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„Ein Mikroskop für die Zeit“ Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz' Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit Magisterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Magister Artium (M.A.) im Fach Kulturwissenschaft Humboldt-Universität zu Berlin Philosophische Fakultät III Institut für Kultur- und Kunstwissenschaft Eingereicht von: Franziska Roeder Betreut durch: Prof. Dr. Christian Kassung Zweitgutachter: Prof. Dr. Wolfgang Schäffner Berlin, Dezember 2011

„Ein Mikroskop für die Zeit“ - Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz' Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit (Magisterarbeit)

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Thema der Magisterarbeit ist die kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz' Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit. Mit dem von ihm konstruierten Myographen wies der Physiologe Hermann von Helmholtz Mitte des 19. Jahrhunderts nach, dass eine bestimmte Zeit vergeht, bis es zur Reaktion bzw. Zuckung eines Muskels kommt, nachdem ein elektrischer Reiz induziert wurde.

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„Ein Mikroskop für die Zeit“

Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz'

Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit

Magisterarbeit zur Erlangung des akademischen GradesMagister Artium (M.A.) im Fach Kulturwissenschaft

Humboldt-Universität zu Berlin

Philosophische Fakultät III

Institut für Kultur- und Kunstwissenschaft

Eingereicht von:

Franziska Roeder

Betreut durch: Prof. Dr. Christian Kassung

Zweitgutachter: Prof. Dr. Wolfgang Schäffner

Berlin, Dezember 2011

Page 2: „Ein Mikroskop für die Zeit“ - Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz'  Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit (Magisterarbeit)

Inhaltsverzeichnis

1. Helmholtz und das Experimentalsystem zur Messung der Nervenleitgeschwindigkeit.............2

2. Erste Testversuche mit der graphischen Methode und dem „einfachen Apparat“.....................6

3. Hinwendung zur präziseren elektromagnetischen Methode mit dem Galvanometer..............10

3.1 Methoden der präzisen Zeitmessung in der Ballistik........................................................11

3.2 Methode der präzisen Zeitmessung in der Physiologie...................................................14

3.3 Das „Froschgestell“.........................................................................................................17

3.3.1 Exkurs: Der Frosch als Bauteil und Maschine ........................................................20

3.3.2 Tierversuche in der physiologischen Forschung .....................................................24

3.4 Zeitmessung mit Galvanometer, Spiegel und Fernrohr – Technologietransfer aus

Geophysik und Telegraphie...................................................................................................27

3.5 Berechnung der Zeit .......................................................................................................31

3.6 Fehleranalyse mit Methoden der exakten Wissenschaften..............................................32

3.7 Die Rolle des Experiments in Helmholtz' Forschungsarbeit............................................36

4. Versuche am Menschen.........................................................................................................47

5. Rückkehr zur graphischen Methode mit dem verbesserten Myographen ..............................50

5.2 Die Aufschreibeeinheit.....................................................................................................55

5.3 Antrieb und Regelung .....................................................................................................58

5.4 Die Vorrichtung zur rechtzeitigen Auslösung des elektrischen Schlages.........................62

5.5 Ablauf des Versuchs mit dem Myographen......................................................................64

5.6 Die Methode der Kurven ................................................................................................67

5.1 Kommunikation und Rezeption der Forschungsergebnisse.............................................70

6. Schluss................................................................................................................................... 72

7. Abbildungsverzeichnis............................................................................................................77

8. Literaturverzeichnis................................................................................................................78

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1. Helmholtz und das Experimentalsystem zur Messung der Nervenleitgeschwindigkeit

Ungläubig nahm August Helmholtz (1792-1858) die am 29. März 18491 von seinem

Sohn an ihn versendeten Zeilen auf. Der im selben Jahr auf das Amt des Physiologie-

Professors in Königsberg berufene Hermann von Helmholtz2 (1821-1894) verkündete

seinem Vater in einem Brief, er habe nachgewiesen, dass eine gewisse Zeit vergeht, bis

ein Reiz einen Muskel in Bewegung setzt.3 Der junge Helmholtz hatte im Experiment

an Froschmuskeln den Beweis erbracht, dass bis zur Reaktion eines Muskels auf einen

Stromstoß eine „messbare Zeit“4 vergeht und vergleichbare Versuche auch am

Menschen vollzogen.5 Dem Vater erschien „das Resultat [der Untersuchungen] etwas

wunderlich“6, sah er doch die „Gedanken und körperlichen Affecte nicht als ein

Nacheinander, sondern als ein Zugleich“7 an. Helmholtz' Vater stand mit dieser

Sichtweise nicht allein da. Die meisten Physiologen dieser Zeit nahmen an, Nervenreize

würden sich mit Lichtgeschwindigkeit fortpflanzen und die Messung der

Nervenleitgeschwindigkeit würde darum ausgeschlossen sein. Selbst Helmholtz' Lehrer,

der angesehene Physiologe Johannes Müller (1801-1858), hatte nur wenige Jahre zuvor

erklärt, dass aufgrund der Schnelligkeit, mit der sich Nervenreize, ähnlich wie das Licht,

fortbewegen würden, es wohl nie möglich wäre, ihre Geschwindigkeit zu ermitteln.8

Helmholtz' Entdeckung widerlegte diese Annahme. Im Zentrum dieser Arbeit steht die

Apparatur, die diese Entdeckung ermöglichte, genauer gesagt: die Apparaturen. Denn

Helmholtz bediente sich bei der Erforschung der Muskeltätigkeit und des

Nervenprinzips zweier verschiedener Methoden und infolgedessen auch

unterschiedlicher Apparate. Der erste Apparat ist der – allerdings erst später so genannte

1 Vgl.: Koenigsberger, Leo (1902): Hermann von Helmholtz. 3 Bände. Braunschweig: Friedrich Viehweg und Sohn (1). S. 1202 Vgl.: Ebd. S. 1113 Vgl.: Ebd. S. 1204 Helmholtz, Hermann von (Januar 1850): Vorläufiger Bericht über die Fortpflanzungs-Geschwindigkeit der Nervenreizung. Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin. In: Monatsbericht der Königlichen Akademie der Wissenschaften, S. 71–73, hier S. 715 Helmholtz in einem Brief vom 5. April 1850 an du Bois-Reymond. Vgl.: Dokumente einer Freundschaft. Briefwechsel zwischen Hermann von Helmholtz und Emil du Bois-Reymond 1846-1894 (1986). Hg. v. Christa Kirsten. Berlin. S. 94f.6 Koenigsberger 1902 – Hermann von Helmholtz (1). S. 1227 Ebd.: S. 1228Vgl.: Ebd. S. 118f.

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– Myographen (Myo-, griechisch für Muskel, und -graph, von griechisch graphein für

zeichnen, also „Muskelschreiber“) ein Gerät zur automatischen Aufzeichnung der

Muskelbewegung. Helmholtz konnte mit diesem „einfachen Apparat“ bereits

nachweisen, dass eine bestimmte Zeit vergeht, bis es zur Reaktion beziehungsweise

Zuckung eines Muskels kommt, nachdem ein elektrischer Reiz induziert wurde. Um

aber präzisere Ergebnisse zu erhalten, unternimmt Helmholtz ausgedehnte Versuche mit

einer elektromagnetischen Methode. Der Anschaulichkeit halber wiederholt der

Forscher die Versuche schließlich mit einem verbesserten graphisch arbeitenden

Myographen.

In dieser Arbeit suche ich nach Faktoren, die dieses Experiment bedingten und

beeinflussten. Meine These ist, dass Helmholtz' Versuche nicht im luftleeren Raum

stattfanden, sondern dass eine Reihe von Faktoren – seien es Personen, Dinge, Wesen,

Praktiken – das Zustandekommen dieses Experiments bedingten und ihren

nennenswerten Anteil daran hatten. Mich interessiert außerdem der Kontext dieses

Experiments, in dessen Zentrum eine Maschine steht. Ausgehend von dieser Maschine,

die im Verlauf der Arbeit detailliert beschrieben und deren Einsatz im Versuchsablauf

genau nachgezeichnet werden soll, gehe ich einzelnen Aspekten nach, die eine

besondere Rolle für die Versuche spielen. Ziel dieses Unterfangens ist der Entwurf einer

Art Karte, die die beteiligten Akteure in ihrem gegenseitigen Wechselspiel und ihrem

funktionalen Zusammenwirken aufzeigt. Es wird sich zeigen, dass Helmholtz' Leistung

im Bereich der zu beschreibenden Versuche keineswegs das Produkt eines einsam in

seinem Labor werkelnden Forschergenies war, sondern ganz im Gegenteil: Der Erfolg

dieser Versuche hing maßgeblich von einer ganzen Reihe von Faktoren ab. Die

Grundlage dieser Arbeit bildet eine genaue Beschreibung des Experiments mit all seinen

Komponenten. In Anlehnung an den Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger,

der den Begriff des „Experimentalsystems“ prägte9, werde ich nicht eine Person,

Institution, Idee oder einen Diskurs in den Mittelpunkt stellen, sondern mich auf das

konkrete Experiment beziehungsweise Experimentalsystem konzentrieren. Die Rede

9 Vgl.: Schmidgen, Henning (1999): Experimentalisierung als Thema einer kulturwissenschaftlich orientierten Physiologie- und Psychologiegeschichtsschreibung. In: Physiologische und psychologische Praktiken im 19. Jahrhundert: ihre Beziehungen zu Literatur, Kunst und Technik. Workshop, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, S. 11–22. Online verfügbar unter http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/Preprints/P120.PDF, zuletzt geprüft am 22.03.2011. S. 12f.

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von dem System zielt auf die Tatsache ab, dass im Experiment schon immer

verschiedene Komponenten zusammenwirken. Henning Schmidgen spricht in

Anlehnung an die soziologische Akteur-Netzwerk-Theorie von einem Zusammenwirken

von Aktanten, also menschlichen und nicht-menschlichen Handelnden, wie

Wissenschaftlern, Labormitarbeitern sowie diversen Apparaten zur Messung,

Manipulation und Berechnung.10 Wie ein Geograph beim Erstellen einer Landkarte

sollen auch die in dieser Arbeit gesammelten Abhängigkeitsfaktoren gleichsam einen

Beitrag zur „Kartographie“ des kulturellen Feldes leisten.11 Diesem Ansatz folgend

betrachte ich Helmholtz' Experimente zur Nervenreizung auch als ein System, in dem

verschiedene Komponenten beziehungsweise Aktanten, anorganisches und organisches

Material zusammenwirken. All diese „Teilnehmer“ generieren im Ensemble neue

Zeichen, wissenschaftliche Erkenntnisse, die im Falle des Myographen sprichwörtlich

in Form der Muskelzuckungskurven „aufgeschrieben“ werden. Sie alle, Tier, Mensch

und Maschine, humane und nonhumane Aktanten – nicht nur ein einzelnes Subjekt –

arbeiten mit an der „Graphosphäre“, die mit der Mechanosphäre des Versuchsaufbaus

verbunden ist.12

Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) entstammt der Wissenschafts- und

Technikforschung und stellt die Beziehung zwischen Mensch und Technik in den

Vordergrund.13 Ziel der Theorie ist es aber nicht, Menschen als Objekte zu betrachten

und Subjektivität auf Dinge zu übertragen, sondern ihre Trennung zu umgehen und

vielmehr von einer Verflechtung von Dingen, Menschen und Zeichen in einem hybriden

Netzwerk beider auszugehen.14 Die ANT bricht klassische Dichotomien wie

Natur/Kultur oder Subjekt/Objekt auf und setzt sie miteinander in Beziehung. Sie

betrachtet die Sphären nicht als voneinander getrennt sondern als sich schon immer

gegenseitig beeinflussend und miteinander verwoben. Insofern versteht sich die ANT

auch als Kritik der Moderne, die die Welt in sich gegenüberliegende Bereiche eingeteilt

und voneinander getrennt hat.15 Ein zentraler Begriff der ANT ist der des „Akteurs“ oder 10 Vgl.: Ebd. S. 16f.11 Vgl.: Ebd. S. 12f.12 Vgl.: Ebd. S. 1913 Vgl. im Folgenden: Belliger, Andréa; Krieger, David J. (2006): Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. In: Andréa Belliger und David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: transcript Verlag, S. 13–4714 Vgl.: Ebd. S. 1515 Vgl.: Ebd. S. 23

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„Aktanten“ – damit kann sowohl ein Mensch als auch eine nicht-menschliche Entität

gemeint sein. Unter der Devise, die Dinge sprechen zu lassen, wird auch nicht-

menschlichen Akteuren die Fähigkeit zu handeln zugesprochen. Ein Akteur definiert

sich aber nicht als Subjekt mit Selbstbewusstsein und freiem Willen – dieser

Eigenschaften bedarf er nicht notwendigerweise.16 Und da dies sämtliche Akteure, also

auch die menschlichen, betrifft, ebnet die ANT auch den Weg für ein verändertes

Subjektverständnis, in dem das Subjekt weniger autonom und rational erscheint.17

Akteure selbst sind auch komplex, sie können im hybriden Netzwerk andere Identitäten,

Funktionen und Rollen einnehmen. Ein Beispiel dafür ist das Netzwerk von

Schusswaffe und Mensch. Die Behauptung "Schusswaffen töten Menschen" ist

materialistisch und technikdeterministisch. Die Aussage "Menschen töten Menschen,

nicht Schusswaffen" ist dagegen sozialdeterministisch, da sie davon ausgeht, dass alle

Handlung vom Menschen ausgeht und die Schusswaffe nicht zur Handlung beiträgt.

Von diesen beiden Sichtweisen distanziert sich die ANT, da sie das hybride und

heterogene Wesen der Akteure nicht mitdenken. Die Waffe für sich genommen tötet

noch nicht von selbst und der Mensch ohne Waffe will vielleicht nur verletzen. Der

Mensch mit der Waffe in der Hand beziehungsweise die Waffe in der Hand des

Menschen, werden aber zu etwas transformiert, das die Absicht hat zu töten. Beide

verschmelzen miteinander und werden jeweils zu etwas anderem, „denn der Mensch ist

ein anderer mit der Waffe in der Hand und die Waffe ist eine andere in der Hand des

Menschen.“18 Diese Beispiel soll illustrieren, dass im Zusammenwirken verschiedener

Teilnehmer etwas entsteht, das nicht als Eigenschaft einer einzelnen Komponente

zugeschrieben werden kann, sondern nur in eben diesem Zusammenwirken eine

Eigenschaft des gesamten Ensembles ist. Übertragen auf Helmholtz' Versuche zur

Nervenleitgeschwindigkeit heißt das, dass nicht ein Apparat mit seinen Einzelteilen, der

Froschmuskel und auch nicht Helmholtz als sein Konstrukteur allein verantwortlich

sind für dessen Wirkung, sondern dass sie Akteure neben vielen weiteren sind, die erst

im Zusammenspiel das Experiment ermöglichen.

16 Vgl.: Ebd. S. 3517 Vgl.: Ebd. S. 3518 Ebd. S. 42

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Diese Arbeit ist in fünf Bereiche geteilt: Der erste Teil behandelt unter Punkt 2 den

Vorläufer des eigentlichen Myographen, einen graphisch arbeitenden Prototypen, mit

dem Helmholtz bereits erste Erkenntnisse sammelte. Da dieser Apparat aber zu

unpräzise arbeitete, entschied sich Helmholtz bei seinen weiteren Versuchen für eine

andere, genauere Methode, die mit Hilfe des Elektromagnetismus arbeitete, siehe dazu

Punkt 3. Im Laufe der Arbeit mit der elektomagnetischen Messemethode stellte

Helmholtz bereits Versuche am Menschen an – diese werden unter 4. näher beleuchtet.

Unter Punkt 5 wird schließlich der verbesserte Myograph mit all seinen Komponenten

betrachtet. Helmholtz entschied sich für neue Versuchsreihen mit diesem selbst

schreibenden Apparat, mit dem er seine bereits bewiesenen Erkenntnisse einem

Publikum viel schneller und anschaulicher präsentieren konnte.

2. Erste Testversuche mit der graphischen Methode und dem „einfachen Apparat“

Ich habe gefunden, dass eine messbare Zeit vergeht, während sich der Reiz, welchen ein momentaner elektrischer Strom auf das Hüftgeflecht eines Frosches ausübt, bis zum Eintritt des Schenkelnerven in den Wadenmuskel fortpflanzt. Bei großen Fröschen, deren Nerven 50 – 60 Millim. lang waren, und welche ich bei 2 – 6° C. aufbewahrt hatte, während die Temperatur des Beobachtungszimmers zwischen 11 und 15° lag, betrug diese Zeitdauer 0,0014 bis 0,0020 einer Sekunden.19

In seinen Versuchen zur Muskelzuckung und Nervenleitgeschwindigkeit reizte

Helmholtz den Froschmuskel und später auch den vom Muskel freigelegten – aber

immer noch mit ihm verbundenden – Nerv an unterschiedlichen Stellen. Über die im

Oktober 184920 begonnenen Versuche lieferte Helmholtz schon im Januar 1850 eine

erste Publikation ab mit dem Titel „Vorläufiger Bericht über die Fortpflanzungs-

Geschwindigkeit der Nervenreizung“.21 Helmholtz verkündete darin seine zentrale

19 Helmholtz, Hermann von (Januar 1850): Vorläufiger Bericht über die Fortpflanzungs-Geschwindigkeit der Nervenreizung. Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin. In: Monatsbericht der Königlichen Akademie der Wissenschaften, S. 71–73, hier S. 7120 Vgl.: Schmidgen, Henning (2009): Die Helmholtz-Kurven. Auf der Spur der verlorenen Zeit. Berlin: Merve Verlag. S. 7421 Helmholtz, Hermann von (Januar 1850): Vorläufiger Bericht über die Fortpflanzungs-Geschwindigkeit

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Erkenntnis, dass sich nämlich Nervenreize in einer „messbaren Zeit“ fortbewegen. Nun

glaubten die Physiologen bis dahin, wie bereits erwähnt, dass die Reizleitung im Nerven

ähnlich wie in metallischen elektrischen Leitern mit Lichtgeschwindigkeit22 vor sich

ginge und nicht messbar sei. Aber schon Helmholtz' Kollege und Freund Emil du Bois-

Reymond (1818-1896) konnte in seinen „Untersuchungen zur thierischen Elektricität“

von 1848 zeigen, dass die Fortleitung des Reizes in den Nerven bis auf molekulare

Ebene wirksam wird und deshalb andere Vorgänge daran beteiligt sind.

Gegenwärtig wissen wir aus den Untersuchungen über die elektromotorischen Eigenschaften der Nerven von du Bois-Reymond, dass diejenige Thätigkeit derselben, durch welche die Fortleitung einer Reizung vermittelt wird, mit einer veränderten Anordnung ihrer materiellen Moleküle mindestens eng verbunden, vielleicht sogar wesentlich durch sie bedingt ist.23

Wenn also bei der Nervenleitung Veränderungen auf molekularer Ebene stattfinden, so

ist dieser Prozess nicht den imponderablen (i.e. nicht wägbaren), wie viele Physiologen

glaubten, sondern im Gegenteil den ponderablen (i.e. wägbaren) Abläufen zuzuordnen.24

Helmholtz stellt gern den Vergleich mit der Ausbreitung des Schalls her und

verdeutlicht, dass die Geschwindigkeit der Nervenleitung allein aus diesen

Gegebenheiten eine gar nicht so unmessbar schnelle sein kann.

der Nervenreizung. Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin. In: Monatsbericht der Königlichen Akademie der Wissenschaften22 Der französische Physiker Hippolyte Louis Fizeau ermittelte im Jahr 1849 auf experimentellem Wege die Lichtgeschwindigkeit mit 313.000 Kilometern pro Sekunde. Bereits im Jahr 1676 errechnete Olaf Römer anhand seiner Beobachtungen der Himmelskörper einen Wert von 311.000 Kilometern pro Sekunde. (Vgl.: Brockhaus' Konversationslexikon (1894-1896). Hg. v. Autorenkollektiv. 14. Aufl. 17 Bände. Leipzig, Berlin und Wien: F. A. Brockhaus (Leber – More, 11). Online verfügbar unter http://www.retrobibliothek.de/retrobib/stoebern.html?bandid=100181, zuletzt geprüft am 08.11.2011, S. 151) Die Geschwindigkeit der Elektrizität in metallischen Leitern ermittelte Charles Wheatstone (1802-1875) bereits im Jahre 1834, allerdings wurde die sehr hohe Geschwindigkeit (460.000 Kilometer pro Sekunde) einige Jahre später unter anderem Fizeau im Experiment korrigiert. Letzterer kam auf Werte von rund 100.000 km/s im Eisendraht und ca. 180.000 km/s im Kupferdraht. (Vgl.: Fizeau, Hippolyte Louis; Gounelle (1850): Untersuchungen über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Elektricität. In: Polytechnisches Journal (Band 117, No. XXV), S. 125–128. Online verfügbar unter http://dingler.culture.hu-berlin.de/article/pj117/ar117025, zuletzt geprüft am 08.11.2011) Helmholtz waren die Experimente zur Ermittlung der Lichtgeschwindigkeit durch Fizeau und Foucault sowie der Ermittlung der Geschwindigkeit der Elektrizität in metallischen Leitern durch Wheatstone bekannt, er erwähnte diese auch ins seinem Vortrag “Ueber die Methoden”: Helmholtz, Hermann von (1850): Ueber die Methoden, kleinste Zeittheile zu messen, und ihre Anwendung für physiologische Zwecke. Gelesen in der physikalisch-ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg, am 13. Dezember 1850. In: Königsberger Naturwissenschaftliche Unterhaltungen (2), S. 169–189. S. 176f.23 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 330f.24 Vgl.: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 330

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Danach würde die Leitung im Nerven in die Reihe sich fortpflanzender Molekularwirkungen der ponderablen Körper gehören, zu denen z. B. die Schallleitung in der Luft und in elastischen Stoffen oder das Abbrennen einer mit explodierender Mischung gefüllte Röhre zu rechnen ist. Bei dieser Sachlage kann es nicht mehr so überraschend sein, dass die Geschwindigkeit der Leitung nicht nur messbar, sondern wie sich ergeben wird, sogar sehr mäßig ist.25

Schon in seinen früheren Versuchen fand Helmholtz heraus, dass auch bei

Muskelbewegungen chemische Prozesse ablaufen und dabei Wärme erzeugt wird (Vgl.

Kapitel 3.7).

Im Jahr 1850 veröffentlichte er den ausführlicheren 90 Seiten starken Bericht

„Messungen über den zeitlichen Verlauf der Zuckung animalischer Muskeln und die

Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den Nerven“.26 Darin beschreibt er die

verwendeten Instrumente und den Ablauf der Experimente, mit deren Hilfe er kleinste

Zeitabläufe so exakt wie möglich erfassen wollte. Das folgende Kapitel widmet sich

detailliert den in diesem Text beschriebenen Versuchen. Helmholtz' Interesse galt

zunächst den mechanischen Eigenschaften des Muskels. Dabei dienten ihm Eduard

Webers (1806-1871) Untersuchungen zur Muskelbewegungen27 als Grundlage für seine

eigenen Versuche auf dem Gebiet.28 Anders als Weber, der sich für langanhaltende

Muskelbewegungen interessierte, wollte Helmholtz momentane Muskelzuckungen

untersuchen, die durch einen kurzen Stimulus erzeugt wurden. Für ihn stellte sich damit

das Problem, einen Prozess zu betrachten, der nur für einen Bruchteil einer Sekunde

ablief.29 Um die Reaktion des Muskels auf den Reiz in seinem zeitlichen Verlauf zu

messen, wendete Helmholtz zu Beginn eine graphische Methode an. Dabei wurde ein

Froschmuskel elektrisch gereizt und die daraus folgende Zuckung auf eine gleichmäßig

rotierende Trommel aufzeichnet. Die Zuckung in ihrem zeitlichen Verlauf notierte sich

als proportionaler Raumunterschied auf die bewegte Fläche und und ermöglichte

dadurch die Ermittlung der Zeitunterschiede.30

25 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 330f.26 Helmholtz, Hermann von (1850): Messungen über den zeitlichen Verlauf der Zuckung animalischer Muskeln und die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den Nerven. Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin, S. 276–36427 Weber, Eduard (1846): Muskelbewegung. In: Rudolph Wagner (Hg.): Handwörterbuch der Physiologie mit Rücksicht auf physiologische Pathologie, 3, Teil 2. Braunschweig: Vieweg, S. 1–122.28 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 276f. 29 Vgl.: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 27830 Vgl.: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 279

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Bereits Helmholtz' Kollege Carl Ludwig (1816-1895) bediente sich 1847 der

graphischen Methode: Sein Kymograph („Wellenschreiber“) stellte den Blutdruck sowie

Schwankungen des Luftdrucks in der Brusthöhle graphisch dar.31 Seinen eigenen

„einfachen Apparat“ ließ Helmholtz

in ganz ähnlicher Weise, wie es Ludwig mit den Höhen des Blutdruckmessers that, die Höhe aufzeichnen, bis zu welcher ein an den Muskel gehängtes Gewicht in den aufeinanderfolgenden Zeitpunkten der Zuckung erhoben wird.32

Der Apparat diente ihm vorerst nur für Testzwecke, mit dem er sich seinem

Forschungsgegenstand näherte, und auch als Modell, um sich später „den definitiven

construiren zu können“.33 Helmholtz hatte also schon in dieser Phase den Bau eines

verbesserten Apparats im Hinterkopf. Abgesehen davon, dass die graphische Methode

mit dem „einfachen Apparat“ noch mit zu vielen Fehlerquellen behaftet war, gewann

Helmholtz bereits Erkenntnisse über den Verlauf der Muskelzuckung: Im Widerspruch

zu Weber belegten die Versuche bereits, dass nicht nur organische, sondern auch

animalische Muskeln nicht im selben Augenblick der Reizung ihre Zuckung ausführen,

sondern diese erst nach der Reizung allmählich ansteigt, ihren Höhepunkt erreicht und

dann wieder verschwindet.34 Weber hatte bei seinen Versuchen festgestellt, dass

organische Muskel auf eine Reizung zeitverzögert reagieren. Bei animalischen Muskeln

könnte er diese Verzögerung nicht beobachten und betrachtete die Reaktion als

instantan. Helmholtz' Experimente konnten nun auch bei animalischen Muskeln eine

Zeitverzögerung feststellen, insofern widerlegte er Webers Erkenntnisse in diesem

31 Vgl.: Ludwig, Carl (1847): Beiträge zur Kenntnis des Einflusses der Respirationsbewegungen auf den Blutlauf im Aortensysteme. In: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin , Hg.: Johannes Müller, Berlin, Von Veit et Comp., S. 242–30232 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 279f.33 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 279f.34 Vgl.: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 282f.

