu würdigen. In Weiterentwicklung der
empirischen Physiologie stellte die Organische Physik die physikalisch-chemischen
Grundlagen der Lebensprozesse in den Vordergrund und legte dabei großen Wert auf
Präzision mit Hilfe von technischen Apparaten. Die empirische Physiologie stützte sich
vor allem auf Messungen und Beobachtungen sowie Tierversuche, insbesondere die
Vivisektion. Diese Richtung entwickelte sich zunächst in Frankreich, wo die
romantische Naturphilosophie weniger starke Wirkung auf die Wissenschaft hatte.105
Tierversuche beziehungsweise Tierexperimente bezeichnen
alle zielgerichteten künstlichen Veränderungen des natürlichen Verhaltens, der Regelmechanismen und Körperfunktionen von einzelnen Tieren und Gruppen, die durch Menschen mittels der Veränderung von Lebensbedingungen, durch die Eingabe von Mitteln und durch chirurgische Eingriffe durchgeführt werden.106
Bei der Vivisektion im Speziellen werden Schnitte am lebenden Tier ausgeführt.107 Als
Begründer und Wortführer der eher morphologisch108 orientierten empirischen
Physiologie gilt François Magendie (1783-1855), der „eine grenzenlose Abneigung
gegen alle Theorie“109 entwickelte. Er lehnte den Vitalismus ab, der zur Erklärung
unbekannter Vorgänge gleichsam unbekannte Erklärungsmodelle wie die Lebenskraft
heranzog. Jegliche Spekulation widerstrebte ihm und er vermied sogar aus seinen
eigenen Beobachtungen und Experimenten Schlüsse zu ziehen. Magendie setzte die
Vivisektion in besonders skrupellose Weise ein – das geschah damals noch am
unbetäubten Tier, oft waren es Hunde. Gleichwohl hebt Rothschuh in diesem
Zusammenhang Magendies Leistungen für die Physiologie hervor.110
Er bereicherte die Physiologie mit einer Fülle von selbst erhobenen, neuen grundlegenden Tatsachen. Unzählige Tiere, besonders Hunde, mussten unter seinen Händen ihr Leben zur Aufklärung physiologischer und pathologischer Fragen lassen. Natürlich geschah das damals noch alles am lebenden und nicht narkotisierten Tier. Mit seinen vivisektorischen Tierexperimenten hat er fast alle Gebiete der Experimentalphysiologie um neue Tatsachen
105 Vgl.: Rothschuh, Karl E. (1953): Geschichte der Physiologie. Berlin/Göttingen/Heidelberg: Springer. S. 101106 Hörz 1994 – Physiologie und Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, S. 174107 Vgl. Ebd. S. 174108 Morphologie (gr.) = Lehre von der Gestalt. Vgl.: Brockhaus' Konversationslexikon 1894-1896, Morea – Perücke, 12, S. 12; Vgl.: Hörz, Herbert (1994): Physiologie und Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Briefe an Hermann von Helmholtz. Marburg (Lahn): Basilisken-Presse. S. 158f.109 Rothschuh 1953 – Geschichte der Physiologie, S. 103110 Vgl.: Ebd. S. 103
25
bereichert, wie ein ‚Lumpensammler‘, der mit einer Harke in der Hand alles sammelt, was er findet.111
Diese Haltung brachte ihm aber auch heftige Kritik der sich in dieser Zeit
organisierenden Tierschützer ein.112 Magendie machte sich bei seinen Versuchen völlig
frei von jeglichen moralischen Einwänden, allerdings untersuchte er vorab auch nicht
die Zweckmäßigkeit des jeweiligen Experiments. Die Frage nach der Notwendigkeit
und Vertretbarkeit von Tierversuchen stellte sich schon damals insbesondere für die
Vivisektion. In dem Streit fehlte es oft an Differenzierung und Sachlichkeit. Fanatische
Gegner von Tierversuchen unterschieden häufig nicht zwischen Fällen von
Missbräuchen der Vivisektion und wissenschaftlich sinnvollen Tierversuchen. Die Frage
bleibt natürlich, gemäß welcher Kriterien ein Tierexperiment als sinnvoll einzuschätzen
ist. An dieser Frage rieben sich Experimentatoren wie Tierschützer, zu beiden Gruppen
zählten auch viele Physiologen und Wissenschaftler, wie zum Beispiel Carl Ludwig. Die
einen erkannten den wissenschaftlichen Wert und die moralischer Rechtfertigung der
Vivisektion an, die anderen lehnten kategorisch jedes Tierexperiment ab. Das
Abgeordnetenhaus Preußens erließ 1885 eine Verordnung zur Sanktionierung von
Tierversuchen. Sie bestimmte unter anderem, dass entsprechende Experimente nur zu
wichtigen Forschungszwecken am möglichst niederen Tier vollzogen werden dürfen.
Gemeint ist damit, dass ein Versuch, der am Plattwurm das gleiche Resultat brächte wie
am Hund, mit dem Plattwurm anzustellen sei. Außerdem wurde die ausreichende
Betäubung der Tiere vor dem Versuch, sofern es nicht dem Zweck widersprach,
angeordnet. Herbert Hörz hebt die Verantwortung des Menschen hervor, der immer
wieder von Neuem entscheidet, ob und unter welchen Bedingungen ein Tierexperiment
notwendig und human vertretbar ist. Tierexperimente sind Quälerei, sie enthalten
Risiken und fügen dem Tier Schmerzen zu. Deshalb dürfen sie nicht einfach mit dem
Nutzen für den Menschen gerechtfertigt werden. Ludwig und Müller versuchten rohe
Experimente und Tierquälerei zu vermeiden.
Die humane Herausforderung bleibt. Sie muss stets neu, unter unterschiedlichen Bedingungen und mit Verantwortung für die Natur, die nicht nur Objekt der Ausbeutung durch den Menschen ist, diskutiert und konkret entschieden werden.113
111 Ebd. S. 103112 Vgl. im Folgenden: Hörz 1994 – Physiologie und Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, S. 174ff.113 Ebd. S. 182f.
26
3.4 Zeitmessung mit Galvanometer, Spiegel und Fernrohr –
Technologietransfer aus Geophysik und Telegraphie
Neben dem Stromkreis zur Reizung des Muskels
hatte Helmholtz einen zweiten eingerichtet, der
zur Messung der „Stromzeit“ mit dem
Galvanometer diente. Beide Stromkreise verliefen
unabhängig voneinander, waren aber punktuell
miteinander verbunden. Ziel der Konstruktion war
es, erregenden und zeitmessenden Strom
gleichzeitig starten zu lassen. Als Stromquelle
dienten vier Daniellsche Elemente, je zwei in
einer Batterie. Die zwei Batterien wurden so in den Experimentalaufbau integriert, dass
sie entweder einen gemeinsamen Stromkreis oder zwei voneinander unabhängige
Stromkreise bildeten. Im ersten Fall würden sich zwei Batterien entgegenwirken und
kein Strom entstehen. Der zweite Fall würde ausgelöst, sobald die amalgamierte Spitze
d in das Quecksilbernäpfchen c getaucht würde (Vgl. Abb. 5).114 „Der Muskel
unterbricht darauf die Leitung des
zeitmessenden Stromes bei a. Wird alsdann c
von d wieder getrennt, so ist kein
geschlossener Kreis mehr vorhanden, und
alle Ströme hören auf.“115 Um diesen Prozess
zu steuern, baute Helmholtz einen
Hilfsapparat, den er die Wippe nennt (Vgl.
Abb. 7116). Mittels eines Schließungsstabes,
der von Hand betätigt wurde, öffnete die
Bewegung der Wippe den induzierenden
Stromkreis – dies löste den Induktionsschlag
aus, der den Muskel oder Nerven reizte – und
114 Vgl. Fig. 7 in: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 365115 Ebd. S. 293116 Ebd. S. 365
27
Abbildung 4: Stromlaufplan der Stromkreise für die Erregung des Muskels und die Messung der Zeit.
Abbildung 5: Die "Wippe" ermöglichte, dass mit Auslösung des induzierenden Stromschlag gleichzeitig der zeitmessende Strom startete.
schloss gleichzeitig den zeitmessenden Stromkreis.117 Helmholtz war aufgrund der
vielen Handgriffe bei dieser Methode auf Hilfe angewiesen und wurde deshalb von
seiner ersten Frau Olga, geborene von Velten, unterstützt:
Meine Frau [...] steht mir treulichst bei bei meinen Versuchen als Protokollführerin der beobachteten Skalenteile, was sehr nötig ist, weil ich allein vollständig konfus werde, wenn ich auf so viele Dinge gleichzeitig achtgeben soll, als da sind: Umlegen höchst verwickelter Drahtleitungen mit Nebenströmen zweiter Ordnung, Einstellen des Muskels, Auflegen der Gewichte, Ablesen der Skalenteile, rechtzeitiges Öffnen und Schließen der Kette.118
Für die Zeitmessung verwendete Helmholtz, wie schon
erwähnt, ein Galvanometer – ob er ein handelsübliches
verwendete oder es selber konstruierte, wird nicht erwähnt.
Es bestand aus einem Holzrahmen, der mit 1.400
Windungen Kupferdraht umwickelt war. Parallel dazu hing
ein neun Zentimeter langes Magnetstäbchen an mehreren
Coconfäden. An dem Magneten waren Spiegel befestigt
sowie zwei verschiebbare dicke Metallringe. Die
Metallringe verlangsamten die Schwingungsbewegung des
Magneten, sodass die Werte besser abgelesen werden
konnten. Um die Werte möglichst genau von der Skala
abzulesen, setzte Helmholtz außerdem Fernrohr und Spiegel
ein – eine Methode, die zuerst Carl Friedrich Gauß (1777)
und Wilhelm Weber (1804-1891) einführten. „Die Messung
der Schwingungen geschah nach der von Gauß und Weber
eingeführten Methode durch Beobachtung des in dem Spiegel des Magnetes gesehenen
Bildes einer horizontalen Scale mittels Fernrohrs.“119 Die Magnetnadel diente als Zeiger,
über ihm war der Spiegel angebracht und gegenüber das Fernrohr aufgestellt.120 Die
Skala war ober- oder unterhalb des Fernrohrs angebracht und zeigte vorne zum Spiegel.
117 Vgl.: Kuhn, Carl (1866): Handbuch der angewandten Elektricitätslehre, mit besonderer Berücksichtigung der theoretischen Grundlagen. Zweite Abtheilung. Leipzig. S. 1193118 Helmholtz in einem Brief an du Bois-Reymond, 14. Oktober 1849. In: Dokumente einer Freundschaft. Briefwechsel zwischen Hermann von Helmholtz und Emil du Bois-Reymond 1846-1894 (1986). Hg. v. Christa Kirsten. Berlin. S. 88119 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 290120 Vgl. im Folgenden zur Ablesetechnik mit Spiegel und Fernrohr: Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 83f.
28
Abbildung 6: Spiegelgalvanometer nach Weber.
Beim Blick durch das Fernrohr sah er die im Spiegel erscheinende Skala, vor der die
Magnetnadel sich bewegte. Henning Schmidgen betont den auf den Blick
konzentrierten Charakter der gesamten Installation, die die Verwendung des Fernrohrs
verdeutlicht: „Helmholtz hatte in der Tat eine Sehmaschine, keine Schreib- und
Zeichenmaschine zusammengebaut.“121 In diesem Zusammenhang ist Helmholtz'
Bezeichnung dieser Art von Kurzzeitmessmethoden als eine „Mikroskopie der Zeit“122
nicht ganz zutreffend, handelt es sich doch in diesem Fall eher um eine „Teleskopie der
Zeit“.123 Helmholtz griff hier auf ein Verfahren zurück, das bereits in einem anderen
Zusammenhang verwendet und beschrieben worden war. Sowohl Johann Christian
Poggendorf (1796-1877)124 als auch Gauß und Weber setzten das Verfahren ein, um Ort,
Richtung und Größe des Erdmagnetismus zu bestimmen.
Gauß und Weber verwendeten es außerdem für die Übermittlung telegraphischer
Nachrichten.125 An jeder der Sende- bzw. Empfangstationen war ein Fernschreiber
installiert, der ein an einem Faden aufgehängten Magnet enthielt, auf dem ein Spiegel
befestigt war. Der Magnet war an beiden Enden mit Multiplikatorspulen umgeben. Das
Betätigen eines Schaltwerks lenkte nun den Stab ab und über Spiegel, Fernrohr und
Skala konnten die Schaltzeichen mit Hilfe eines Codes in Buchstaben übersetzt werden.
Helmholtz übernahm die Technik der Spiegelablesung also aus einem teils optischen,
teils elektrischen Telegraphieverfahren sowie aus dem Bereich der Geophysik und
importierte damit eine ganze „Kultur der Genauigkeit“ in die neu entstehende
„Chronophysiologie“.126
Helmholtz kam aber auch anderweitig mit der telegraphischen Technik in Berührung. Er
orderte, als er zur Zeit seiner Nervenleitungs-Experimente in Königsberg weilte, seine
technischen Bauteile und Apparate bei dem Mechaniker Johann Georg Halske (1814-
1890), und du Bois-Reymond vermittelte für ihn in Berlin.127 Halskes Lieferung der von
121 Ebd. S. 83122 Helmholtz 1850 – Ueber die Methoden, S. 177123 Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 89124 Poggendorf, Johann Christian (1826): Ein Vorschlag zum Messen der magnetischen Abweichung. In: Poggendorff’s Annalen 7 (82), S. 121–130. Online verfügbar unter http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k15092v/f6.langEN, zuletzt geprüft am 04.11.2011125 Vgl. im Folgenden: Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 86f.126 Vgl.: Ebd. S. 88127 Vgl.: Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 88f.
29
Apparat seinen Berliner Kollegen, unter ihnen auch Helmholtz, im Frühjahr 1847 vor.236
Als kurvenzeichnende Apparate orientierten sich Kymograph und Myograph an
Verfahren aus dem Maschinenbau, genauer gesagt an James Watts
Dampfdruckindikator.237
Der sogenannte Dampfdruckindikator gab […] Auskunft über das physikalische Innenleben einer laufenden Maschine. Der Indikator unterrichtete über das Verhalten des Dampfdrucks während der Kolbenbewegung im Zylinder, indem er in einem geschlossenen Linienzug die Druckverhältnisse auf eine rotierende Metallwalze aufzeichnet.238
Ludwig selbst wies auf auf das Vorbild Watts im
Zusammenhang mit Helmholtz' Myographen hin:
„Die mitgetheilte Curve hat Helmholtz unmittelbar durch den Froschmuskel zeichnen lassen; es geschah dieses nach den Grundsätzen des graphischen Verfahrens von Watt.“239
Im Gegensatz zum Myographen, bei dem mit dem Froschmuskel nur ein isolierter Teil
toten organischen Materials am Experiment mitwirkte, bezog der Kymograph das
gesamte noch lebende Tier, Kaninchen oder Hund, in das Experimentalsystem ein – ein
zentraler Unterschied, wie Sven Dierig betont.240 Dierig verwendet in Bezeichnung das
Apparates mit all seinen Komponenten den Begriff der Maschine. Auch die organischen
Physiker sprachen von ihren Apparate als Maschinen241 und das implizierte auch das
verwendete organische Material beziehungsweise den gesamten tierischen Organismus.
Du Bois-Reymond verglich das Spiel der Muskeln wiederholt mit der Arbeit der
anorganischen Dampfmaschinen.242 Am 9. Februar 1852 schrieb er in einem Brief an
236 Vgl.: Dierig, Sven (2006): Wissenschaft in der Maschinenstadt. Emil-Du Bois-Reymond und seine Laboratorien in Berlin. Göttingen: Wallstein, S. 115237 Vgl.: Ebd. S. 116238 Ebd. S. 108239 Ludwig, Carl (1852): Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Physiologie der Atome, der Aggregatzustände, der Nerven und Muskeln. Heidelberg: Akademische Verlagshandlung von C.F. Winter (1). S. 333240 Vgl.: Dierig 2006 – Wissenschaft in der Maschinenstadt, S. 116241 Zum Beispiel Helmholtz in einem Brief an Du Bois-Reymond vom 26. Oktober 1856, In: Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 163242 Vgl.: Du Bois-Reymond, Emil (1912): Gedächtnisrede auf Johannes Müller. Gehalten in der Leibniz-
53
Abbildung 9: Clair's Druckindikator für Dampfmaschinen.
langsamer fortbewegten. Insofern diente dieser Vergleich mit der Telegraphie mithin als
didaktisches Mittel, um von dort ausgehend die Andersartigkeit der Reizleitung im
Lebewesen vor Augen zu führen:
Wenn die materielle Kultur von Elektromagnetismus und Telegraphie also eine positive technische Voraussetzung für die präzise Zeitmessung im physiologischen Labor war, bildete sie im Vortragssaal die negative Folie, vor der die stockende ‚Sendung der Nachrichten‘ innerhalb des Körpers eindringlich beschrieben werden konnte.133
3.5 Berechnung der Zeit
Um die Nervenleitgeschwindigkeit ermitteln zu können, musste der am Muskel
austretende Nerv an verschiedenen Stellen, muskelnah und muskelfern, gereizt werden.