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Abbildung 1: Graphische Darstellung der Muskelbewegung als Kurve, die mit dem einfachen Apparat erstellt wurde.

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Punkt.35 Allerdings erschien Helmholtz sein erster einfacher Apparat nicht präzise und

akkurat genug, um mehr Aufschluss über den genauen Verlauf der Muskelzuckung zu

geben.

3. Hinwendung zur präziseren elektromagnetischen Methode mit dem Galvanometer

Um präzisere Ergebnisse zu erhalten, entschied sich Helmholtz bei seinen weiteren

Versuchen für eine andere Methode der Zeitmessung, die sich an einen von Claude

Pouillet36 (1791-1868) konstruierten Apparat anlehnte. Dieser verwendete die Methode

1844 bereits für artilleristische Zwecke.37 Als Messgerät diente ein Galvanometer, also ein

verfeinerter Multiplikator. Helmholtz hatte bei seinen Experimenten zum Stoffverbrauch in

Muskeln schon mit Multiplikatoren (dazu mehr im Kapitel 3.7) gearbeitet und nutzte nun

das präzisere Galvanometer. Jede Änderung der Stromstärke wurde bei dieser Methode

durch eine bewegliche Magnetnadel auf einer Skala angezeigt. Der Bogen, den der in

Schwingung versetzte Magnet beschrieb, war dabei der zu messenden Zeit proportional.38

Diese Methode ermöglichte die präzise Messung kleinster Zeiteinheiten. Helmholtz

schwärmte, dass „bis jetzt noch keine Grenze der Kleinheit von Zeittheilen abzusehen [ist],

deren Messung auf diese Weise nicht möglich werden sollte […].“39

35 Webers Definition animalischer und organischer Muskeln in Wagner (1846): „Animalische Muskeln nenne ich die, welche, wenn sie gereizt werden, augenblicklich in Zusammenziehung geraten, und auch ebenso schnell wieder in dieser Zusammenziehung nachlassen, sobald die Reizung aufhört. Organische Muskeln sind die, welche nicht im Momente einer schnell vorübergehenden Reizung, sondern erst eine Zeit darauf zur Zusammenziehung angereizt werden und deren Bündel dadurch successiv in einer gewissen Ordnung und Aufeinanderfolge in Zusammenziehung gerathen könnte.“ (Weber, Eduard (1846): Muskelbewegung. In: Wagner, Rudolph (Hg.): Handwörterbuch der Physiologie mit Rücksicht auf physiologische Pathologie. Braunschweig: Vieweg, 3, Teil 2, S. 1–122, hier S. 3) Zu den animalischen Muskeln zählte Weber „alle Haut- und Skelettmuskeln: die Muskeln der Zunge, des Gaumens, des Rachens und Kehlkopfes, das Zwerchfell, die Muskeln des Afters, des Gliedes, und die, durch welche wir den Austritt des Harnes hemmen oder gestatten können.“ (Ders. S. 2)36 Pouillet, Claude (1845): Pouillet, über ein Mittel zur Messung äußerst kurzer Zeiträume. In: Polytechnisches Journal 96, S. 196–20137 Vgl.: Helmholtz, Hermann von (1850): Ueber die Methoden, kleinste Zeittheile zu messen, und ihre Anwendung für physiologische Zwecke. Gelesen in der physikalisch-ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg, am 13. Dezember 1850. In: Königsberger Naturwissenschaftliche Unterhaltungen (2), S. 169–189, hier S. 179f.38 Vgl.: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 27939 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 284f.

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Diese Methode machte Zeit sichtbar, ohne sie zu fixieren, schrieb sie nicht als Kurve, verwandelte sie in keine Spur, sondern machte sie – ähnlich wie bei einer Uhr – auf einer Skala ablesbar, um sie dann in Zahlenwerten notieren zu können.40

In Helmholtz' Anwendung dieser Methode schlug die Nadel des Galvanometers aus,

sobald ein elektrischer Stromstoß in den Muskel induziert wurde. Mit dem elektrischen

Schlag begann also der zeitmessende Strom und die daraufhin erfolgende

Muskelzuckung sorgte wiederum dafür, dass derselbe Stromkreis unterbrochen wurde.41

3.1 Methoden der präzisen Zeitmessung in der Ballistik

Das Messen kleinster Zeiträume war zwar ein Novum zu jener Zeit, aber zu

vergleichbaren Zwecken waren bereits vor Pouillet Apparate zur Messung der

Geschwindigkeit von Geschützkugeln gebaut worden. Helmholtz waren Versuche dieser

Art bekannt und er berichtet darüber in seinem Vortrag „Ueber die Methoden, kleinste

Zeittheile zu messen, und ihre Anwendung für physiologische Zwecke“, den er am 13.

Dezember 1850 in der physikalisch-ökonomischen Gesellschaft in Königsberg hielt.42

Die Vorrichtungen zur präzisen Geschwindigkeitsmessung waren so konstruiert, dass sie

Zeitunterschiede in Raumunterschiede umwandelten. Ein rotierender und mit einer

Skala versehener Zylinder wurde dazu mit einer bestimmten Geschwindigkeit in

Drehung versetzt. Eine Spitze sollte dann beim jeweiligen Ereignis, also beim Abschuss

einer Kugel sowie beim Auftreffen derselben an einer Stelle mit bekannter Entfernung,

auf der Zylinderfläche eine Markierung einritzen. Das Hauptproblem bei diesen

Messungen war, den Registriervorgang mit dem zu messenden Vorgang zu

synchronisieren. Die Lösung dieses Problems stellte auch bei Helmholtz' eigenen

Versuchen eine äußerst große Herausforderung dar und wird im Kapitel 3.4 genauer

erläutert. Im Fall der ballistischen Versuche setzte man anfangs noch einen Beobachter

ein, der beim Auftreffen der Kugel den rotierenden Zylinder mit der angelegte Spitze

ritzen. Diese Methode war absolut ungeeignet für das Messen kleinster Zeiteinheiten.

40 Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 7541 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 28542 Vgl. im Folgenden: Helmholtz 1850 – Ueber die Methoden

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Helmholtz begründet dies mit der Ungenauigkeit der menschlichen Sinne, insbesondere

wenn an der Zeiteinschätzung verschiedenen Sinnesorgane beteiligt sind, wie im Fall

der Geschützkugeln Ohr – Hören des Auftreffens – und Auge – Setzen der Markierung

auf dem Zylinder.

Helmholtz zog zum besseren Verständnis seines Arguments ein Beispiel aus der

Astronomie heran, wo verschiedene Beobachter immer wieder zu unterschiedlichen

Zeitangaben in Bezug auf die Bewegung von Himmelskörpern kamen. Die Astronomen

orientierten sich nämlich am Pendelschlag der Uhr und glichen das akustische Signale

mit dem durch das Fadenkreuz des Fernrohrs beobachteten Weg des Sternes ab. Die

Versuchsreihen der einzelnen Astronomen waren durchaus stimmig, aber im Vergleich

zu Beobachtungen anderer Astronomen ergaben sich Abweichungen von bis zu einer

Sekunde. Mit einer Zeitverzögerung von einer ganzen Sekunde scheidet die

menschliche Wahrnehmung als Messmittel kürzester Zeitvorgänge jedoch aus. „Sobald

1/10 Secunde oder noch kleinere Theile mit Sicherheit beobachtet oder gar gemessen

werden sollen, müssen wir künstliche Hülfsmittel anwenden“43, konstatierte Helmholtz.

Jeder kann selbst an sich beobachten, wie einzelne optische oder akustische Signale ab

einer bestimmten Taktfrequenz miteinander verschmelzen und nicht mehr

auseinandergehalten werden können. Zwei hintereinander wahrgenommene optische

Erscheinungen werden mit bis zu einer Zehntelsekunde Unterbrechung noch als

getrennt erkannt. Sobald die Unterbrechung jedoch geringer wird, verschmelzen die

Erscheinungen miteinander, wie „der continuirliche Feuerkreis, den eine glühende

Kohle rasch im Kreise geführt hervorbringt“.44 Und auch das Ohr kann ab einer

gewissen Takfrequenz – Helmholtz nennt 32 Signale pro Sekunde als Limit – einzelne

Töne nicht mehr voneinander unterscheiden und nimmt stattdessen „einen gleichmäßig

anhaltenden Ton, diesen desto höher, je schneller die Stöße sich folgen“45 wahr. In den

ballistischen Versuchen behalf man sich inzwischen mit mechanischen Vorrichtungen

zur Vermittlung des Auftreffens der Kugel zur Registrierapparatur, aber auch dieser

Vorgang nahm zu viel Zeit in Anspruch. Louis Breguet (1804-1883) und Charles

43 Ebd. S. 17244 Ebd. S. 170f.45 Ebd. S. 170f.

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Page 14: „Ein Mikroskop für die Zeit“ - Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz'  Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit (Magisterarbeit)

Wheatstone (1802-1875) waren die ersten, die zur Übertragung des Aufpralls der Kugel

Strom einsetzten. Der Stift, der auf dem Zylinder die Markierung setzen sollte, wurde

bei dieser Variante von einem Elektromagneten gehalten und stand in elektrisch

leitender Verbindung mit einem Netz. Traf die Kugel auf dieses Netz, wurde die

Stromkreis unterbrochen und die Magnetisierung aufgehoben. Der Magnet gab den Stift

frei, welcher sodann die Markierung auf dem Zylinder setzte. Aber auch dieses Prinzip

war noch zu ungenau, wie Helmholtz bemängelte: Zum einen brauchte die Spitze, bis

sie vom Elektomagneten losgelassen wurde, zu lange um auf den Zylinder zu fallen –

dadurch waren die Messungen nicht genauer als eine Sechzigstel Sekunde. Zum anderen

war der Magnetismus nicht konstant zu halten, was sich wiederum auf die

Fallgeschwindigkeit der Zeichenspitze auswirkte.46

Ernst Werner Siemens (1816-1892), damals Lieutenant der preußischen Artillerie,

perfektionierte den Apparat schließlich auf eine Genauigkeit von bis zu einer

Vierzigtausendstel Sekunde.47 Er hatte in seiner Konstruktion alle mechanischen

Vermittlungsstücke beseitigt und die „Elektricität selbst zeichnen […] lassen“.48 Indem

alle Teile – die Zeichenspitze, der rotierende Zylinder und das metallische Netz, auf das

die Geschützkugel traf – in leitender Verbindung standen, konnte ein elektrischer Funke

im entsprechenden Moment auf der polierten stählernen Zylinderoberfläche eine dunkle

Spur hinterlassen, die als Markierung diente. Sowohl der elektrische Funke als auch die

Leitung des Stromes dauerten nur eine verschwindend geringe Zeit.49 „Diese Methode

erlaubt es, die ganze Genauigkeit, welche der rotirende Cylinder zulässt, nutzbar zu

machen, also die Zeit bis auf Vierzigtausendtheile einer Secunde zu beflimmern.“50

Helmholtz hatte mit Siemens' Apparatur also eine Methode entdeckt, die zwar aus dem

militärischen Gebrauch stammte, die aber die Genauigkeit erreichte, die er auch bei

seinen eigenen Versuchen erzielen wollte.

46 Vgl.: Ebd. S. 17547 Siemens, Werner (1845): Ueber die Anwendung des elektrischen Funkens zur Geschwindigkeits-messung. Gelesen in der physikalischen Gesellschaft zu Berlin am 3. Oktober 1845. In: Poggendorff's Annalen 66, S. 435–445. Online verfügbar unter http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k15151j.langEN, zuletzt geprüft am 21.10.201148 Helmholtz 1850 – Ueber die Methoden, S. 17549 Vgl.: Ebd. S. 175f.50 Ebd. S. 175f.

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Page 15: „Ein Mikroskop für die Zeit“ - Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz'  Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit (Magisterarbeit)

3.2 Methode der präzisen Zeitmessung in der Physiologie

Jedoch war Helmholtz nicht der erste, der die Methoden zur präzisen Zeitmessung aus

der Ballistik in die Physiologie übernahm. Vor ihm stellte sein Freund und Kollege Emil

du Bois-Reymond (1818-1896) erste Überlegungen zum Einsatz der Kurzzeitmessung

nach Pouillet in der physiologischen Forschung an und erörterte das Thema am 7. März

1845 vor der Physikalischen Gesellschaft.51 In der Physikalischen Gesellschaft trafen

sich regelmäßig junge Forscher aus der Physik und anderen Disziplinen, Ingenieure,

Mechaniker und sogar Militär-Lieutenants, wie Werner von Siemens52, und diskutierten

Ideen und Theorien.53 Im Rahmen dieser Treffen entwickelten die Teilnehmer auch die

Idee für das Forschungsprogramm der Organischen Physik. Die Vertreter der

Organischen Physik wollten „aus der Physiologie anstatt der Lehre vom Leben eine

Lehre von feinen elektrischen, optischen, akustischen und anderen Apparaten“54

machen. Die Methoden entnahmen sie der modernen Physik, hatten sie selber doch

keine physiologischen Experimente gelernt.55 Eine zentrale Figur in der Entwicklung

dieser Forschungsrichtung war Heinrich Gustav Magnus (1802-1870), Helmholtz'

Lehrer in der Physik, der auch die Physikalische Gesellschaft gründete. Über den

Vortrag, den du Bois-Reymond im März 1845 in dieser Gesellschaft hielt, schrieb ein

Jahr später das französische Magazin „Revue scientifique et industrielle“56:

Herr du Bois-Reymond hat das Projekt einer Methode vorgestellt, um die Geschwindigkeit der Fortpflanzung des Nervenprinzips und der der Muskeltätigkeit experimentell zu bestimmen. Diese Methode beruht wesentlich auf dem von Herrn Pouillet angegebenen Prinzip für die Messung […] äusserst kurzer Zeiträume. […] Man muss dies nur so anstellen, dass der Strom durch die Wirkung und genau im Augenblick der Kontraktion unterbrochen wird, welche durch die Herstellung des [Strom-]Kreislaufs bewirkt worden ist.57

51 Vgl. : Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 11552 Vgl: Brain, Robert M.; Wise, Norton M. (1994): Indicator Diagrams and Helmholtz's Graphical Methods. In: Lorenz Krüger (Hg.): Universalgenie Helmholtz. Rückblick nach 100 Jahren. Berlin: Akademie Verlag, S. 124–145, S. 12653 Hörz, Herbert (1994): Physiologie und Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Briefe an Hermann von Helmholtz. Marburg (Lahn): Basilisken-Presse. S. 169f.54 Radl, Emanuel (1909): Geschichte der biologischen Theorien in der Neuzeit. 2 Bände. Leipzig: Verlag von Wilhelm Engelmann (2), S. 81 55 Vgl.: Ebd. S. 81 56 Anonymus (1846): Progrès des sciences physiques hors de France, Revue scientifique et industrielle 11, S. 81-96, Zitiert nach: Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 11557Anonymus (1846): Progrès des sciences physiques hors de France, Revue scientifique et industrielle 11, S. 81-96, S. 82, Zitiert nach: Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 115

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Page 16: „Ein Mikroskop für die Zeit“ - Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz'  Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit (Magisterarbeit)

Du Bois-Reymonds Tätigkeit beschränkte sich zunächst nur auf theoretische

Erwägungen, entsprach aber im Prinzip der Methodik und Herangehensweise, derer

Helmholtz sich vier Jahre später bediente. Noch vor Helmholtz' Versuchen zu diesem

Thema, im Jahr 1847, ein Jahr nach Erscheinen des kleinen Berichts über du Bois-

Reymonds in der „Revue“ und zwei Jahre nach dessen Vortrag, beschäftigte sich auch

der italienische Physiker und Telegraphenexperte Carlo Matteucci (1811-1868) mit den

neuen Chronographen58 und berichtete über seine ersten Experimente in den

„Philosophical Transactions“.59 Ähnlich wie Helmholtz später, stellte er Messungen zur

Dauer der Kontraktion von Froschmuskeln an und arbeitete dabei ebenfalls mit

Gewichten und elektrischem Strom zur Reizung. Matteuccis „Chronometer“ basierte auf

der bereits erwähnten Methode zur Messung der Geschwindigkeit von Projektilen, wie

sie Wheatstone und Breguet anwendeten. Letzterer fertigte sogar Matteuccis Apparat in

Paris an. Im Gegensatz zu Helmholtz interessierte sich Matteucci aber für die Zeit

zwischen zwei Muskelkontraktionen und nicht für die Muskelkontraktion selbst,

geschweige denn die Nervenreizung. Außerdem basierte das elektromagnetische

Verfahren, das Matteucci bei seinen ersten Versuchen anwendete, nicht auf der Pouillet-

Methode.

In einer zweiten Versuchsreihe setzte Matteucci plötzlich auf ein anderes, nämlich ein

graphisches Verfahren aus der Dampfmaschinentechnik und berief sich dabei auf James

Watt, der mit dieser Technik die sogenannten Indikatordiagramme erstellte, die

Aufschluss über die Geschwindigkeit der Kolben in den Maschinen gaben.60 Matteucci

wendete also, ein Jahr bevor Helmholtz sein Myographion und im selben Jahr, in dem

Carl Ludwig sein Kymographion konstruierte, bereits eine an der Dampfmaschinen-

technik orientierte Kurvenzeichnungsmethode für die physiologische Forschung an

Muskeln ein. Leider lieferte Matteucci keine konkreten Ergebnisse sondern nur

summarische Feststellungen, und er war auch nicht in der Lage, mit der graphischen

Methode präzise Zeitmessungen vorzunehmen. Gleichwohl war der italienische

Forscher derjenige, der die neuen Methoden der präzisen Zeitmessung in der

58 Vgl. im Folgenden: Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven , S. 11759 Matteucci, Carlo (1847): Electro-Physiological Researches. Seventh and Last Series. Upon the Relation between the Intensity of the Electric Current, and That of the Corresponding Physiological Effect. In: Transactions of the Royal Society London (137), S. 243–24860 Ebd.: S. 246

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Physiologie anwendete, nachdem du Bois-Reymond diese Anwendung zuerst als Idee

vorbrachte. Und es gibt eine weitere Parallele zu Helmholtz' Herangehensweise: Schon

Matteucci nutzte für seine Versuche zwei verschiedene Methoden – eine

elektromagnetische und eine graphische. Du Bois-Reymond war mit Matteuccis

Arbeiten zur tierischen Elektrizität vertraut – er war von Johannes Müller damit betraut

worden, die Versuche des Italieners zu diesem Thema zu wiederholen und

weiterzuführen.61 Gleichwohl stand du Bois-Reymond ihm und seiner Arbeit kritisch

gegenüber, sowohl was die technischen Aspekte betraf als auch die Art und Weise des

Veröffentlichens.62 Er versuchte insgesamt sorgfältiger zu arbeiten und bemängelte

außerdem Matteuccis fehlende Anerkennung von fremder Urheberschaft in seinen

Veröffentlichungen. Du Bois-Reymond hatte in dieser Hinsicht bereits Erfahrungen mit

Matteucci gemacht. In einem nicht abgeschickten Brief an Humboldt vom 20. Mai

1845, in dem auch Matteuccis Name fiel, beklagte du Bois-Reymond die

Tendenz einiger Physiker, das Studium ihrer eigenen Untersuchungen vorausgegangener Schriften völlig zu unterlassen und niemals die Namen derjenigen zu nennen, denen sie mitunter die grundlegende Idee ihrer Arbeit verdanken.63

Matteucci unterließ es auch in seinen elektro-physiologischen Versuchen zur

Muskelkontraktion von 1847, auf den möglichen Ideengeber du Bois-Reymond zu

verweisen.64 Möglicherweise hatte du Bois-Reymond Helmholtz auf Matteuccis

Arbeiten auf diesem Gebiet hingewiesen. Helmholtz bat du Bois-Reymond jedenfalls in

einem Brief Ende Juli 1847, ihm den „Aufsatz von Matteucci“ zu verschaffen.65 Es lässt

sich allerdings nicht mehr feststellen, ob es sich tatsächlich um jene Veröffentlichung

Matteuccis in den Philosophical Transactions von 1847 handelte.

Im Gegensatz zu Matteucci wendete sich Helmholtz nach seinen ersten Versuchen mit

der graphischen Methode wie erwähnt der elektromagentischen Messmethode nach

Pouillet zu. Wie er diese Methode für seine Zwecke adaptierte, soll im Folgenden

61 Du Bois-Reymond, Emil (1848): Untersuchungen über thierische Elektricität. 2 Bände. Berlin: Georg Reimer (1). Online verfügbar unter http://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/references?id=lit92&page=a0001, zuletzt geprüft am 01.12.2010. S. V62 Vgl.: Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 12263 Zitiert nach: Ebd. S. 126f.64 Vgl.: Ebd. S. 13065 Vgl.: Ebd. S. 130

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genauer erläutert werden. Die Apparatur, die Helmholtz für seine Versuche benutzte,

und in den „Messungen“66 beschreibt, erfüllte drei Funktionen: Ein Teil der Vorrichtung

diente der „Erregung, Leitung und [...] Messung der Wirkung des zeitmessenden

Stromes“67. Weitere Bauteile waren für die Erregung eines zweiten Stromes

verantwortlich, der entweder den Muskel oder den Nerv reizen sollte. Danniellsche

Elemente (galvanische Batterien)68 lieferten im Zusammenspiel mit den Strom

verstärkenden Drahtspiralen den Stromstoß. Die Leitung erfolgte durch Kupferkabel,

die über Kontakte aus verschiedenen Metallen (Platin, Gold, Amalgam) oder über

Quecksilbernäpfe verbunden waren. Ein dritter Vorrichtungsteil sorgte dafür, dass

sobald der Muskel zuckt, der zeitmessende Strom unterbrochen wurde. Vom

letztgenannten Apparatsteil fertigte Helmholtz eine detaillierte Skizze an, die in den

„Messungen“ in Figur 1 und Figur 2 in verschiedenen Ansichten abgebildet ist.69 Mit

diesem „Froschgestell“ beginnt seine Beschreibung, die im folgenden Kapitel

zusammenfasst ist.70

3.3 Das „Froschgestell“

Das Gestell war gerüstartig zu einem Turm aufgebaut, wobei der obere Teil von einer

Glaskuppel bedeckt war. Unter dieser Kuppel war der freigelegte Wadenmuskel eines

Frosches aufgehängt. Mittels einer Schraube ließ sich die Aufhängung drehen,

verschieben sowie höher und tiefer stellen. Der Nerv war freigelegt, blieb aber mit dem

Muskel verbunden. Der Raum unter der Kuppel war fast vollständig geschlossen, sodass

66 Vgl. im Folgenden: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 285f.67 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 28568 Daniellsche Elemente funktionieren nach dem Prinzip der galvanischen Batterie, wie Volta sie erfunden hat. Dabei werden zwei verschiedene Metalle, in diesem Fall Kupfer und Zink, in Säuren getaucht und leitend verbunden. „Das Daniellsche Element [...] besteht aus Zink in verdünnter Schwefelsäure und Kupfer in einer gesättigten Lösung von Kupfervitriol; die verdünnte Schwefelsäure befindet sich in einem cylindrischen Gefäß [...] aus porösem Thon (Biskuit), die Kupfervitriollösung in dem Glasgefäß selbst; die fein poröse Scheidewand verhindert die Vermischung der Flüssigkeiten, aber nicht den Durchgang des Stroms, da sie wie Fließpapier von der Flüssigkeit durchtränkt und dadurch leitend wird.“ Vgl.: Meyers Konversationslexikon (1885-1892). Hg. v. Autorenkollektiv. 4. Aufl. 19 Bände. Leipzig und Wien: Verlag des Bibliographischen Instituts (China - Distanz, 4), S. 872. Online verfügbar unter http://www.retrobibliothek.de/retrobib/stoebern.html?bandid=100157, zuletzt geprüft am 25.11.201169 Vgl.: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 36570 Vgl. im Folgenden: Ebd. S. 287ff.

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er mit Feuchtigkeit angereichert werden konnte. „Die Luft in der Glocke wird durch

nasse Pappe feucht erhalten […]; es wurde dadurch möglich, den ganz frei liegenden

Nerven 3-4 Stunden leistungsfähig zu halten.“71 Nerv und Muskel wurden über

Kupferdrähte an die Stromquelle angeschlossen. Die Drähte standen an verschiedenen

Stellen über Quecksilbernäpfe in leitender Verbindung und konnten an einer beliebigen

des Nerven oder direkt am Muskel befestigt werden, je nachdem, wo der Stromschlag

induziert werden sollte.

An der Unterseite des Muskels war ein stählerner

Haken eingehängt, der ein leitendes

Zwischenstück trug, an dessen unteren Ende eine

Schale mit Gewichten befestigt war. Das

Zwischenstück bestand aus einem stählernen

Rahmen und einem Strom leitenden Teil, welcher

zur Leitung des „zeitmessenden Stroms“ diente.