Die Änderung des zeitmessenden Stroms wurde durch die Ausschläge der Magnetnadel
im Galvanometer angezeigt. Für die spätere Berechnung musste außerdem der
Ausschlag vor Beginn des zeitmessenden Stroms bekannt sein. Um den Ablauf des
Messprozesses zu verdeutlichen, führt Helmholtz ein konkretes Beispiel an:
Vor der Einwirkung des Stroms schwingt der Magnet hin und her zwischen den Zahlen 497,7 und 496,7, der dem Meridian entsprechende Scalenpunkt ist also 497,2. In dem Augenblicke, wo dieser Punkt unter dem Faden des Fernrohrs wieder vorbeigeht, wird der Strom geschlossen, und bleibt es, bis er vom Muskel wieder unterbrochen wird. Der Magnet ist nun in stärkere Schwingungen versetzt, und es werden nach einander abgelesen 597,7; 397,3; 596,9.134
Die mit dem Galvanometer erhaltenen Messwerte allein gaben noch nicht die
Nervenleitgeschwindigkeit an. Auf Basis einer Formel und mit Kenntnis verschiedener
Parameter musste die „verlorene Zeit“135, die zwischen Reizinduktion und
Muskelzucken verstrich, berechnet werden. Für die Berechnung mussten folgenden
Werte bekannt sein: die Größe der Ablenkung der Magnetnadel im Galvanometer vor
und nach der Reizung, die Ablenkung (α) im Moment der Schließung des zeitmessenden
133 Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 171134 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 300135 Mit der Bezeichnung „verlorene Zeit“ bzw. „temps perdu“ spielt Schmidgen auf Marcel Prousts siebenbändiges Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ an. Vgl.: Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 93
31
Stromes, die Schwingungsdauer (T) des Magneten sowie die Ablenkung (I) des
Magneten, wenn der zeitmessende Strom gleichmäßig anhalten würde.136 Die
Berechnungsformel musste so lauten:
137
Helmholtz erkannte, dass er die Fehlerquote auf ein Minimum verkleinern konnte, wenn
er den zeitmessenden Strom genau in dem Moment schloss, wenn der Magnet den
Meridian passierte. Für diesen Fall reduzierte sich die Formel wie folgt:
138
Der Vergleich der Berechnungen bestätigte die Beobachtungen aus Helmholtz ersten
Testversuchen mit der graphischen Methode. Entscheidende Voraussetzung war, dass
bei beiden Messungen gleiche Bedingungen herrschten. Unter Einhaltung dieser
Maßgabe konnte Helmholtz nun auch mit der elektromagnetischen Methode
nachweisen, dass „die Verzögerung der Wirkung [des elektrischen Reizes auf den
Muskel, Anm.d.Verf.] nur darauf beruhen [kann], dass eine Zeit vergeht, ehe sich
dieselbe von der entfernteren Stelle bis zum Muskel hin fortpflanzt.“139
3.6 Fehleranalyse mit Methoden der exakten Wissenschaften
Helmholtz legte großen Wert auf Präzision. Diese war für ihn aber nicht gleichzusetzen
mit der Anzahl der Dezimalstellen, die er in der Lage war zu messen.140 In den vierziger
Jahren des 19. Jahrhunderts konzentrierte man sich bei präzisen Messungen eher auf
Techniken, die die Gültigkeit der Daten eingrenzten und die Richtigkeit der 136 Vgl.: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 299137 Ebd. S. 299138 Ebd. S. 300139 Ebd. S. 330140 Vgl. hierzu und im Folgenden Olesko, Kathryn M.; Holmes, Frederic L. (1993): Experiment, Quantification, and Discovery. Helmholtz's Early Physiological Researches, 1843-50. In: David Cahan (Hg.): Hermann von Helmholtz and the Foundations of Nineteenth-Century Science. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press, S. 50–108, hier S. 95ff.
32
Erkenntnisse, die sie lieferten, bestätigten. Helmholtz ging es zunächst darum, mögliche
externe Störfaktoren und Fehlerquellen zu beseitigen oder zumindest soweit zu
minimieren, dass sie das Messergebnis nicht beeinflussten, und sichergestellt war, dass
die Messergebnisse tatsächlich den zu messenden Ablauf repräsentierten, also den
zeitlichen Verlauf der Zuckung des Muskels, und nicht anderweitige Faktoren das
Ergebnis verfälschten. Zu solchen Störquellen gehörten Luftströme, Kälte, mechanische
Fehler und bestimmte Muskeleffekte.
Helmholtz teilte die Fehlerquellen in zwei Klassen: Die erste umfasste Fehler, die die
Messung der Zeit zwischen Reizung und Öffnung des Stromkreises betrafen, und die
zweite jene, die verhinderten, dass die Trennung der Unterbrechungsstelle im genau
erforderten Moment geschah. Unter den Einflüssen der ersten Klasse, zu denen
Helmholtz Störungen der „Bewegung des Magnetes durch Luftströme, Fehler der
Ablesung, Dauer des Inductionsstroms, Änderungen in der electromotorischen Kraft
und dem Widerstande der Daniellschen Elemente“141 zählte, identifizierte Helmholtz nur
einen, der das Resultat signifikant verändern konnte, und dieser betraf die „nicht immer
vollkommene Schließung des Stroms an der Unterbrechungsstelle.“142 In diesen Fällen
schlug die Magnetnadel des Galvanometers kaum aus, weil sich zum Beispiel ein
„unsichtbares Stäubchen zwischen Goldkuppe und Goldplatte“143 befand. Dieses
verhältnismäßig kleine Problem war mit einem säuberndem Pinselstrich schnell
behoben.
Ein anderer Grund für die schlechte Schließung des Kontakts an der
Unterbrechungsstelle war der mangelnde Druck, der an der Stelle ausgeübt wurde.
Dieses Problem trat vor allem bei den Versuchen auf, wo der Muskel nicht mit einem
Gewicht belastet war. Helmholtz sprach konkret von Belastung und Überbelastung des
Muskels. Der Begriff der Belastung bezog sich auf das Gewicht des stromleitenden
Zwischenstücks mit den Kontakten, das an dem Muskel hing. Die Überbelastung
bezeichnete wiederum die zusätzlich Belastung durch Gewichte, die in die an dem
Zwischenstück hängende Schale gelegt werden konnten. Die Überbelastung
141 Ebd. S. 310142 Ebd. S. 310143 Ebd. S. 310
33
gewährleistete, dass die angehängten Teile nicht weiter absinken konnten, die Kontakte
ordentlich schlossen und der Muskel sich nicht weiter spannen konnte. In den Fällen,
wo kein Gewicht aufgelegt war, musste der Muskel so eingestellt sein, dass sich die
Metallteile an der Unterbrechungsstelle möglichst zart berührten. Helmholtz behalf sich
damit, ein ganz geringes Gewicht von zum Beispiel einem Gramm aufzulegen, damit in
diesen Fällen der Widerstand an der Kontaktstelle nicht zu groß werden würde und die
Intensität des Stromes möglichst konstant blieb.144
Die zweite Klasse von Fehlerquellen, die das Experiment stören konnten, umfasste
Faktoren, die verhinderten, dass die Trennung der Unterbrechungsstelle im genau
erforderten Moment geschah. Um dieses genaue Timing einhalten zu können, musste
sichergestellt sein, dass alle beteiligten Komponenten in der ausgerichteten Position
verharrten und keine widerstrebenden Bewegungen machten. Der Froschmuskel blieb
aber nicht in der Position, in die er mit Hilfe eines Gewichts gebracht wurde, sondern
zog sich in seiner elastischen Eigenschaft noch einige Zeit weiter in die Länge – das
bereits erwähnte Problem der Muskel-Dilatation. Dasselbe passierte, wenn die
Muskelspannung nachließ, dann zog sich der Muskel auch erst allmählich wieder
zusammen und befand sich nicht schlagartig in seiner entspannten Position. Mit diesem
Verhalten störte der Muskel den zeitlichen Ablauf, weil es passieren konnte, dass er zu
spät auf den Reiz reagierte. Schon Eduard Weber hatte diesen sehr nachhaltigen Effekt
der elastischen Nachwirkung in den Muskeln beobachtet und Helmholtz bezog sich in
den Messungen auch direkt auf Webers Forschungen zur mechanischen Wirkung der
Muskeln.145 Helmholtz half sich, indem er den Muskel vor dem Versuch mit einer viel
größeren Belastung dehnt, als er sie später brauchte. Außerdem musst er beachten,
genügend Zeit zwischen zwei Versuche zu lassen, ca. 30-40 Sekunden, da der Muskel
sich so lange noch in Spannung befinden konnte. Doch die Fehleranalyse brachte
Helmholtz keine exakteren Messwerte, sondern nur Erkenntnis über die mangelnde
Verlässlichkeit der Daten, die durch störende Einflüsse ein verzerrtes Bild abgeben. Um
Werte zu erhalten, die den exakten am nächsten kamen, wendete Helmholtz die
Methode der kleinsten Quadrate an – eine mathematische Methode.146 Dass Helmholtz
144 Vgl.: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 310ff.145 Vgl.: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 276 und 278146 Vgl. Olesko/Holmes 1993 – Experiment, Quantification, and Discovery, S. 95ff.
34
sich hier einer mathematischen Methode bediente, die in den 1850er Jahren
hauptsächlich in den exakten Wissenschaften, also der Astronomie, Physik und Chemie
Anwendung fand, spricht auch für sein Selbstverständnis als Organischer Physiker.
Während die Methode der kleinsten Quadrate in den zuerst genannten
Forschungszweigen bereits Anwendung fand, kannte man sie in den
Lebenswissenschaften kaum, zumal zu berücksichtigen ist, dass letztere mit viel
unregelmäßigeren Messwerten arbeiten mussten, weshalb diese Methode nicht
unbedingt die passendste zu sein schien. In einer Fußnote erläutert Helmholtz die Art
und Weise, mit welcher Wahrscheinlichkeit und Sicherheit die Messwerte einer
bestimmten Versuchsreihe zu betrachten sind:
Für diejenigen meiner Leser, welchen die Begriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht geläufig sind, bemerke ich hier, dass z.B. die Angabe in der neunten Versuchsreihe, der Werth des Zeitunterschieds wegen der Fortpflanzung sei 0,00175 Secunden mit dem wahrscheinlichen Fehler ±0,00014, nach einem populären Ausdrucke bezeichne, es sei 1 gegen 1 zu wetten, dass der wahre Werth dieser Differenz zwischen 0,00189 und 0,00161 Secunden liege. Es ist ferner 10 gegen 1 zu wetten, dass die Abweichung höchstens 2,5 mal, 100 gegen 1, dass sie höchstens 3,8 mal, 1000 gegen 1, dass sie 4,8 mal so groß sei, als der wahrscheinliche Fehler. Der Werth liegt also mit der Wahrscheinlichkeit
1 gegen 1 zwischen 0,00189 und 0,00161
10 gegen 1 zwischen 0,00210 und 0,00140
100 gegen 1 zwischen 0,00228 und 0,00122
1000 gegen 1 zwischen 0,00242 und 0,00108147
Ob die Daten letzten Endes verlässlich und akkurat sind, hängt neben dem Vertrauen auf
das verwendete Instrumentarium auch von den individuellen theoretischen Erwartungen
des Experimentators ab. Helmholtz versuchte sich seiner Daten zu versichern, indem er
in verschiedenen breit angelegten Messreihen möglichst viele Messpunkte erzeugte, die
er dann miteinander vergleichen konnte. Er baute seine Überzeugungsarbeit nicht nur
auf präzisen Messungen auf, sondern auch auf Berechnung der Ungewissheiten. Auf
diese Weise schärfte er die Daten Stück für Stück, näherte sich dem wahrscheinlichsten
Wert immer mehr an. Nichtzuletzt zeigte die Methode der kleinsten Quadrate, dass
Genauigkeit und Präzision allein keine Garanten für Gewissheit waren.148
147 Helmholtz 1850: Messungen, S. 337f.148 Olesko/Holmes 1993 – Experiment, Quantification, and Discovery, S. 98f.
35
3.7 Die Rolle des Experiments in Helmholtz' Forschungsarbeit
Das Gesetz zur Erhaltung der Kraft als Mittel gegen die Lehre von der
Lebenskraft
Bereits 1845 berichtete Helmholtz in dem Beitrag „Ueber den Stoffverbrauch bei der
Muskelaktion“149 über einen seiner ersten Versuche zur Muskelaktivität. Seine Versuche
schlossen an die Frage nach der Lebenskraft an,
nämlich die, ob das Leben der organischen Körper die Wirkung sei einer eigenen, sich stets aus sich selbst heraus erzeugenden, zweckmäßig wirkenden Kraft, oder das Resultat der auch in der leblosen Natur thätigen Kräfte, nur eigenthümlich modificirt durch die Art ihres Zusammenwirkens […].150
Helmholtz ging davon aus, dass es nicht möglich sei, „durch die Wirkungen irgend einer
Combination von Naturkörpern auf einander in das Unbegrenzte Arbeitskraft zu
gewinnen.“151 In seiner 1847 veröffentlichten physikalischen Abhandlung „Über die
Erhaltung der Kraft“152 verallgemeinerte er seine Erkenntnisse und fasste zusammen,
dass „jede Umwandlung von Kraft der Bewegung elektrische und magnetische Energie
oder Wärme kundgiebt“.153 Heute ist dieses Prinzip unter dem Begriff Energieerhaltung
bekannt – Helmholtz verwendete den Begriff der Kraft anstelle der eigentlich gemeinten
Energie.154 Das Prinzip von der Erhaltung der Kraft stand für Helmholtz schon lange
fest155 und auch andere Forscher vertraten ähnliche Positionen; Helmholtz fasste dieses
Prinzip aber zum ersten mal als grundlegendes Gesetz theoretisch zusammen, sodass es
für darauf aufbauende Experimente als Leitfaden gelten konnte.156
Der Zweck dieser Untersuchung, der mich zugleich wegen der hypothetischen Theile
149 Helmholtz, Hermann von (1845): Ueber den Stoffverbrauch bei der Muskelaktion. In: Johannes Müller (Hg.): Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin. Berlin: Veit & Comp., S. 72–83150 Ebd. S. 72151 Helmholtz, Hermann von (1847): Über die Erhaltung der Kraft. Eine physikalische Abhandlung. Berlin: G. Reimer. S. 3152 Helmholtz, Hermann von (1847): Über die Erhaltung der Kraft. Eine physikalische Abhandlung. Berlin: G. Reimer.153 Koenigsberger 1902 – Hermann von Helmholtz (1), S. 83154 Vgl.: Rechenberg, Helmut (1995): Hermann von Helmholtz. Bilder seines Lebens und Wirkens. Sonerausgabe für die Hermann von Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschugnszentren (HGF). Weinheim: VCH. S. 61155 Vgl.: Koenigsberger 1902 – Hermann von Helmholtz (1), S. 59156 Vgl.: Helmholtz 1847 – Über die Erhaltung der Kraft, S. 7
36
derselben entschuldigen mag, war, den Physikern in möglichster Vollständigkeit die theoretische, practische und heuristische Wichtigkeit dieses Gesetzes darzulegen, dessen vollständige Bestätigung wohl als eine der Hauptaufgaben der nächsten Zukunft der Physik betrachtet werden muss.157
Helmholtz betonte selbst den Einfluss, den Kants erkenntnistheoretische Ansichten auf
die Formulierung des Gesetzes hatten.158 Gleichwohl muss ergänzt werden, dass
Helmholtz bereits vor der Abfassung des Gesetzes mit Versuchen zum Stoffverbrauch
und zur Wärme bei der Muskelaktion – diese Versuche werden im Anschluss näher
betrachtet – Experimente ablieferte, die die Theorie bestätigten.
Mitte des 19. Jahrhundert begründeten Hermann von Helmholtz, Ernst Wilhelm von
Brücke (1819-1892), Emil du Bois-Reymond (1818-1896) – alle drei ehemalige Schüler
von Johannes Müller – sowie Carl Ludwig (1816-1895) das Forschungsprogramm der
organischen Physik.159 Die Organischen Physiker hatten sich zum Ziel gesetzt, „die
Lebenserscheinungen in ihren physikalisch-chemischen Grundlagen und deshalb ohne
die spekulative Annahme besonderer Kräfte, wie der Lebenskraft, [zu] erklären.“160 Das
Gesetz zur „Erhaltung der Kraft“ galt Physiker und Physiologen als wirksames Mittel
zur Bekämpfung der Lehre von der Lebenskraft. Helmholtz ging auch in seiner
Abhandlung davon aus, „dass es unmöglich sei, durch irgend eine Combination von
Naturkörpern bewegende Kraft fortdauernd aus nichts zu erschaffen.“161 Gemäß der
Theorie des Vitalismus war die Lebenskraft eine Kraft, die sich aus sich selbst
erschaffte, ein Perpetuum mobile. Dieses bewies Helmholtz in seiner Abhandlung aber
als unmöglich. Wenn nun also ein Perpetuum mobile unmöglich ist, so gilt dasselbe
auch für die Lebenskraft. Das von Helmholtz gefundene Gesetz zur Erhaltung der Kraft
schließt also die Existenz der Lebenskraft strikt aus. Auch du Bois-Reymond betonte die
Unvereinbarkeit dieses Gesetzes mit der Existenz einer Lebenskraft:
Mit demselben [Gesetz zur „Erhaltung der Kraft“, Anm. d.Verf.] nun stehen offenbar im grellsten Widerspruche wenigstens ein paar Hauptzüge der Lehre von der Lebenskraft, wie man sie gewöhnlich vorgetragen hört. Denn sie soll z.B. bei der Fortpflanzung ohne Verlust übertragen und dergestalt ins Unbegrenzte vermehrt werden. Hingegen im Tode soll sie ein
157 Ebd. S. 53158 Ebd. S. 53159 Vgl.: Koenigsberger 1902 – Hermann von Helmholtz (1), S. 50160 Ebd. S. 50161 Helmholtz 1847 – Über die Erhaltung der Kraft, S. 7
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unbedingtes Ende nehmen, um den gemeinen physikalischen und chemischen Kräften das Feld zu räumen. Beides ist, wie man leicht gewahr wird, mit dem Satze von der Erhaltung der Kraft in keiner Weise vereinbar.162
Was wurde unter der Lebenskraft verstanden?