Zum Strom leitenden Teil gehörten zwei

Kupferschrauben, von denen die obere eine

abgerundete Goldkuppe und die untere eine

amalgamierte Spitze hatte. Die Goldkuppe ruht

auf einem Goldplättchen und die amalgamierte

Spitze der unteren Schraube konnte mit einem

Quecksilbernapf, das auf einer isolierenden

Guttapercha72-Platte ruhte, in Berührung gebracht

werden. Von dem Quecksilbernapf führte ein

Draht in ein weiteres mit Quecksilber gefülltes Gefäß und stellte damit eine Strom

leitenden Kontakt her. Durch die Belastung des Zwischenstücks und mit Hilfe der

Höhenverstellung wurde der Muskel so weit gesenkt, dass die Goldkuppe das

Goldplättchen gerade berührt. Bei der geringsten Energiesteigerung würde der Muskel

71 Ebd. S. 28772 Guttapercha ist ein kautschukähnliches Material, dass aus dem Milchsaft des Guttaperchabaumes gewonnen wird. Ab 1844 wurde das aus Indien importierte Material auch im deutschen Kulturkreis bekannt und für technische Zwecke eingesetzt. Es zeichnet sich im Unterschied zum Kautschuk durch eine besondere Zähigkeit und Dehnbarkeit aus, denn es wird erst bei Wärmeinwirkung weich und formbar. Kühlt es wieder ab, erlangt das Material wieder seine vorherige Festigkeit. Vgl.: Guttapercha. In: Autorenkollektiv (Hg.) (1884): Merck's Warenlexikon. 3. Aufl. Leipzig: Verlag von G. A. Gloeckner. S. 183. Online verfügbar unter http://www.retrobibliothek.de/retrobib/stoebern.html?bandid=384, zuletzt geprüft am 15.11.2011

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Abbildung 2: Das Froschgestell beherbergte unter der Glaskuppe oben den eingehängten Froschmuskel, an dem der stromleitende Teil mit mehreren Kontakten und die Schale mit den Gewichten hing.

Page 20: „Ein Mikroskop für die Zeit“ - Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz'  Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit (Magisterarbeit)

das Zwischenstück minimal anheben und die Goldkuppe von dem Goldplättchen lösen.

Zusätzlich zu dieser Einstellung wurde in die untere Schalenaufhängung ein bestimmtes

Gewicht gelegt, sodass der Muskel überbelastet war und nicht stärker gespannt werden

konnte.

Wenn jetzt der Muskel gereizt wird, ist es klar, dass er das Gewicht erst dann heben kann, wenn seine elastische Spannung gleich der Summe der Belastung und Überbelastung geworden ist. Es wird also jetzt der zeitmessende Strom, welcher […] durch das stromführende Zwischenstück und die amalgamierte Kupferspitze in das Quecksilber […] übergeht, erst in dem Augenblicke unterbrochen werden, wo die elastische Spannung des Muskels sich um eine, durch die Schwere der Überbelastung genau zu messende Größe vermehrt haben.73

Helmholtz variierte das Gewicht, mit dem er den

Muskel zusätzlich belastete, um näher

charakterisieren zu können, mit welcher

Geschwindigkeit dieser das Gewicht hob, welcher

Leistung der Muskel also erbringen konnte.74 Die

Elastizität des Muskels bereitete Helmholtz

allerdings auch Probleme, denn er blieb selten in

ein und derselben Position – wurde er belastet,

dehnte er sich immer noch ein Stück weiter und

nach der Kontraktion dauerte es eine Weile, bis er wieder die ursprüngliche Position

einnahm. Man spricht hier von der Dilatation des Muskels.75 Um die Probleme, die die

Dilatation bei der Schließung und Öffnung des Stromkreises verursachte, zu umgehen,

hatte Helmholtz unter dem Goldkontakt einen weiteren Kontakt in das leitende

Zwischenstück eingefügt, der, wie oben erwähnt, auf der Guttapercha-Platte ruhte. Der

Kontakt bestand aus einer amalgamierten Kupferspitze, die sich oberhalb eines

Kupfernäpfchens befand. Für den Versuch hob man die Guttapercha-Platte mit dem

Quecksilbernapf leicht an, sodass die Kufperspitze in denselben eintauchte, und legte

die Platte wieder vorsichtig ab. Dabei zog sich das Quecksilber kegelförmig nach oben

(Vgl. Abb. 4) und blieb so mit der Kupferspitze im leitenden Kontakt. Zuckte nun

infolge einer elektrische Reizung der Muskel und zog sich dabei zusammen, riss der

73 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 28974 Vgl.: Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 7975 Vgl.: Ebd. S. 83

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Abbildung 3: Der Quecksilberkontakt wirkte dem Problem der Dilatation des Muskels entgegen.Die Kupferspitze (violett) stand mit dem in Tropfenform gezogenen Quecksilber (grün) in leitender Verbindung. (Grafikausschnitt eingefärbt von d. Verf.)

Page 21: „Ein Mikroskop für die Zeit“ - Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz'  Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit (Magisterarbeit)

Quecksilberkontakt. Das Quecksilber nahm seine ursprünglich rundliche Form wieder

an und der Kontakt blieb dauerhaft unterbrochen.

Die Verbindung zwischen den ersten beiden Bereichen der Forschungsmaschine von Helmholtz, dem Froschgestell und dem Galvano-Chronometer, war also keine punktuelle. Es war eine kegel- oder tropfenartige nasse Schnittstelle, gebildete durch nichts anderes als die Oberflächenspannung des Quecksilbers.76

3.3.1 Exkurs: Der Frosch als Bauteil und Maschine

Helmholtz verwendete für seine Versuche die ausgeschnittenen Wadenmuskel von

Fröschen. Die Muskeln warmblütiger Tiere verloren nach dem Tod schnell ihre

Reizbarkeit und auch Fischmuskeln reagierten viel schwächer auf Reize.77 Stefan Rieger

geht in dem Beitrag „Der Frosch – ein Medium?“78 der Frage nach, inwieweit das

Experimentalobjekt Frosch als Medium und Messgerät betrachtet werden kann. Den

Ursprung dieser Betrachtungsweise findet er in der Kontroverse zwischen Galvani und

Volta. Der Werdegang des Frosches als eine „Figur des Wissens“ ist eng verknüpft mit

den Experimenten, die Luigi Galvani (1737-1798) anstellte. Dieser entdeckte zufällig,

dass die Schenkel eines sezierten Frosches jedes Mal zuckten, sobald ein Funke aus der

im Labor befindlichen Elektrisiermaschine79 schlug.80 Galvani meinte die Lebenskraft

entdeckt zu haben, die als eine in den Froschmuskeln gespeicherte thierische Elektrizität

zu Tage träte.81 Die Idee der Lebenskraft diente im 18. und zu Beginn des 19.

Jahrhunderts in der Physiologie als Erklärungsmodell für bislang unerforschte Prozesse

76 Ebd. S. 8377 Vgl.: Helmholtz, Hermann von (1845): Ueber den Stoffverbrauch bei der Muskelaktion. In: Johannes Müller (Hg.): Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin. Berlin: Veit & Comp., S. 72–83. S. 73f.78 Vgl. im Folgenden: Rieger, Stefan (2008): Der Frosch – ein Medium? In: Stefan Münker und Alexander Roesler (Hg.): Was ist ein Medium? Frankfurt/M., S. 285–30379 Zu Begriff und Funktion der „Elektrisiermaschine“ vgl.: Autorenkollektiv (Hg.) (1885-1892): Meyer's Konversationslexikon. 4. Aufl. 19 Bände. Leipzig und Wien: Verlag des Bibliographischen Instituts (Distanzgeschäft - Faidherbe, 5). S. 527f. Online verfügbar unter http://www.retrobibliothek.de/retrobib/stoebern.html?bandid=100158, zuletzt geprüft am 13.11.201180 Vgl.: Galvani, Aloisius (1791): Abhandlung über die Kräfte der Elektricität bei der Muskelbewegung. Oswald’s Klassiker der exakten Wissenschaften Nr. 52, Hg. von A.J. von Oettingen. Leipzig. S. 481 Rieger, Stefan (2008): Der Frosch – ein Medium? In: Stefan Münker und Alexander Roesler (Hg.): Was ist ein Medium?, 285-303. Frankfurt/M. S. 291

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im Organismus. Der sogenannte Vitalismus beherbergte verschiedene

Erscheinungsformen dieser Idee. Georg Ernst Stahl (1659-1734) zum Beispiel

postulierte die „anima sive natura“82, eine Art Lebensseele, die „über den passiven Stoff

und die Apparate des Organismus“83 herrscht und diese dirigiert. In Christoph Wilhelm

Hufelandts (1762-1836) Theorie ist die Lebenskraft „das feinste, durchdringendste,

unsichtbarste Agens der Natur, das wir bis jetzt kennen“84, er verglich es auch mit dem

Licht sowie der elektrischen und magnetischen Kraft. Sogar Johannes Müller hing noch

der Lehre von der Lebenskraft an, wie schon eingangs erwähnt. Seine Schüler jedoch

betrachteten dieses Konzept als „eine unnötige, mit den Experimenten nicht in Einklang

stehende Annahme.“85

Die „Organischen Physiker“ wollten den Vitalismus und die Idee einer übernatürlichen,

naturwissenschaftlich nicht feststellbaren86 Lebenskraft aus der Physiologie verbannen

und stattdessen die „Physiologie als einen Zweig der Physik und Chemie cultiviren“87.

Das Konzept der Lebenskraft war mit den experimentell ausgerichteten

Naturwissenschaften nicht vereinbar. Zur Zeit von Galvanis Versuchen mit tierischer

Elektrizität erlebten die Ideen von der Lebenskraft jedoch noch ihre volle Blüte.

Kurz nach Galvani führte Alessandro Volta (1745-1827) die Versuche nach dessen

Beispiel durch. Ihm fiel die leichte Reizbarkeit des Froschpräparats auf. Es reagierte

schon bei geringsten Ladungen, bei denen jedes Strommessgerät jener Zeit versagt

hätte.88 Für Volta war der Frosch ein besseres Messgerät für die Elektrizität; er verglich

das organische Material des Frosches also mit einer Maschine: „Dieser thierische

Elektrometer, mit Recht kann man ihn so nennen, übertrifft alle andere noch so

empfindlichen Elektrizitätsmesser, durch das Anzeigen der schwächsten Ladungen.“89

82 Rothschuh, Karl E. (1968): Physiologie. Der Wandel ihrer Konzepte, Probleme und Methoden vom 16. bis 19. Jahrhundert. Freiburg/München: Karl Alber. S. 15283 Ebd. S. 15284 Ebd. S. 17385 Hörz 1994 – Physiologie und Kultur, S. 165f.86 Vgl.: Hörz, Herbert; Wollgast, Siegfried (1986): Hermann von Helmholtz und Emil du Bois-Reymond. Wissenschaftsgeschichtliche Einordnung in die naturwissenschaftlichen und philosophischen Bewegungen ihrer Zeit. In: Dokumente einer Freundschaft. Briefwechsel zwischen Hermann von Helmholtz und Emil du Bois-Reymond 1846-1894 (1986). Hg. v. Christa Kirsten. Berlin, S. 11–6487 Koenigsberger, Leo (1902): Hermann von Helmholtz. 3 Bände. Braunschweig: Friedrich Viehweg und Sohn (1). S. 5088 Vgl.: Rieger 2008 – Der Frosch – ein Medium?, S. 29189 Volta, Alessandro (1900): Briefe über thierische Elektricität (1792). Oswald’s Klassiker der exakten

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Page 23: „Ein Mikroskop für die Zeit“ - Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz'  Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit (Magisterarbeit)

Entgegen Galvani vermutete Volta im Frosch eine metallische Elektrizität, wie sie bei

der Verbindung unterschiedlicher Metalle mit einer leitenden Flüssigkeit, zum Beispiel

Schwefelsäure, auftritt.90 Das ist das Prinzip der Batterie oder des Akkumulators. „In

den Froschschenkeln Galvanis zuckt also nicht, wie von naturphilosophischen Kreisen

gerne behauptet, die Lebenskraft irgendeiner animalischen Elektrizität, sondern der

Bauplan einer ersten Batterie.“91 Volta ließ jedoch jegliche Formen von Bioelektrizität

außer acht, wie sie zum Beispiel in Elektrofischen auftritt, was Galvani bereits

beobachtet hatte.92

Zusammenfassend lässt sich sagen, und die darauffolgende Geschichte zeigte es, dass

sowohl Galvani, mit der Entdeckung der den Tieren innewohnenden Elektrizität, also

auch Volta, mit der Entdeckung der metallischen Elektrizität, des Prinzips der Batterie

in Fröschen, zum Teil Recht hatten, bloß nicht in ihrer jeweiligen Ausschließlichkeit

und einseitigen Auslegung. Kurioserweise sind die auf Voltas Entdeckung

zurückführenden metallischen Ströme und Batterien auf seinen eigenen Vorschlag hin

nach Galvani benannt, obwohl dieser die zugrundeliegenden Prinzipien gar nicht

erkannt hatte und auch Zeit seines Lebens bestritt.93 Mit der Verfeinerung der Apparate

und Messtechniken war es in der Epoche nach Galvani und Volta möglich, Bioelektrizät

zu messen. Neben Helmholtz war du Bois-Reymond ein Vorreiter auf diesem Gebiet.

Ähnlich wie Volta hob auch du Bois-Reymond in seinen „Untersuchungen über

thierische Elektricität“94 von 1848 die Qualitäten des Froschs, im folgenden Beispiel ist

es der grüne Wasserfrosch, als Messgerät hervor und verglich ihn, beziehungsweise

seine präparierten und für die Experimente vorgesehenen Gliedmaßen, mit anderen

Apparaten und Werkzeugen.

Sämmtliche Versuche, von denen nicht ausdrücklich das Gegentheil bemerkt ist, sind an R. esculenta [grüner Wasserfrosch, Anm.d.Verf.]95 angestellt. R. temporaria ist durchweg zu

Wissenschaften Nr. 114, Hg. von A. J. von Oettingen. Leipzig, S. 4990 Mehr zur galvanischen Batterie in: Autorenkollektiv (Hg.) (1885-1892): Meyers Konversationslexikon. 4. Aufl. 19 Bände. Leipzig und Wien: Verlag des Bibliographischen Instituts (Faidit - Gehilfe, 6). S. 870. Online verfügbar unter http://www.retrobibliothek.de/retrobib/stoebern.html?bandid=100154, zuletzt geprüft am 08.11.201191 Rieger 2008 – Der Frosch – ein Medium?, S. 29592 Vgl.: Ebd. S. 29593 Vgl.: Ebd. S. 29794 Du Bois-Reymond 1848 – Untersuchungen über thierische Elektricität (1)95 Vgl.: Frösche (Metamorphose; Gruppen, Familien und Arten). In: Autorenkollektiv (Hg.) (1885-1892):

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klein und ermangelt auch, wie mir hat scheinen wollen, jener Lebenszähigkeit, welche die abgelösten Glieder der ersteren Thierart zeitweise gleichsam zu ächten physikalischen Vorrichtungen, welche sich wie eine Maschinen studieren lassen, macht.96

Was den reinen Physikern ihre Apparate, wären den Organischen Physikern, gemäß du

Bois-Reymond, ihre wie Apparate eingesetzten organischen Werkzeuge: die

Gliedmaßen und Muskeln des Froschs.

Die anorganische Physik verschmäht es nicht, sich mit den besten Vorschriften zur Verfertigung ihrer Beobachtungswerkzeuge, Thermometer, Barometer u.s.w. bis ins Einzelne zu befassen; ich halte es daher nicht unter der Würde der organischen Physik, sich über das Verfahren Aufschluss zu verschaffen, wie ihr absolutes Organ, der Frosch, der für einen großen Theil derselben in der That das ist, was dem Nacheiferer Moser's oder Melloni's die wohlgeputzte Daguerre'sche Platte oder die Thermosäule, am leichtesten und besten, trotz dem Wechsel der Jahreszeiten das ganze Jahr hindurch in hinreichender Menge und tauglichem Zustande zu erhalten sei.97

Dass der abgetrennte Froschmuskel, wie in Helmholtz' Versuchen, stundenlang seine

Leistungsfähigkeit behielt, begründet, laut Sven Dierig, auch seine Maschinenart.98 Das

Tier ist bereits tot, aber ein Teil seines organischen Materials ist in Verbindung mit den

anderen Apparatsteilen innerhalb des Experiments noch in der Lage, Arbeit zu

verrichten – die gleiche Arbeit, die er vorher am noch lebenden Organismus ausübte.

Der Laborfrosch war lebende und tote Materie zugleich. Das noch funktionierende Bauteil der tierischen Maschine war weder vollkommen tot, noch war es vollkommen lebendig. […] Der Frosch überlebte seinen eigenen Tod gewissermaßen in Form einer entleibten Maschine.99

Die Organischen Physiker verstanden sowohl den tierischen Organismus und seine noch

nach dem Tod funktionierenden Körperteil als auch das gesamte Ensemble der

Experimentieranordnung als Maschine.100 Sie betrachteten die einzelnen Komponenten

organischen oder anorganische Materials nicht als Erweiterungen des jeweiligen

Einzelteils, sondern als ein zusammen als Einheit wirkendes System. Ähnlich betrachten

Meyers Konversationslexikon. 4. Aufl. 19 Bände. Leipzig und Wien: Verlag des Bibliographischen Instituts (Faidit - Gehilfe, 6). S. 751. Online verfügbar unter http://www.retrobibliothek.de/retrobib/stoebern.html?bandid=100154, zuletzt geprüft am 08.11.201196 Du Bois-Reymond 1848 – Untersuchungen über thierische Elektricität (1), S. 45897 Ebd. S. 45898 Vgl. Dierig, Sven (2006): Wissenschaft in der Maschinenstadt. Emil-Du Bois-Reymond und seine Laboratorien in Berlin. Göttingen: Wallstein. S. 10299 Ebd. S. 102100 Vgl.: Ebd. S. 107

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auch Gilles Deleuze und Felix Guattari in ihrem „Anti-Ödipus“101 Systeme, in denen

Maschinen und Menschen oder Tiere zusammenwirken.

Nicht mehr geht es darum, Mensch und Maschine zu konfrontieren, um darin die möglichen Korrespondenzen, Verlängerungen und Ersetzungen des einen oder anderen einzuschätzen, vielmehr darum, beide zu verbinden und zu zeigen, wie der Mensch mit der Maschine, oder wie er mit anderen Dingen zu einem Stück (einer Einheit) wird, um so eine Maschine zu konstituieren. Die anderen Dinge mögen Werkzeuge, selbst Tiere oder andere Menschen sein.102

Diese Formulierung ähnelt auch Rheinbergers Rede vom „Experimentalsystem“ und

dieser Gedanke wird auch in der Akteur-Netzwerk-Theorie fortgeführt. Dabei wird die

Maschine jedoch ausgeweitet auf weitere beteiligte Akteure: Neben den menschlichen

wie Helmholtz, als Ausführender und Planer, seiner Frau Olga als Assistentin, du Bois-

Reymond als Zuhörer, Berater und Kritiker, den die Apparate bauenden Mechaniker

gehören auch nicht-menschliche Akteure, wie das Galvanometer, dazu – und eben der

Frosch, als tierisches Bauteil und Maschine.

3.3.2 Tierversuche in der physiologischen Forschung

Tierversuche wurden schon in der experimentellen Forschung vor Helmholtz praktiziert

und waren jeher ein Streitthema sowohl in der Wissenschaft als auch der gesamten

Gesellschaft. Helmholtz' Lehrer Johannes Müller und auch Carl Ludwig, wie Helmholtz

Organischer Physiker und Mitglied der Physikalischen Gesellschaft, waren sich der

Problematik bei der Anwendung von Tierversuchen bewusst und versuchten jede

überflüssige Quälerei zu vermeiden.103 Als „Märtyrer der Wissenschaft“104 bezeichnete

Helmholtz zum Beispiel die sehr häufig für elektrische Versuche verwendeten Frösche

und versuchte damit ihren Verdienst aber auch ihr, wenn auch unfreiwilliges, Leiden für

101 Deleuze, Gilles; Guattari, Félix (1997): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. 8. Aufl. Frankfurt/M.: Suhrkamp102 Ebd. S. 498103 Hörz 1994 – Physiologie und Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, S. 182f.104 Helmholtz, Hermann von (1845): Ueber den Stoffverbrauch bei der Muskelaktion. In: Johannes Müller (Hg.): Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin. Berlin: Veit & Comp., S. 72–83. S. 73f.

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die experimentelle Erforschung des Lebens zu würdigen. In Weiterentwicklung der

empirischen Physiologie stellte die Organische Physik die physikalisch-chemischen

Grundlagen der Lebensprozesse in den Vordergrund und legte dabei großen Wert auf

Präzision mit Hilfe von technischen Apparaten. Die empirische Physiologie stützte sich

vor allem auf Messungen und Beobachtungen sowie Tierversuche, insbesondere die

Vivisektion. Diese Richtung entwickelte sich zunächst in Frankreich, wo die

romantische Naturphilosophie weniger starke Wirkung auf die Wissenschaft hatte.105

Tierversuche beziehungsweise Tierexperimente bezeichnen

alle zielgerichteten künstlichen Veränderungen des natürlichen Verhaltens, der Regelmechanismen und Körperfunktionen von einzelnen Tieren und Gruppen, die durch Menschen mittels der Veränderung von Lebensbedingungen, durch die Eingabe von Mitteln und durch chirurgische Eingriffe durchgeführt werden.106

Bei der Vivisektion im Speziellen werden Schnitte am lebenden Tier ausgeführt.107 Als

Begründer und Wortführer der eher morphologisch108 orientierten empirischen

Physiologie gilt François Magendie (1783-1855), der „eine grenzenlose Abneigung

gegen alle Theorie“109 entwickelte. Er lehnte den Vitalismus ab, der zur Erklärung

unbekannter Vorgänge gleichsam unbekannte Erklärungsmodelle wie die Lebenskraft

heranzog. Jegliche Spekulation widerstrebte ihm und er vermied sogar aus seinen

eigenen Beobachtungen und Experimenten Schlüsse zu ziehen. Magendie setzte die

Vivisektion in besonders skrupellose Weise ein – das geschah damals noch am

unbetäubten Tier, oft waren es Hunde. Gleichwohl hebt Rothschuh in diesem

Zusammenhang Magendies Leistungen für die Physiologie hervor.110

Er bereicherte die Physiologie mit einer Fülle von selbst erhobenen, neuen grundlegenden Tatsachen. Unzählige Tiere, besonders Hunde, mussten unter seinen Händen ihr Leben zur Aufklärung physiologischer und pathologischer Fragen lassen. Natürlich geschah das damals noch alles am lebenden und nicht narkotisierten Tier. Mit seinen vivisektorischen Tierexperimenten hat er fast alle Gebiete der Experimentalphysiologie um neue Tatsachen

105 Vgl.: Rothschuh, Karl E. (1953): Geschichte der Physiologie. Berlin/Göttingen/Heidelberg: Springer. S. 101106 Hörz 1994 – Physiologie und Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, S. 174107 Vgl. Ebd. S. 174108 Morphologie (gr.) = Lehre von der Gestalt. Vgl.: Brockhaus' Konversationslexikon 1894-1896, Morea – Perücke, 12, S. 12; Vgl.: Hörz, Herbert (1994): Physiologie und Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Briefe an Hermann von Helmholtz. Marburg (Lahn): Basilisken-Presse. S. 158f.109 Rothschuh 1953 – Geschichte der Physiologie, S. 103110 Vgl.: Ebd. S. 103

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bereichert, wie ein ‚Lumpensammler‘, der mit einer Harke in der Hand alles sammelt, was er findet.111

Diese Haltung brachte ihm aber auch heftige Kritik der sich in dieser Zeit

organisierenden Tierschützer ein.112 Magendie machte sich bei seinen Versuchen völlig

frei von jeglichen moralischen Einwänden, allerdings untersuchte er vorab auch nicht

die Zweckmäßigkeit des jeweiligen Experiments. Die Frage nach der Notwendigkeit

und Vertretbarkeit von Tierversuchen stellte sich schon damals insbesondere für die

Vivisektion. In dem Streit fehlte es oft an Differenzierung und Sachlichkeit. Fanatische

Gegner von Tierversuchen unterschieden häufig nicht zwischen Fällen von

Missbräuchen der Vivisektion und wissenschaftlich sinnvollen Tierversuchen. Die Frage

bleibt natürlich, gemäß welcher Kriterien ein Tierexperiment als sinnvoll einzuschätzen

ist. An dieser Frage rieben sich Experimentatoren wie Tierschützer, zu beiden Gruppen

zählten auch viele Physiologen und Wissenschaftler, wie zum Beispiel Carl Ludwig. Die

einen erkannten den wissenschaftlichen Wert und die moralischer Rechtfertigung der

Vivisektion an, die anderen lehnten kategorisch jedes Tierexperiment ab. Das

Abgeordnetenhaus Preußens erließ 1885 eine Verordnung zur Sanktionierung von

Tierversuchen. Sie bestimmte unter anderem, dass entsprechende Experimente nur zu

wichtigen Forschungszwecken am möglichst niederen Tier vollzogen werden dürfen.

Gemeint ist damit, dass ein Versuch, der am Plattwurm das gleiche Resultat brächte wie

am Hund, mit dem Plattwurm anzustellen sei. Außerdem wurde die ausreichende

Betäubung der Tiere vor dem Versuch, sofern es nicht dem Zweck widersprach,

angeordnet. Herbert Hörz hebt die Verantwortung des Menschen hervor, der immer

wieder von Neuem entscheidet, ob und unter welchen Bedingungen ein Tierexperiment

notwendig und human vertretbar ist. Tierexperimente sind Quälerei, sie enthalten

Risiken und fügen dem Tier Schmerzen zu. Deshalb dürfen sie nicht einfach mit dem

Nutzen für den Menschen gerechtfertigt werden. Ludwig und Müller versuchten rohe

Experimente und Tierquälerei zu vermeiden.

Die humane Herausforderung bleibt. Sie muss stets neu, unter unterschiedlichen Bedingungen und mit Verantwortung für die Natur, die nicht nur Objekt der Ausbeutung durch den Menschen ist, diskutiert und konkret entschieden werden.113

111 Ebd. S. 103112 Vgl. im Folgenden: Hörz 1994 – Physiologie und Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, S. 174ff.113 Ebd. S. 182f.

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3.4 Zeitmessung mit Galvanometer, Spiegel und Fernrohr –

Technologietransfer aus Geophysik und Telegraphie

Neben dem Stromkreis zur Reizung des Muskels

hatte Helmholtz einen zweiten eingerichtet, der

zur Messung der „Stromzeit“ mit dem

Galvanometer diente. Beide Stromkreise verliefen

unabhängig voneinander, waren aber punktuell

miteinander verbunden. Ziel der Konstruktion war

es, erregenden und zeitmessenden Strom

gleichzeitig starten zu lassen. Als Stromquelle

dienten vier Daniellsche Elemente, je zwei in

einer Batterie. Die zwei Batterien wurden so in den Experimentalaufbau integriert, dass

sie entweder einen gemeinsamen Stromkreis oder zwei voneinander unabhängige

Stromkreise bildeten. Im ersten Fall würden sich zwei Batterien entgegenwirken und

kein Strom entstehen. Der zweite Fall würde ausgelöst, sobald die amalgamierte Spitze

d in das Quecksilbernäpfchen c getaucht würde (Vgl. Abb. 5).114 „Der Muskel

unterbricht darauf die Leitung des

zeitmessenden Stromes bei a. Wird alsdann c

von d wieder getrennt, so ist kein

geschlossener Kreis mehr vorhanden, und

alle Ströme hören auf.“115 Um diesen Prozess

zu steuern, baute Helmholtz einen

Hilfsapparat, den er die Wippe nennt (Vgl.

Abb. 7116). Mittels eines Schließungsstabes,

der von Hand betätigt wurde, öffnete die

Bewegung der Wippe den induzierenden

Stromkreis – dies löste den Induktionsschlag

aus, der den Muskel oder Nerven reizte – und

114 Vgl. Fig. 7 in: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 365115 Ebd. S. 293116 Ebd. S. 365

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Abbildung 4: Stromlaufplan der Stromkreise für die Erregung des Muskels und die Messung der Zeit.

Abbildung 5: Die "Wippe" ermöglichte, dass mit Auslösung des induzierenden Stromschlag gleichzeitig der zeitmessende Strom startete.

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schloss gleichzeitig den zeitmessenden Stromkreis.117 Helmholtz war aufgrund der

vielen Handgriffe bei dieser Methode auf Hilfe angewiesen und wurde deshalb von

seiner ersten Frau Olga, geborene von Velten, unterstützt:

Meine Frau [...] steht mir treulichst bei bei meinen Versuchen als Protokollführerin der beobachteten Skalenteile, was sehr nötig ist, weil ich allein vollständig konfus werde, wenn ich auf so viele Dinge gleichzeitig achtgeben soll, als da sind: Umlegen höchst verwickelter Drahtleitungen mit Nebenströmen zweiter Ordnung, Einstellen des Muskels, Auflegen der Gewichte, Ablesen der Skalenteile, rechtzeitiges Öffnen und Schließen der Kette.118

Für die Zeitmessung verwendete Helmholtz, wie schon

erwähnt, ein Galvanometer – ob er ein handelsübliches

verwendete oder es selber konstruierte, wird nicht erwähnt.

Es bestand aus einem Holzrahmen, der mit 1.400

Windungen Kupferdraht umwickelt war. Parallel dazu hing

ein neun Zentimeter langes Magnetstäbchen an mehreren

Coconfäden. An dem Magneten waren Spiegel befestigt

sowie zwei verschiebbare dicke Metallringe. Die

Metallringe verlangsamten die Schwingungsbewegung des

Magneten, sodass die Werte besser abgelesen werden

konnten. Um die Werte möglichst genau von der Skala

abzulesen, setzte Helmholtz außerdem Fernrohr und Spiegel

ein – eine Methode, die zuerst Carl Friedrich Gauß (1777)

und Wilhelm Weber (1804-1891) einführten. „Die Messung

der Schwingungen geschah nach der von Gauß und Weber

eingeführten Methode durch Beobachtung des in dem Spiegel des Magnetes gesehenen

Bildes einer horizontalen Scale mittels Fernrohrs.“119 Die Magnetnadel diente als Zeiger,

über ihm war der Spiegel angebracht und gegenüber das Fernrohr aufgestellt.120 Die

Skala war ober- oder unterhalb des Fernrohrs angebracht und zeigte vorne zum Spiegel.

117 Vgl.: Kuhn, Carl (1866): Handbuch der angewandten Elektricitätslehre, mit besonderer Berücksichtigung der theoretischen Grundlagen. Zweite Abtheilung. Leipzig. S. 1193118 Helmholtz in einem Brief an du Bois-Reymond, 14. Oktober 1849. In: Dokumente einer Freundschaft. Briefwechsel zwischen Hermann von Helmholtz und Emil du Bois-Reymond 1846-1894 (1986). Hg. v. Christa Kirsten. Berlin. S. 88119 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 290120 Vgl. im Folgenden zur Ablesetechnik mit Spiegel und Fernrohr: Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 83f.

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Abbildung 6: Spiegelgalvanometer nach Weber.

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Beim Blick durch das Fernrohr sah er die im Spiegel erscheinende Skala, vor der die

Magnetnadel sich bewegte. Henning Schmidgen betont den auf den Blick

konzentrierten Charakter der gesamten Installation, die die Verwendung des Fernrohrs

verdeutlicht: „Helmholtz hatte in der Tat eine Sehmaschine, keine Schreib- und

Zeichenmaschine zusammengebaut.“121 In diesem Zusammenhang ist Helmholtz'

Bezeichnung dieser Art von Kurzzeitmessmethoden als eine „Mikroskopie der Zeit“122

nicht ganz zutreffend, handelt es sich doch in diesem Fall eher um eine „Teleskopie der

Zeit“.123 Helmholtz griff hier auf ein Verfahren zurück, das bereits in einem anderen

Zusammenhang verwendet und beschrieben worden war. Sowohl Johann Christian

Poggendorf (1796-1877)124 als auch Gauß und Weber setzten das Verfahren ein, um Ort,

Richtung und Größe des Erdmagnetismus zu bestimmen.

Gauß und Weber verwendeten es außerdem für die Übermittlung telegraphischer

Nachrichten.125 An jeder der Sende- bzw. Empfangstationen war ein Fernschreiber

installiert, der ein an einem Faden aufgehängten Magnet enthielt, auf dem ein Spiegel

befestigt war. Der Magnet war an beiden Enden mit Multiplikatorspulen umgeben. Das

Betätigen eines Schaltwerks lenkte nun den Stab ab und über Spiegel, Fernrohr und

Skala konnten die Schaltzeichen mit Hilfe eines Codes in Buchstaben übersetzt werden.

Helmholtz übernahm die Technik der Spiegelablesung also aus einem teils optischen,

teils elektrischen Telegraphieverfahren sowie aus dem Bereich der Geophysik und

importierte damit eine ganze „Kultur der Genauigkeit“ in die neu entstehende

„Chronophysiologie“.126

Helmholtz kam aber auch anderweitig mit der telegraphischen Technik in Berührung. Er

orderte, als er zur Zeit seiner Nervenleitungs-Experimente in Königsberg weilte, seine

technischen Bauteile und Apparate bei dem Mechaniker Johann Georg Halske (1814-

1890), und du Bois-Reymond vermittelte für ihn in Berlin.127 Halskes Lieferung der von

121 Ebd. S. 83122 Helmholtz 1850 – Ueber die Methoden, S. 177123 Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 89124 Poggendorf, Johann Christian (1826): Ein Vorschlag zum Messen der magnetischen Abweichung. In: Poggendorff’s Annalen 7 (82), S. 121–130. Online verfügbar unter http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k15092v/f6.langEN, zuletzt geprüft am 04.11.2011125 Vgl. im Folgenden: Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 86f.126 Vgl.: Ebd. S. 88127 Vgl.: Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 88f.

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Apparat seinen Berliner Kollegen, unter ihnen auch Helmholtz, im Frühjahr 1847 vor.236

Als kurvenzeichnende Apparate orientierten sich Kymograph und Myograph an

Verfahren aus dem Maschinenbau, genauer gesagt an James Watts

Dampfdruckindikator.237

Der sogenannte Dampfdruckindikator gab […] Auskunft über das physikalische Innenleben einer laufenden Maschine. Der Indikator unterrichtete über das Verhalten des Dampfdrucks während der Kolbenbewegung im Zylinder, indem er in einem geschlossenen Linienzug die Druckverhältnisse auf eine rotierende Metallwalze aufzeichnet.238

Ludwig selbst wies auf auf das Vorbild Watts im

Zusammenhang mit Helmholtz' Myographen hin:

„Die mitgetheilte Curve hat Helmholtz unmittelbar durch den Froschmuskel zeichnen lassen; es geschah dieses nach den Grundsätzen des graphischen Verfahrens von Watt.“239

Im Gegensatz zum Myographen, bei dem mit dem Froschmuskel nur ein isolierter Teil

toten organischen Materials am Experiment mitwirkte, bezog der Kymograph das

gesamte noch lebende Tier, Kaninchen oder Hund, in das Experimentalsystem ein – ein

zentraler Unterschied, wie Sven Dierig betont.240 Dierig verwendet in Bezeichnung das

Apparates mit all seinen Komponenten den Begriff der Maschine. Auch die organischen

Physiker sprachen von ihren Apparate als Maschinen241 und das implizierte auch das

verwendete organische Material beziehungsweise den gesamten tierischen Organismus.

Du Bois-Reymond verglich das Spiel der Muskeln wiederholt mit der Arbeit der

anorganischen Dampfmaschinen.242 Am 9. Februar 1852 schrieb er in einem Brief an

236 Vgl.: Dierig, Sven (2006): Wissenschaft in der Maschinenstadt. Emil-Du Bois-Reymond und seine Laboratorien in Berlin. Göttingen: Wallstein, S. 115237 Vgl.: Ebd. S. 116238 Ebd. S. 108239 Ludwig, Carl (1852): Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Physiologie der Atome, der Aggregatzustände, der Nerven und Muskeln. Heidelberg: Akademische Verlagshandlung von C.F. Winter (1). S. 333240 Vgl.: Dierig 2006 – Wissenschaft in der Maschinenstadt, S. 116241 Zum Beispiel Helmholtz in einem Brief an Du Bois-Reymond vom 26. Oktober 1856, In: Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 163242 Vgl.: Du Bois-Reymond, Emil (1912): Gedächtnisrede auf Johannes Müller. Gehalten in der Leibniz-

53

Abbildung 9: Clair's Druckindikator für Dampfmaschinen.

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langsamer fortbewegten. Insofern diente dieser Vergleich mit der Telegraphie mithin als

didaktisches Mittel, um von dort ausgehend die Andersartigkeit der Reizleitung im

Lebewesen vor Augen zu führen:

Wenn die materielle Kultur von Elektromagnetismus und Telegraphie also eine positive technische Voraussetzung für die präzise Zeitmessung im physiologischen Labor war, bildete sie im Vortragssaal die negative Folie, vor der die stockende ‚Sendung der Nachrichten‘ innerhalb des Körpers eindringlich beschrieben werden konnte.133

3.5 Berechnung der Zeit

Um die Nervenleitgeschwindigkeit ermitteln zu können, musste der am Muskel

austretende Nerv an verschiedenen Stellen, muskelnah und muskelfern, gereizt werden.

Die Änderung des zeitmessenden Stroms wurde durch die Ausschläge der Magnetnadel

im Galvanometer angezeigt. Für die spätere Berechnung musste außerdem der

Ausschlag vor Beginn des zeitmessenden Stroms bekannt sein. Um den Ablauf des

Messprozesses zu verdeutlichen, führt Helmholtz ein konkretes Beispiel an:

Vor der Einwirkung des Stroms schwingt der Magnet hin und her zwischen den Zahlen 497,7 und 496,7, der dem Meridian entsprechende Scalenpunkt ist also 497,2. In dem Augenblicke, wo dieser Punkt unter dem Faden des Fernrohrs wieder vorbeigeht, wird der Strom geschlossen, und bleibt es, bis er vom Muskel wieder unterbrochen wird. Der Magnet ist nun in stärkere Schwingungen versetzt, und es werden nach einander abgelesen 597,7; 397,3; 596,9.134

Die mit dem Galvanometer erhaltenen Messwerte allein gaben noch nicht die

Nervenleitgeschwindigkeit an. Auf Basis einer Formel und mit Kenntnis verschiedener

Parameter musste die „verlorene Zeit“135, die zwischen Reizinduktion und

Muskelzucken verstrich, berechnet werden. Für die Berechnung mussten folgenden

Werte bekannt sein: die Größe der Ablenkung der Magnetnadel im Galvanometer vor

und nach der Reizung, die Ablenkung (α) im Moment der Schließung des zeitmessenden

133 Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 171134 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 300135 Mit der Bezeichnung „verlorene Zeit“ bzw. „temps perdu“ spielt Schmidgen auf Marcel Prousts siebenbändiges Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ an. Vgl.: Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 93

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Stromes, die Schwingungsdauer (T) des Magneten sowie die Ablenkung (I) des

Magneten, wenn der zeitmessende Strom gleichmäßig anhalten würde.136 Die

Berechnungsformel musste so lauten:

137

Helmholtz erkannte, dass er die Fehlerquote auf ein Minimum verkleinern konnte, wenn

er den zeitmessenden Strom genau in dem Moment schloss, wenn der Magnet den

Meridian passierte. Für diesen Fall reduzierte sich die Formel wie folgt:

138

Der Vergleich der Berechnungen bestätigte die Beobachtungen aus Helmholtz ersten

Testversuchen mit der graphischen Methode. Entscheidende Voraussetzung war, dass

bei beiden Messungen gleiche Bedingungen herrschten. Unter Einhaltung dieser

Maßgabe konnte Helmholtz nun auch mit der elektromagnetischen Methode

nachweisen, dass „die Verzögerung der Wirkung [des elektrischen Reizes auf den

Muskel, Anm.d.Verf.] nur darauf beruhen [kann], dass eine Zeit vergeht, ehe sich

dieselbe von der entfernteren Stelle bis zum Muskel hin fortpflanzt.“139

3.6 Fehleranalyse mit Methoden der exakten Wissenschaften

Helmholtz legte großen Wert auf Präzision. Diese war für ihn aber nicht gleichzusetzen

mit der Anzahl der Dezimalstellen, die er in der Lage war zu messen.140 In den vierziger

Jahren des 19. Jahrhunderts konzentrierte man sich bei präzisen Messungen eher auf

Techniken, die die Gültigkeit der Daten eingrenzten und die Richtigkeit der 136 Vgl.: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 299137 Ebd. S. 299138 Ebd. S. 300139 Ebd. S. 330140 Vgl. hierzu und im Folgenden Olesko, Kathryn M.; Holmes, Frederic L. (1993): Experiment, Quantification, and Discovery. Helmholtz's Early Physiological Researches, 1843-50. In: David Cahan (Hg.): Hermann von Helmholtz and the Foundations of Nineteenth-Century Science. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press, S. 50–108, hier S. 95ff.

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Erkenntnisse, die sie lieferten, bestätigten. Helmholtz ging es zunächst darum, mögliche

externe Störfaktoren und Fehlerquellen zu beseitigen oder zumindest soweit zu

minimieren, dass sie das Messergebnis nicht beeinflussten, und sichergestellt war, dass

die Messergebnisse tatsächlich den zu messenden Ablauf repräsentierten, also den

zeitlichen Verlauf der Zuckung des Muskels, und nicht anderweitige Faktoren das

Ergebnis verfälschten. Zu solchen Störquellen gehörten Luftströme, Kälte, mechanische

Fehler und bestimmte Muskeleffekte.

Helmholtz teilte die Fehlerquellen in zwei Klassen: Die erste umfasste Fehler, die die

Messung der Zeit zwischen Reizung und Öffnung des Stromkreises betrafen, und die

zweite jene, die verhinderten, dass die Trennung der Unterbrechungsstelle im genau

erforderten Moment geschah. Unter den Einflüssen der ersten Klasse, zu denen

Helmholtz Störungen der „Bewegung des Magnetes durch Luftströme, Fehler der

Ablesung, Dauer des Inductionsstroms, Änderungen in der electromotorischen Kraft

und dem Widerstande der Daniellschen Elemente“141 zählte, identifizierte Helmholtz nur

einen, der das Resultat signifikant verändern konnte, und dieser betraf die „nicht immer

vollkommene Schließung des Stroms an der Unterbrechungsstelle.“142 In diesen Fällen

schlug die Magnetnadel des Galvanometers kaum aus, weil sich zum Beispiel ein

„unsichtbares Stäubchen zwischen Goldkuppe und Goldplatte“143 befand. Dieses

verhältnismäßig kleine Problem war mit einem säuberndem Pinselstrich schnell

behoben.

Ein anderer Grund für die schlechte Schließung des Kontakts an der

Unterbrechungsstelle war der mangelnde Druck, der an der Stelle ausgeübt wurde.

Dieses Problem trat vor allem bei den Versuchen auf, wo der Muskel nicht mit einem

Gewicht belastet war. Helmholtz sprach konkret von Belastung und Überbelastung des

Muskels. Der Begriff der Belastung bezog sich auf das Gewicht des stromleitenden

Zwischenstücks mit den Kontakten, das an dem Muskel hing. Die Überbelastung

bezeichnete wiederum die zusätzlich Belastung durch Gewichte, die in die an dem

Zwischenstück hängende Schale gelegt werden konnten. Die Überbelastung

141 Ebd. S. 310142 Ebd. S. 310143 Ebd. S. 310

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gewährleistete, dass die angehängten Teile nicht weiter absinken konnten, die Kontakte

ordentlich schlossen und der Muskel sich nicht weiter spannen konnte. In den Fällen,

wo kein Gewicht aufgelegt war, musste der Muskel so eingestellt sein, dass sich die

Metallteile an der Unterbrechungsstelle möglichst zart berührten. Helmholtz behalf sich

damit, ein ganz geringes Gewicht von zum Beispiel einem Gramm aufzulegen, damit in

diesen Fällen der Widerstand an der Kontaktstelle nicht zu groß werden würde und die

Intensität des Stromes möglichst konstant blieb.144

Die zweite Klasse von Fehlerquellen, die das Experiment stören konnten, umfasste

Faktoren, die verhinderten, dass die Trennung der Unterbrechungsstelle im genau

erforderten Moment geschah. Um dieses genaue Timing einhalten zu können, musste

sichergestellt sein, dass alle beteiligten Komponenten in der ausgerichteten Position

verharrten und keine widerstrebenden Bewegungen machten. Der Froschmuskel blieb

aber nicht in der Position, in die er mit Hilfe eines Gewichts gebracht wurde, sondern

zog sich in seiner elastischen Eigenschaft noch einige Zeit weiter in die Länge – das

bereits erwähnte Problem der Muskel-Dilatation. Dasselbe passierte, wenn die

Muskelspannung nachließ, dann zog sich der Muskel auch erst allmählich wieder

zusammen und befand sich nicht schlagartig in seiner entspannten Position. Mit diesem

Verhalten störte der Muskel den zeitlichen Ablauf, weil es passieren konnte, dass er zu

spät auf den Reiz reagierte. Schon Eduard Weber hatte diesen sehr nachhaltigen Effekt

der elastischen Nachwirkung in den Muskeln beobachtet und Helmholtz bezog sich in

den Messungen auch direkt auf Webers Forschungen zur mechanischen Wirkung der

Muskeln.145 Helmholtz half sich, indem er den Muskel vor dem Versuch mit einer viel

größeren Belastung dehnt, als er sie später brauchte. Außerdem musst er beachten,

genügend Zeit zwischen zwei Versuche zu lassen, ca. 30-40 Sekunden, da der Muskel

sich so lange noch in Spannung befinden konnte. Doch die Fehleranalyse brachte

Helmholtz keine exakteren Messwerte, sondern nur Erkenntnis über die mangelnde

Verlässlichkeit der Daten, die durch störende Einflüsse ein verzerrtes Bild abgeben. Um

Werte zu erhalten, die den exakten am nächsten kamen, wendete Helmholtz die

Methode der kleinsten Quadrate an – eine mathematische Methode.146 Dass Helmholtz

144 Vgl.: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 310ff.145 Vgl.: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 276 und 278146 Vgl. Olesko/Holmes 1993 – Experiment, Quantification, and Discovery, S. 95ff.

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sich hier einer mathematischen Methode bediente, die in den 1850er Jahren

hauptsächlich in den exakten Wissenschaften, also der Astronomie, Physik und Chemie

Anwendung fand, spricht auch für sein Selbstverständnis als Organischer Physiker.

Während die Methode der kleinsten Quadrate in den zuerst genannten

Forschungszweigen bereits Anwendung fand, kannte man sie in den

Lebenswissenschaften kaum, zumal zu berücksichtigen ist, dass letztere mit viel

unregelmäßigeren Messwerten arbeiten mussten, weshalb diese Methode nicht

unbedingt die passendste zu sein schien. In einer Fußnote erläutert Helmholtz die Art

und Weise, mit welcher Wahrscheinlichkeit und Sicherheit die Messwerte einer

bestimmten Versuchsreihe zu betrachten sind:

Für diejenigen meiner Leser, welchen die Begriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht geläufig sind, bemerke ich hier, dass z.B. die Angabe in der neunten Versuchsreihe, der Werth des Zeitunterschieds wegen der Fortpflanzung sei 0,00175 Secunden mit dem wahrscheinlichen Fehler ±0,00014, nach einem populären Ausdrucke bezeichne, es sei 1 gegen 1 zu wetten, dass der wahre Werth dieser Differenz zwischen 0,00189 und 0,00161 Secunden liege. Es ist ferner 10 gegen 1 zu wetten, dass die Abweichung höchstens 2,5 mal, 100 gegen 1, dass sie höchstens 3,8 mal, 1000 gegen 1, dass sie 4,8 mal so groß sei, als der wahrscheinliche Fehler. Der Werth liegt also mit der Wahrscheinlichkeit

1 gegen 1 zwischen 0,00189 und 0,00161

10 gegen 1 zwischen 0,00210 und 0,00140

100 gegen 1 zwischen 0,00228 und 0,00122

1000 gegen 1 zwischen 0,00242 und 0,00108147

Ob die Daten letzten Endes verlässlich und akkurat sind, hängt neben dem Vertrauen auf

das verwendete Instrumentarium auch von den individuellen theoretischen Erwartungen

des Experimentators ab. Helmholtz versuchte sich seiner Daten zu versichern, indem er

in verschiedenen breit angelegten Messreihen möglichst viele Messpunkte erzeugte, die

er dann miteinander vergleichen konnte. Er baute seine Überzeugungsarbeit nicht nur

auf präzisen Messungen auf, sondern auch auf Berechnung der Ungewissheiten. Auf

diese Weise schärfte er die Daten Stück für Stück, näherte sich dem wahrscheinlichsten

Wert immer mehr an. Nichtzuletzt zeigte die Methode der kleinsten Quadrate, dass

Genauigkeit und Präzision allein keine Garanten für Gewissheit waren.148

147 Helmholtz 1850: Messungen, S. 337f.148 Olesko/Holmes 1993 – Experiment, Quantification, and Discovery, S. 98f.

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3.7 Die Rolle des Experiments in Helmholtz' Forschungsarbeit

Das Gesetz zur Erhaltung der Kraft als Mittel gegen die Lehre von der

Lebenskraft

Bereits 1845 berichtete Helmholtz in dem Beitrag „Ueber den Stoffverbrauch bei der

Muskelaktion“149 über einen seiner ersten Versuche zur Muskelaktivität. Seine Versuche

schlossen an die Frage nach der Lebenskraft an,

nämlich die, ob das Leben der organischen Körper die Wirkung sei einer eigenen, sich stets aus sich selbst heraus erzeugenden, zweckmäßig wirkenden Kraft, oder das Resultat der auch in der leblosen Natur thätigen Kräfte, nur eigenthümlich modificirt durch die Art ihres Zusammenwirkens […].150

Helmholtz ging davon aus, dass es nicht möglich sei, „durch die Wirkungen irgend einer

Combination von Naturkörpern auf einander in das Unbegrenzte Arbeitskraft zu

gewinnen.“151 In seiner 1847 veröffentlichten physikalischen Abhandlung „Über die

Erhaltung der Kraft“152 verallgemeinerte er seine Erkenntnisse und fasste zusammen,

dass „jede Umwandlung von Kraft der Bewegung elektrische und magnetische Energie

oder Wärme kundgiebt“.153 Heute ist dieses Prinzip unter dem Begriff Energieerhaltung

bekannt – Helmholtz verwendete den Begriff der Kraft anstelle der eigentlich gemeinten

Energie.154 Das Prinzip von der Erhaltung der Kraft stand für Helmholtz schon lange

fest155 und auch andere Forscher vertraten ähnliche Positionen; Helmholtz fasste dieses

Prinzip aber zum ersten mal als grundlegendes Gesetz theoretisch zusammen, sodass es

für darauf aufbauende Experimente als Leitfaden gelten konnte.156

Der Zweck dieser Untersuchung, der mich zugleich wegen der hypothetischen Theile

149 Helmholtz, Hermann von (1845): Ueber den Stoffverbrauch bei der Muskelaktion. In: Johannes Müller (Hg.): Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin. Berlin: Veit & Comp., S. 72–83150 Ebd. S. 72151 Helmholtz, Hermann von (1847): Über die Erhaltung der Kraft. Eine physikalische Abhandlung. Berlin: G. Reimer. S. 3152 Helmholtz, Hermann von (1847): Über die Erhaltung der Kraft. Eine physikalische Abhandlung. Berlin: G. Reimer.153 Koenigsberger 1902 – Hermann von Helmholtz (1), S. 83154 Vgl.: Rechenberg, Helmut (1995): Hermann von Helmholtz. Bilder seines Lebens und Wirkens. Sonerausgabe für die Hermann von Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschugnszentren (HGF). Weinheim: VCH. S. 61155 Vgl.: Koenigsberger 1902 – Hermann von Helmholtz (1), S. 59156 Vgl.: Helmholtz 1847 – Über die Erhaltung der Kraft, S. 7

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derselben entschuldigen mag, war, den Physikern in möglichster Vollständigkeit die theoretische, practische und heuristische Wichtigkeit dieses Gesetzes darzulegen, dessen vollständige Bestätigung wohl als eine der Hauptaufgaben der nächsten Zukunft der Physik betrachtet werden muss.157

Helmholtz betonte selbst den Einfluss, den Kants erkenntnistheoretische Ansichten auf

die Formulierung des Gesetzes hatten.158 Gleichwohl muss ergänzt werden, dass

Helmholtz bereits vor der Abfassung des Gesetzes mit Versuchen zum Stoffverbrauch

und zur Wärme bei der Muskelaktion – diese Versuche werden im Anschluss näher

betrachtet – Experimente ablieferte, die die Theorie bestätigten.