Wie bereits erwähnt, diente das Konstrukt der Lebenskraft als theoretisches
Erklärungsmodell für Lebensprozesse und wurde zum Beispiel bei Stahl zur Lebensseele,
die den Organismus dirigierte. „Die anatomische Struktur und die Mechanik der Teile
sind Mittel im Dienste der anima, über deren Einsatz und Grad der Aktivität die Seele
selbst bestimmt.“163 Ohne die Seele beziehungsweise die anima, wäre der Körper also eine
bloße Maschine ohne Ziel und Zweck. Stahl wendete sich gegen eine rein mechanistisch
ausgerichtete Physiologie. Es gab aber auch andere Vorstellungen, die das Lebensprinzip
unabhängig von der „denkenden“ Seele betrachteten.164 Paul Joseph Barthez (1734-1806)
spekulierte, „dass Gott mit der Kombination von Materie, die zur Bildung eines jeden
Lebewesens angelegt ist, ein Lebensprinzip vereinigte, welches aus sich selbst heraus
Bestand hat und das sich beim Menschen von der denkenden Seele unterscheidet.“165
Neben der Materie und der Seele wird das Lebensprinzip in dieser Denkweise also zur
dritten Kraft, die ein lebendes Wesen ausmachen. Während in vielen dieser Theorien die
Lebenskraft als Hilfskonstrukt fungierte, dessen man sich in Ermangelung besseren
Wissens zur Beschreibung bediente, wurde dieselbe bei Christoph Wilhelm Hufelandt
(1762-1836) zur universal wirkenden Ur-Kraft.166 „Sie erfüllt, sie bewegt alles, sie ist
höchstwahrscheinlich der Grundquell, aus dem alle übrigen Kräfte der physischen,
wenigstens organischen Welt fließen. Sie ist's, die alles hervorbringt, erhält, erneuert
[…].“167 In Hufelands Theorie ist die Lebenskraft „das feinste, durchdringendste,
unsichtbarste Agens der Natur, das wir bis jetzt kennen“168 und er vergleicht es auch mit
dem Licht sowie der elektrischen und magnetischen Kraft.
Sogar Johannes Müller hing noch der Lehre von der Lebenskraft an, wie schon eingangs
162 Du Bois-Reymond 1848 – Untersuchungen über thierische Elektricität (1), S. XLV163 Rothschuh 1968 – Physiologie, S. 152164 Vgl.: Ebd. S. 158165 Zitiert nach: Ebd. S. 159166 Ebd. S. 173167 Zitiert nach: Ebd. S. 173168 Ebd. S. 173
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erwähnt. Seine Schüler jedoch betrachteten dieses Konzept als „eine unnötige, mit den
Experimenten nicht in Einklang stehende Annahme.“169 Die organischen Physiker
wollten den Vitalismus und die Idee einer übernatürlichen, experimentell nicht
nachweisbaren170 Lebenskraft aus der Physiologie verbannen und stattdessen die
„Physiologie als einen Zweig der Physik und Chemie cultiviren“171. Das Konzept der
Lebenskraft war mit den experimentell ausgerichteten Naturwissenschaften nicht
vereinbar. Als rein theoretisches Konstrukt, das als existent vorausgesetzt wurde und
selbst als Erklärung für ungeklärte Prozesse diente, behinderte es die Entwicklung
weiterführender Fragestellungen. Oder mit den Worten Karl E. Rothschuhs formuliert:
Solange man […] ein ,Lebensprinzip oder spezifisch lebendige Kräfte für den Ablauf, dieʽ Gesetze und das Versagen der physiologischen Vorgänge verantwortlich macht, bedarf ein Vorgang keiner weiteren Erklärung. Es ergeben sich dann keine sinnvollen Fragen, an denen eine experimentelle oder gar physikalisch-chemische Untersuchung ansetzen kann.172
Organische Physik versus Romantische Naturphilosophie
Neben der Lehre von der Lebenskraft bildete die Strömung der romantischen
Naturphilosophie in der Physiologie zwischen 1797 und 1830173 einen weiteren
Einfluss, den die Organische Physik endgültig zurückdrängen wollte. Insbesondere die
Naturphilosophie Friedrich Wilhelm Schellings (1775-1854) förderte zu dieser Zeit das
spekulative Denken in allen Wissenschaftszweigen und drängte die empirische Praxis
zurück.174
Zu den wesentlichen Charakterzügen dieser romantischen Physiologie zählt die Abkehr vom Besonderen, von der Beobachtung und der Analyse des Einzelfalls. An ihre Stelle tritt die Zuwendung zum Allgemeinen. Man beschäftigte sich z.B. nicht mit dem Kreislauf, sondern mit der Idee des Kreislaufs, denn Physiologie ist die Lehre von der Idee der lebenden Natur.175
169 Hörz 1994 – Physiologie und Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts,S. 165f.170 Vgl.: Hörz/Wollgast 1986 – Hermann von Helmholtz und Emil du Bois-Reymond. Wissenschaftsgeschichtliche Einordnung in die naturwissenschaftlichen und philosophischen Bewegungen ihrer Zeit. In: Dokumente einer Freundschaft. Briefwechsel zwischen Hermann von Helmholtz und Emil du Bois-Reymond 1846-1894 (1986). Hg. v. Christa Kirsten. Berlin. S. 11–64, hier S. 41171 Koenigsberger 1902 – Hermann von Helmholtz (1), S. 50172 Rothschuh 1953 – Geschichte der Physiologie, S. 92173 Vgl.: Hörz 1994 - Physiologie und Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, S. 155174 Vgl.: Rothschuh 1953 – Geschichte der Physiologie, S. 95175 Ebd. S. 97
39
Statt Hypothesen im Experiment zu modellieren und nach Beweisen zu suchen, bildeten
die naturphilosophisch orientierten Physiologen Analogien zu anderen
Naturerscheinungen. Häufig wurden mikrokosmische Erscheinungen mit dem
Makrokosmos verglichen und bei kleinsten Ähnlichkeiten auf analoge gemeinsame
Eigenschaften beider Systeme geschlossen.176 Zum Beispiel fragte sich ein Vertreter,
welche Rolle das Nervensystem und das Blut für den Blutkreislauf habe, und sah hier
Parallelen zur Bewegung der Planeten.
Im Makrokosmos ist die Sonne das bestimmende ruhenden Prinzip, um das die Planeten kreisen, im Kreislauf ist das Nervensystem das ruhende, das Blut das kreisende Element, folglich wird auch im Mikrokosmos das Ruhende, das Nervenmark, die Kreisbewegung des Blutes bestimmen.177
Ein weiteres Beispiel zeigt die Leichtfertigkeit, mit der Naturphilosophen völlig
verschiedene Systeme miteinander gleichsetzten. In seiner Schrift „Von der Natur der
Dinge“ (1803)178 schreibt Johann Jacob Wagner (1775–1841):
Die Athmosphäre ist gleichsam das arteriöse System der Erde, die Flüsse ihre Venen, das Meer ihr Herz und die Creaturen der Erde sind die Gebilde ihres organischen Leibes; die Pflanzenwelt ihre Pfortader, die Thierwelt ihre Lunge, ihr Nerve das Licht und ihr Gehirn die Sonne. […] Man denke nicht, ich schwärme, wenn ich diese Parallele wage; es ist nicht Schwärmerei, sondern eben das allein ist Erkenntniß der Natur, das Große im Kleinen wiederfinden.179
Die Praxis des Analogisierens und Verallgemeinerns führte zur Vernachlässigung der
analytischen Beobachtung und des Experiments. Ohne entsprechendes Detailmaterial
können keine neuen Erkenntnisse synthetisiert werden, keine neuen Entdeckungen
gemacht werden, wendet der Philosoph Herbert Hörz ein.180 Er bemerkt:
Es bedurfte schon der Analyse durch Beobachtung und Experiment, um die analysierten Wesensmomente theoretisch synthetisieren zu können. Das Experiment als objektiver Analysator der Wirklichkeit in der Physiologie musste erst umfassend eingesetzt sein, ehe allgemeine theoretische Ergebnisse wieder zur Verallgemeinerung führen konnten.181
176 Vgl.: Ebd. S. 97177 Zitiert nach: Ebd. S. 97178 Wagner, Johann Jacob (1803): Von der Natur der Dinge. Leipzig: Breitkopf und Härtel. Online verfügbar unter http://books.google.de/books?id=idMAAAAAcAAJ&hl=de&pg=PA1-IA1#v=onepage&q=arteri%C3%B6se&f=false, zuletzt geprüft am 11.11.2011179 Ebd. S. 335180 Vgl.: Hörz 1994 – Physiologie und Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, S. 158181 Ebd. S. 158
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Helmholtz' frühere physiologische Experimente und sein Fokus auf die
Kalibrierung der Messapparate
Helmholtz bediente sich schon in seinen früheren physiologischen Forschungen des
Experiments. In seinen Versuchen von 1845 zum Stoffverbrauch in den Muskeln konnte
Helmholtz jedenfalls nachweisen, dass bei der mechanischen Muskelbewegung
chemische Prozesse ablaufen.182 Dazu reizte er einen isolierte Froschmuskel wiederholt
elektrisch mit einer Leidener Flasche183 und verglich darauf dessen chemische
Zusammensetzung mit einem nicht gereizten Muskel. Auch Eduard Friedrich Weber
(1806-1871), zusammen mit seinem Bruder Ernst Heinrich Weber (1795-1878) einer der
Vorreiter der exakten physikalischen Physiologie, hatte erkannt, dass die „Tätigkeit des
Muskels in diesem Zustande [i.e. nach einer Reizung, Anm. d. Verf.] nicht nur eine
mechanische, sondern auch eine elektrische, thermische, chemische ist“.184 Weber hatte
in Rudolph Wagners „Handwörterbuch der Physiologie“ einen Artikel zum Thema
„Muskelbewegung“185 verfasst, in dem er über seine eigenen Muskelversuche
berichtete. Bisher war es nur gelungen, Muskeln in kurz andauernde Zuckung zu
versetzen. Weber wollte die Muskeln aber in einem Zustand langanhaltender Spannung,
vergleichbar mit der willentlich erzeugten Muskelspannung, untersuchen. Das Problem
war, dass ein Strom durchflossener Muskel allein noch nicht zuckt – die Zuckung
kommt erst zu Stande infolge einer Änderung der Stromstärke, so wie dies beim Öffnen
und Schließen des Stromkreises der Fall ist. Die Lösung lag nun darin, dem Muskel
schnell aufeinanderfolgenden Stromstößen auszusetzen. Weber erreichte das mit seinem
Rotationsapparat.186 Für Helmholtz' eigene Forschungen konnte dieser Apparat ebenfalls
nützlich sein. In einem Brief an du Bois-Reymond im Juli 1846 legt Helmholtz den
zuvor von jenem ihm zugesandten Text Webers über die Muskelbewegung mit der
Bemerkung bei, die „darin detaillierte Wirkungsweise des Rotationsapparates“ sei auch
für seine „eigenen Untersuchungen sehr wichtig“.187 Mit diesem Apparat könnte
182 Helmholtz 1845 – Ueber den Stoffverbrauch bei der Muskelaktion, S. 83183 Eine Leidener oder Kleistsche Flasche ist ein ein innen und außen mit Metall, damals meist Zinn, ausgekleidetes Glasgefäß, zur Speicherung von elektrischen Ladungen. Vgl.: Leidener Flasche. In: Brockhaus' Konversationslexikon 1894-1896, Leber – More, 11, S. 49184 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 278185 Weber, Eduard (1846): Muskelbewegung. In: Rudolph Wagner (Hg.): Handwörterbuch der Physiologie mit Rücksicht auf physiologische Pathologie, 3, Teil 2. Braunschweig: Vieweg, S. 1–122186 Vgl. Ebd. S. 11187 Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 73
41
Helmholtz nicht nur eine anhaltende Muskelkontraktion erzeugen, sondern auch die
Stromstärke variieren, und zwar weitaus besser als mit der Leidener Flasche, die er in
seinen ersten Versuchen 1845 einsetzte.188 Kathryn Olesko und Frederic Holmes189
heben in diesem Zusammenhang Helmholtz' frühes Interesse an der exakten
Ausrichtung des Experimentes und der Apparate hervor sowie die Ermittlung der
Fehlerquellen, also die Arbeit mit präzisen Methoden bekannt aus der Chemie oder
Physik.
Helmholtz learned that the production of precision measurements was a delicate combination of eliminating or reducing constant errors produced by the instrument; accurately calibrating the instrument and finding the range within which it was most reliable; accounting for some constant errors by the judicious use of theory (in this case, of the effect of geomagnetism); and developing a skill that could only be acquired after repeated trials with the instrument such that the practitioner became one with it.190
Helmholtz hatte mit der Unregelmäßigkeit des sogenannten „Froschstroms“ zu
kämpfen. Für regelmäßigere Ergebnisse in der Messung, benötigte er ein Messgerät, das
sehr kleine Spannungsveränderungen wahrnehmen könnte. Sein Multiplikator erreichte
bei dieser Aufgabe jedoch seine Grenzen, sodass er gezwungen war, das Gerät selbst zu
kalibrieren und sensibler zu machen.
Helmholtz was beeing drawn more deeply into the question of how his multiplicator functioned, and how it could be set up so as to achieve the great sensitivity and precision that his experimental objectives demanded from it.191
Mit einem Multiplikator lässt sich der galvanische Strom anhand einer durch den Strom
abgelenkten Magnetnadel messen. Die Drahtwindungen, die die Magnetnadel umgeben,
steigern – multiplizieren – die Ablenkung der Nadel. Durch die Größe der Abweichung
der Magnetnadel von ihrer ursprünglichen Lage lässt sich die Stärke des Stroms
bestimmen.192 Für die Kalibrierung des Geräts bediente Helmholtz sich außerdem der
mathematischen Praxis der graphischen Darstellung von Funktionen. Er zeichnete dazu
die Stromstärke als eine Funktion, die sich aus den Ausschlägen der Multiplikatornadel
188 Vgl.: Olesko/Holmes1993 – Experiment, Quantification, and Discovery, S. 64189 Vgl. im Folgenden zu Helmholtz' früheren physiologischen Versuchen: Olesko/Holmes 1993 – Experiment, Quantification, and Discovery190 Ebd. S. 66191 Ebd. S. 65192 Vgl.: Galvanometer. In: Brockhaus' Konversationslexikon 1894-1896, Foscari – Gilboa, 7, S. 511f.
42
im Bereich bis 15° ergab. Im Bereich zwischen 2° und 8° arbeitete der Multiplikator am
verlässlichsten. Wegen der teilweise schwachen Ströme, die Helmholtz in seine
Versuchen messen wollte, benötigte er aber noch genauere Werte für den Bereich unter
4°. Für diesen Bereich ersetzte er die beobachteten mit korrigierten Werten.193
Obwohl Helmholtz von Webers Rotationsapparat sehr beeindruckt war, verwendete er
ihn nicht für seine Versuche, bei denen er eine langanhaltende Muskelspannung
erzeugen wollte. Er baute sich auch kein eigenes Instrument sondern bestellte sich bei
dem Berliner Instrumentenbauer Johann Georg Halske (1814-1890) einen Neefschen
Apparat, eine kommerziell vertriebene Induktionsspule des Mediziners Christian Ernst
Neeff (1782-1849), die von Physiologen für ähnliche Zwecke verwendet wurde. Auch
diesen Apparat passte Helmholtz für seine Zwecke an, sodass er den gleichen Effekt wie
Weber mit seinem Rotationsapparat erzielte.194
Helmholtz modified the apparatus's circuit through which the secondary discharges were delivered to the muscle in such a way that their duration would be short enough to avoid interference with the multiplicator's operation. With this modified apparatus he was able to attain the same effect that Weber had designed the rotation apparatus to achieve. The series of short stimuli came so close together that the muscle entered a state of sustained contraction.195
Helmholtz interessierte sich außerdem für die Frage nach dem Ursprung der Wärme in
den Muskeln. Bereits 1846 wies er in einem Wörterbuchbeitrag zum Thema Wärme auf
die Muskeln als Ursprung eines großen Teil der Körperwärme hin.196 Helmholtz stützte
sich dabei zunächst nur auf Berichte von Becquerel und Breschet, die zu diesem Thema
bereits experimentiert hatten. Er selbst konnte noch nicht belegen, ob die Muskeln die
Wärme bei ihrer Bewegung selber produzierten, oder ob die Wärme ein Resultat des
verstärkten Flusses arteriellen Bluts in den Muskeln war.197 Diese Versuche holte er ein
Jahre später nach. Zu diesem Zweck war es nötig, den Froschmuskel getrennt vom
Blutkreislauf zu untersuchen, um bei einer Temperaturerhöhung den Blutfluss als
Ursache ausschließen zu können. In seinem Beitrag „Ueber die Wärmeentwicklung bei
193 Vgl.: Olesko/Holmes 1993 – Experiment, Quantification, and Discovery, S. 66194 Vgl.: Ebd. S. 68195 Ebd. S. 68196 Vgl.: Helmholtz, Hermann von (1846): Waerme, physiologisch. In: Encyclopaedisches Woerterbuch der medicinischen Wissenschaften. Berlin: Veit & Co., S. 523–567, hier S. 556197 Vgl.: Olesko/Holmes 1993 – Experiment, Quantification, and Discovery, S. 66
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der Muskelaction“198 aus dem Jahr 1847 berichtet Helmholtz über die Experimente mit
einem verbesserten Strommessgerät, dem extra für diese Zwecke der präziseren
Messung eingestellten Neefschen Apparat.199 Er ging dabei ähnlich wie in den
Versuchen zum Stoffverbrauch in den Muskeln vor, wo er die chemischen
Veränderungen im Muskel bei der Bewegung untersuchte.
The experiments he conducted with it [dem Neefschen Apparat, Anm. d.V.] were broadly analogous to his 1845 experiments on the chemical changes in muscle. Now as then, he prepared the two gastrocnemius muscles of a frog so that he could compare the state of one of the muscles put into a state of contraction with an otherwise nearly identical muscle remaining at rest, thereby identifying the effect sought.200
Für die Messung der Temperatur verwendete Helmholtz einen thermoelektrischen
Apparat, der Temperaturunterschiede mit Hilfe von Strom anzeigen kann.
Die Wirksamkeit eines solchen [thermoelektrischen Apparates, Anm. d. Verf.] beruht bekanntlich auf der Thatsache, dass in einem Metallringe, der aus zwei verschiedenen Metallen zusammengesetzt ist, ein electrischer Strom entsteht, sobald die Löthstellen verschiedenen Temperaturen haben, und dass dieser electrische Strom sichtbar gemacht und gemessen werden kann durch seine Wirkung auf Magnetnadeln, indem er diese quer gegen seine eigene Richtung zu stellen strebt.201
Der Apparat setzte sich aus zwei funktional getrennten Bestandteilen zusammen: die zur
Erregung benutzte thermoelektrische Säule und den der Messung dienenden
Multiplikator.202 Die Experimente bestätigten Helmholtz' Vermutung von 1845, dass
nämlich die Wärme in den Muskeln selbst produziert würde.
The new range of temperature differences (0.14° to 0.18° C) was only slightly larger than his highest earlier readings (0.08° to 0.12° C); but, assuming that all his results really fell within the range reported, then his measurements appear to have constituted decisive evidence that contracting muscles produce heat.203
Wie genau die Wärme in den Muskeln produziert wurde, war aber immer noch nicht
198 Helmholtz 1845 – Ueber den Stoffverbrauch bei der Muskelaktion199 Vgl.: Olesko/Holmes 1993 – Experiment, Quantification, and Discovery, S. 69200 Olesko/Holmes 1993 – Experiment, Quantification, and Discovery, S. 69201 Helmholtz, Hermann von (1848): Ueber die Wärmeentwicklung bei der Muskelaction. (Vorgetragen in der Sitzung der physikalischen Gesellschaft zu Berlin am 12. November 1847). In: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin, S. 144–164, hier S. 146202 Vgl.: Ebd. S. 146203 Olesko/Holmes 1993 – Experiment, Quantification, and Discovery, S. 70
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geklärt. Helmholtz vermutete, dass die Nerven eine größere Rolle bei der
Wärmeentwicklung in den Muskeln spielen könnten.204 Helmholtz wurde in seiner
Vermutung bestärkt durch du Bois-Reymonds Forschungen. Dieser hatte zuvor
herausgefunden, dass Nerven ähnlich wie Muskeln, Strom leiten.205
Diese Vermutung gewann noch dadurch an Wahrscheinlichkeit, dass durch E. Du Bois-Reymond bei den Untersuchungen über thierische Electricität ganz ähnliche electrische Ströme in den Nerven gefunden sind, wie in den Muskeln, und, wie ich aus mündlicher Mittheilung weiß, ganz ähnliche Abänderungen derselben, sobald durch den Nerven eine Contraction der betreffenden Muskeln hervorgerufen wird.206
Helmholtz schloss daraus, dass demzufolge „auch hier chemische Aenderungen und
Wärmeentwicklung“207 zu erwarten seien. Diese Annahme bestätigte sich im
Experiment jedoch nicht. Helmholtz berichtete, dass seine „in dieser Hinsicht
angestellten Versuche […] ein rein negatives Resultat gehabt“208 hätten. Trotzdem
entschied er sich dafür, darüber zu berichten, weil er auch in dem negativen
Versuchsergebnis einen Erkenntnisgewinn und Wert für die weitere Forschung sah und
er zudem in seiner Erläuterung auf Fehlerquellen aufmerksam machen konnte.
Ich halte es jedoch für angemessen, die Art ihrer Anstellung [der Versuche, Anm. d.Verf.] hier näher zu beschreiben, weil sich einmal aus ihnen so viel ergiebt, dass die Temperaturänderungen in den Nerven, wenn überhaupt dergleichen stattfindet, wenigstens nicht über wenige Tausentheile eines Grades hinausgehen, und weil ich zweitens bei diesen Versuchen auf einige Fehlerquellen aufmerksam geworden bin, deren Nichtbeachtung leicht zu einem anscheinend entgegengesetzten Resultate führen kann.209
Olesko und Holmes heben hervor, dass Helmholtz in seinem gesamten Bericht das
Hauptaugenmerk auf die Beschreibung seines Apparates, die Bedienung der einzelnen
Instrumente sowie eine gründliche Fehleranalyse legt und gar nicht näher auf die
Versuche selber oder auf Ergebnisse eingeht.
Decisive positive results were not the central issue in 1847; what mattered in the reporting was the meticulous design of the experiment or what might be called the ‚purification‘ of the
204 Vgl.: Helmholtz 1848 – Ueber die Wärmeentwicklung bei der Muskelaction, S. 158205 Vgl.: Du Bois-Reymond 1848 – Untersuchungen über thierische Elektricität (1)206 Helmholtz 1848 – Ueber die Wärmeentwicklung bei der Muskelaction, S. 158207 Ebd. S. 158f..208 Ebd. S. 159209 Ebd. S. 159
45
experimental apparatus, design, protocol (including the attempt to convince his readership as such).210
Diese Arbeitsweise behielt Helmholtz auch bei seinen Experimenten zur Ermittlung der
Nervenleitgeschwindigkeit bei. Du Bois-Reymond macht in seinen „Untersuchungen
über thierische Elektricität“ auch auf die Problematik aufmerksam, dass die organischen
Physiker sich das Wissen aus der Physik selbst aneignen mussten, da die Physiologen
sich bisher nicht mit derartigen Methoden auseinandergesetzt hatten.
[Der Gegenstand der Untersuchung] verlangt zu seiner Bewältigung nicht nur gehörige Vertrautheit mit dem Bau und den Verrichtungen der thierischen Körper, sondern auch die Kenntnis der verwickelten Gesetze der Elektricitätslehre. Ist die erstere bei Physikern von Fach, insbesondere bei Elektrikern, eine seltene Erscheinung, so haben auf der anderen Seite die Physiologen bisher nur wenig Veranlassung gehabt, sich die letztere anzueignen.211
Insbesondere die Einstellung der verwendeten Apparate verlangten laut du Bois-
Reymond dem Physiologen ingenieurstechnische und beinahe schon künstlerische
Fertigkeiten ab.
Endlich die einfachsten Versuche erfordern hier ein ungewöhnliches Aufgebot an Geduld, an Sorgfalt, an tausend kleinen Kunstgriffen […]. Der Multiplicator, wie ihn der Mechaniker zu liefern vermag, ist nicht [...] ein fertiges Kunstwerk, welches nur der Frage harrt, um Antwort zu ertheilen. Er ist wie eine noch nicht justirte Waage, der die redende Seele des feinen Gleichgewichts erst eingehaucht werden soll. Hier ist es ganz in die eigene Hand des Forschers gelegt, aus dem Instrumente das zu machen, dessen es bedarf, durch seine Aufstellung und durch die zarten Kräfte, welche das magnetische System regieren.212
Das Problem der Wärme ließ Helmholtz aber auch bei seinen Nervenleitversuchen nicht
los. In den „Messungen“ (1850) widmete er diesem Thema ein eigenes Kapitel.213
Helmholtz hatte bereits in der „Vorläufigen Mitteilung“ (1850) die Vermutung geäußert,
die Nervenleitgeschwindigkeit nähme mit sinkender Temperatur ab – er schloss das aus
längeren Reaktionszeiten, die ausschließlich an kälteren Tagen eintrat.214 In seinen
neuen Versuchen legte er den Nerv gezielt auf Eis, um den Einfluss der Kälte auf die
Leitfähigkeit zu testen. Es stellte sich heraus, dass in diesem Fall die Zeitspanne
210 Olesko/Holmes 1993 – Experiment, Quantification, and Discovery, S. 73211 Du Bois-Reymond 1848 – Untersuchungen über thierische Elektricität (1), S. XVI212 Ebd. S. XVII213 Vgl. im Folgenden: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 358f.214Vgl.: Helmholtz 1850 – Vorläufiger Bericht, S. 73
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zwischen Reiz und Muskelbewegung sich auf bis zu das Zehnfache erhöhte, und zwar
auch dann, wenn der elektrische Impuls bereits hinter der gekühlten Nervenstelle (zum
Muskel hin, sodass der Strom die gekühlte Stelle nicht passieren musste) oder direkt in
den Muskel induziert wurde. Helmholtz griff hier also auf seine früheren Versuche zur
Wärme in den Muskeln zurück und schloss thematisch daran an. Henning Schmidgen
meint, dass an dieser Stelle die Zeitmessungen am Nerv wohl am deutlichsten mit den
früheren Untersuchungen in Verbindung stünden.215 Helmholtz führte verschiedene
Versuchsreihen durch und hätte diese gern ausgeweitet, war aber auf die winterlichen
Außentemperaturen angewiesen. Das Eis war „in einem kleinen Glühtiegelchen von
Porzellan enthalten, welches mit Wasser gefüllt im Freien gestanden hatte, bis das
Wasser gefroren war.“216 Als der Winter aber mit milderen Temperaturen aufwartete,
waren Helmholtz' Versuchen ein Ende gesetzt, „weil die Temperatur der Luft höher
wurde, und die kleinen Eismassen […] schnell hinwegschmolzen.“217
4. Versuche am Menschen
Bereits im Frühjahr 1850 dehnte Helmholtz seine experimentellen Zeitmessungen auf den
Menschen aus. In einem Brief vom 5. April 1850 berichtete er du Bois-Reymond von
Fortschritten in seinen Versuchen, die er an sich und anderen Menschen anstellte.218 Wieder
assistierte ihm seine Frau Olga, dieses Mal nicht nur als Assistentin sondern in einer neuen
„Doppelrolle“ als Experimentatorin und Versuchsperson – sie war nun eine echte
Laborkraft geworden.219 Helmholtz berichtete du Bois-Reymond in einem weiteren Brief,
dass Olga nun „soweit in die die Physiologie eingeweiht ist, dass sie Versuchsreihen über
die Geschwindigkeit der Reizung in den Nerven an sich anstellen konnte.“220 In den
Versuchen induzierte der Experimentator „kleine elektrische Schläge durch verschiedene
Stellen des N[ervus] medianus an der inneren Seite des M[uskulus] bizeps“221, also an
215 Vgl. Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 103216 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 359217 Ebd. S. 362218 Vgl.: Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 94219 Vgl.: Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 164220 Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 163f.221 Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 94
47
motorischen Nerven, und ließ die daraus resultierende Bewegung der Hand den
zeitmessenden Strom wieder unterbrechen. Die in diesen Versuchen ermittelte
Fortpflanzungsgeschwindigkeit gab Helmholz mit 50 bis 60 Metern pro Sekunde an. In
weiteren Versuchen ließ er die Probanden einen an den sensiblen Nerven der Haut
induzierten kleinen Strom durch eine Handbewegung oder mittels der Zähne unterbrechen,
sobald sie den Schlag spürten. In diesem Fall handelte es sich im Gegensatz zu den
vorherigen Versuchen um eine bewusste Reaktion, die der Handbewegung zur
Stromunterbrechung vorausging. Das heißt, nicht die Zeit zwischen Reiz und
Muskelzuckung sondern die Zeit zwischen Reiz und Wahrnehmung des Reizes wurde
gemessen. In seinem Vortrag „Ueber die Methoden kleinste Zeittheile zu messen“222 vom
13. Dezember 1850 ging Helmholtz etwas genauer auf die angestellten Versuche ein.
Im Gehirn angekommen, vergeht eine Zeit von etwa 1/10 Secunde, ehe der Wille auch bei der angespanntesten Aufmerksamkeit die Botschaft an die Muskelnerven abzugeben im Stande ist, vermöge welcher gewisse Muskeln eine bestimmte Bewegung ausführen sollen. […] Nun läuft die Botschaft wahrscheinlich mit derselben Geschwindigkeit nach den Muskeln hin, und endlich vergeht noch etwa 1/100 Secunde, ehe der Muskel sich nach ihrer Empfangnahme in Thätigkeit setzt. Im Ganzen vergehen also von der Reizung der sensiblen Nervenenden bis zur Bewegung des Muskels 1 1/4 bis 2 Zehntheile einer Secunde.223
In einer Mitteilung, die nur noch als Entwurf in der Berliner Akademie der
Wissenschaften vorliegt, und die Helmholtz am 15. Dezember 1850, zwei Tage nach
seinem Vortrag „Ueber die Methoden“ (1850), an du Bois-Reymond übermittelte und
der ihn am 20. Dezember 1850 in der Physikalischen Gesellschaft vortrug, stellte
Helmholtz ebenfalls die Ergebnisse dieser Versuche am Menschen vor.224 Die
Nervenleitgeschwindigkeit gab er dort mit rund 60 Metern pro Sekunde an. Auf Basis
der ermittelten Fortpflanzungsgeschwindigkeit konnte Helmholtz die Zeit, die zwischen
der Wahrnehmung und der Willensentscheidung verstrich, berechnen. Helmholtz
bemerkt, dass die gemessene Zeit je nach Aufmerksamkeit bei verschiedenen Personen
und zu unterschiedlichen Zeiten variieren könne, aber bei gespannter Konzentration
sehr regelmäßig sei. Im Prinzip könne er aber nur den gesamten Prozess in einem, von
222 Vgl. im Folgenden: Helmholtz 1850 – Ueber die Methoden223 Helmholtz 1850 – Ueber die Methoden, S. 186224 Vgl.: Klauß, Klaus (1994): Die erste Mitteilung von H. Helmholtz an die Physikalische Gesellschaft über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den sensiblen Nerven des Menschen. In: NTM. Internationale Zeitschrift für Geschichte und Ethik der Naturwissenschaften, Technik und Medizin (2), S. 89–96
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Reiz bis (bewusste) Reaktion, messen, nicht aber die einzelnen Teilabschnitte. In seinen
Versuchen kam Helmholtz auch zu dem Ergebnis, dass mit zunehmender Nervenlänge
sich proportional auch die benötigte Reaktionszeit vergrößerte, wobei die
Fortpflanzungsgeschwindigkeit gleich blieb. Diese Tatsache sei beim Menschen nicht
problematisch, da die Nervenreize nur kurze Strecken zurückzulegen hätten, bis sie zum
Gehirn gelangten. Zum Problem würde dies nur, wenn die Nerven eben um einiges
länger wären, wie zum Beispiel beim Wal:
Für einen ordentlichen Wallfisch [sic] ist es vielleicht schlimmer; denn aller Wahrscheinlichkeit nach erfährt er vielleicht erst nach einer Secunde die Verletzung seines Schwanzes, und braucht eine zweite Secunde um dem Schwanz zu befehlen, er solle sich wehren.225
Helmholtz' Exkurs zu den Zeitmessungen an Menschen bezeugen den anfangs
beschriebenen von Abschweifungen und Umwegen gekennzeichneten Weg der
wissenschaftlichen Erkenntisfindung – Schmidgen beschreibt dieses Vorgehen bei
Helmholtz als „Driften“.226 Nachdem der Physiologe seine Versuche am Froschmuskel
mit der graphischen Methode getestet und dann mit der präziseren elektromagnetischen
Pouillet-Methode verfeinert hatte, schob er parallel dazu Versuchsreihen am
menschlichen Probanden ein. Schmidgen sieht für dieses erneute Driften drei Gründe.
Zum einen ginge es Helmholtz darum, sein neues Zeitmessverfahren möglichst breit zu
testen und die Produktivität desselben zu demonstrieren. Zweitens wollte Helmholtz die
stets an den modellhaft eingesetzten Froschmuskeln durchgeführten Versuche nun auch
auf die komplexer gestaltete Humanphysiologie ausweiten und damit indirekt auch auf
die Bedeutung seiner früheren, im vorigen Kapitel zum Teil beschriebenen,
Tierversuche aufmerksam machen. Ein weiterer Grund war die Erfahrung der schweren
Vermittelbarkeit seiner ersten Ergebnisse zu den Nervenleitversuchen am Frosch und
die zögerliche Aufnahme in der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Auf das Problem der
Kommunikation der Forschungsergebnisse wird im kommenden Kapitel unter 5.1
genauer eingegangen. Helmholtz setzte nun sein Driften fort: Er wendete sich wieder
der graphischen Methode mit einem verbesserten Apparat zu: dem Myographen.
225 Helmholtz 1850 – Ueber die Methoden, S. 189226 Vgl. im Folgenden: Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 167f.