Mitte des 19. Jahrhundert begründeten Hermann von Helmholtz, Ernst Wilhelm von

Brücke (1819-1892), Emil du Bois-Reymond (1818-1896) – alle drei ehemalige Schüler

von Johannes Müller – sowie Carl Ludwig (1816-1895) das Forschungsprogramm der

organischen Physik.159 Die Organischen Physiker hatten sich zum Ziel gesetzt, „die

Lebenserscheinungen in ihren physikalisch-chemischen Grundlagen und deshalb ohne

die spekulative Annahme besonderer Kräfte, wie der Lebenskraft, [zu] erklären.“160 Das

Gesetz zur „Erhaltung der Kraft“ galt Physiker und Physiologen als wirksames Mittel

zur Bekämpfung der Lehre von der Lebenskraft. Helmholtz ging auch in seiner

Abhandlung davon aus, „dass es unmöglich sei, durch irgend eine Combination von

Naturkörpern bewegende Kraft fortdauernd aus nichts zu erschaffen.“161 Gemäß der

Theorie des Vitalismus war die Lebenskraft eine Kraft, die sich aus sich selbst

erschaffte, ein Perpetuum mobile. Dieses bewies Helmholtz in seiner Abhandlung aber

als unmöglich. Wenn nun also ein Perpetuum mobile unmöglich ist, so gilt dasselbe

auch für die Lebenskraft. Das von Helmholtz gefundene Gesetz zur Erhaltung der Kraft

schließt also die Existenz der Lebenskraft strikt aus. Auch du Bois-Reymond betonte die

Unvereinbarkeit dieses Gesetzes mit der Existenz einer Lebenskraft:

Mit demselben [Gesetz zur „Erhaltung der Kraft“, Anm. d.Verf.] nun stehen offenbar im grellsten Widerspruche wenigstens ein paar Hauptzüge der Lehre von der Lebenskraft, wie man sie gewöhnlich vorgetragen hört. Denn sie soll z.B. bei der Fortpflanzung ohne Verlust übertragen und dergestalt ins Unbegrenzte vermehrt werden. Hingegen im Tode soll sie ein

157 Ebd. S. 53158 Ebd. S. 53159 Vgl.: Koenigsberger 1902 – Hermann von Helmholtz (1), S. 50160 Ebd. S. 50161 Helmholtz 1847 – Über die Erhaltung der Kraft, S. 7

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unbedingtes Ende nehmen, um den gemeinen physikalischen und chemischen Kräften das Feld zu räumen. Beides ist, wie man leicht gewahr wird, mit dem Satze von der Erhaltung der Kraft in keiner Weise vereinbar.162

Was wurde unter der Lebenskraft verstanden?

Wie bereits erwähnt, diente das Konstrukt der Lebenskraft als theoretisches

Erklärungsmodell für Lebensprozesse und wurde zum Beispiel bei Stahl zur Lebensseele,

die den Organismus dirigierte. „Die anatomische Struktur und die Mechanik der Teile

sind Mittel im Dienste der anima, über deren Einsatz und Grad der Aktivität die Seele

selbst bestimmt.“163 Ohne die Seele beziehungsweise die anima, wäre der Körper also eine

bloße Maschine ohne Ziel und Zweck. Stahl wendete sich gegen eine rein mechanistisch

ausgerichtete Physiologie. Es gab aber auch andere Vorstellungen, die das Lebensprinzip

unabhängig von der „denkenden“ Seele betrachteten.164 Paul Joseph Barthez (1734-1806)

spekulierte, „dass Gott mit der Kombination von Materie, die zur Bildung eines jeden

Lebewesens angelegt ist, ein Lebensprinzip vereinigte, welches aus sich selbst heraus

Bestand hat und das sich beim Menschen von der denkenden Seele unterscheidet.“165

Neben der Materie und der Seele wird das Lebensprinzip in dieser Denkweise also zur

dritten Kraft, die ein lebendes Wesen ausmachen. Während in vielen dieser Theorien die

Lebenskraft als Hilfskonstrukt fungierte, dessen man sich in Ermangelung besseren

Wissens zur Beschreibung bediente, wurde dieselbe bei Christoph Wilhelm Hufelandt

(1762-1836) zur universal wirkenden Ur-Kraft.166 „Sie erfüllt, sie bewegt alles, sie ist

höchstwahrscheinlich der Grundquell, aus dem alle übrigen Kräfte der physischen,

wenigstens organischen Welt fließen. Sie ist's, die alles hervorbringt, erhält, erneuert

[…].“167 In Hufelands Theorie ist die Lebenskraft „das feinste, durchdringendste,

unsichtbarste Agens der Natur, das wir bis jetzt kennen“168 und er vergleicht es auch mit

dem Licht sowie der elektrischen und magnetischen Kraft.

Sogar Johannes Müller hing noch der Lehre von der Lebenskraft an, wie schon eingangs

162 Du Bois-Reymond 1848 – Untersuchungen über thierische Elektricität (1), S. XLV163 Rothschuh 1968 – Physiologie, S. 152164 Vgl.: Ebd. S. 158165 Zitiert nach: Ebd. S. 159166 Ebd. S. 173167 Zitiert nach: Ebd. S. 173168 Ebd. S. 173

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erwähnt. Seine Schüler jedoch betrachteten dieses Konzept als „eine unnötige, mit den

Experimenten nicht in Einklang stehende Annahme.“169 Die organischen Physiker

wollten den Vitalismus und die Idee einer übernatürlichen, experimentell nicht

nachweisbaren170 Lebenskraft aus der Physiologie verbannen und stattdessen die

„Physiologie als einen Zweig der Physik und Chemie cultiviren“171. Das Konzept der

Lebenskraft war mit den experimentell ausgerichteten Naturwissenschaften nicht

vereinbar. Als rein theoretisches Konstrukt, das als existent vorausgesetzt wurde und

selbst als Erklärung für ungeklärte Prozesse diente, behinderte es die Entwicklung

weiterführender Fragestellungen. Oder mit den Worten Karl E. Rothschuhs formuliert:

Solange man […] ein ,Lebensprinzip oder spezifisch lebendige Kräfte für den Ablauf, dieʽ Gesetze und das Versagen der physiologischen Vorgänge verantwortlich macht, bedarf ein Vorgang keiner weiteren Erklärung. Es ergeben sich dann keine sinnvollen Fragen, an denen eine experimentelle oder gar physikalisch-chemische Untersuchung ansetzen kann.172

Organische Physik versus Romantische Naturphilosophie

Neben der Lehre von der Lebenskraft bildete die Strömung der romantischen

Naturphilosophie in der Physiologie zwischen 1797 und 1830173 einen weiteren

Einfluss, den die Organische Physik endgültig zurückdrängen wollte. Insbesondere die

Naturphilosophie Friedrich Wilhelm Schellings (1775-1854) förderte zu dieser Zeit das

spekulative Denken in allen Wissenschaftszweigen und drängte die empirische Praxis

zurück.174

Zu den wesentlichen Charakterzügen dieser romantischen Physiologie zählt die Abkehr vom Besonderen, von der Beobachtung und der Analyse des Einzelfalls. An ihre Stelle tritt die Zuwendung zum Allgemeinen. Man beschäftigte sich z.B. nicht mit dem Kreislauf, sondern mit der Idee des Kreislaufs, denn Physiologie ist die Lehre von der Idee der lebenden Natur.175

169 Hörz 1994 – Physiologie und Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts,S. 165f.170 Vgl.: Hörz/Wollgast 1986 – Hermann von Helmholtz und Emil du Bois-Reymond. Wissenschaftsgeschichtliche Einordnung in die naturwissenschaftlichen und philosophischen Bewegungen ihrer Zeit. In: Dokumente einer Freundschaft. Briefwechsel zwischen Hermann von Helmholtz und Emil du Bois-Reymond 1846-1894 (1986). Hg. v. Christa Kirsten. Berlin. S. 11–64, hier S. 41171 Koenigsberger 1902 – Hermann von Helmholtz (1), S. 50172 Rothschuh 1953 – Geschichte der Physiologie, S. 92173 Vgl.: Hörz 1994 - Physiologie und Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, S. 155174 Vgl.: Rothschuh 1953 – Geschichte der Physiologie, S. 95175 Ebd. S. 97

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Statt Hypothesen im Experiment zu modellieren und nach Beweisen zu suchen, bildeten

die naturphilosophisch orientierten Physiologen Analogien zu anderen

Naturerscheinungen. Häufig wurden mikrokosmische Erscheinungen mit dem

Makrokosmos verglichen und bei kleinsten Ähnlichkeiten auf analoge gemeinsame

Eigenschaften beider Systeme geschlossen.176 Zum Beispiel fragte sich ein Vertreter,

welche Rolle das Nervensystem und das Blut für den Blutkreislauf habe, und sah hier

Parallelen zur Bewegung der Planeten.

Im Makrokosmos ist die Sonne das bestimmende ruhenden Prinzip, um das die Planeten kreisen, im Kreislauf ist das Nervensystem das ruhende, das Blut das kreisende Element, folglich wird auch im Mikrokosmos das Ruhende, das Nervenmark, die Kreisbewegung des Blutes bestimmen.177

Ein weiteres Beispiel zeigt die Leichtfertigkeit, mit der Naturphilosophen völlig

verschiedene Systeme miteinander gleichsetzten. In seiner Schrift „Von der Natur der

Dinge“ (1803)178 schreibt Johann Jacob Wagner (1775–1841):

Die Athmosphäre ist gleichsam das arteriöse System der Erde, die Flüsse ihre Venen, das Meer ihr Herz und die Creaturen der Erde sind die Gebilde ihres organischen Leibes; die Pflanzenwelt ihre Pfortader, die Thierwelt ihre Lunge, ihr Nerve das Licht und ihr Gehirn die Sonne. […] Man denke nicht, ich schwärme, wenn ich diese Parallele wage; es ist nicht Schwärmerei, sondern eben das allein ist Erkenntniß der Natur, das Große im Kleinen wiederfinden.179

Die Praxis des Analogisierens und Verallgemeinerns führte zur Vernachlässigung der

analytischen Beobachtung und des Experiments. Ohne entsprechendes Detailmaterial

können keine neuen Erkenntnisse synthetisiert werden, keine neuen Entdeckungen

gemacht werden, wendet der Philosoph Herbert Hörz ein.180 Er bemerkt:

Es bedurfte schon der Analyse durch Beobachtung und Experiment, um die analysierten Wesensmomente theoretisch synthetisieren zu können. Das Experiment als objektiver Analysator der Wirklichkeit in der Physiologie musste erst umfassend eingesetzt sein, ehe allgemeine theoretische Ergebnisse wieder zur Verallgemeinerung führen konnten.181

176 Vgl.: Ebd. S. 97177 Zitiert nach: Ebd. S. 97178 Wagner, Johann Jacob (1803): Von der Natur der Dinge. Leipzig: Breitkopf und Härtel. Online verfügbar unter http://books.google.de/books?id=idMAAAAAcAAJ&hl=de&pg=PA1-IA1#v=onepage&q=arteri%C3%B6se&f=false, zuletzt geprüft am 11.11.2011179 Ebd. S. 335180 Vgl.: Hörz 1994 – Physiologie und Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, S. 158181 Ebd. S. 158

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Helmholtz' frühere physiologische Experimente und sein Fokus auf die

Kalibrierung der Messapparate

Helmholtz bediente sich schon in seinen früheren physiologischen Forschungen des

Experiments. In seinen Versuchen von 1845 zum Stoffverbrauch in den Muskeln konnte

Helmholtz jedenfalls nachweisen, dass bei der mechanischen Muskelbewegung

chemische Prozesse ablaufen.182 Dazu reizte er einen isolierte Froschmuskel wiederholt

elektrisch mit einer Leidener Flasche183 und verglich darauf dessen chemische

Zusammensetzung mit einem nicht gereizten Muskel. Auch Eduard Friedrich Weber

(1806-1871), zusammen mit seinem Bruder Ernst Heinrich Weber (1795-1878) einer der

Vorreiter der exakten physikalischen Physiologie, hatte erkannt, dass die „Tätigkeit des

Muskels in diesem Zustande [i.e. nach einer Reizung, Anm. d. Verf.] nicht nur eine

mechanische, sondern auch eine elektrische, thermische, chemische ist“.184 Weber hatte

in Rudolph Wagners „Handwörterbuch der Physiologie“ einen Artikel zum Thema

„Muskelbewegung“185 verfasst, in dem er über seine eigenen Muskelversuche

berichtete. Bisher war es nur gelungen, Muskeln in kurz andauernde Zuckung zu

versetzen. Weber wollte die Muskeln aber in einem Zustand langanhaltender Spannung,

vergleichbar mit der willentlich erzeugten Muskelspannung, untersuchen. Das Problem

war, dass ein Strom durchflossener Muskel allein noch nicht zuckt – die Zuckung

kommt erst zu Stande infolge einer Änderung der Stromstärke, so wie dies beim Öffnen

und Schließen des Stromkreises der Fall ist. Die Lösung lag nun darin, dem Muskel

schnell aufeinanderfolgenden Stromstößen auszusetzen. Weber erreichte das mit seinem

Rotationsapparat.186 Für Helmholtz' eigene Forschungen konnte dieser Apparat ebenfalls

nützlich sein. In einem Brief an du Bois-Reymond im Juli 1846 legt Helmholtz den

zuvor von jenem ihm zugesandten Text Webers über die Muskelbewegung mit der

Bemerkung bei, die „darin detaillierte Wirkungsweise des Rotationsapparates“ sei auch

für seine „eigenen Untersuchungen sehr wichtig“.187 Mit diesem Apparat könnte

182 Helmholtz 1845 – Ueber den Stoffverbrauch bei der Muskelaktion, S. 83183 Eine Leidener oder Kleistsche Flasche ist ein ein innen und außen mit Metall, damals meist Zinn, ausgekleidetes Glasgefäß, zur Speicherung von elektrischen Ladungen. Vgl.: Leidener Flasche. In: Brockhaus' Konversationslexikon 1894-1896, Leber – More, 11, S. 49184 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 278185 Weber, Eduard (1846): Muskelbewegung. In: Rudolph Wagner (Hg.): Handwörterbuch der Physiologie mit Rücksicht auf physiologische Pathologie, 3, Teil 2. Braunschweig: Vieweg, S. 1–122186 Vgl. Ebd. S. 11187 Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 73

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Helmholtz nicht nur eine anhaltende Muskelkontraktion erzeugen, sondern auch die

Stromstärke variieren, und zwar weitaus besser als mit der Leidener Flasche, die er in

seinen ersten Versuchen 1845 einsetzte.188 Kathryn Olesko und Frederic Holmes189

heben in diesem Zusammenhang Helmholtz' frühes Interesse an der exakten

Ausrichtung des Experimentes und der Apparate hervor sowie die Ermittlung der

Fehlerquellen, also die Arbeit mit präzisen Methoden bekannt aus der Chemie oder

Physik.

Helmholtz learned that the production of precision measurements was a delicate combination of eliminating or reducing constant errors produced by the instrument; accurately calibrating the instrument and finding the range within which it was most reliable; accounting for some constant errors by the judicious use of theory (in this case, of the effect of geomagnetism); and developing a skill that could only be acquired after repeated trials with the instrument such that the practitioner became one with it.190

Helmholtz hatte mit der Unregelmäßigkeit des sogenannten „Froschstroms“ zu

kämpfen. Für regelmäßigere Ergebnisse in der Messung, benötigte er ein Messgerät, das

sehr kleine Spannungsveränderungen wahrnehmen könnte. Sein Multiplikator erreichte

bei dieser Aufgabe jedoch seine Grenzen, sodass er gezwungen war, das Gerät selbst zu

kalibrieren und sensibler zu machen.

Helmholtz was beeing drawn more deeply into the question of how his multiplicator functioned, and how it could be set up so as to achieve the great sensitivity and precision that his experimental objectives demanded from it.191

Mit einem Multiplikator lässt sich der galvanische Strom anhand einer durch den Strom

abgelenkten Magnetnadel messen. Die Drahtwindungen, die die Magnetnadel umgeben,

steigern – multiplizieren – die Ablenkung der Nadel. Durch die Größe der Abweichung

der Magnetnadel von ihrer ursprünglichen Lage lässt sich die Stärke des Stroms

bestimmen.192 Für die Kalibrierung des Geräts bediente Helmholtz sich außerdem der

mathematischen Praxis der graphischen Darstellung von Funktionen. Er zeichnete dazu

die Stromstärke als eine Funktion, die sich aus den Ausschlägen der Multiplikatornadel

188 Vgl.: Olesko/Holmes1993 – Experiment, Quantification, and Discovery, S. 64189 Vgl. im Folgenden zu Helmholtz' früheren physiologischen Versuchen: Olesko/Holmes 1993 – Experiment, Quantification, and Discovery190 Ebd. S. 66191 Ebd. S. 65192 Vgl.: Galvanometer. In: Brockhaus' Konversationslexikon 1894-1896, Foscari – Gilboa, 7, S. 511f.

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im Bereich bis 15° ergab. Im Bereich zwischen 2° und 8° arbeitete der Multiplikator am

verlässlichsten. Wegen der teilweise schwachen Ströme, die Helmholtz in seine

Versuchen messen wollte, benötigte er aber noch genauere Werte für den Bereich unter

4°. Für diesen Bereich ersetzte er die beobachteten mit korrigierten Werten.193

Obwohl Helmholtz von Webers Rotationsapparat sehr beeindruckt war, verwendete er

ihn nicht für seine Versuche, bei denen er eine langanhaltende Muskelspannung

erzeugen wollte. Er baute sich auch kein eigenes Instrument sondern bestellte sich bei

dem Berliner Instrumentenbauer Johann Georg Halske (1814-1890) einen Neefschen

Apparat, eine kommerziell vertriebene Induktionsspule des Mediziners Christian Ernst

Neeff (1782-1849), die von Physiologen für ähnliche Zwecke verwendet wurde. Auch

diesen Apparat passte Helmholtz für seine Zwecke an, sodass er den gleichen Effekt wie

Weber mit seinem Rotationsapparat erzielte.194

Helmholtz modified the apparatus's circuit through which the secondary discharges were delivered to the muscle in such a way that their duration would be short enough to avoid interference with the multiplicator's operation. With this modified apparatus he was able to attain the same effect that Weber had designed the rotation apparatus to achieve. The series of short stimuli came so close together that the muscle entered a state of sustained contraction.195

Helmholtz interessierte sich außerdem für die Frage nach dem Ursprung der Wärme in

den Muskeln. Bereits 1846 wies er in einem Wörterbuchbeitrag zum Thema Wärme auf

die Muskeln als Ursprung eines großen Teil der Körperwärme hin.196 Helmholtz stützte

sich dabei zunächst nur auf Berichte von Becquerel und Breschet, die zu diesem Thema

bereits experimentiert hatten. Er selbst konnte noch nicht belegen, ob die Muskeln die

Wärme bei ihrer Bewegung selber produzierten, oder ob die Wärme ein Resultat des

verstärkten Flusses arteriellen Bluts in den Muskeln war.197 Diese Versuche holte er ein

Jahre später nach. Zu diesem Zweck war es nötig, den Froschmuskel getrennt vom

Blutkreislauf zu untersuchen, um bei einer Temperaturerhöhung den Blutfluss als

Ursache ausschließen zu können. In seinem Beitrag „Ueber die Wärmeentwicklung bei

193 Vgl.: Olesko/Holmes 1993 – Experiment, Quantification, and Discovery, S. 66194 Vgl.: Ebd. S. 68195 Ebd. S. 68196 Vgl.: Helmholtz, Hermann von (1846): Waerme, physiologisch. In: Encyclopaedisches Woerterbuch der medicinischen Wissenschaften. Berlin: Veit & Co., S. 523–567, hier S. 556197 Vgl.: Olesko/Holmes 1993 – Experiment, Quantification, and Discovery, S. 66

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der Muskelaction“198 aus dem Jahr 1847 berichtet Helmholtz über die Experimente mit

einem verbesserten Strommessgerät, dem extra für diese Zwecke der präziseren

Messung eingestellten Neefschen Apparat.199 Er ging dabei ähnlich wie in den

Versuchen zum Stoffverbrauch in den Muskeln vor, wo er die chemischen

Veränderungen im Muskel bei der Bewegung untersuchte.

The experiments he conducted with it [dem Neefschen Apparat, Anm. d.V.] were broadly analogous to his 1845 experiments on the chemical changes in muscle. Now as then, he prepared the two gastrocnemius muscles of a frog so that he could compare the state of one of the muscles put into a state of contraction with an otherwise nearly identical muscle remaining at rest, thereby identifying the effect sought.200

Für die Messung der Temperatur verwendete Helmholtz einen thermoelektrischen

Apparat, der Temperaturunterschiede mit Hilfe von Strom anzeigen kann.

Die Wirksamkeit eines solchen [thermoelektrischen Apparates, Anm. d. Verf.] beruht bekanntlich auf der Thatsache, dass in einem Metallringe, der aus zwei verschiedenen Metallen zusammengesetzt ist, ein electrischer Strom entsteht, sobald die Löthstellen verschiedenen Temperaturen haben, und dass dieser electrische Strom sichtbar gemacht und gemessen werden kann durch seine Wirkung auf Magnetnadeln, indem er diese quer gegen seine eigene Richtung zu stellen strebt.201

Der Apparat setzte sich aus zwei funktional getrennten Bestandteilen zusammen: die zur

Erregung benutzte thermoelektrische Säule und den der Messung dienenden

Multiplikator.202 Die Experimente bestätigten Helmholtz' Vermutung von 1845, dass

nämlich die Wärme in den Muskeln selbst produziert würde.

The new range of temperature differences (0.14° to 0.18° C) was only slightly larger than his highest earlier readings (0.08° to 0.12° C); but, assuming that all his results really fell within the range reported, then his measurements appear to have constituted decisive evidence that contracting muscles produce heat.203

Wie genau die Wärme in den Muskeln produziert wurde, war aber immer noch nicht

198 Helmholtz 1845 – Ueber den Stoffverbrauch bei der Muskelaktion199 Vgl.: Olesko/Holmes 1993 – Experiment, Quantification, and Discovery, S. 69200 Olesko/Holmes 1993 – Experiment, Quantification, and Discovery, S. 69201 Helmholtz, Hermann von (1848): Ueber die Wärmeentwicklung bei der Muskelaction. (Vorgetragen in der Sitzung der physikalischen Gesellschaft zu Berlin am 12. November 1847). In: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin, S. 144–164, hier S. 146202 Vgl.: Ebd. S. 146203 Olesko/Holmes 1993 – Experiment, Quantification, and Discovery, S. 70

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geklärt. Helmholtz vermutete, dass die Nerven eine größere Rolle bei der

Wärmeentwicklung in den Muskeln spielen könnten.204 Helmholtz wurde in seiner

Vermutung bestärkt durch du Bois-Reymonds Forschungen. Dieser hatte zuvor

herausgefunden, dass Nerven ähnlich wie Muskeln, Strom leiten.205

Diese Vermutung gewann noch dadurch an Wahrscheinlichkeit, dass durch E. Du Bois-Reymond bei den Untersuchungen über thierische Electricität ganz ähnliche electrische Ströme in den Nerven gefunden sind, wie in den Muskeln, und, wie ich aus mündlicher Mittheilung weiß, ganz ähnliche Abänderungen derselben, sobald durch den Nerven eine Contraction der betreffenden Muskeln hervorgerufen wird.206

Helmholtz schloss daraus, dass demzufolge „auch hier chemische Aenderungen und

Wärmeentwicklung“207 zu erwarten seien. Diese Annahme bestätigte sich im

Experiment jedoch nicht. Helmholtz berichtete, dass seine „in dieser Hinsicht

angestellten Versuche […] ein rein negatives Resultat gehabt“208 hätten. Trotzdem

entschied er sich dafür, darüber zu berichten, weil er auch in dem negativen

Versuchsergebnis einen Erkenntnisgewinn und Wert für die weitere Forschung sah und

er zudem in seiner Erläuterung auf Fehlerquellen aufmerksam machen konnte.