49
5. Rückkehr zur graphischen Methode mit dem verbesserten Myographen
Zwei Jahre nach der Publikation seiner Messungen mit der elektromagnetischen
Methode, veröffentlichte Helmholtz die „Messungen über Fortpflanzungs-
geschwindigkeit der Reizung in den Nerven“227. Darin berichtete er über die
weiterentwickelte graphische Messmethode zur Aufzeichnung der Zuckungskurven
elektrisch gereizter Muskel. „Das Princip des Gebrauchs ist nicht ganz dasselbe wie bei
227Helmholtz, Hermann von (1852): Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den Nerven. In: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin, S. 199–216
50
Abbildung 7: Zeichnung von Teilen des verbesserten Myographen mit Schreibeeinheit, Zylinder, Schwungscheibe und Kegelpendel. Es fehlen Abbildungen vom Antrieb, der Stromzufuhr und der Aufhängung des Muskelpräparats. Letzteren Apparatsteil übernahm Helmholtz laut eigenen Angaben so, wie er ihn bei der Pouillet-Methode eingesetzt hatte und wie er in den „Messungen“(1850) abgebildet ist.
dem Apparate von Siemens.“228 Helmholtz spielt hier auf Siemens' Apparat zur
Ermittlung der Geschwindigkeit von Geschützkugeln an, dessen Funktion in Kapitel 3.1
erläutert wurde und dessen Funktionsweise in Teilen für Helmholtz' neuen Myographen
offensichtlich Pate stand. Sofern nicht anders gekennzeichnet bezieht sich die
technische Beschreibung des Myographen und des Versuchsablaufs auf Helmholtz'
Beschreibung in seinem Bericht von 1852.229
Ein Grund, die mit der komplizierten elektromagnetischen Messmethode bereits
erfolgreich durchgeführten Versuche zur Ermittlung der Nervenleitgeschwindigkeit
erneut vorzunehmen, lag für Helmholtz in der einfacheren Ausführbarkeit und vor allem
der größeren Anschaulichkeit der graphischen Methode. In einem Brief an Du Bois-
Reymond vom 17. September 1850 schrieb er:
Außerdem lasse ich mir jetzt einen Apparat mit rotierendem Zylinder zur Kurvenzeichnung bauen, mit dem ich neben manchem anderen auch hoffe, jedermann durch einen Versuch in 5 Minuten die Tatsache der Fortpflanzungsdauer in den Nerven vor Augen legen zu können.230
Der verbesserte Myograph hatte viele Vorteile. Ein Versuch konnte in kurzer Zeit
durchgeführt und die graphische Aufzeichnung der verzögert einsetzenden Bewegung in
Form der Zuckungskurve direkt betrachtet werden. Durch zwei nacheinander
ausgeführte Kurven, bei denen jeweils die dem Muskel nahe und ferne Nervenstelle
gereizt wurde, konnte auch ohne lange Versuchsreihen auf einfachem Wege die
Nervenleitgeschwindigkeit ermittelt werden. Wie bereits beschrieben musste bei der
Pouillet-Methode aus verschiedenen Messwerten die Nervenleitgeschwindigkeit erst
mühsam errechnet werden. „Am Ende stand eine nackte Zahl, ein Durchschnittswert.
Die Kurven dagegen machten Bewegung und durch diese hindurch Zeit sichtbar.“231 Bei
der Aufzeichnungsmethode mit Schreibzylinder war der Muskel mit einem Stift
verbunden, der bei jeder Zuckung des Muskels die vertikale Erhebung auf einen
rotierenden Zylinder übertrug. Er zerlegte sich in drei grundlegende Bestandteile: die
Aufschreibeeinheit bestehend aus Zeichenstift, Hebel, Verbindungsteile zum Muskel
228 Helmholtz 1850 – Ueber die Methoden, S. 185229 Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung230Helmholtz in einem Brief vom 17. September 1850 an Emil du Bois-Reymond, in: Dokumente einer Freundschaft. Briefwechsel zwischen Hermann von Helmholtz und Emil du Bois-Reymond 1846-1894 (1986). Kirsten, Christa (Hg.). Berlin. S. 106.231 Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 42
51
und dem drehbaren Zylinder; das Uhrwerk mit Kegelpendel und die Vorrichtung zur
rechtzeitigen Auslösung des Stromstoßes. Galvanometer und Fernrohr fielen weg,
ebenso das leitende Zwischenstück mit dem Gold- und Quecksilberkontakt sowie die
Schale mit den Gewichten. Einzig die feuchte Kammer, in der der Muskel hing und der
Stromkreis zur Reizung des Präparats blieben erhalten.232 Erst in dieser Kombination
beider Apparatsteile – der Halterung für den Muskel mit der Glaskuppe und dem
stromleitenden Zwischenstück zum einen und dem drehbaren Zylinder samt Zeichenstift
– kann vom Myographen gesprochen werden, oder wie Helmholtz ihn zunächst auch
nannte: Froschzeichenapparat. Auf die Idee, den neuen Apparat Myograph
beziehungsweise Myographion zu nennen, kam Helmholtz erst später. In einem Brief an
du Bois-Reymond vom 13. Juni 1854 schrieb er:
"Für das physiologische Institut in Gießen wird
jetzt hier ein Froschzeichenapparat oder, wie ich
ihn künftig pompös benennen werde, ein
Myographion gebaut [...]."233 Der
„Muskelschreiber“ verweist schon in seinem
Namen auf die Tätigkeit eines
Aufschreibesystems.234 Helmholtz hatte die
graphische Einheit von Anfang an mitgedacht:
Wie eingangs erwähnt, besaß sein Prototyp
bereits Zeichenstift und Drehzylinder. Um seine
Messergebnisse anschaulicher zu präsentieren,
kam er nun auf diese Methode zurück. Als
Vorbild des Myographen gilt Carl Ludwigs
Kymograph, ein Apparat zur graphischen
Darstellung des Blutdrucks.235 Ludwig führte den
232 Vgl.: Ebd. S. 189233 Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 144f.234 In Anlehnung an Kittlers Definition des Begriffs „Aufschreibesysteme“, der bei ihm „das Netzwerk von Techniken und Institutionen bezeichne[t], die einer gegebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlauben.“ (Kittler; Friedrich A. (1985): Aufschreibesysteme. 1800 / 1900. München: Wilhelm Fink Verlag, S. 501)235 Für detaillierte Beschreibungen von Aufbau und Funktionsweise des Kymographen vgl.: Ludwig, Carl (1847): Beiträge zur Kenntnis des Einflusses der Respirationsbewegungen auf den Blutlauf im Aortensysteme. In: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin Johannes Müller (Hg.), Berlin, Von Veit et Comp., S. 242–302; Langendorff, Oskar (1891): Physiologische Graphik. Ein Leitfaden der in der Physiologie gebräuchlichen Registrirmethoden. Leipzig/Wien: Deuticke, S. 194f.
52
Abbildung 8: Ludwigs Kymograph diente der grafischen Darstellung des Blutdrucks.
Apparat seinen Berliner Kollegen, unter ihnen auch Helmholtz, im Frühjahr 1847 vor.236
Als kurvenzeichnende Apparate orientierten sich Kymograph und Myograph an
Verfahren aus dem Maschinenbau, genauer gesagt an James Watts
Dampfdruckindikator.237
Der sogenannte Dampfdruckindikator gab […] Auskunft über das physikalische Innenleben einer laufenden Maschine. Der Indikator unterrichtete über das Verhalten des Dampfdrucks während der Kolbenbewegung im Zylinder, indem er in einem geschlossenen Linienzug die Druckverhältnisse auf eine rotierende Metallwalze aufzeichnet.238
Ludwig selbst wies auf auf das Vorbild Watts im
Zusammenhang mit Helmholtz' Myographen hin:
„Die mitgetheilte Curve hat Helmholtz unmittelbar durch den Froschmuskel zeichnen lassen; es geschah dieses nach den Grundsätzen des graphischen Verfahrens von Watt.“239
Im Gegensatz zum Myographen, bei dem mit dem Froschmuskel nur ein isolierter Teil
toten organischen Materials am Experiment mitwirkte, bezog der Kymograph das
gesamte noch lebende Tier, Kaninchen oder Hund, in das Experimentalsystem ein – ein
zentraler Unterschied, wie Sven Dierig betont.240 Dierig verwendet in Bezeichnung das
Apparates mit all seinen Komponenten den Begriff der Maschine. Auch die organischen
Physiker sprachen von ihren Apparate als Maschinen241 und das implizierte auch das
verwendete organische Material beziehungsweise den gesamten tierischen Organismus.
Du Bois-Reymond verglich das Spiel der Muskeln wiederholt mit der Arbeit der
anorganischen Dampfmaschinen.242 Am 9. Februar 1852 schrieb er in einem Brief an
236 Vgl.: Dierig, Sven (2006): Wissenschaft in der Maschinenstadt. Emil-Du Bois-Reymond und seine Laboratorien in Berlin. Göttingen: Wallstein, S. 115237 Vgl.: Ebd. S. 116238 Ebd. S. 108239 Ludwig, Carl (1852): Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Physiologie der Atome, der Aggregatzustände, der Nerven und Muskeln. Heidelberg: Akademische Verlagshandlung von C.F. Winter (1). S. 333240 Vgl.: Dierig 2006 – Wissenschaft in der Maschinenstadt, S. 116241 Zum Beispiel Helmholtz in einem Brief an Du Bois-Reymond vom 26. Oktober 1856, In: Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 163242 Vgl.: Du Bois-Reymond, Emil (1912): Gedächtnisrede auf Johannes Müller. Gehalten in der Leibniz-
53
Abbildung 9: Clair's Druckindikator für Dampfmaschinen.
Helmholtz: „Es ist ein Schauspiel für die Götter, den Muskel arbeiten zu sehen, wie den
Zylinder einer Dampfmaschine.“243
Das Ziel des Verfahrens mit Apparaten wie dem Myographen war es, Regelmäßigkeit
und Genauigkeit herzustellen – vergleichbar mit der industriellen Maschinenproduktion.
So wie Siemens in der Telegraphen-Bauanstalt die gleichmäßige und präzise Herstellung ein und desselben Produkts unter konstanten Bedingungen mittels der Maschine zum Ziel hatte, sollten die Registrier- und Aufzeichnungsgeräte im physiologischen Labor Regelmäßigkeit und Genauigkeit sichern.244
Helmholtz beauftragte für die genaue Ausarbeitung aller Teile einen ortsansässigen
Mechaniker. Der für die Aufzeichnung verwendete Zylinder sei „von dem hiesigen
Mechanikus Herrn Rekoss, der auch die übrigen Theile des Apparats gebaut hat,
äusserst genau cylindrisch aus Glas geschliffen worden.“245 Dierig vergleicht die Arbeit
des Mechanikers mit der des physiologischen Experimentators. Beide zielten auf „die
immergleichen, maschinellen und vom Eingreifen des Forschers unabhängigen –
maschinell objektiven – Herstellungsbedingungen.“246 Bemerkenswert in diesem
Zusammenhang ist die Betonung der durch die Maschinen erzeugten Objektivität. Auch
Lorraine Daston spricht von einer „mechanischen Objektivität“ der Maschinen, die dem
Eingriff des Menschen völlig entzogen sei:
Eine hervorstechende Form der Objektivität – nennen wir sie „mechanische Objektivität“ - zielt auf die Ausschaltung aller Formen des menschlichen Eingriffs in die Natur ab; […] durch den Einsatz von Maschinen – denken wir an Vorrichtungen, die automatisch etwas registrieren und aufzeichnen […].247
In seinem Leitfaden zur physiologischen Graphik hebt Oskar Langendorff248 neben der
Sitzung der Akademie der Wissenschaften am 8. Juli 1858. In: Estelle Du Bois-Reymond (Hg.): Reden von Emil Du Bois-Reymond, Bd. 1. 2. Aufl. 2 Bände. Leipzig: Veit & Comp., S. 135–317. Online verfügbar unter http://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/library/data/lit28628?, zuletzt geprüft am 11.11.2011. S. 206243 Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 123244 Dierig 2006 – Wissenschaft in der Maschinenstadt, S. 118245 Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 206246 Dierig 2006 – Wissenschaft in der Maschinenstadt, S. 118247 Daston, Lorraine (2000): Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität. In: Otto Gerhard Oexle (Hg.): Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit - Gegensatz - Komplementarität? 2. Aufl. Göttingen: Wallstein, S. 9–39, hier S. 34248 Langendorff 1891 – Physiologische Graphik
54
Objektivität, die diese automatisierte und selbstregistrierende Methode bietet, außerdem
die Universalität der Sprache der Kurven hervor, die für jeden ungeachtet seine
sprachlichen Herkunft begreifbar sei.
Indem die darzustellende Bewegung alle ihre Veränderungen, auch die schnellsten und vorübergehendsten, selbst markirt, indem sie von jeder Zunahme und jeder Abnahme in der Zeit eine deutliche Spur hinterlässt, gibt die erhaltene Curve, unbeeinträchtigt von den Unvollkommenheiten unserer Sinnesorgane, unbeeinträchtigt von jeder Voreingenommenheit des Beobachters, das treueste Bild von dem Ablauf jener Bewegung, das überhaupt gewonnen werden kann. Sie stellt ein documentarisches Versuchsprotokoll dar, wie es objectiver nicht gedacht werden kann. Sie redet in einer Sprache, die, den gebildeten aller Zungen verständlich, als eine wissenschaftliche Weltsprache bezeichnet werden könnte.249
Diese Eigenschaften der Universalität und Verständlichkeit wollte Helmholtz sich
zunutze machen.
5.2 Die Aufschreibeeinheit
249 Langendorff 1891 – Physiologische Graphik, S. 10
55
Abbildung 10: Aufschreibeeinheit des Myographen mit Zylinder (rosa) sowie Schreibvorrichtung mit Hebel und Stift (grün). (Grafikausschnitt eingefärbt von d. Verf.)
Helmholtz' Myograph gehört in die Klasse der selbstregistrierenden Apparate. Deren
Prinzip beruht darauf, die darzustellende Bewegung auf einen Schreibstift zu übertragen
und seine Lageveränderung auf eine an ihm vorbeiziehende Fläche aufzuzeichnen.250
Helmholtz wendete die Methode der Stirnschreibung an, bei der, im Gegensatz zur
seitlichen Tangentialschreibung, der Schreibstift rechtwinklig zur Schreibfläche steht.251
Die erste Herausforderung bei der Konstruktion der zeichnenden Spitze war ihre
Geradführung, sie also nur vertikale und keine horizontalen Bewegungen ausführen zu
lassen. Helmholtz entschied sich dafür, die Spitze an einem zusammengesetzten
Hebelwerk zu befestigen.252 Die Spitze war direkt an einem senkrechten Hebel befestigt,
der an der Oberseite über eine horizontal beweglichen Achse mit einem waagerechten
metallenen Hebel in Form eines Rahmens253 verbunden war.
Der Hebel-Rahmen war am anderen Ende
ebenfalls über eine horizontale Achse
beweglich – dies gewährleistete, dass die
Spitze ausschließlich vertikale Bewegungen
ausführte. Die Mitte dieses Hebel-Rahmens
war über eine Stellschraube mit einem
weiteren Rahmen verbunden, der wiederum
über einen Haken von dem Muskel getragen
wurde. „Wenn sich dieser zusammenzieht, hebt
er also den [waagerechten] Hebel[-Rahmen]
[...], und mit ihm die zeichnende Spitze.“254 Aufgrund seiner Größe übertrug der
„Schreibrahmen“ die Muskelbewegung zweifach vergrößert.255 Der Druck, den die
Spitze auf den rotierenden Zylinder ausübt, konnte über Gewichte, die an einem
befestigten Querarm verschiebbar waren, reguliert werden. Mit dieser
Befestigungsweise vermied Helmholtz außerdem größere Reibungsverluste, die
250 Vgl.: Langendorff, Oskar (1891): Physiologische Graphik. Ein Leitfaden der in der Physiologie gebräuchlichen Registrirmethoden. Leipzig/Wien: Deuticke. S. 11251 Zur Technik der Tangential- und Stirnschreibung Vgl.: Langendorff, Oskar (1891): Physiologische Graphik. Ein Leitfaden der in der Physiologie gebräuchlichen Registrirmethoden. Leipzig/Wien: Deuticke. S. 47ff.252 Vgl. im Folgenden Fig. 1 in: Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 217253 Vgl.: Langendorff 1891 – Physiologische Graphik, S. 276254Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 202255 Vgl.: Langendorff 1891 – Physiologische Graphik, S. 276
56
Abbildung 11: Schreibrahmen, der Muskel und Schreibstift verbindet.
Reibung der einzelnen Teile war sehr gering und mitunter sogar kleiner, als die der
zeichnenden Spitze.256
Eine zu geringe Reibung konnte jedoch auch negative Effekte haben. Oskar
Langendorff warnt in seinem 1891 publizierten Überblickswerk zu den physiologischen
Registriermethoden davor, die
Reibung zwischen Stift und
Zeichenfläche zu gering
werden zu lassen, da so
möglicherweise Eigenschwing-
ungen des Apparates mit aufgezeichnet würden. „Theorie und Praxis lehren nämlich
übereinstimmend, dass Eigenschwingungen gewisser Schreibapparate durch nichts
besser gedämpft werden, als wenn man einen kleinen Reibungswiderstand einführt.“257
Ein weiteres Problem ergab sich aus der
vertikalen Bewegung des Schreibhebels.
Hob sich der Stift nämlich, so entfernte
sich die Spitze nach und nach von der
Schreibfläche, wie die Abbildung 13
zeigt. Das Hebelwerk zur Gewährleistung
der Geradführung der Zeichenspitze
sorgte dafür, dass die Spitze immer am
Zylinder angelegt war. Die entfernende
Bewegung des Schreibhebels bei Hebung
desselben wurde also durch den zweiten
senkrechten Hebel, an dem sich das
Gewicht befand, ausgeglichen. In diesem Fall vergrößerte sich die Entfernung der
angelegten Schreibspitze von der Drehachse des Schreibhebels und damit auch die
Zeichnung.
256 Vgl.: Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 202257 Langendorff 1891 – Physiologische Graphik, S. 79
57
Abbildung 13: Der Schreibhebel as1 ist am Zylinder cy angelegt. Wird der Hebel gehoben, entfernt er sich immer mehr vom Zylinder, sodass die Spitze nach und nach die Positionen s2 und s3 einnehmen würde.
Abbildung 12: Mit einem Helmholtzschen Myographen gezeichnete Muskelkurve. Die Schwankungen am Ende stammen von Eigenschwingungen des Schreibhebels.
Soll nun die Schreibspitze sich stets dem Cylinder anlegen, so ist das nur denkbar, wenn bei wachsenden Erhebungen des Hebels die geradlinige Entfernung von a zur zeichnenden Spitze in demselben Maasse zunimmt, wie der beschriebene Bogen von der Cylinderfläche abweicht. [...]Dadurch ist aber eine mit der Erhebung des Schreibhebels wachsende Vergrößerung der Zeichnung bedingt.258
Diese Fehlerquelle wird bei kurzen Hebeln problematisch, minimiert sich jedoch, je
länger der Hebel ist.259
5.3 Antrieb und Regelung
Als Antrieb für den Zeichenzylinder diente
ein Uhrwerk. Die Schwierigkeit hierbei war,
das Uhrwerk und letztendlich den Zylinder
permanent gleichförmig drehen zu lassen –
eine Aufgabe, die laut Helmholtz, von der
Mechanik seinerzeit noch nicht gelöst
worden war.260 Gewöhnlich wurde ein
Kegelpendel mit entsprechendem Gewicht an
den Enden als Regulator des Ganges
eingesetzt. Angeregt durch das Uhrwerk
vollführte das Kegelpendel eine
Kreisbewegung um die vertikale Achse. Je
nach Größe und Richtung des ersten
Anstoßes führte das Pendel abwechselnd
kreis- und ellipsenförmige Bewegungen aus.
Im Falle der Ellipsen drehten sich Pendel und
Uhrwerk schneller in den Punkten, wo das
Pendel seinem vertikalen Mittelpunkt näher
war und langsamer in den zur Vertikalen
258 Ebd. S. 53f.259 Ebd. S. 54260 Vgl.: Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 202
58
Abbildung 14: Der nicht abgebildete Antrieb ist mit einem Zahnradgetriebe verbunden, unterhalb hängt das Kegelpendel und oberhalb ist die Schwungscheibe aufgesetzt.
entfernteren Punkten.261 Das bedeutet, die Drehungsgeschwindigkeit war
Schwankungen ausgesetzt, die sich direkt auf die Messkurve auswirkten. Beim
Kymographen spielten diese Schwankungen kaum eine Rolle, da eine Umdrehung des
Zylinders vielen Umdrehungen des Kegelpendels entsprach.262 Bei Helmholtz'
Myographen war das anders: Hier drehte sich der zu beschreibende Zylinder sechs Mal
pro Sekunde und das Kegelpendel ungefähr ein Mal pro Sekunde. Für die Messungen
mit dem Myographen, die extreme Genauigkeit erforderten, wären diese Schwankungen
zum Problem geworden. Bei so kleinen Abweichungen wäre es nicht möglich, den
Übergang des Kegelpendels von der Kreisbewegung zur elliptischen Bewegung – und
umgekehrt – zu erkennen und zu verhindern. Aber gerade weil die zu messenden
Zeiträume sehr klein waren, sah Helmholtz eine Chance die Messungen immer
zwischen den Schwankungen durchzuführen, wenn die Drehung gerade eine stabile
Phase durchlief. Bedingung wäre, dass die Schwankungen nur langsam vor sich gehen
würden, sodass genug Zeit bliebe, einen günstigen Zeitpunkt für den Messvorgang zu
erkennen und selbigen zu starten.263 Um die Veränderungen der Geschwindigkeit zu
verlangsamen, integrierte Helmholtz in seine Apparatur eine 0,5 Kilogramm schwere
und mit Blei ausgegossene Schwungscheibe. Durch ihre Schwere würden etwaige vom
Kegelpendel ausgehende Schwankungen in der Drehbewegung nur verlangsamt auf den
Zylinder übertragen werden. Die Schwungscheibe war mittig an der Achse befestigt, die
an ihrem unteren Ende durch das Uhrwerk angetrieben wurde und am oberen Ende den
Zeichenzylinder trug. Am unteren Ende der Schwungscheibe liefen zwei drehbare
Flügel in einer kreisförmigen und mit Öl gefüllten Rinne. Die in der Höhe verstellbare
Rinne und die beweglichen Flügel dienten der Regulierung der
Uhrwerksgeschwindigkeit.
Das Kegelpendel war zwar nicht als Gangregulator einsetzbar, jedoch konnte es
durchaus als Mittel dienen, die Größe der Umdrehungsgeschwindigkeit zu erkennen.
Die beiden Schwungkugeln des Pendels hingen an einer Achse, die durch ein 48 Zähne
zählendes Zahnrad gedreht wurde. Dieses Zahnrad stand mit dem restlichen Uhrwerk,
das durch ein fallendes Gewicht angetrieben wurde,264 in Verbindung und griff
261 Vgl.: Ebd. S. 203262Vgl.: Ebd. S. 203263 Vgl.: Ebd. S. 204264 Langendorff 1891 – Physiologische Graphik, S. 274
59
gleichsam in das 12-zahnige Rad der Achse, welche die Schwungscheibe und den
Zylinder antrieb. Wir wissen bereits, dass diese Achse, die den Zeichenzylinder trug,
sich sechs Mal pro Sekunde drehen sollte. Das bedeutet, dass das Zahnrad mit den 48
Zähnen, an dem das Pendel hing, sich vier Mal so langsam bewegte, also 1,5 Mal pro
Sekunde. Anhand der Umdrehungszeit, der Schwerkraft und des Winkels, in dem die
ruhenden Kugeln standen, errechnete Helmholtz die nötige Länge der Pendel und stellte
sie entsprechend ein. Aus der Berechnung ging auch die optimale Position der Kugeln
für die Messphasen hervor. Mit Beginn der Rotation bewegten sich die Kugeln immer
weiter auseinander. Solange der Abstand zwischen beiden Kugeln weniger als die Hälfte
ihres Radius betrug, war sichergestellt, dass die Drehgeschwindigkeit weniger als ein
Vierhundertstel von ihrem eigenen Wert abwich.265 Nachdem er das Uhrwerk in Gang
gesetzt hatte, konnte Helmholtz also über die Position der sich drehenden Pendelkugeln
den günstigen Moment für eine stabile Messung erkennen. Die Schwungscheibe mit
ihrem Gewicht diente dabei zur Verlangsamung der Änderung der Geschwindigkeits-
schwankungen, sodass jede Änderung der Geschwindigkeit mit Verzögerung eintrat und
Helmholtz genügend Zeit hatte, die Aufzeichnung durchzuführen.
Das Prinzip, dessen Helmholtz sich mit dem
Kegelpendel bediente, stammt aus dem
Maschinenbau. Es entspricht dem für
Dampfmaschinen eingesetzten Fliehkraftregler
zur Regulierung der Ganggeschwindigkeit.
Dieser bestand […] aus zwei Kugelgewichten, die so an einer Welle befestigt waren, dass sie sich gegen die Kraft einer Rückhaltefeder scherenartig auseinanderbewegten, sobald die Drehzahl der Welle anstieg. Bei hoher Geschwindigkeit und bei Überschreitung einer kritischen Größe drosselte der Fliehkraftregler über einen Hebel die Dampfzufuhr zum Zylinder.266
265 Vgl. Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 206266 Dierig, Sven (2006): Wissenschaft in der Maschinenstadt. Emil-Du Bois-Reymond und seine Laboratorien in Berlin. Göttingen: Wallstein. S. 108f.
60
Abbildung 15: Fliehkraftregler einer Dampfmaschine, Science Museum London.
Wie oben beschrieben nutzte Helmholtz das Kegelpendel anfangs nur, um den richtigen
Zeitpunkt der Messung bemerken zu können und musste in diesem Moment noch selbst
eingreifen, um den Versuch zu starten. Einige Jahre später hatte er den Apparat soweit
verbessert, dass auch dieser Eingriff automatisch ausgeführt wurde. Im Mai 1856
schrieb er an Du Bois-Reymond:
Ich habe es [das Myographion, Anm.d.Verf.] noch nachträglich mit einer Reihe von Hebeln versehen, welche bewirken, daß, sowie die Schwungkugeln anfangen sich zu heben, die Maschine selbst den Zeichenapparat auslöst und dies nicht mehr vom Experimentator abhängt. Dadurch habe ich eine noch größere Regelmäßigkeit erzielt.267
In dieser modifizierten Version übernahm der Myograph nun auch die Selbstregelfunktion
der Dampfmaschine, nur dass in diesem Fall nicht die Dampfzufuhr gedrosselt, sondern
der myographische Schreibautomat aktiviert wurde. Der Myograph ist nicht nur ein
tatsächliches Beispiel für einen Techniktransfer zwischen Maschinenbau und Physiologie,
wie Dierig betont268, der Apparat bezeugt auch
den Einfluss der Welt außerhalb des Labors
auf die Arbeitsweise der Physiologen. In
Potsdam, Helmholtz' Geburtsstadt, und in
Babelsberg wurden Dampfmaschinen für
Besucher kunstvoll in Szene gesetzt.
Im Babelsberger Maschinenhaus trat das eiserne Schwungrad der Maschine, das mit sechs Metern Durchmesser ein Viertel der Raumhöhe durchmaß, zur Hälfte aus einem Schlitz in der Wand, um den Bewegungseffekt der Speichen zu verstärken. Die Drehung der polierten Eisenkugeln des Fliehkraftreglers unter einer Lichtquelle an der Decke des Schauraumes ließ diese metallen erglänzen und dynamische Rotationsfiguren erzeugen. Im unteren Bereich stampfte der Kolben und zischten die Steuerventile. Von einer umlaufenden Besichtigungsgalerie aus konnte die arbeitende Maschine beobachtet und in ihrem Glieder- und Formenspiel bewundert werden.269
267 Kirsten, Christa (u a. Hg ). (1986): Dokumente einer Freundschaft. Briefwechsel zwischen Hermann von Helmholtz und Emil du Bois-Reymond 1846-1894. Hg. v. Christa Kirsten. Berlin. S. 161268 Dierig 2006 – Wissenschaft in der Maschinenstadt, S. 108f.269 Ebd. S. 89f.
61
Abbildung 16: Innenraum des ehemaligen Dampfmaschinenhauses vom Park Sanssouci in Potsdam. Der Fliehkraftregler ist oben mittig zu erkennen.
In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vermehrte sich die Zahl der
Dampfmaschinen in Berlin zunehmend: 1820 waren es acht und 1840 bereits 47 an der
Zahl.270 Die größten Maschinen versorgten in den 1840er Jahren die
Bewässerungsanlagen der königlichen Parkanlagen in Potsdam und Babelsberg. Die
Gegenwart der Maschinen spiegelte sich, so Dierig, auch im Denk- und Sprachstil der
Organischen Physiker wider.271 In einer 1882 gehaltenen Rede bezeichnete du Bois-
Reymond es als eine „physiologische Tatsache […], daß unsere Denkformen überhaupt
sich an der regelmäßigen Wiederkehr äußerer Vorgänge entwickelt haben.“ und betont
„[d]as Bedürfnis, diese Vorgänge und jene Denkformen [...] in Einklang zu sehen […].“272
5.4 Die Vorrichtung zur rechtzeitigen Auslösung des
elektrischen Schlages
Genau wie bei seinen ersten Messversuchen mit Pouillets Methode stand Helmholtz
auch bei dem Myographen vor der Schwierigkeit, die Aufzeichnung synchron mit dem
elektrischen Reiz starten zu lassen. Dazu hatte er wieder eine kleiner Apparatur gebaut,
die diese Anforderungen erfüllen soll. Sie bestand aus einem beweglichen Brettchen, an
270 Vgl. im Folgenden: Ebd. S. 89271 Ebd. S. 92272 Du Bois-Reymond, Emil (1912): Goethe und kein Ende. In der Aula der Berliner Universität am 15. Oktober 1882 gehaltene Rektoratsrede. In: Estelle Du Bois-Reymond (Hg.): Reden von Emil Du Bois-Reymond, Bd. 2. 2. Aufl. 2 Bände. Leipzig: Veit & Comp., S. 157–183, hier S. 172
62
Abbildung 17: Die zur rechtzeitigen Auslösung des elektrischen Schlages notwendigen Bauteile sind farbig markiert. (Grafikausschnitt eingefärbt von d. Verf.)
dem ein Stahlstab befestigt war, der per Hand die Position des Brettchens wie bei einer
Wippe änderte. Den Grad der Änderung beschränkten zwei verschieden hohe
Stahlschrauben unterhalb des Brettchens. Auf der oberen Seite des Brettchens war eine
durch zwei Metallplatten gehaltene drehbare Achse eingesetzt. An dem der
Schwungscheibe zugewandten Ende der Achse war ein senkrechter Hebelarm befestigt,
dessen oberes Ende in Richtung des Schwungscheibenrands gebogen war und bei
Rotation derselben von einem Vorsprung dieses Randes getroffen wurde, sofern das
entsprechende Ende des beweglichen Brettchens auf der höher eingestellten vorderen
Stahlschraube ruhte. Durch Drücken des am Brettchen befestigten Stahlstabes sank das
hintere Ende des Brettchens auf die niedrigere hintere Schraube, was zur Folge hatte,
dass der Hebel sich von der Schwungscheibe entfernte und der Scheibenvorsprung ohne
Berührung an dem gebogenen Hebelarm vorbeizog. In der Achse, die mit diesem
Hebelarm verbunden war, befanden sich zwei Drahtklemmen mit Kupferdrähten. Die
amalgamierte Spitze des einen war in ein Quecksilbernäpfchen eingetaucht und die
Platinspitze des anderen ruhte auf einem Platinblättchen. Durch ein leichtes
Übergewicht der Achse stand die Platinspitze stets mit dem Platinblättchen und das
Platinblättchen über einen Draht und eine Klemme außerdem mit einem weiteren
Quecksilbernäpfchen unterhalb des Brettchens in leitender Verbindung. Dieser Kontakt
wurde in dem Augenblick unterbrochen, wenn der Vorsprung der Schwungscheibe
gegen den Hebelarm stieß. Durch die Quecksilbernäpfe
wird der Strom eines Daniell'schen Elements geleitet, in dessen Kreis gleichzeitig eine Drahtspirale No. 1 eingeschaltet ist. Diese liegt in einer zweiten solchen Spirale No. 2, deren Enden mit dem Nerven in Verbindung gesetzt sind. In dem Moment also, wo der Daumen [i.e. der Vorsprung der Schwungscheibe, Anm. d. Verf.] […] gegen den Hebel […] stößt, wird der Strom in No. 1 unterbrochen, und dadurch in No. 2 ein inducierter Strom erregt, welcher den Nerven durchfährt. […] Der Moment des Stoßes fällt also genau mit dem Moment der Nervenreizung zusammen.273
Die hintereinander geschalteten Drahtspiralen bewirkten eine Verstärkung des
Stromstoßes. Der die Achse und den Hebelarm tragende Stahlstab war über eine Schnur
außerdem mit der zeichnenden Spitze verbunden. Der Stab hatte die Funktion, den
Zeichenstift vom Zylinder entfernt zu halten, solange keine Zeichnung ausgeführt
werden sollte. Durch Drehung des Stahlstabes wickelte sich die Schnur auf denselben
273 Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 208
63
und so konnte der entsprechende Abstand der Spitze vom Zeichenzylinder eingestellt
werden. Die Apparatur war so justiert, dass der Stift bei jeder Aufzeichnung an
derselben Stelle des Zylinders startete, sodass mehrere sich überlagernde
Kurvenzeichnungen mögliche waren.
5.5 Ablauf des Versuchs mit dem Myographen
Der Zylinder wurde vor der Benutzung mittels einer Lichtflamme mit einer leichten
Rußschicht versehen, in die später die zeichnende Spitze die Zuckungskurve kratzte.
Bevor der gesamte Versuch starten konnte, musste auf dem Zylinder noch eine
Markierung, die dem Augenblick der Reizung entsprach, gesetzt werden. Dazu ließ
Helmholtz den Zeichenstift an den Zylinder anlegen und drehte die Schwungscheibe
ganz langsam in die Position, bei der der Vorsprung am Schwungscheibenrand den
Hebel berührte. Diese Berührung löste den Stromstoß aus, brachte den Muskel zum
Zucken und ließ den Zeichenstift am angehaltenen Zylinder eine vertikale Linie
zeichnen.