Ich halte es jedoch für angemessen, die Art ihrer Anstellung [der Versuche, Anm. d.Verf.] hier näher zu beschreiben, weil sich einmal aus ihnen so viel ergiebt, dass die Temperaturänderungen in den Nerven, wenn überhaupt dergleichen stattfindet, wenigstens nicht über wenige Tausentheile eines Grades hinausgehen, und weil ich zweitens bei diesen Versuchen auf einige Fehlerquellen aufmerksam geworden bin, deren Nichtbeachtung leicht zu einem anscheinend entgegengesetzten Resultate führen kann.209

Olesko und Holmes heben hervor, dass Helmholtz in seinem gesamten Bericht das

Hauptaugenmerk auf die Beschreibung seines Apparates, die Bedienung der einzelnen

Instrumente sowie eine gründliche Fehleranalyse legt und gar nicht näher auf die

Versuche selber oder auf Ergebnisse eingeht.

Decisive positive results were not the central issue in 1847; what mattered in the reporting was the meticulous design of the experiment or what might be called the ‚purification‘ of the

204 Vgl.: Helmholtz 1848 – Ueber die Wärmeentwicklung bei der Muskelaction, S. 158205 Vgl.: Du Bois-Reymond 1848 – Untersuchungen über thierische Elektricität (1)206 Helmholtz 1848 – Ueber die Wärmeentwicklung bei der Muskelaction, S. 158207 Ebd. S. 158f..208 Ebd. S. 159209 Ebd. S. 159

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experimental apparatus, design, protocol (including the attempt to convince his readership as such).210

Diese Arbeitsweise behielt Helmholtz auch bei seinen Experimenten zur Ermittlung der

Nervenleitgeschwindigkeit bei. Du Bois-Reymond macht in seinen „Untersuchungen

über thierische Elektricität“ auch auf die Problematik aufmerksam, dass die organischen

Physiker sich das Wissen aus der Physik selbst aneignen mussten, da die Physiologen

sich bisher nicht mit derartigen Methoden auseinandergesetzt hatten.

[Der Gegenstand der Untersuchung] verlangt zu seiner Bewältigung nicht nur gehörige Vertrautheit mit dem Bau und den Verrichtungen der thierischen Körper, sondern auch die Kenntnis der verwickelten Gesetze der Elektricitätslehre. Ist die erstere bei Physikern von Fach, insbesondere bei Elektrikern, eine seltene Erscheinung, so haben auf der anderen Seite die Physiologen bisher nur wenig Veranlassung gehabt, sich die letztere anzueignen.211

Insbesondere die Einstellung der verwendeten Apparate verlangten laut du Bois-

Reymond dem Physiologen ingenieurstechnische und beinahe schon künstlerische

Fertigkeiten ab.

Endlich die einfachsten Versuche erfordern hier ein ungewöhnliches Aufgebot an Geduld, an Sorgfalt, an tausend kleinen Kunstgriffen […]. Der Multiplicator, wie ihn der Mechaniker zu liefern vermag, ist nicht [...] ein fertiges Kunstwerk, welches nur der Frage harrt, um Antwort zu ertheilen. Er ist wie eine noch nicht justirte Waage, der die redende Seele des feinen Gleichgewichts erst eingehaucht werden soll. Hier ist es ganz in die eigene Hand des Forschers gelegt, aus dem Instrumente das zu machen, dessen es bedarf, durch seine Aufstellung und durch die zarten Kräfte, welche das magnetische System regieren.212

Das Problem der Wärme ließ Helmholtz aber auch bei seinen Nervenleitversuchen nicht

los. In den „Messungen“ (1850) widmete er diesem Thema ein eigenes Kapitel.213

Helmholtz hatte bereits in der „Vorläufigen Mitteilung“ (1850) die Vermutung geäußert,

die Nervenleitgeschwindigkeit nähme mit sinkender Temperatur ab – er schloss das aus

längeren Reaktionszeiten, die ausschließlich an kälteren Tagen eintrat.214 In seinen

neuen Versuchen legte er den Nerv gezielt auf Eis, um den Einfluss der Kälte auf die

Leitfähigkeit zu testen. Es stellte sich heraus, dass in diesem Fall die Zeitspanne

210 Olesko/Holmes 1993 – Experiment, Quantification, and Discovery, S. 73211 Du Bois-Reymond 1848 – Untersuchungen über thierische Elektricität (1), S. XVI212 Ebd. S. XVII213 Vgl. im Folgenden: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 358f.214Vgl.: Helmholtz 1850 – Vorläufiger Bericht, S. 73

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zwischen Reiz und Muskelbewegung sich auf bis zu das Zehnfache erhöhte, und zwar

auch dann, wenn der elektrische Impuls bereits hinter der gekühlten Nervenstelle (zum

Muskel hin, sodass der Strom die gekühlte Stelle nicht passieren musste) oder direkt in

den Muskel induziert wurde. Helmholtz griff hier also auf seine früheren Versuche zur

Wärme in den Muskeln zurück und schloss thematisch daran an. Henning Schmidgen

meint, dass an dieser Stelle die Zeitmessungen am Nerv wohl am deutlichsten mit den

früheren Untersuchungen in Verbindung stünden.215 Helmholtz führte verschiedene

Versuchsreihen durch und hätte diese gern ausgeweitet, war aber auf die winterlichen

Außentemperaturen angewiesen. Das Eis war „in einem kleinen Glühtiegelchen von

Porzellan enthalten, welches mit Wasser gefüllt im Freien gestanden hatte, bis das

Wasser gefroren war.“216 Als der Winter aber mit milderen Temperaturen aufwartete,

waren Helmholtz' Versuchen ein Ende gesetzt, „weil die Temperatur der Luft höher

wurde, und die kleinen Eismassen […] schnell hinwegschmolzen.“217

4. Versuche am Menschen

Bereits im Frühjahr 1850 dehnte Helmholtz seine experimentellen Zeitmessungen auf den

Menschen aus. In einem Brief vom 5. April 1850 berichtete er du Bois-Reymond von

Fortschritten in seinen Versuchen, die er an sich und anderen Menschen anstellte.218 Wieder

assistierte ihm seine Frau Olga, dieses Mal nicht nur als Assistentin sondern in einer neuen

„Doppelrolle“ als Experimentatorin und Versuchsperson – sie war nun eine echte

Laborkraft geworden.219 Helmholtz berichtete du Bois-Reymond in einem weiteren Brief,

dass Olga nun „soweit in die die Physiologie eingeweiht ist, dass sie Versuchsreihen über

die Geschwindigkeit der Reizung in den Nerven an sich anstellen konnte.“220 In den

Versuchen induzierte der Experimentator „kleine elektrische Schläge durch verschiedene

Stellen des N[ervus] medianus an der inneren Seite des M[uskulus] bizeps“221, also an

215 Vgl. Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 103216 Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 359217 Ebd. S. 362218 Vgl.: Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 94219 Vgl.: Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 164220 Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 163f.221 Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 94

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motorischen Nerven, und ließ die daraus resultierende Bewegung der Hand den

zeitmessenden Strom wieder unterbrechen. Die in diesen Versuchen ermittelte

Fortpflanzungsgeschwindigkeit gab Helmholz mit 50 bis 60 Metern pro Sekunde an. In

weiteren Versuchen ließ er die Probanden einen an den sensiblen Nerven der Haut

induzierten kleinen Strom durch eine Handbewegung oder mittels der Zähne unterbrechen,

sobald sie den Schlag spürten. In diesem Fall handelte es sich im Gegensatz zu den

vorherigen Versuchen um eine bewusste Reaktion, die der Handbewegung zur

Stromunterbrechung vorausging. Das heißt, nicht die Zeit zwischen Reiz und

Muskelzuckung sondern die Zeit zwischen Reiz und Wahrnehmung des Reizes wurde

gemessen. In seinem Vortrag „Ueber die Methoden kleinste Zeittheile zu messen“222 vom

13. Dezember 1850 ging Helmholtz etwas genauer auf die angestellten Versuche ein.

Im Gehirn angekommen, vergeht eine Zeit von etwa 1/10 Secunde, ehe der Wille auch bei der angespanntesten Aufmerksamkeit die Botschaft an die Muskelnerven abzugeben im Stande ist, vermöge welcher gewisse Muskeln eine bestimmte Bewegung ausführen sollen. […] Nun läuft die Botschaft wahrscheinlich mit derselben Geschwindigkeit nach den Muskeln hin, und endlich vergeht noch etwa 1/100 Secunde, ehe der Muskel sich nach ihrer Empfangnahme in Thätigkeit setzt. Im Ganzen vergehen also von der Reizung der sensiblen Nervenenden bis zur Bewegung des Muskels 1 1/4 bis 2 Zehntheile einer Secunde.223

In einer Mitteilung, die nur noch als Entwurf in der Berliner Akademie der

Wissenschaften vorliegt, und die Helmholtz am 15. Dezember 1850, zwei Tage nach

seinem Vortrag „Ueber die Methoden“ (1850), an du Bois-Reymond übermittelte und

der ihn am 20. Dezember 1850 in der Physikalischen Gesellschaft vortrug, stellte

Helmholtz ebenfalls die Ergebnisse dieser Versuche am Menschen vor.224 Die

Nervenleitgeschwindigkeit gab er dort mit rund 60 Metern pro Sekunde an. Auf Basis

der ermittelten Fortpflanzungsgeschwindigkeit konnte Helmholtz die Zeit, die zwischen

der Wahrnehmung und der Willensentscheidung verstrich, berechnen. Helmholtz

bemerkt, dass die gemessene Zeit je nach Aufmerksamkeit bei verschiedenen Personen

und zu unterschiedlichen Zeiten variieren könne, aber bei gespannter Konzentration

sehr regelmäßig sei. Im Prinzip könne er aber nur den gesamten Prozess in einem, von

222 Vgl. im Folgenden: Helmholtz 1850 – Ueber die Methoden223 Helmholtz 1850 – Ueber die Methoden, S. 186224 Vgl.: Klauß, Klaus (1994): Die erste Mitteilung von H. Helmholtz an die Physikalische Gesellschaft über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den sensiblen Nerven des Menschen. In: NTM. Internationale Zeitschrift für Geschichte und Ethik der Naturwissenschaften, Technik und Medizin (2), S. 89–96

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Reiz bis (bewusste) Reaktion, messen, nicht aber die einzelnen Teilabschnitte. In seinen

Versuchen kam Helmholtz auch zu dem Ergebnis, dass mit zunehmender Nervenlänge

sich proportional auch die benötigte Reaktionszeit vergrößerte, wobei die

Fortpflanzungsgeschwindigkeit gleich blieb. Diese Tatsache sei beim Menschen nicht

problematisch, da die Nervenreize nur kurze Strecken zurückzulegen hätten, bis sie zum

Gehirn gelangten. Zum Problem würde dies nur, wenn die Nerven eben um einiges

länger wären, wie zum Beispiel beim Wal:

Für einen ordentlichen Wallfisch [sic] ist es vielleicht schlimmer; denn aller Wahrscheinlichkeit nach erfährt er vielleicht erst nach einer Secunde die Verletzung seines Schwanzes, und braucht eine zweite Secunde um dem Schwanz zu befehlen, er solle sich wehren.225

Helmholtz' Exkurs zu den Zeitmessungen an Menschen bezeugen den anfangs

beschriebenen von Abschweifungen und Umwegen gekennzeichneten Weg der

wissenschaftlichen Erkenntisfindung – Schmidgen beschreibt dieses Vorgehen bei

Helmholtz als „Driften“.226 Nachdem der Physiologe seine Versuche am Froschmuskel

mit der graphischen Methode getestet und dann mit der präziseren elektromagnetischen

Pouillet-Methode verfeinert hatte, schob er parallel dazu Versuchsreihen am

menschlichen Probanden ein. Schmidgen sieht für dieses erneute Driften drei Gründe.

Zum einen ginge es Helmholtz darum, sein neues Zeitmessverfahren möglichst breit zu

testen und die Produktivität desselben zu demonstrieren. Zweitens wollte Helmholtz die

stets an den modellhaft eingesetzten Froschmuskeln durchgeführten Versuche nun auch

auf die komplexer gestaltete Humanphysiologie ausweiten und damit indirekt auch auf

die Bedeutung seiner früheren, im vorigen Kapitel zum Teil beschriebenen,

Tierversuche aufmerksam machen. Ein weiterer Grund war die Erfahrung der schweren

Vermittelbarkeit seiner ersten Ergebnisse zu den Nervenleitversuchen am Frosch und

die zögerliche Aufnahme in der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Auf das Problem der

Kommunikation der Forschungsergebnisse wird im kommenden Kapitel unter 5.1

genauer eingegangen. Helmholtz setzte nun sein Driften fort: Er wendete sich wieder

der graphischen Methode mit einem verbesserten Apparat zu: dem Myographen.

225 Helmholtz 1850 – Ueber die Methoden, S. 189226 Vgl. im Folgenden: Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 167f.

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Page 51: „Ein Mikroskop für die Zeit“ - Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz'  Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit (Magisterarbeit)

5. Rückkehr zur graphischen Methode mit dem verbesserten Myographen

Zwei Jahre nach der Publikation seiner Messungen mit der elektromagnetischen

Methode, veröffentlichte Helmholtz die „Messungen über Fortpflanzungs-

geschwindigkeit der Reizung in den Nerven“227. Darin berichtete er über die

weiterentwickelte graphische Messmethode zur Aufzeichnung der Zuckungskurven

elektrisch gereizter Muskel. „Das Princip des Gebrauchs ist nicht ganz dasselbe wie bei

227Helmholtz, Hermann von (1852): Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den Nerven. In: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin, S. 199–216

50

Abbildung 7: Zeichnung von Teilen des verbesserten Myographen mit Schreibeeinheit, Zylinder, Schwungscheibe und Kegelpendel. Es fehlen Abbildungen vom Antrieb, der Stromzufuhr und der Aufhängung des Muskelpräparats. Letzteren Apparatsteil übernahm Helmholtz laut eigenen Angaben so, wie er ihn bei der Pouillet-Methode eingesetzt hatte und wie er in den „Messungen“(1850) abgebildet ist.

Page 52: „Ein Mikroskop für die Zeit“ - Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz'  Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit (Magisterarbeit)

dem Apparate von Siemens.“228 Helmholtz spielt hier auf Siemens' Apparat zur

Ermittlung der Geschwindigkeit von Geschützkugeln an, dessen Funktion in Kapitel 3.1

erläutert wurde und dessen Funktionsweise in Teilen für Helmholtz' neuen Myographen

offensichtlich Pate stand. Sofern nicht anders gekennzeichnet bezieht sich die

technische Beschreibung des Myographen und des Versuchsablaufs auf Helmholtz'

Beschreibung in seinem Bericht von 1852.229

Ein Grund, die mit der komplizierten elektromagnetischen Messmethode bereits

erfolgreich durchgeführten Versuche zur Ermittlung der Nervenleitgeschwindigkeit

erneut vorzunehmen, lag für Helmholtz in der einfacheren Ausführbarkeit und vor allem

der größeren Anschaulichkeit der graphischen Methode. In einem Brief an Du Bois-

Reymond vom 17. September 1850 schrieb er:

Außerdem lasse ich mir jetzt einen Apparat mit rotierendem Zylinder zur Kurvenzeichnung bauen, mit dem ich neben manchem anderen auch hoffe, jedermann durch einen Versuch in 5 Minuten die Tatsache der Fortpflanzungsdauer in den Nerven vor Augen legen zu können.230

Der verbesserte Myograph hatte viele Vorteile. Ein Versuch konnte in kurzer Zeit

durchgeführt und die graphische Aufzeichnung der verzögert einsetzenden Bewegung in

Form der Zuckungskurve direkt betrachtet werden. Durch zwei nacheinander

ausgeführte Kurven, bei denen jeweils die dem Muskel nahe und ferne Nervenstelle

gereizt wurde, konnte auch ohne lange Versuchsreihen auf einfachem Wege die

Nervenleitgeschwindigkeit ermittelt werden. Wie bereits beschrieben musste bei der

Pouillet-Methode aus verschiedenen Messwerten die Nervenleitgeschwindigkeit erst

mühsam errechnet werden. „Am Ende stand eine nackte Zahl, ein Durchschnittswert.

Die Kurven dagegen machten Bewegung und durch diese hindurch Zeit sichtbar.“231 Bei

der Aufzeichnungsmethode mit Schreibzylinder war der Muskel mit einem Stift

verbunden, der bei jeder Zuckung des Muskels die vertikale Erhebung auf einen

rotierenden Zylinder übertrug. Er zerlegte sich in drei grundlegende Bestandteile: die

Aufschreibeeinheit bestehend aus Zeichenstift, Hebel, Verbindungsteile zum Muskel

228 Helmholtz 1850 – Ueber die Methoden, S. 185229 Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung230Helmholtz in einem Brief vom 17. September 1850 an Emil du Bois-Reymond, in: Dokumente einer Freundschaft. Briefwechsel zwischen Hermann von Helmholtz und Emil du Bois-Reymond 1846-1894 (1986). Kirsten, Christa (Hg.). Berlin. S. 106.231 Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 42

51

Page 53: „Ein Mikroskop für die Zeit“ - Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz'  Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit (Magisterarbeit)

und dem drehbaren Zylinder; das Uhrwerk mit Kegelpendel und die Vorrichtung zur

rechtzeitigen Auslösung des Stromstoßes. Galvanometer und Fernrohr fielen weg,

ebenso das leitende Zwischenstück mit dem Gold- und Quecksilberkontakt sowie die

Schale mit den Gewichten. Einzig die feuchte Kammer, in der der Muskel hing und der

Stromkreis zur Reizung des Präparats blieben erhalten.232 Erst in dieser Kombination

beider Apparatsteile – der Halterung für den Muskel mit der Glaskuppe und dem

stromleitenden Zwischenstück zum einen und dem drehbaren Zylinder samt Zeichenstift

– kann vom Myographen gesprochen werden, oder wie Helmholtz ihn zunächst auch

nannte: Froschzeichenapparat. Auf die Idee, den neuen Apparat Myograph

beziehungsweise Myographion zu nennen, kam Helmholtz erst später. In einem Brief an

du Bois-Reymond vom 13. Juni 1854 schrieb er:

"Für das physiologische Institut in Gießen wird

jetzt hier ein Froschzeichenapparat oder, wie ich

ihn künftig pompös benennen werde, ein

Myographion gebaut [...]."233 Der

„Muskelschreiber“ verweist schon in seinem

Namen auf die Tätigkeit eines

Aufschreibesystems.234 Helmholtz hatte die

graphische Einheit von Anfang an mitgedacht:

Wie eingangs erwähnt, besaß sein Prototyp

bereits Zeichenstift und Drehzylinder. Um seine

Messergebnisse anschaulicher zu präsentieren,

kam er nun auf diese Methode zurück. Als

Vorbild des Myographen gilt Carl Ludwigs

Kymograph, ein Apparat zur graphischen

Darstellung des Blutdrucks.235 Ludwig führte den

232 Vgl.: Ebd. S. 189233 Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 144f.234 In Anlehnung an Kittlers Definition des Begriffs „Aufschreibesysteme“, der bei ihm „das Netzwerk von Techniken und Institutionen bezeichne[t], die einer gegebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlauben.“ (Kittler; Friedrich A. (1985): Aufschreibesysteme. 1800 / 1900. München: Wilhelm Fink Verlag, S. 501)235 Für detaillierte Beschreibungen von Aufbau und Funktionsweise des Kymographen vgl.: Ludwig, Carl (1847): Beiträge zur Kenntnis des Einflusses der Respirationsbewegungen auf den Blutlauf im Aortensysteme. In: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin Johannes Müller (Hg.), Berlin, Von Veit et Comp., S. 242–302; Langendorff, Oskar (1891): Physiologische Graphik. Ein Leitfaden der in der Physiologie gebräuchlichen Registrirmethoden. Leipzig/Wien: Deuticke, S. 194f.

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Abbildung 8: Ludwigs Kymograph diente der grafischen Darstellung des Blutdrucks.

Page 54: „Ein Mikroskop für die Zeit“ - Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz'  Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit (Magisterarbeit)

Apparat seinen Berliner Kollegen, unter ihnen auch Helmholtz, im Frühjahr 1847 vor.236

Als kurvenzeichnende Apparate orientierten sich Kymograph und Myograph an

Verfahren aus dem Maschinenbau, genauer gesagt an James Watts

Dampfdruckindikator.237

Der sogenannte Dampfdruckindikator gab […] Auskunft über das physikalische Innenleben einer laufenden Maschine. Der Indikator unterrichtete über das Verhalten des Dampfdrucks während der Kolbenbewegung im Zylinder, indem er in einem geschlossenen Linienzug die Druckverhältnisse auf eine rotierende Metallwalze aufzeichnet.238

Ludwig selbst wies auf auf das Vorbild Watts im

Zusammenhang mit Helmholtz' Myographen hin:

„Die mitgetheilte Curve hat Helmholtz unmittelbar durch den Froschmuskel zeichnen lassen; es geschah dieses nach den Grundsätzen des graphischen Verfahrens von Watt.“239

Im Gegensatz zum Myographen, bei dem mit dem Froschmuskel nur ein isolierter Teil

toten organischen Materials am Experiment mitwirkte, bezog der Kymograph das

gesamte noch lebende Tier, Kaninchen oder Hund, in das Experimentalsystem ein – ein

zentraler Unterschied, wie Sven Dierig betont.240 Dierig verwendet in Bezeichnung das

Apparates mit all seinen Komponenten den Begriff der Maschine. Auch die organischen

Physiker sprachen von ihren Apparate als Maschinen241 und das implizierte auch das

verwendete organische Material beziehungsweise den gesamten tierischen Organismus.

Du Bois-Reymond verglich das Spiel der Muskeln wiederholt mit der Arbeit der

anorganischen Dampfmaschinen.242 Am 9. Februar 1852 schrieb er in einem Brief an

236 Vgl.: Dierig, Sven (2006): Wissenschaft in der Maschinenstadt. Emil-Du Bois-Reymond und seine Laboratorien in Berlin. Göttingen: Wallstein, S. 115237 Vgl.: Ebd. S. 116238 Ebd. S. 108239 Ludwig, Carl (1852): Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Physiologie der Atome, der Aggregatzustände, der Nerven und Muskeln. Heidelberg: Akademische Verlagshandlung von C.F. Winter (1). S. 333240 Vgl.: Dierig 2006 – Wissenschaft in der Maschinenstadt, S. 116241 Zum Beispiel Helmholtz in einem Brief an Du Bois-Reymond vom 26. Oktober 1856, In: Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 163242 Vgl.: Du Bois-Reymond, Emil (1912): Gedächtnisrede auf Johannes Müller. Gehalten in der Leibniz-

53

Abbildung 9: Clair's Druckindikator für Dampfmaschinen.

Page 55: „Ein Mikroskop für die Zeit“ - Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz'  Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit (Magisterarbeit)

Helmholtz: „Es ist ein Schauspiel für die Götter, den Muskel arbeiten zu sehen, wie den

Zylinder einer Dampfmaschine.“243

Das Ziel des Verfahrens mit Apparaten wie dem Myographen war es, Regelmäßigkeit

und Genauigkeit herzustellen – vergleichbar mit der industriellen Maschinenproduktion.

So wie Siemens in der Telegraphen-Bauanstalt die gleichmäßige und präzise Herstellung ein und desselben Produkts unter konstanten Bedingungen mittels der Maschine zum Ziel hatte, sollten die Registrier- und Aufzeichnungsgeräte im physiologischen Labor Regelmäßigkeit und Genauigkeit sichern.244

Helmholtz beauftragte für die genaue Ausarbeitung aller Teile einen ortsansässigen

Mechaniker. Der für die Aufzeichnung verwendete Zylinder sei „von dem hiesigen

Mechanikus Herrn Rekoss, der auch die übrigen Theile des Apparats gebaut hat,

äusserst genau cylindrisch aus Glas geschliffen worden.“245 Dierig vergleicht die Arbeit

des Mechanikers mit der des physiologischen Experimentators. Beide zielten auf „die

immergleichen, maschinellen und vom Eingreifen des Forschers unabhängigen –

maschinell objektiven – Herstellungsbedingungen.“246 Bemerkenswert in diesem

Zusammenhang ist die Betonung der durch die Maschinen erzeugten Objektivität. Auch

Lorraine Daston spricht von einer „mechanischen Objektivität“ der Maschinen, die dem

Eingriff des Menschen völlig entzogen sei:

Eine hervorstechende Form der Objektivität – nennen wir sie „mechanische Objektivität“ - zielt auf die Ausschaltung aller Formen des menschlichen Eingriffs in die Natur ab; […] durch den Einsatz von Maschinen – denken wir an Vorrichtungen, die automatisch etwas registrieren und aufzeichnen […].247

In seinem Leitfaden zur physiologischen Graphik hebt Oskar Langendorff248 neben der

Sitzung der Akademie der Wissenschaften am 8. Juli 1858. In: Estelle Du Bois-Reymond (Hg.): Reden von Emil Du Bois-Reymond, Bd. 1. 2. Aufl. 2 Bände. Leipzig: Veit & Comp., S. 135–317. Online verfügbar unter http://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/library/data/lit28628?, zuletzt geprüft am 11.11.2011. S. 206243 Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 123244 Dierig 2006 – Wissenschaft in der Maschinenstadt, S. 118245 Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 206246 Dierig 2006 – Wissenschaft in der Maschinenstadt, S. 118247 Daston, Lorraine (2000): Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität. In: Otto Gerhard Oexle (Hg.): Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit - Gegensatz - Komplementarität? 2. Aufl. Göttingen: Wallstein, S. 9–39, hier S. 34248 Langendorff 1891 – Physiologische Graphik

54

Page 56: „Ein Mikroskop für die Zeit“ - Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz'  Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit (Magisterarbeit)

Objektivität, die diese automatisierte und selbstregistrierende Methode bietet, außerdem

die Universalität der Sprache der Kurven hervor, die für jeden ungeachtet seine

sprachlichen Herkunft begreifbar sei.