Es ist klar, dass diese Verticallinie an der Stelle gezeichnet wird, wo der Stift in dem Augenblicke des Zusammenstosses von Hebel und Daumen, d.h. im Augenblicke der Reizung steht.274
Sobald der Vorsprung der Schwungscheibe sich also auf Höhe des Hebelarms befand,
zeigte die Zeichenspitze auch immer auf die gesetzte Markierung auf dem
Zeichenzylinder. Nachdem die Markierung gesetzt war, startete der Versuch durch
Herunterdrücken des Stahlstabes. In dieser Haltung berührte der Zeichenstift den
Zylinder nicht und auch der Hebel konnte nicht vom Vorsprung der Schwungscheibe
getroffen werden. Jetzt wurde auch das Uhrwerk gestartet. Ob die richtige
Geschwindigkeit erreicht war, ließ sich über die Position der Pendelkugeln feststellen:
„Sobald man bemerkt, dass die Schwungkugeln sich zu trennen anfangen, kann die
Zeichnung ausgeführt werden.“275 Der Stahlstab konnte jetzt losgelassen werden,
274 Ebd. S. 209f.275 Ebd. S. 210
64
worauf sich das Brettchen samt Hebel senkte und der Zeichenstift anlegte. „Nun geht
der Daumen nicht mehr an dem Hebel vorüber, sondern trifft ihn, wirft ihn um und
bewirkt dadurch die Zuckung, deren Verlauf auf dem Cylinder sich aufzeichnet.“276 Der
Hebel war so montiert, dass er bei Berührung mit dem Vorsprung der Schwungscheibe
umkippte, und so bei einer erneuten Drehung kein weiterer Stromstoß ausgelöst wurde.
Ein Versuch implizierte also einen Stromstoß, wobei nur eine einzige Zuckungskurve
aufgezeichnet wurde. Für weitere Aufzeichnungen musste die gesamte Prozedur
wiederholt werden. Darin bestand auch der große Vorteil dieses Verfahrens gegenüber
der Pouillet-Methode: Mit der graphischen Methode konnte Helmholtz leicht zwei
Kurven direkt miteinander vergleichen.
Der grosse Vortheil der beschrieben Methode besteht darin, dass man in jeder einzelnen Zeichnung zweier zusammengehöriger Curven unmittelbar aus ihrer Gestalt erkennen kann, ob der Muskel in beiden Fällen gleichmäßig gearbeitet habe, während wir dasselbe bei der electromagnetischen Zeitmessungsmethode nur aus einer langen Reihe von Einzelversuchen entnehmen konnten.277
Helmholtz stellte in seinen Versuchen wieder Messungen von verschiedenen Enden des
am Muskel befindlichen Nervs an. Dazu ließ er jeweils zwei Kurven übereinander
ausführen: die eine von der dem Muskel näher stehenden Nervenstelle und die andere
von der entfernteren Nervenstelle. Um die beiden Kurven später voneinander
unterscheiden zu können, zeichnete er in die Rußschicht mit einer Starnadel gekrümmte
Häkchen „so an den auf- und absteigenden Theil der ersten Curve, dass sie von der
zweiten abgewendet standen.“278
Um die Kurven auf der Rußschicht des Zylinders aufbewahren zu können, wurde der
Zylinder aus der Apparatur entnommen und auf einer „angehauchten Fischleimplatte
276 Ebd. S. 210277 Ebd. S. 215278 Ebd. S. 210f.
65
Abbildung 18: Zwei mit dem Myographen hintereinander ausgeführte Kurven. Die eingezeichneten Häkchen halfen dabei, später die erste von der zweiten Kurve zu unterscheiden.
[…] von der Art, wie sie die Kupferstecher zum Copiren der Zeichnungen gebrauchen“279 abgerollt. Der Fischleim wurde aus der Schwimmblase von Fischen gewonnen und
unter anderem auch als Kit für Glas und Porzellan eingesetzt.280 Kupferstecher nutzten
zu dünnen Schichten verarbeiteten Fischleim, sogenannte Leimfolie oder Glaspapier,
zur Anfertigung von Reproduktionen. Helmholtz war diese Technik vermutlich bekannt,
er ließ seine Skizzen zum Aufbau der Apparate zum Beispiel von Kupferstechern zu
Druckgrafiken umarbeiten. In diesem Zusammenhang wirkte du Bois-Reymond wieder
als Mittelsmann. In einem Brief vom 22. April 1850 schrieb ihm Helmholtz:
Ich möchte Dich dabei mit der Bitte belästigen, die Revision der Kupfertafel zu übernehmen, auf welcher der ziemlich minutiöse und komplizierte Apparat abgebildet ist, vermittels dessen der Froschmuskel den Strom öffnet. […] Nur einige zur Deutlichkeit nötige Schattierungen befriedigen mich nicht, vielleicht kannst du mündlich dem Kupferstecher über einige Punkte der Ausführung noch Rat geben; ich werde deshalb bei der Übersendung Müller ersuchen, Dir denselben noch vor Beginn des Stichs zuzuschicken.281
Helmholtz machte sich beim Verfertigen der Abdrücke seiner Kurvenbilder also einen
Teil der Kupferstechertechnik zunutze. Beim Abrollen des Zylinders blieb dabei der
Ruß auf der klebrigen Leimplatte haften, wobei die freigekratzen Kurvenspuren
ausgespart blieben. Der Abdruck zeigte die Kurven nun aber gespiegelt. Deshalb wurde
von der berußten Seite des Leimblatts ein weiterer Abdruck auf einem nassen weißen
Blatt Papier angefertigt. „Die Curven erscheinen dann weiss auf schwarzem Grunde,
und sind sehr deutlich sichtbar.“282
Die Versuche zur Fortpflanzungsgeschwindigkeit eines Reizes im Nerven mit dem
Myographen bestätigten die Ergebnisse aus den Versuchen mit Galvanometer, obwohl
sich der horizontale Abstand der beiden Kurven nicht mit sehr großer Genauigkeit
messen ließ. Bei einem Kurvenpaar betrug dieser Abstand zum Beispiel einen
Millimeter. Bei einem Zylinderumfang von 85,7 mm und sechsfacher Drehung
desselben pro Sekunde betrug die Länge der Abszisse für eine Sekunde das Sechsfache
des Zylinderumfangs, also 514,2 Millimeter.
279 Ebd. S. 211280 Vgl.: Schmidgen 2009 - Die Helmholtz-Kurven, S. 59281 Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 96282 Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 211
66
Die Länge von 1mm entspricht also 1/514,2 Sekunde. Die Länge der Nervenleitung war 53mm; daraus folgt die Fortpflanzungsgeschwindigkeit von 27,25 Metern in der Sekunde. Der wahrscheinlichste Werth aus den früheren Versuchen war 26, 4 Meter.283
Als bedeutend hebt Soraya de Chadarevian – trotz der eingeschränkten Genauigkeit
beim Abmessen des Kurvenabstands – hervor, dass die graphische Methode, zu der
Helmholtz hauptsächlich wegen ihrer Anschaulichkeit zurückkehrte, beinahe genauso
präzise Ergebnisse lieferte wie die elektromagnetische Methode, die er anfangs aus
Gründen der höheren Genauigkeit vorzog:
Die allerdings nun sehr verfeinerte graphische Methode […] lieferte einen Wert, der 'ungefähr ebenso groß' war wie der Wert, den er mit der genaueren, aber viel langwierigeren und weniger anschaulicheren Methode galvanometrischer Messungen und statistischer Berechnungen erzielt hatte.284
5.6 Die Methode der Kurven
Die Methode der Kurven läutete in der Physiologie eine neue Ära der Darstellung von
Forschungsergebnissen ein. Laut Wolfgang Schäffner haben wir es bei graphischen
Schreibapparaten mit einem „neuen Instrumententyp“ zu tun, „der die von ihm
kontinuierlich erzeugten Daten auch ebenso kontinuierlich als Funktion der Zeit
speichert.“285 Während Helmholtz bei der Messmethode mit dem Galvanometer die
angezeigten Werte mühsam und mit Unterstützung seiner Frau Olga ablesen und
notieren musste, übernimmt bei den graphischen Apparaten der Zeiger auch die
Funktion des Aufschreibens, der Speicherung. Der Zeiger zeigt, so Schäffner, und liefert
Messdaten, ohne sie jedoch zu speichern – Erzeugung und Speicherung der Daten sind
zwei voneinander getrennte Operationen.286 Erst in der Verbindung von Zeiger und
283 Ebd. S. 216284 Chadarevian, Soraya de (1993): Die 'Methode der Kurven' in der Physiologie zwischen 1850 und 1900. In: Hans-Jörg Rheinberger und Michael Hagner (Hg.): Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950. Berlin: Akademie Verlag, S. 28-49, hier S. 39285 Schäffner, Wolfgang (2003): Mechanische Schreiber. Jules Etiennes Mareys Aufzeichnungsmaschinen. In: Bernhard Siegert und Joseph Vogl (Hg.): Europa: Kultur der Sekretäre. Zürich/Berlin: diaphanes, S. 221–234, hier S. 226286 Vgl.: Ebd. S. 226
67
Schreiboberfläche können kontinuierliche Datenströme dargestellt werden. Im Vergleich
zur Handschrift, ist nicht nur der Stift an der Schrift beteiligt. Die bewegte Oberfläche
des Zylinders trägt maßgeblich dazu bei, dass die Kurve sich räumlich entfalten kann.
Die „Bewegung des automatisierten Schreibens“ setzt sich also aus „zwei isolierten,
sich überlagernden Schreibbewegungen“ zusammen.287 Schäffner führt bei seinem
Beispiel das automatisierte Schreiben auf Papier an.
Mechanisches Schreiben entzieht also dem Schreibstift Aktivitäten wie etwa die Tinte und seine Fortbewegung und agentiviert stattdessen das Papier selber: Statt passive Schreibfläche zu sein, liefert das Papier den Schreibstoff und ersetzt zugleich die Bewegung der Hand über das Papier durch seine eigene Bewegung.288
Die Beteiligung des Schreiboberfläche am Schreibvorgang gilt ebenso beim
Myographen, bei dem nicht auf Papier geschrieben, sondern die Kurve in die berußte
Fläche des Drehzylinders gekratzt wird. Der Schreibstift des Myographen schreibt also
nicht in dem Sinne, wie ein Stift, der Tinte oder ein sonstiges Material auf eine Fläche
wie Papier aufträgt. Vielmehr kehrt sich dieser Vorgang um, denn der Stift entfernt auf
seinem Weg den Ruß, wodurch die Kurvenspur sichtbar wird. Dies ist, laut Schäffner,
nichts anderes als Löschen, eine Inversion der Schrift. „Kein Schwarz auf Weiß also
produzieren diese mechanischen Sekretäre, wie es die Schrift bis dahin prägt, sondern
ein Negativ dazu.“289
Die Kurven sind allerdings nicht selbsterklärend – sie bedürfen der Auslegung und
Erklärung. Dem Wissenschaftler kommt nach Latour dabei die Rolle des Stellvertreters
zu, der mit Hilfe der Kurve auf ein wissenschaftliches Objekt verweist, er erhält eine
„quasi politische Funktion“.290 Der Akt der Stellvertretung ist eng verknüpft mit der
Inskription, in unserem konkreten Beispiel der anhand der Aufschreibeeinheit des
Myographen in den Zylinder eingekratzten Kurve. Latour versteht unter Inskriptionen
sämtliche Formen von Spuren, seien es Texte in Form von Veröffentlichungen,
Buchstaben, Linien, Flecken, Punkte oder Zahlen.291 Die Inskriptionen verweisen
287 Ebd. S. 227288 Ebd. S. 228289 Ebd. S. 228290 Vgl.: Schmidgen, Henning (2011): Bruno Latour zu Einführung. Dresden: Junius. S. 66291 Vgl.: Ebd. S. 66
68
allerdings zunächst auf die Einschreibevorrichtung selber und nur durch die Apparate
vermittelt auf das in Frage stehende wissenschaftliche Objekt.292
Was steht hinter den Behauptungen [der Wissenschaftler]? Texte. Und hinter den Texten? Weitere Texte, die immer technischer werden, weil sie immer weitere Texte einbringen. Hinter diesen Artikeln? Graphen, Inskriptionen, Etiketten, Tabellen, Karten, die stapelförmig angeordnet sind. Hinter diesen Einschreibungen? Instrumente, die – was auch immer ihre Form, ihr Alter und ihre Kosten sind – den Zweck haben, verschiedene Spuren zu kritzeln, zu zeichnen und niederzuschreiben. Hinter den Instrumenten? Stellvertreter aller Art, die die Kurven kommentieren und ‚einfach‘ sagen, was sie bedeuten. Hinter ihnen? Eine große Anzahl von Instrumenten. Und hinter ihnen? Kraftproben, um den Widerstand der Verbindungen zu bewerten, die die Repräsentanten an das binden, wovon sie sprechen.293
Der Status des wissenschaftlichen Fakts, dessen was Helmholtz „gefunden“ hat,
schwankt laut Latour zwischen Konstruktion und Faktizität, denn Inskriptionen sind
etwas Gemachtes, sie werden mithilfe von Maschinen hergestellt. Gleichwohl
verweisen sie unbestritten auf Phänomene, wissenschaftliche Objekte,
Naturerscheinungen, die nicht konstruiert sind. Latour versteht diesen „Zwitterstatus“,
um mit Schmidgen zu sprechen,294 in dem Sinne,
dass Fakten einerseits experimentell gemacht werden und nicht aus ihrer von Menschen hergestellten Einbettung herauszulösen sind; und dass es andererseits entscheidend ist, dass sie nicht fabriziert werden und dass etwas herauskommt, dass kein Menschenwerk ist.295
In diesem Licht betrachtet kommt der Kommunikation der Forschungsergebnisse eine
besondere Rolle zu. Deshalb soll im Folgenden auf die Probleme eingegangen werden,
mit denen Helmholtz auch während seiner Nervenleitversuche konfrontiert war.
292 Vgl.: Ebd. S. 124f.293 Deutsche Übersetzung zitiert nach: Ebd. S. 124. Originalfassung: Latour, Bruno (1987): Science in Action. How to follow scientists and engineers through society. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press. S. 79294 Vgl.: Schmidgen 2011 – Bruno Latour zu Einführung, S. 73295 Latour, Bruno (1990): The Force and the Reason of Experiment. In: Homer H. E. Le Grand (Hg.): Experimental Inquiries. Historical, Philosophical and Social Studies of Experimentation in Science. Dordrecht: Kluwer, S. S. 49-80, hier S. 64
69
5.1 Kommunikation und Rezeption der Forschungsergebnisse
Helmholtz musste sich schon früher mit der Problematik der Verständlichkeit von
Wissenschaft beschäftigen. Sein Bericht „Über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der
Nervenreizung“ von 1850, den du Bois-Reymond am 18. Januar 1850 in der
Physikalischen Gesellschaft vortrug296, wurde dort zunächst nicht verstanden. In einem
Brief berichtet du Bois-Reymond, über die Makel, die er in Helmholtz' Bericht sah:
Du hast die Sache nämlich, nimm es mir nicht übel, so maßlos dunkel dargestellt, dass dein Bericht höchstens für eine kurze Anleitung zur Wiedererfindung der Methode gelten konnte.297
Du Bois-.Reymond überarbeitete Helmholtz' Schrift schließlich sprachlich in
Eigenverantwortung298 und stellte sie daraufhin in der Pariser Académie des Sciences
vor.299 Als Reaktion auf diese Umarbeitung berichtete Helmholtz über seine
Schwierigkeiten beim Verfassen eines kurzen Berichtes zum Stand seiner aktuellen
Forschung, der sich an ein unterschiedlich vorgebildetes Publikum richtete.
Die Abfassung einer solchen Note ist deshalb so schwer, weil sie doch hauptsächlich nur eine kurze Andeutung für den Sachverständigen sein soll, zu welcher dieser sich das Einzelne hinzu erfinden muss, und es viel misslicher ist zu beurteilen, an welches Niveau der Kenntnisse man sich wenden muss, als es bei der Ausarbeitung in extenso der Fall ist, wo man auf ein möglichst niedriges rechnet.300
Laut Olesko und Holmes war das Problem der Verständlichkeit unter anderem in der
komplizierten Messmethode mit Galvanometer, die Helmholtz anfangs verwendete,
begründet. Sie eignete sich nicht gut für Demonstrationszwecke, denn sie setzte beim
Rezipienten ein gewisses Maß an Verständnis im Umgang mit quantitativen Messwerten
und den von Helmholtz angestellten Berechnungen voraus.301 Mit Hilfe du Bois-
Reymonds konnte Helmholtz aber auch diese Hürde überwinden.