Indem die darzustellende Bewegung alle ihre Veränderungen, auch die schnellsten und vorübergehendsten, selbst markirt, indem sie von jeder Zunahme und jeder Abnahme in der Zeit eine deutliche Spur hinterlässt, gibt die erhaltene Curve, unbeeinträchtigt von den Unvollkommenheiten unserer Sinnesorgane, unbeeinträchtigt von jeder Voreingenommenheit des Beobachters, das treueste Bild von dem Ablauf jener Bewegung, das überhaupt gewonnen werden kann. Sie stellt ein documentarisches Versuchsprotokoll dar, wie es objectiver nicht gedacht werden kann. Sie redet in einer Sprache, die, den gebildeten aller Zungen verständlich, als eine wissenschaftliche Weltsprache bezeichnet werden könnte.249

Diese Eigenschaften der Universalität und Verständlichkeit wollte Helmholtz sich

zunutze machen.

5.2 Die Aufschreibeeinheit

249 Langendorff 1891 – Physiologische Graphik, S. 10

55

Abbildung 10: Aufschreibeeinheit des Myographen mit Zylinder (rosa) sowie Schreibvorrichtung mit Hebel und Stift (grün). (Grafikausschnitt eingefärbt von d. Verf.)

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Helmholtz' Myograph gehört in die Klasse der selbstregistrierenden Apparate. Deren

Prinzip beruht darauf, die darzustellende Bewegung auf einen Schreibstift zu übertragen

und seine Lageveränderung auf eine an ihm vorbeiziehende Fläche aufzuzeichnen.250

Helmholtz wendete die Methode der Stirnschreibung an, bei der, im Gegensatz zur

seitlichen Tangentialschreibung, der Schreibstift rechtwinklig zur Schreibfläche steht.251

Die erste Herausforderung bei der Konstruktion der zeichnenden Spitze war ihre

Geradführung, sie also nur vertikale und keine horizontalen Bewegungen ausführen zu

lassen. Helmholtz entschied sich dafür, die Spitze an einem zusammengesetzten

Hebelwerk zu befestigen.252 Die Spitze war direkt an einem senkrechten Hebel befestigt,

der an der Oberseite über eine horizontal beweglichen Achse mit einem waagerechten

metallenen Hebel in Form eines Rahmens253 verbunden war.

Der Hebel-Rahmen war am anderen Ende

ebenfalls über eine horizontale Achse

beweglich – dies gewährleistete, dass die

Spitze ausschließlich vertikale Bewegungen

ausführte. Die Mitte dieses Hebel-Rahmens

war über eine Stellschraube mit einem

weiteren Rahmen verbunden, der wiederum

über einen Haken von dem Muskel getragen

wurde. „Wenn sich dieser zusammenzieht, hebt

er also den [waagerechten] Hebel[-Rahmen]

[...], und mit ihm die zeichnende Spitze.“254 Aufgrund seiner Größe übertrug der

„Schreibrahmen“ die Muskelbewegung zweifach vergrößert.255 Der Druck, den die

Spitze auf den rotierenden Zylinder ausübt, konnte über Gewichte, die an einem

befestigten Querarm verschiebbar waren, reguliert werden. Mit dieser

Befestigungsweise vermied Helmholtz außerdem größere Reibungsverluste, die

250 Vgl.: Langendorff, Oskar (1891): Physiologische Graphik. Ein Leitfaden der in der Physiologie gebräuchlichen Registrirmethoden. Leipzig/Wien: Deuticke. S. 11251 Zur Technik der Tangential- und Stirnschreibung Vgl.: Langendorff, Oskar (1891): Physiologische Graphik. Ein Leitfaden der in der Physiologie gebräuchlichen Registrirmethoden. Leipzig/Wien: Deuticke. S. 47ff.252 Vgl. im Folgenden Fig. 1 in: Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 217253 Vgl.: Langendorff 1891 – Physiologische Graphik, S. 276254Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 202255 Vgl.: Langendorff 1891 – Physiologische Graphik, S. 276

56

Abbildung 11: Schreibrahmen, der Muskel und Schreibstift verbindet.

Page 58: „Ein Mikroskop für die Zeit“ - Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz'  Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit (Magisterarbeit)

Reibung der einzelnen Teile war sehr gering und mitunter sogar kleiner, als die der

zeichnenden Spitze.256

Eine zu geringe Reibung konnte jedoch auch negative Effekte haben. Oskar

Langendorff warnt in seinem 1891 publizierten Überblickswerk zu den physiologischen

Registriermethoden davor, die

Reibung zwischen Stift und

Zeichenfläche zu gering

werden zu lassen, da so

möglicherweise Eigenschwing-

ungen des Apparates mit aufgezeichnet würden. „Theorie und Praxis lehren nämlich

übereinstimmend, dass Eigenschwingungen gewisser Schreibapparate durch nichts

besser gedämpft werden, als wenn man einen kleinen Reibungswiderstand einführt.“257

Ein weiteres Problem ergab sich aus der

vertikalen Bewegung des Schreibhebels.

Hob sich der Stift nämlich, so entfernte

sich die Spitze nach und nach von der

Schreibfläche, wie die Abbildung 13

zeigt. Das Hebelwerk zur Gewährleistung

der Geradführung der Zeichenspitze

sorgte dafür, dass die Spitze immer am

Zylinder angelegt war. Die entfernende

Bewegung des Schreibhebels bei Hebung

desselben wurde also durch den zweiten

senkrechten Hebel, an dem sich das

Gewicht befand, ausgeglichen. In diesem Fall vergrößerte sich die Entfernung der

angelegten Schreibspitze von der Drehachse des Schreibhebels und damit auch die

Zeichnung.

256 Vgl.: Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 202257 Langendorff 1891 – Physiologische Graphik, S. 79

57

Abbildung 13: Der Schreibhebel as1 ist am Zylinder cy angelegt. Wird der Hebel gehoben, entfernt er sich immer mehr vom Zylinder, sodass die Spitze nach und nach die Positionen s2 und s3 einnehmen würde.

Abbildung 12: Mit einem Helmholtzschen Myographen gezeichnete Muskelkurve. Die Schwankungen am Ende stammen von Eigenschwingungen des Schreibhebels.

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Soll nun die Schreibspitze sich stets dem Cylinder anlegen, so ist das nur denkbar, wenn bei wachsenden Erhebungen des Hebels die geradlinige Entfernung von a zur zeichnenden Spitze in demselben Maasse zunimmt, wie der beschriebene Bogen von der Cylinderfläche abweicht. [...]Dadurch ist aber eine mit der Erhebung des Schreibhebels wachsende Vergrößerung der Zeichnung bedingt.258

Diese Fehlerquelle wird bei kurzen Hebeln problematisch, minimiert sich jedoch, je

länger der Hebel ist.259

5.3 Antrieb und Regelung

Als Antrieb für den Zeichenzylinder diente

ein Uhrwerk. Die Schwierigkeit hierbei war,

das Uhrwerk und letztendlich den Zylinder

permanent gleichförmig drehen zu lassen –

eine Aufgabe, die laut Helmholtz, von der

Mechanik seinerzeit noch nicht gelöst

worden war.260 Gewöhnlich wurde ein

Kegelpendel mit entsprechendem Gewicht an

den Enden als Regulator des Ganges

eingesetzt. Angeregt durch das Uhrwerk

vollführte das Kegelpendel eine

Kreisbewegung um die vertikale Achse. Je

nach Größe und Richtung des ersten

Anstoßes führte das Pendel abwechselnd

kreis- und ellipsenförmige Bewegungen aus.

Im Falle der Ellipsen drehten sich Pendel und

Uhrwerk schneller in den Punkten, wo das

Pendel seinem vertikalen Mittelpunkt näher

war und langsamer in den zur Vertikalen

258 Ebd. S. 53f.259 Ebd. S. 54260 Vgl.: Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 202

58

Abbildung 14: Der nicht abgebildete Antrieb ist mit einem Zahnradgetriebe verbunden, unterhalb hängt das Kegelpendel und oberhalb ist die Schwungscheibe aufgesetzt.

Page 60: „Ein Mikroskop für die Zeit“ - Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz'  Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit (Magisterarbeit)

entfernteren Punkten.261 Das bedeutet, die Drehungsgeschwindigkeit war

Schwankungen ausgesetzt, die sich direkt auf die Messkurve auswirkten. Beim

Kymographen spielten diese Schwankungen kaum eine Rolle, da eine Umdrehung des

Zylinders vielen Umdrehungen des Kegelpendels entsprach.262 Bei Helmholtz'

Myographen war das anders: Hier drehte sich der zu beschreibende Zylinder sechs Mal

pro Sekunde und das Kegelpendel ungefähr ein Mal pro Sekunde. Für die Messungen

mit dem Myographen, die extreme Genauigkeit erforderten, wären diese Schwankungen

zum Problem geworden. Bei so kleinen Abweichungen wäre es nicht möglich, den

Übergang des Kegelpendels von der Kreisbewegung zur elliptischen Bewegung – und

umgekehrt – zu erkennen und zu verhindern. Aber gerade weil die zu messenden

Zeiträume sehr klein waren, sah Helmholtz eine Chance die Messungen immer

zwischen den Schwankungen durchzuführen, wenn die Drehung gerade eine stabile

Phase durchlief. Bedingung wäre, dass die Schwankungen nur langsam vor sich gehen

würden, sodass genug Zeit bliebe, einen günstigen Zeitpunkt für den Messvorgang zu

erkennen und selbigen zu starten.263 Um die Veränderungen der Geschwindigkeit zu

verlangsamen, integrierte Helmholtz in seine Apparatur eine 0,5 Kilogramm schwere

und mit Blei ausgegossene Schwungscheibe. Durch ihre Schwere würden etwaige vom

Kegelpendel ausgehende Schwankungen in der Drehbewegung nur verlangsamt auf den

Zylinder übertragen werden. Die Schwungscheibe war mittig an der Achse befestigt, die

an ihrem unteren Ende durch das Uhrwerk angetrieben wurde und am oberen Ende den

Zeichenzylinder trug. Am unteren Ende der Schwungscheibe liefen zwei drehbare

Flügel in einer kreisförmigen und mit Öl gefüllten Rinne. Die in der Höhe verstellbare

Rinne und die beweglichen Flügel dienten der Regulierung der

Uhrwerksgeschwindigkeit.

Das Kegelpendel war zwar nicht als Gangregulator einsetzbar, jedoch konnte es

durchaus als Mittel dienen, die Größe der Umdrehungsgeschwindigkeit zu erkennen.

Die beiden Schwungkugeln des Pendels hingen an einer Achse, die durch ein 48 Zähne

zählendes Zahnrad gedreht wurde. Dieses Zahnrad stand mit dem restlichen Uhrwerk,

das durch ein fallendes Gewicht angetrieben wurde,264 in Verbindung und griff

261 Vgl.: Ebd. S. 203262Vgl.: Ebd. S. 203263 Vgl.: Ebd. S. 204264 Langendorff 1891 – Physiologische Graphik, S. 274

59

Page 61: „Ein Mikroskop für die Zeit“ - Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz'  Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit (Magisterarbeit)

gleichsam in das 12-zahnige Rad der Achse, welche die Schwungscheibe und den

Zylinder antrieb. Wir wissen bereits, dass diese Achse, die den Zeichenzylinder trug,

sich sechs Mal pro Sekunde drehen sollte. Das bedeutet, dass das Zahnrad mit den 48

Zähnen, an dem das Pendel hing, sich vier Mal so langsam bewegte, also 1,5 Mal pro

Sekunde. Anhand der Umdrehungszeit, der Schwerkraft und des Winkels, in dem die

ruhenden Kugeln standen, errechnete Helmholtz die nötige Länge der Pendel und stellte

sie entsprechend ein. Aus der Berechnung ging auch die optimale Position der Kugeln

für die Messphasen hervor. Mit Beginn der Rotation bewegten sich die Kugeln immer

weiter auseinander. Solange der Abstand zwischen beiden Kugeln weniger als die Hälfte

ihres Radius betrug, war sichergestellt, dass die Drehgeschwindigkeit weniger als ein

Vierhundertstel von ihrem eigenen Wert abwich.265 Nachdem er das Uhrwerk in Gang

gesetzt hatte, konnte Helmholtz also über die Position der sich drehenden Pendelkugeln

den günstigen Moment für eine stabile Messung erkennen. Die Schwungscheibe mit

ihrem Gewicht diente dabei zur Verlangsamung der Änderung der Geschwindigkeits-

schwankungen, sodass jede Änderung der Geschwindigkeit mit Verzögerung eintrat und

Helmholtz genügend Zeit hatte, die Aufzeichnung durchzuführen.

Das Prinzip, dessen Helmholtz sich mit dem

Kegelpendel bediente, stammt aus dem

Maschinenbau. Es entspricht dem für

Dampfmaschinen eingesetzten Fliehkraftregler

zur Regulierung der Ganggeschwindigkeit.

Dieser bestand […] aus zwei Kugelgewichten, die so an einer Welle befestigt waren, dass sie sich gegen die Kraft einer Rückhaltefeder scherenartig auseinanderbewegten, sobald die Drehzahl der Welle anstieg. Bei hoher Geschwindigkeit und bei Überschreitung einer kritischen Größe drosselte der Fliehkraftregler über einen Hebel die Dampfzufuhr zum Zylinder.266

265 Vgl. Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 206266 Dierig, Sven (2006): Wissenschaft in der Maschinenstadt. Emil-Du Bois-Reymond und seine Laboratorien in Berlin. Göttingen: Wallstein. S. 108f.

60

Abbildung 15: Fliehkraftregler einer Dampfmaschine, Science Museum London.

Page 62: „Ein Mikroskop für die Zeit“ - Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz'  Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit (Magisterarbeit)

Wie oben beschrieben nutzte Helmholtz das Kegelpendel anfangs nur, um den richtigen

Zeitpunkt der Messung bemerken zu können und musste in diesem Moment noch selbst

eingreifen, um den Versuch zu starten. Einige Jahre später hatte er den Apparat soweit

verbessert, dass auch dieser Eingriff automatisch ausgeführt wurde. Im Mai 1856

schrieb er an Du Bois-Reymond:

Ich habe es [das Myographion, Anm.d.Verf.] noch nachträglich mit einer Reihe von Hebeln versehen, welche bewirken, daß, sowie die Schwungkugeln anfangen sich zu heben, die Maschine selbst den Zeichenapparat auslöst und dies nicht mehr vom Experimentator abhängt. Dadurch habe ich eine noch größere Regelmäßigkeit erzielt.267

In dieser modifizierten Version übernahm der Myograph nun auch die Selbstregelfunktion

der Dampfmaschine, nur dass in diesem Fall nicht die Dampfzufuhr gedrosselt, sondern

der myographische Schreibautomat aktiviert wurde. Der Myograph ist nicht nur ein

tatsächliches Beispiel für einen Techniktransfer zwischen Maschinenbau und Physiologie,

wie Dierig betont268, der Apparat bezeugt auch

den Einfluss der Welt außerhalb des Labors

auf die Arbeitsweise der Physiologen. In

Potsdam, Helmholtz' Geburtsstadt, und in

Babelsberg wurden Dampfmaschinen für

Besucher kunstvoll in Szene gesetzt.

Im Babelsberger Maschinenhaus trat das eiserne Schwungrad der Maschine, das mit sechs Metern Durchmesser ein Viertel der Raumhöhe durchmaß, zur Hälfte aus einem Schlitz in der Wand, um den Bewegungseffekt der Speichen zu verstärken. Die Drehung der polierten Eisenkugeln des Fliehkraftreglers unter einer Lichtquelle an der Decke des Schauraumes ließ diese metallen erglänzen und dynamische Rotationsfiguren erzeugen. Im unteren Bereich stampfte der Kolben und zischten die Steuerventile. Von einer umlaufenden Besichtigungsgalerie aus konnte die arbeitende Maschine beobachtet und in ihrem Glieder- und Formenspiel bewundert werden.269

267 Kirsten, Christa (u a. Hg ). (1986): Dokumente einer Freundschaft. Briefwechsel zwischen Hermann von Helmholtz und Emil du Bois-Reymond 1846-1894. Hg. v. Christa Kirsten. Berlin. S. 161268 Dierig 2006 – Wissenschaft in der Maschinenstadt, S. 108f.269 Ebd. S. 89f.

61

Abbildung 16: Innenraum des ehemaligen Dampfmaschinenhauses vom Park Sanssouci in Potsdam. Der Fliehkraftregler ist oben mittig zu erkennen.

Page 63: „Ein Mikroskop für die Zeit“ - Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz'  Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit (Magisterarbeit)

In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vermehrte sich die Zahl der

Dampfmaschinen in Berlin zunehmend: 1820 waren es acht und 1840 bereits 47 an der

Zahl.270 Die größten Maschinen versorgten in den 1840er Jahren die

Bewässerungsanlagen der königlichen Parkanlagen in Potsdam und Babelsberg. Die

Gegenwart der Maschinen spiegelte sich, so Dierig, auch im Denk- und Sprachstil der

Organischen Physiker wider.271 In einer 1882 gehaltenen Rede bezeichnete du Bois-

Reymond es als eine „physiologische Tatsache […], daß unsere Denkformen überhaupt

sich an der regelmäßigen Wiederkehr äußerer Vorgänge entwickelt haben.“ und betont

„[d]as Bedürfnis, diese Vorgänge und jene Denkformen [...] in Einklang zu sehen […].“272

5.4 Die Vorrichtung zur rechtzeitigen Auslösung des

elektrischen Schlages

Genau wie bei seinen ersten Messversuchen mit Pouillets Methode stand Helmholtz

auch bei dem Myographen vor der Schwierigkeit, die Aufzeichnung synchron mit dem

elektrischen Reiz starten zu lassen. Dazu hatte er wieder eine kleiner Apparatur gebaut,

die diese Anforderungen erfüllen soll. Sie bestand aus einem beweglichen Brettchen, an

270 Vgl. im Folgenden: Ebd. S. 89271 Ebd. S. 92272 Du Bois-Reymond, Emil (1912): Goethe und kein Ende. In der Aula der Berliner Universität am 15. Oktober 1882 gehaltene Rektoratsrede. In: Estelle Du Bois-Reymond (Hg.): Reden von Emil Du Bois-Reymond, Bd. 2. 2. Aufl. 2 Bände. Leipzig: Veit & Comp., S. 157–183, hier S. 172

62

Abbildung 17: Die zur rechtzeitigen Auslösung des elektrischen Schlages notwendigen Bauteile sind farbig markiert. (Grafikausschnitt eingefärbt von d. Verf.)

Page 64: „Ein Mikroskop für die Zeit“ - Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz'  Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit (Magisterarbeit)

dem ein Stahlstab befestigt war, der per Hand die Position des Brettchens wie bei einer

Wippe änderte. Den Grad der Änderung beschränkten zwei verschieden hohe

Stahlschrauben unterhalb des Brettchens. Auf der oberen Seite des Brettchens war eine

durch zwei Metallplatten gehaltene drehbare Achse eingesetzt. An dem der

Schwungscheibe zugewandten Ende der Achse war ein senkrechter Hebelarm befestigt,

dessen oberes Ende in Richtung des Schwungscheibenrands gebogen war und bei

Rotation derselben von einem Vorsprung dieses Randes getroffen wurde, sofern das

entsprechende Ende des beweglichen Brettchens auf der höher eingestellten vorderen

Stahlschraube ruhte. Durch Drücken des am Brettchen befestigten Stahlstabes sank das

hintere Ende des Brettchens auf die niedrigere hintere Schraube, was zur Folge hatte,

dass der Hebel sich von der Schwungscheibe entfernte und der Scheibenvorsprung ohne

Berührung an dem gebogenen Hebelarm vorbeizog. In der Achse, die mit diesem

Hebelarm verbunden war, befanden sich zwei Drahtklemmen mit Kupferdrähten. Die

amalgamierte Spitze des einen war in ein Quecksilbernäpfchen eingetaucht und die

Platinspitze des anderen ruhte auf einem Platinblättchen. Durch ein leichtes

Übergewicht der Achse stand die Platinspitze stets mit dem Platinblättchen und das

Platinblättchen über einen Draht und eine Klemme außerdem mit einem weiteren

Quecksilbernäpfchen unterhalb des Brettchens in leitender Verbindung. Dieser Kontakt

wurde in dem Augenblick unterbrochen, wenn der Vorsprung der Schwungscheibe

gegen den Hebelarm stieß. Durch die Quecksilbernäpfe

wird der Strom eines Daniell'schen Elements geleitet, in dessen Kreis gleichzeitig eine Drahtspirale No. 1 eingeschaltet ist. Diese liegt in einer zweiten solchen Spirale No. 2, deren Enden mit dem Nerven in Verbindung gesetzt sind. In dem Moment also, wo der Daumen [i.e. der Vorsprung der Schwungscheibe, Anm. d. Verf.] […] gegen den Hebel […] stößt, wird der Strom in No. 1 unterbrochen, und dadurch in No. 2 ein inducierter Strom erregt, welcher den Nerven durchfährt. […] Der Moment des Stoßes fällt also genau mit dem Moment der Nervenreizung zusammen.273

Die hintereinander geschalteten Drahtspiralen bewirkten eine Verstärkung des

Stromstoßes. Der die Achse und den Hebelarm tragende Stahlstab war über eine Schnur

außerdem mit der zeichnenden Spitze verbunden. Der Stab hatte die Funktion, den

Zeichenstift vom Zylinder entfernt zu halten, solange keine Zeichnung ausgeführt

werden sollte. Durch Drehung des Stahlstabes wickelte sich die Schnur auf denselben

273 Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 208

63

Page 65: „Ein Mikroskop für die Zeit“ - Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz'  Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit (Magisterarbeit)

und so konnte der entsprechende Abstand der Spitze vom Zeichenzylinder eingestellt

werden. Die Apparatur war so justiert, dass der Stift bei jeder Aufzeichnung an

derselben Stelle des Zylinders startete, sodass mehrere sich überlagernde

Kurvenzeichnungen mögliche waren.

5.5 Ablauf des Versuchs mit dem Myographen

Der Zylinder wurde vor der Benutzung mittels einer Lichtflamme mit einer leichten

Rußschicht versehen, in die später die zeichnende Spitze die Zuckungskurve kratzte.

Bevor der gesamte Versuch starten konnte, musste auf dem Zylinder noch eine

Markierung, die dem Augenblick der Reizung entsprach, gesetzt werden. Dazu ließ

Helmholtz den Zeichenstift an den Zylinder anlegen und drehte die Schwungscheibe

ganz langsam in die Position, bei der der Vorsprung am Schwungscheibenrand den

Hebel berührte. Diese Berührung löste den Stromstoß aus, brachte den Muskel zum

Zucken und ließ den Zeichenstift am angehaltenen Zylinder eine vertikale Linie

zeichnen.

Es ist klar, dass diese Verticallinie an der Stelle gezeichnet wird, wo der Stift in dem Augenblicke des Zusammenstosses von Hebel und Daumen, d.h. im Augenblicke der Reizung steht.274

Sobald der Vorsprung der Schwungscheibe sich also auf Höhe des Hebelarms befand,

zeigte die Zeichenspitze auch immer auf die gesetzte Markierung auf dem

Zeichenzylinder. Nachdem die Markierung gesetzt war, startete der Versuch durch

Herunterdrücken des Stahlstabes. In dieser Haltung berührte der Zeichenstift den

Zylinder nicht und auch der Hebel konnte nicht vom Vorsprung der Schwungscheibe

getroffen werden. Jetzt wurde auch das Uhrwerk gestartet. Ob die richtige

Geschwindigkeit erreicht war, ließ sich über die Position der Pendelkugeln feststellen:

„Sobald man bemerkt, dass die Schwungkugeln sich zu trennen anfangen, kann die

Zeichnung ausgeführt werden.“275 Der Stahlstab konnte jetzt losgelassen werden,

274 Ebd. S. 209f.275 Ebd. S. 210

64

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worauf sich das Brettchen samt Hebel senkte und der Zeichenstift anlegte. „Nun geht

der Daumen nicht mehr an dem Hebel vorüber, sondern trifft ihn, wirft ihn um und

bewirkt dadurch die Zuckung, deren Verlauf auf dem Cylinder sich aufzeichnet.“276 Der

Hebel war so montiert, dass er bei Berührung mit dem Vorsprung der Schwungscheibe

umkippte, und so bei einer erneuten Drehung kein weiterer Stromstoß ausgelöst wurde.

Ein Versuch implizierte also einen Stromstoß, wobei nur eine einzige Zuckungskurve

aufgezeichnet wurde. Für weitere Aufzeichnungen musste die gesamte Prozedur

wiederholt werden. Darin bestand auch der große Vorteil dieses Verfahrens gegenüber

der Pouillet-Methode: Mit der graphischen Methode konnte Helmholtz leicht zwei

Kurven direkt miteinander vergleichen.