296 Vgl.: Emil du Bois-Reymond in einem Brief vom 19. März 1850 an Hermann von Helmholtz, In: Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 92 sowie Anmerkung 1 zu Brief 14, In: Ebd., S. 279297 Ebd. S. 92298 Vgl.: Ebd. S. 92299 Vgl.: Anm. 1 zu Brief 16, In: Ebd. S. 280300 Helmholtz in einem Brief vom 22. April 1850 an du Bois-Reymond, In: Ebd. S. 96f.301 Vgl.: Olesko/Holmes 1993 – Experiment, Quantification, and Discovery, S. 101
70
Ohnehin ist du Bois-Reymonds Rolle als Freund, Kollege, Berater und Vermittler kaum
zu überschätzen. Über ihn hatte Helmholtz unter anderem Anschluss an ein verzweigtes
wissenschaftliches Netzwerk, dass sich zwischen Königsberg, Berlin und Paris
aufspannte. In Berlin waren es sein Lehrer Johannes Müller und Gustav Magnus sowie
die Physikalische Gesellschaft. In Paris die Académie des Sciences, wobei auch
Alexander von Humboldt eine Rolle spielte, der gute Kontakte nach Frankreich pflegte.302
Außerdem vermittelte du Bois-Reymond zwischen Helmholtz und den Berliner
Feinmechanikern, wie dem bereits erwähnten Johann Georg Halske. Schmidgen spricht
bei Helmholtz' Nervenleitversuchen von einer „Kooperation auf Distanz“ mit du Bois-
Reymond, von einem „einzigen wissenschaftlichen Projekt“, das nur personell und
räumlich verteilt war.303 In einem intensiven Briefwechsel hielten sich beide Forscher
über den Fortschritt ihrer Arbeit und auch private Ereignisse auf dem Laufenden. Das
Thema der Verständlichkeit von Wissenschaft war immer wieder Thema in den Briefen,
insbesondere auch gegenüber der Frauenwelt. Auch das weibliche Publikum war an den
wissenschaftlichen Ergebnissen interessiert, nur richtete sich die Kritik einiger
Zuhörerinnen du Bois-Reymonds gegen eine zu große Verständlichkeit. So stieß zum
Beispiel du Bois-Reymonds Versuch, eine wissenschaftlichen Rede in verständlicher
Form zu verfassen, bei der weiblichen Hörerschaft auf Empörung. In einem Brief an
Helmholtz vom 18. März 1851 schrieb er:
Gib meine Rede Deiner angenehmen Hausfrau zu lesen. Die Damen sind empört darüber gewesen, dass ich ihnen verständlich gewesen sei, was ich von ihnen dächte? Und von mir hatte man etwas Wissenschaftlicheres erwartet. [...] [Ich] werde große Mühe haben, meinen Ruf als exakter Forscher wieder zu erobern.304
Helmholtz selbst beobachtete diesen Trend ebenfalls und schlug seinem Freund vor,
dem Wunsch der Zuhörerschaft nachzukommen und in den Ausführungen durchaus
einige Rätsel stehen zu lassen, um das Interesse wachzuhalten.
Meine Frau lässt Dich freundlich grüßen; ich habe ihr Deine Vorlesung vorgetragen, da sie aber soweit in die Physiologie eingeweiht ist, dass sie Versuchsreihen über Geschwindigkeit der Reizung in den Nerven an sich anstellen konnte, bei anderen selbst Magnetometer-Ablesungen machte etc., so hat sie sich zur Partei derjenigen geschlagen, welche behaupten,
302 Vgl. Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 105303 Ebd. S. 106304 Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 106
71
Du hättest dich zu verständlich gemacht. Dagegen höre ich, hast Du in Berlin auch viele unbedingte Bewunderinnen. Es ist unmöglich bei solchen Gelegenheiten, es allen recht zu machen, jedenfalls aber wohl dankbarer, es den Zuhörern nicht zu leicht zu machen und für den großen Haufen einige Rätsel stehen zu lassen, deren Verständnis vielleicht nur einer kleinen Zahl der Zuhörerschaft aufgeht. Für jene anderen ist es im Grunde immer besser, ihre Verwunderung als ihr Verständnis anzuregen.305
Gleichwohl des geäußerten starken Wunsches, in Staunen und Verwunderung versetzt
zu werden, wandte sich Helmholtz mit dem Myographen einer Methode zu, die mehr
Verständlichkeit und Einsicht versprach.
6. Schluss
Ziel der vorliegenden Arbeit war es, den keineswegs geradlinigen sondern vielmehr
mäandernden Weg der Erkenntnis in Helmholtz' nervenphysiologischen Versuchen
nachzuzeichnen sowie interne und externe Faktoren, ihre Konnexionen, verschiedene
Einflüsse und Teilnehmer der Forschungsmaschine – ob Personen, Tiere oder Dinge –
zu ermitteln und näher zu beleuchten. Das Mäandern oder auch Driften, wie Schmidgen
Helmholtz' Vorgehen wiederholt beschreibt,306 widerspricht einer Vorstellung von
Planmäßigkeit und Systematik. Weniger geradlinig erscheint das Vorgehen im
Experiment eher eine „überraschende Reihung von Vorwärts-, Rückwärts- und
Seitwärtsbewegungen“307 zu sein.
305 Helmholtz an du Bois-Reymond in einem Brief vom 11. April 1851, In: Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 112306 Vgl.: Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven307 Ebd. S. 15
72
Abbildung 19: Der Weg zur wissenschaftlichen Erkenntnis verläuft eher verschlungen als geradlinig.
Das Driften äußert sich insbesondere im Wechsel der angewendeten Methoden, die alle
das gleiche Ziel, nämlich die Untersuchung der Muskelbewegung und schließlich die
Ermittlung der Nervenleitgeschwindigkeit hatten. Angefangen beim einfachen
graphischen Apparat wechselt Helmholtz zur elektro-magnetischen Methode, schiebt
dazwischen Versuche am Menschen ein, um schließlich wieder zur maschinellen
Kurvnezeichnung mit dem verbesserten Myographen zurückzukommen. Der
Experimentier- und Messapparatur kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Schmidgen
definiert das Experimentalsystem als "Zukunftsmaschine", da es nicht nur einen
technischen Ablauf stabil reproduziert, sondern zusätzlich etwas Neues hervorbringt
beziehungsweise so konstruiert ist, dass es durchlässig genug ist für das
Unvorhergesehene.308 Nicht nur Stabilität, sondern auch Permeabilität waren
dementsprechend wesentliche Merkmale des Experimentalsystems zur Ermittlung der
Nervenleitgeschwindigkeit. Nachdem Helmholtz mit seinem einfachen Kurven-
zeichnungsapparat den Verlauf der Muskelzuckung untersuchte, machte er die
überraschende Entdeckung einer nicht unbeträchtlichen Zeitverzögerung zwischen
Muskelreiz und Muskelzuckung. Die Bauweise des, gleichwohl nur zu Testzwecken
gebauten, einfachen Apparats erfüllte also genau die zwei genannten Anforderungen an
ein Experimentalsystem: Es lief bereits stabil genug, um aussagekräftige Ergebnisse zu
reproduzieren, und war offen genug, um den Hinweis auf eine neue Entdeckung zu
geben: die der viel geringer als bis dato geglaubten Nervenleitgeschwindigkeit.
Helmholtz begnügte sich aber nicht mit diesem Hinweis, er wollte, ganz in der Manier
eines Organischen Physikers, apparat-gestützte präzise Ergebnisse vorweisen, die den
unumstößlichen Beweis liefern sollten. Inspiriert von Methoden der Präzisionsmessung
in der Ballistik, wie sie zum Beispiel Siemens anwendete, unternahm Helmholtz
schließlich eine Reihe weiterer Versuche mit der elektromagnetischen Methode nach
Pouillet. Helmholtz beschränkte sich also nicht auf die Erforschungen, die der
Physiologie entstammten, sondern informierte sich gezielt über Messmethoden aus
anderen Disziplinen. So ermöglichte er, und wie sich zeigte immer wieder im Laufe
seiner Arbeit, den Transfer von Technologien und Methoden aus verschiedenen
308 Schmidgen, Henning (1999): Experimentalisierung als Thema einer kulturwissenschaftlich orientierten Physiologie- und Psychologiegeschichtsschreibung. In: Physiologische und psychologische Praktiken im 19. Jahrhundert: ihre Beziehungen zu Literatur, Kunst und Technik. Workshop, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, S. 11–22. Online verfügbar unter http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/Preprints/P120.PDF, zuletzt geprüft am 22.03.2011. S. 16f.
73
Bereichen in die Physiologie. Ein Ort, der diesen Austausch ermöglichte, war die
Physikalische Gesellschaft in Berlin, in der Helmholtz mit Medizinern, Physikern,
Mechanikern und Vertretern des Militärs, wie Siemens, in Kontakt kam. Das Bild eines
einsam im Labor vor sich hin brütenden Forschergenies trifft auf Helmholtz keineswegs
zu, im Gegenteil: vielmehr zeigte er sich als interdisziplinär arbeitender und im regen
Austausch stehender Forscher und auch Techniker, der die Grenzen seiner Disziplin zu
überschreiten bereit war.
Es revidiert sich auch eine beliebte Darstellung, die Forschern bestimmte
„Entdeckungen“ alleinig zuschreibt. Wie in Kapitel 3.2. beschrieben, hatte vor
Helmholtz bereits der italienische Physiker Matteucci ganz ähnliche Versuche
unternommen, und die Vermutung liegt nahe, dass Helmholtz dessen
Forschungsarbeiten kannte oder zumindest über seinen Freund und Kollegen du Bois-
Reymond davon gehört hatte. Helmholtz verfeinert die Methoden jedoch und legt
größten Wert auf Präzision. Im Mittelpunkt schon seiner früheren physiologischen
Arbeiten stehen die (Mess-)Apparate, die Helmholtz in der Manier eines Ingenieurs
oder Mechanikers für seine Zwecke justiert und anpasst. Ein weitere wichtige Rolle
spielt die gründliche Fehleranalyse, unter anderem mit Methoden aus der Mathematik
zur Berechnung der wahrscheinlichsten Messwerte. Nicht zu vergessen sei jedoch das
Präparat, an dem die Versuche ausgeführt wurden: an Froschmuskeln samt Nerv. Sie
wurden häufig für elektrische Versuche verwendet und erwiesen sich als ideales Modell
für derartige Versuche. Obwohl Helmholtz sich selbst nicht explizit dazu äußert, lässt sein
Ausspruch von den „Märtyrern der Wissenschaft“ – gemeint sind die Frösche – sowie die
Vermeidung des unnötigen Einsatzes von Tierversuchen in seinem direkten
wissenschaftlichen Umfeld, wie etwa von Müller oder Ludwig, vermuten, dass auch
Helmholtz selbst sich der ethischen Herausforderung bewusst war, die sich jeder Forscher
und Mensch immer wieder stellen muss, wenn er über den Einsatz von Tierexperimenten
entscheidet. Gleichwohl erhielt der Frosch, gestützt durch Galvanis und Voltas Versuche,
aber auch durch du Bois-Reymond eher den Status einer Maschine, eines organischen
Werkzeuges und Bauteils. Wurde der tierische Organismus in Analogie zur Maschine
betrachtet, so fanden die Muskel- und Nervenleitversuche generell in einer Zeit des
74
Maschinenglaubens in der sich industrialisierenden Welt statt.309 Die sich entwickelnde
Telegraphie fand mit Gauss' und Webers Spiegel- und Fernrohr-Ablesemethode, die
auch in der Geophysik Anwendung fand, direkten Eingang in Helmholtz' Labor.
Helmholtz sah den telegrafischen Kommunikationsprozess aber auch in Analogie zu
Abläufen der Nachrichtenübertragung auf den Nervenbahnen im menschlichen Körper.
Mit dem Bau des verbesserten Myographen kommt Helmholtz auf die zu Beginn seiner
Versuche zur Muskelbewegung eingesetzte Methode der maschinellen
Kurvenzeichnung zurück. Die Rückkehr zu dieser Methode verdeutlicht, wie wichtig es
war, seine Forschungsergebnisse anschaulich und schnell einem Publikum vorzustellen.
Davon konnte regelrecht der Erfolg eines Projektes abhängen, denn, wie Helmholtz am
eigenen Leib erfuhr, war die allein zu fachlich formulierte und knappe
Berichterstattung, an eine teilweise nur spärlich vorgebildete beziehungsweise aus
anderen Forschungszweigen stammende Zielgruppe, ein schwieriges Unterfangen. Der
Myograph sollte die Kommunikation der Forschungsergebnisse erleichtern. Bei dieser
Apparatur bediente sich Helmholtz, auch im Rückgriff auf Ludwigs Kymographen, der
Technologie von Dampfmaschinen – ein weiteres Beispiel für den Technologietransfer
aus physiologie-fremden Gebieten. Ermöglicht wurden diese Transfers auch durch das
Forschungsnetzwerk, das sich innerhalb der Forschungsgemeinde und zwischen den
Forschern der verschiedensten Disziplinen spannte, wobei Emil du Bois-Reymond
immer eine wichtige Mittlerrolle spielte. Beide Schüler von Johannes Müller und
Mitglieder in der Physikalischen Gesellschaft tauschten sich über die Jahre intensiv in
Briefen über ihre Forschungsarbeit und insbesondere auch Helmholtz' nerven-
physiologische Arbeiten aus. Du Bois-Reymond beriet Helmholtz, stellte Kontakte zu
Wissenschaftlern, Mechaniker und Kupferstechern her, stellte Helmholtz' Berichte in
der Berliner Akademie und in Paris vor, schrieb die Berichte sogar in eine
verständlichere Form um und ermöglichte dadurch sicherlich auch den eintretenden
Erfolg von Helmholtz Unterfangen. Aber auch Mechaniker wie Halske oder Rekoss, die
Teile von Apparaten für Helmholtz bauten und mit ihm abstimmten, spielten ein große
Rolle beim Gelingen der Versuche. Nichtzuletzt Helmholtz' Frau Olga, die diverse
Assistenzaufgaben übernahm, als Versuchsperson fungierte und sogar eigene Versuche
309 Vgl.: Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 17; Siehe dazu auch Brain, Robert M.; Wise, Norton M. (1994): Indicator Diagrams and Helmholtz's Graphical Methods. In: Lorenz Krüger (Hg.): Universalgenie Helmholtz. Rückblick nach 100 Jahren. Berlin: Akademie Verlag, S. 124–145
75
durchführte, ist ein wesentlicher Bestandteil der Experimente und eine genauere
Untersuchung ihres Anteils, der in dieser Arbeit nicht stattfand, wäre sicherlich
lohnenswert.
In seiner Rezension von Schmidgens „Helmholtz-Kurven“, die auch für die Verfassung
der vorliegenden Arbeit eine große Bedeutung gespielt hat, bringt Stefan Rieger die
Problematik aber auch die Notwendigkeit von Arbeiten, die sich auf die Apparate und
ganze Forschungsmaschinen konzentrieren, zum Ausdruck.310 So würde ihnen häufig
ihre Akribie und Materialverliebheit vorgeworfen und ihre Relevanz für ein breiteres
Publikum in Zweifel gezogen. Rieger hebt dagegen hervor, dass diese Form der
Wissenschaftsgeschichtsschreibung – eine kulturwissenschaftlich geprägte, möchte ich
hinzufügen – jedoch den Weg frei mache auf einen andere Sicht auf die Wissenschaft
und das Wissen selbst. Er schreibt:
[Diese andere Sicht] bricht mit den Mythen eines ingenialen und intentionalen Forschungshandelns und stellt den Wissenschaftsbetrieb selbst als Forschungsmaschine dar, die Kontingenzen produziert und prozessiert: Dieses Wissen ist ohne Kenntnis ihrer Bestandteile, den Laboratorien und Instituten, den Apparaturen und Experimentalanordnungen, aber auch den Usancen der Publikationspolitik und den Eigendynamiken der Forschungshandelns nicht zu haben.311
Die vorliegende Arbeit versucht auf eben diese Weise, wenn auch nicht alle
erwähnenswerten Bereiche Berücksichtigung finden konnten, ein Licht auf die
Forschungsmaschine, die sich um Helmholtz' Versuche zur Nervenleitgeschindigkeit
entfaltete, zu werfen und dadurch das Spektrum einer neuen Sichtweise auf die
Forschungspraxis zu eröffnen.
310 Vgl. im Folgenden: Rieger, Stefan: Henning Schmidgen, Die Helmholtz-Kurven. Auf der Spur der verlorenen Zeit. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 34 (2011): Rezensionen. WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim. S. 82-83, hier S. 83311 Rieger, Stefan: Henning Schmidgen, Die Helmholtz-Kurven. Auf der Spur der verlorenen Zeit. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 34 (2011): Rezensionen. WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim. S. 82-83, hier S. 83
76
7. Abbildungsverzeichnis
Umschlaggestaltung/Titelcollage: Franziska Roeder
Abbildung 1: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 365, Fig. 3
Abbildung 2: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 365, Fig. 1
Abbildung 3: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 365, Fig. 1
Abbildung 4: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 365, Fig. 7
Abbildung 5: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 365, Fig. 6
Abbildung 6: Meyers Konversationslexikon (1885-1892), Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, S. 880
Abbildung 7: Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 217, Fig. 1
Abbildung 8: Langendorff 1891 – Physiologische Graphik, S. 195
Abbildung 9: Combes (1855): Ueber einen Druck Indicator für Dampfmaschinen. In:‐ Polytechnisches Journal 135, S. 246–256. Online verfügbar unter http://dingler.culture.hu-berlin.de/article/pj135/ar135054, zuletzt geprüft am 15.11.2011
Abbildung 10: Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 217, Fig. 1
Abbildung 11: Langendorff 1891 – Physiologische Graphik, S. 276
Abbildung 12: Langendorff 1891 – Physiologische Graphik, S. 278
Abbildung 13: Langendorff 1891 – Physiologische Graphik, S. 53
Abbildung 14: Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 217, Fig. 1
Abbildung 15: Foto: Mirko Junge (Wikipedia, CC-BY-SA)
Abbildung 16: Foto: Franziska Roeder
Abbildung 17: Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 217, Fig. 1
Abbildung 18: Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 20, Fig. 6
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Abbildung 19: Sarton, George (1952): A Guide to the History of Science. A First Guide for the Study of the History of Science With Introductory Essays on Science and Tradition. Waltham, Mass., U.S.A.: Chronica Botanica Company, S. 39
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