Der grosse Vortheil der beschrieben Methode besteht darin, dass man in jeder einzelnen Zeichnung zweier zusammengehöriger Curven unmittelbar aus ihrer Gestalt erkennen kann, ob der Muskel in beiden Fällen gleichmäßig gearbeitet habe, während wir dasselbe bei der electromagnetischen Zeitmessungsmethode nur aus einer langen Reihe von Einzelversuchen entnehmen konnten.277

Helmholtz stellte in seinen Versuchen wieder Messungen von verschiedenen Enden des

am Muskel befindlichen Nervs an. Dazu ließ er jeweils zwei Kurven übereinander

ausführen: die eine von der dem Muskel näher stehenden Nervenstelle und die andere

von der entfernteren Nervenstelle. Um die beiden Kurven später voneinander

unterscheiden zu können, zeichnete er in die Rußschicht mit einer Starnadel gekrümmte

Häkchen „so an den auf- und absteigenden Theil der ersten Curve, dass sie von der

zweiten abgewendet standen.“278

Um die Kurven auf der Rußschicht des Zylinders aufbewahren zu können, wurde der

Zylinder aus der Apparatur entnommen und auf einer „angehauchten Fischleimplatte

276 Ebd. S. 210277 Ebd. S. 215278 Ebd. S. 210f.

65

Abbildung 18: Zwei mit dem Myographen hintereinander ausgeführte Kurven. Die eingezeichneten Häkchen halfen dabei, später die erste von der zweiten Kurve zu unterscheiden.

Page 67: „Ein Mikroskop für die Zeit“ - Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung über Hermann von Helmholtz'  Versuche zur Nervenleitgeschwindigkeit (Magisterarbeit)

[…] von der Art, wie sie die Kupferstecher zum Copiren der Zeichnungen gebrauchen“279 abgerollt. Der Fischleim wurde aus der Schwimmblase von Fischen gewonnen und

unter anderem auch als Kit für Glas und Porzellan eingesetzt.280 Kupferstecher nutzten

zu dünnen Schichten verarbeiteten Fischleim, sogenannte Leimfolie oder Glaspapier,

zur Anfertigung von Reproduktionen. Helmholtz war diese Technik vermutlich bekannt,

er ließ seine Skizzen zum Aufbau der Apparate zum Beispiel von Kupferstechern zu

Druckgrafiken umarbeiten. In diesem Zusammenhang wirkte du Bois-Reymond wieder

als Mittelsmann. In einem Brief vom 22. April 1850 schrieb ihm Helmholtz:

Ich möchte Dich dabei mit der Bitte belästigen, die Revision der Kupfertafel zu übernehmen, auf welcher der ziemlich minutiöse und komplizierte Apparat abgebildet ist, vermittels dessen der Froschmuskel den Strom öffnet. […] Nur einige zur Deutlichkeit nötige Schattierungen befriedigen mich nicht, vielleicht kannst du mündlich dem Kupferstecher über einige Punkte der Ausführung noch Rat geben; ich werde deshalb bei der Übersendung Müller ersuchen, Dir denselben noch vor Beginn des Stichs zuzuschicken.281

Helmholtz machte sich beim Verfertigen der Abdrücke seiner Kurvenbilder also einen

Teil der Kupferstechertechnik zunutze. Beim Abrollen des Zylinders blieb dabei der

Ruß auf der klebrigen Leimplatte haften, wobei die freigekratzen Kurvenspuren

ausgespart blieben. Der Abdruck zeigte die Kurven nun aber gespiegelt. Deshalb wurde

von der berußten Seite des Leimblatts ein weiterer Abdruck auf einem nassen weißen

Blatt Papier angefertigt. „Die Curven erscheinen dann weiss auf schwarzem Grunde,

und sind sehr deutlich sichtbar.“282

Die Versuche zur Fortpflanzungsgeschwindigkeit eines Reizes im Nerven mit dem

Myographen bestätigten die Ergebnisse aus den Versuchen mit Galvanometer, obwohl

sich der horizontale Abstand der beiden Kurven nicht mit sehr großer Genauigkeit

messen ließ. Bei einem Kurvenpaar betrug dieser Abstand zum Beispiel einen

Millimeter. Bei einem Zylinderumfang von 85,7 mm und sechsfacher Drehung

desselben pro Sekunde betrug die Länge der Abszisse für eine Sekunde das Sechsfache

des Zylinderumfangs, also 514,2 Millimeter.

279 Ebd. S. 211280 Vgl.: Schmidgen 2009 - Die Helmholtz-Kurven, S. 59281 Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 96282 Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 211

66

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Die Länge von 1mm entspricht also 1/514,2 Sekunde. Die Länge der Nervenleitung war 53mm; daraus folgt die Fortpflanzungsgeschwindigkeit von 27,25 Metern in der Sekunde. Der wahrscheinlichste Werth aus den früheren Versuchen war 26, 4 Meter.283

Als bedeutend hebt Soraya de Chadarevian – trotz der eingeschränkten Genauigkeit

beim Abmessen des Kurvenabstands – hervor, dass die graphische Methode, zu der

Helmholtz hauptsächlich wegen ihrer Anschaulichkeit zurückkehrte, beinahe genauso

präzise Ergebnisse lieferte wie die elektromagnetische Methode, die er anfangs aus

Gründen der höheren Genauigkeit vorzog:

Die allerdings nun sehr verfeinerte graphische Methode […] lieferte einen Wert, der 'ungefähr ebenso groß' war wie der Wert, den er mit der genaueren, aber viel langwierigeren und weniger anschaulicheren Methode galvanometrischer Messungen und statistischer Berechnungen erzielt hatte.284

5.6 Die Methode der Kurven

Die Methode der Kurven läutete in der Physiologie eine neue Ära der Darstellung von

Forschungsergebnissen ein. Laut Wolfgang Schäffner haben wir es bei graphischen

Schreibapparaten mit einem „neuen Instrumententyp“ zu tun, „der die von ihm

kontinuierlich erzeugten Daten auch ebenso kontinuierlich als Funktion der Zeit

speichert.“285 Während Helmholtz bei der Messmethode mit dem Galvanometer die

angezeigten Werte mühsam und mit Unterstützung seiner Frau Olga ablesen und

notieren musste, übernimmt bei den graphischen Apparaten der Zeiger auch die

Funktion des Aufschreibens, der Speicherung. Der Zeiger zeigt, so Schäffner, und liefert

Messdaten, ohne sie jedoch zu speichern – Erzeugung und Speicherung der Daten sind

zwei voneinander getrennte Operationen.286 Erst in der Verbindung von Zeiger und

283 Ebd. S. 216284 Chadarevian, Soraya de (1993): Die 'Methode der Kurven' in der Physiologie zwischen 1850 und 1900. In: Hans-Jörg Rheinberger und Michael Hagner (Hg.): Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950. Berlin: Akademie Verlag, S. 28-49, hier S. 39285 Schäffner, Wolfgang (2003): Mechanische Schreiber. Jules Etiennes Mareys Aufzeichnungsmaschinen. In: Bernhard Siegert und Joseph Vogl (Hg.): Europa: Kultur der Sekretäre. Zürich/Berlin: diaphanes, S. 221–234, hier S. 226286 Vgl.: Ebd. S. 226

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Schreiboberfläche können kontinuierliche Datenströme dargestellt werden. Im Vergleich

zur Handschrift, ist nicht nur der Stift an der Schrift beteiligt. Die bewegte Oberfläche

des Zylinders trägt maßgeblich dazu bei, dass die Kurve sich räumlich entfalten kann.

Die „Bewegung des automatisierten Schreibens“ setzt sich also aus „zwei isolierten,

sich überlagernden Schreibbewegungen“ zusammen.287 Schäffner führt bei seinem

Beispiel das automatisierte Schreiben auf Papier an.

Mechanisches Schreiben entzieht also dem Schreibstift Aktivitäten wie etwa die Tinte und seine Fortbewegung und agentiviert stattdessen das Papier selber: Statt passive Schreibfläche zu sein, liefert das Papier den Schreibstoff und ersetzt zugleich die Bewegung der Hand über das Papier durch seine eigene Bewegung.288

Die Beteiligung des Schreiboberfläche am Schreibvorgang gilt ebenso beim

Myographen, bei dem nicht auf Papier geschrieben, sondern die Kurve in die berußte

Fläche des Drehzylinders gekratzt wird. Der Schreibstift des Myographen schreibt also

nicht in dem Sinne, wie ein Stift, der Tinte oder ein sonstiges Material auf eine Fläche

wie Papier aufträgt. Vielmehr kehrt sich dieser Vorgang um, denn der Stift entfernt auf

seinem Weg den Ruß, wodurch die Kurvenspur sichtbar wird. Dies ist, laut Schäffner,

nichts anderes als Löschen, eine Inversion der Schrift. „Kein Schwarz auf Weiß also

produzieren diese mechanischen Sekretäre, wie es die Schrift bis dahin prägt, sondern

ein Negativ dazu.“289

Die Kurven sind allerdings nicht selbsterklärend – sie bedürfen der Auslegung und

Erklärung. Dem Wissenschaftler kommt nach Latour dabei die Rolle des Stellvertreters

zu, der mit Hilfe der Kurve auf ein wissenschaftliches Objekt verweist, er erhält eine

„quasi politische Funktion“.290 Der Akt der Stellvertretung ist eng verknüpft mit der

Inskription, in unserem konkreten Beispiel der anhand der Aufschreibeeinheit des

Myographen in den Zylinder eingekratzten Kurve. Latour versteht unter Inskriptionen

sämtliche Formen von Spuren, seien es Texte in Form von Veröffentlichungen,

Buchstaben, Linien, Flecken, Punkte oder Zahlen.291 Die Inskriptionen verweisen

287 Ebd. S. 227288 Ebd. S. 228289 Ebd. S. 228290 Vgl.: Schmidgen, Henning (2011): Bruno Latour zu Einführung. Dresden: Junius. S. 66291 Vgl.: Ebd. S. 66

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allerdings zunächst auf die Einschreibevorrichtung selber und nur durch die Apparate

vermittelt auf das in Frage stehende wissenschaftliche Objekt.292

Was steht hinter den Behauptungen [der Wissenschaftler]? Texte. Und hinter den Texten? Weitere Texte, die immer technischer werden, weil sie immer weitere Texte einbringen. Hinter diesen Artikeln? Graphen, Inskriptionen, Etiketten, Tabellen, Karten, die stapelförmig angeordnet sind. Hinter diesen Einschreibungen? Instrumente, die – was auch immer ihre Form, ihr Alter und ihre Kosten sind – den Zweck haben, verschiedene Spuren zu kritzeln, zu zeichnen und niederzuschreiben. Hinter den Instrumenten? Stellvertreter aller Art, die die Kurven kommentieren und ‚einfach‘ sagen, was sie bedeuten. Hinter ihnen? Eine große Anzahl von Instrumenten. Und hinter ihnen? Kraftproben, um den Widerstand der Verbindungen zu bewerten, die die Repräsentanten an das binden, wovon sie sprechen.293

Der Status des wissenschaftlichen Fakts, dessen was Helmholtz „gefunden“ hat,

schwankt laut Latour zwischen Konstruktion und Faktizität, denn Inskriptionen sind

etwas Gemachtes, sie werden mithilfe von Maschinen hergestellt. Gleichwohl

verweisen sie unbestritten auf Phänomene, wissenschaftliche Objekte,

Naturerscheinungen, die nicht konstruiert sind. Latour versteht diesen „Zwitterstatus“,

um mit Schmidgen zu sprechen,294 in dem Sinne,

dass Fakten einerseits experimentell gemacht werden und nicht aus ihrer von Menschen hergestellten Einbettung herauszulösen sind; und dass es andererseits entscheidend ist, dass sie nicht fabriziert werden und dass etwas herauskommt, dass kein Menschenwerk ist.295

In diesem Licht betrachtet kommt der Kommunikation der Forschungsergebnisse eine

besondere Rolle zu. Deshalb soll im Folgenden auf die Probleme eingegangen werden,

mit denen Helmholtz auch während seiner Nervenleitversuche konfrontiert war.

292 Vgl.: Ebd. S. 124f.293 Deutsche Übersetzung zitiert nach: Ebd. S. 124. Originalfassung: Latour, Bruno (1987): Science in Action. How to follow scientists and engineers through society. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press. S. 79294 Vgl.: Schmidgen 2011 – Bruno Latour zu Einführung, S. 73295 Latour, Bruno (1990): The Force and the Reason of Experiment. In: Homer H. E. Le Grand (Hg.): Experimental Inquiries. Historical, Philosophical and Social Studies of Experimentation in Science. Dordrecht: Kluwer, S. S. 49-80, hier S. 64

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5.1 Kommunikation und Rezeption der Forschungsergebnisse

Helmholtz musste sich schon früher mit der Problematik der Verständlichkeit von

Wissenschaft beschäftigen. Sein Bericht „Über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der

Nervenreizung“ von 1850, den du Bois-Reymond am 18. Januar 1850 in der

Physikalischen Gesellschaft vortrug296, wurde dort zunächst nicht verstanden. In einem

Brief berichtet du Bois-Reymond, über die Makel, die er in Helmholtz' Bericht sah:

Du hast die Sache nämlich, nimm es mir nicht übel, so maßlos dunkel dargestellt, dass dein Bericht höchstens für eine kurze Anleitung zur Wiedererfindung der Methode gelten konnte.297

Du Bois-.Reymond überarbeitete Helmholtz' Schrift schließlich sprachlich in

Eigenverantwortung298 und stellte sie daraufhin in der Pariser Académie des Sciences

vor.299 Als Reaktion auf diese Umarbeitung berichtete Helmholtz über seine

Schwierigkeiten beim Verfassen eines kurzen Berichtes zum Stand seiner aktuellen

Forschung, der sich an ein unterschiedlich vorgebildetes Publikum richtete.

Die Abfassung einer solchen Note ist deshalb so schwer, weil sie doch hauptsächlich nur eine kurze Andeutung für den Sachverständigen sein soll, zu welcher dieser sich das Einzelne hinzu erfinden muss, und es viel misslicher ist zu beurteilen, an welches Niveau der Kenntnisse man sich wenden muss, als es bei der Ausarbeitung in extenso der Fall ist, wo man auf ein möglichst niedriges rechnet.300

Laut Olesko und Holmes war das Problem der Verständlichkeit unter anderem in der

komplizierten Messmethode mit Galvanometer, die Helmholtz anfangs verwendete,

begründet. Sie eignete sich nicht gut für Demonstrationszwecke, denn sie setzte beim

Rezipienten ein gewisses Maß an Verständnis im Umgang mit quantitativen Messwerten

und den von Helmholtz angestellten Berechnungen voraus.301 Mit Hilfe du Bois-

Reymonds konnte Helmholtz aber auch diese Hürde überwinden.

296 Vgl.: Emil du Bois-Reymond in einem Brief vom 19. März 1850 an Hermann von Helmholtz, In: Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 92 sowie Anmerkung 1 zu Brief 14, In: Ebd., S. 279297 Ebd. S. 92298 Vgl.: Ebd. S. 92299 Vgl.: Anm. 1 zu Brief 16, In: Ebd. S. 280300 Helmholtz in einem Brief vom 22. April 1850 an du Bois-Reymond, In: Ebd. S. 96f.301 Vgl.: Olesko/Holmes 1993 – Experiment, Quantification, and Discovery, S. 101

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Ohnehin ist du Bois-Reymonds Rolle als Freund, Kollege, Berater und Vermittler kaum

zu überschätzen. Über ihn hatte Helmholtz unter anderem Anschluss an ein verzweigtes

wissenschaftliches Netzwerk, dass sich zwischen Königsberg, Berlin und Paris

aufspannte. In Berlin waren es sein Lehrer Johannes Müller und Gustav Magnus sowie

die Physikalische Gesellschaft. In Paris die Académie des Sciences, wobei auch

Alexander von Humboldt eine Rolle spielte, der gute Kontakte nach Frankreich pflegte.302

Außerdem vermittelte du Bois-Reymond zwischen Helmholtz und den Berliner

Feinmechanikern, wie dem bereits erwähnten Johann Georg Halske. Schmidgen spricht

bei Helmholtz' Nervenleitversuchen von einer „Kooperation auf Distanz“ mit du Bois-

Reymond, von einem „einzigen wissenschaftlichen Projekt“, das nur personell und

räumlich verteilt war.303 In einem intensiven Briefwechsel hielten sich beide Forscher

über den Fortschritt ihrer Arbeit und auch private Ereignisse auf dem Laufenden. Das

Thema der Verständlichkeit von Wissenschaft war immer wieder Thema in den Briefen,

insbesondere auch gegenüber der Frauenwelt. Auch das weibliche Publikum war an den

wissenschaftlichen Ergebnissen interessiert, nur richtete sich die Kritik einiger

Zuhörerinnen du Bois-Reymonds gegen eine zu große Verständlichkeit. So stieß zum

Beispiel du Bois-Reymonds Versuch, eine wissenschaftlichen Rede in verständlicher

Form zu verfassen, bei der weiblichen Hörerschaft auf Empörung. In einem Brief an

Helmholtz vom 18. März 1851 schrieb er:

Gib meine Rede Deiner angenehmen Hausfrau zu lesen. Die Damen sind empört darüber gewesen, dass ich ihnen verständlich gewesen sei, was ich von ihnen dächte? Und von mir hatte man etwas Wissenschaftlicheres erwartet. [...] [Ich] werde große Mühe haben, meinen Ruf als exakter Forscher wieder zu erobern.304

Helmholtz selbst beobachtete diesen Trend ebenfalls und schlug seinem Freund vor,

dem Wunsch der Zuhörerschaft nachzukommen und in den Ausführungen durchaus

einige Rätsel stehen zu lassen, um das Interesse wachzuhalten.

Meine Frau lässt Dich freundlich grüßen; ich habe ihr Deine Vorlesung vorgetragen, da sie aber soweit in die Physiologie eingeweiht ist, dass sie Versuchsreihen über Geschwindigkeit der Reizung in den Nerven an sich anstellen konnte, bei anderen selbst Magnetometer-Ablesungen machte etc., so hat sie sich zur Partei derjenigen geschlagen, welche behaupten,

302 Vgl. Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 105303 Ebd. S. 106304 Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 106

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Du hättest dich zu verständlich gemacht. Dagegen höre ich, hast Du in Berlin auch viele unbedingte Bewunderinnen. Es ist unmöglich bei solchen Gelegenheiten, es allen recht zu machen, jedenfalls aber wohl dankbarer, es den Zuhörern nicht zu leicht zu machen und für den großen Haufen einige Rätsel stehen zu lassen, deren Verständnis vielleicht nur einer kleinen Zahl der Zuhörerschaft aufgeht. Für jene anderen ist es im Grunde immer besser, ihre Verwunderung als ihr Verständnis anzuregen.305

Gleichwohl des geäußerten starken Wunsches, in Staunen und Verwunderung versetzt

zu werden, wandte sich Helmholtz mit dem Myographen einer Methode zu, die mehr

Verständlichkeit und Einsicht versprach.

6. Schluss

Ziel der vorliegenden Arbeit war es, den keineswegs geradlinigen sondern vielmehr

mäandernden Weg der Erkenntnis in Helmholtz' nervenphysiologischen Versuchen

nachzuzeichnen sowie interne und externe Faktoren, ihre Konnexionen, verschiedene

Einflüsse und Teilnehmer der Forschungsmaschine – ob Personen, Tiere oder Dinge –

zu ermitteln und näher zu beleuchten. Das Mäandern oder auch Driften, wie Schmidgen

Helmholtz' Vorgehen wiederholt beschreibt,306 widerspricht einer Vorstellung von

Planmäßigkeit und Systematik. Weniger geradlinig erscheint das Vorgehen im

Experiment eher eine „überraschende Reihung von Vorwärts-, Rückwärts- und

Seitwärtsbewegungen“307 zu sein.

305 Helmholtz an du Bois-Reymond in einem Brief vom 11. April 1851, In: Kirsten 1986 – Dokumente einer Freundschaft, S. 112306 Vgl.: Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven307 Ebd. S. 15

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Abbildung 19: Der Weg zur wissenschaftlichen Erkenntnis verläuft eher verschlungen als geradlinig.

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Das Driften äußert sich insbesondere im Wechsel der angewendeten Methoden, die alle

das gleiche Ziel, nämlich die Untersuchung der Muskelbewegung und schließlich die

Ermittlung der Nervenleitgeschwindigkeit hatten. Angefangen beim einfachen

graphischen Apparat wechselt Helmholtz zur elektro-magnetischen Methode, schiebt

dazwischen Versuche am Menschen ein, um schließlich wieder zur maschinellen

Kurvnezeichnung mit dem verbesserten Myographen zurückzukommen. Der

Experimentier- und Messapparatur kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Schmidgen

definiert das Experimentalsystem als "Zukunftsmaschine", da es nicht nur einen

technischen Ablauf stabil reproduziert, sondern zusätzlich etwas Neues hervorbringt

beziehungsweise so konstruiert ist, dass es durchlässig genug ist für das

Unvorhergesehene.308 Nicht nur Stabilität, sondern auch Permeabilität waren

dementsprechend wesentliche Merkmale des Experimentalsystems zur Ermittlung der

Nervenleitgeschwindigkeit. Nachdem Helmholtz mit seinem einfachen Kurven-

zeichnungsapparat den Verlauf der Muskelzuckung untersuchte, machte er die

überraschende Entdeckung einer nicht unbeträchtlichen Zeitverzögerung zwischen

Muskelreiz und Muskelzuckung. Die Bauweise des, gleichwohl nur zu Testzwecken

gebauten, einfachen Apparats erfüllte also genau die zwei genannten Anforderungen an

ein Experimentalsystem: Es lief bereits stabil genug, um aussagekräftige Ergebnisse zu

reproduzieren, und war offen genug, um den Hinweis auf eine neue Entdeckung zu

geben: die der viel geringer als bis dato geglaubten Nervenleitgeschwindigkeit.

Helmholtz begnügte sich aber nicht mit diesem Hinweis, er wollte, ganz in der Manier

eines Organischen Physikers, apparat-gestützte präzise Ergebnisse vorweisen, die den

unumstößlichen Beweis liefern sollten. Inspiriert von Methoden der Präzisionsmessung

in der Ballistik, wie sie zum Beispiel Siemens anwendete, unternahm Helmholtz

schließlich eine Reihe weiterer Versuche mit der elektromagnetischen Methode nach

Pouillet. Helmholtz beschränkte sich also nicht auf die Erforschungen, die der

Physiologie entstammten, sondern informierte sich gezielt über Messmethoden aus

anderen Disziplinen. So ermöglichte er, und wie sich zeigte immer wieder im Laufe

seiner Arbeit, den Transfer von Technologien und Methoden aus verschiedenen

308 Schmidgen, Henning (1999): Experimentalisierung als Thema einer kulturwissenschaftlich orientierten Physiologie- und Psychologiegeschichtsschreibung. In: Physiologische und psychologische Praktiken im 19. Jahrhundert: ihre Beziehungen zu Literatur, Kunst und Technik. Workshop, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, S. 11–22. Online verfügbar unter http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/Preprints/P120.PDF, zuletzt geprüft am 22.03.2011. S. 16f.

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Bereichen in die Physiologie. Ein Ort, der diesen Austausch ermöglichte, war die

Physikalische Gesellschaft in Berlin, in der Helmholtz mit Medizinern, Physikern,

Mechanikern und Vertretern des Militärs, wie Siemens, in Kontakt kam. Das Bild eines

einsam im Labor vor sich hin brütenden Forschergenies trifft auf Helmholtz keineswegs

zu, im Gegenteil: vielmehr zeigte er sich als interdisziplinär arbeitender und im regen

Austausch stehender Forscher und auch Techniker, der die Grenzen seiner Disziplin zu

überschreiten bereit war.

Es revidiert sich auch eine beliebte Darstellung, die Forschern bestimmte

„Entdeckungen“ alleinig zuschreibt. Wie in Kapitel 3.2. beschrieben, hatte vor

Helmholtz bereits der italienische Physiker Matteucci ganz ähnliche Versuche

unternommen, und die Vermutung liegt nahe, dass Helmholtz dessen

Forschungsarbeiten kannte oder zumindest über seinen Freund und Kollegen du Bois-

Reymond davon gehört hatte. Helmholtz verfeinert die Methoden jedoch und legt

größten Wert auf Präzision. Im Mittelpunkt schon seiner früheren physiologischen

Arbeiten stehen die (Mess-)Apparate, die Helmholtz in der Manier eines Ingenieurs

oder Mechanikers für seine Zwecke justiert und anpasst. Ein weitere wichtige Rolle

spielt die gründliche Fehleranalyse, unter anderem mit Methoden aus der Mathematik

zur Berechnung der wahrscheinlichsten Messwerte. Nicht zu vergessen sei jedoch das

Präparat, an dem die Versuche ausgeführt wurden: an Froschmuskeln samt Nerv. Sie

wurden häufig für elektrische Versuche verwendet und erwiesen sich als ideales Modell

für derartige Versuche. Obwohl Helmholtz sich selbst nicht explizit dazu äußert, lässt sein

Ausspruch von den „Märtyrern der Wissenschaft“ – gemeint sind die Frösche – sowie die

Vermeidung des unnötigen Einsatzes von Tierversuchen in seinem direkten

wissenschaftlichen Umfeld, wie etwa von Müller oder Ludwig, vermuten, dass auch

Helmholtz selbst sich der ethischen Herausforderung bewusst war, die sich jeder Forscher

und Mensch immer wieder stellen muss, wenn er über den Einsatz von Tierexperimenten

entscheidet. Gleichwohl erhielt der Frosch, gestützt durch Galvanis und Voltas Versuche,

aber auch durch du Bois-Reymond eher den Status einer Maschine, eines organischen

Werkzeuges und Bauteils. Wurde der tierische Organismus in Analogie zur Maschine

betrachtet, so fanden die Muskel- und Nervenleitversuche generell in einer Zeit des

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Maschinenglaubens in der sich industrialisierenden Welt statt.309 Die sich entwickelnde

Telegraphie fand mit Gauss' und Webers Spiegel- und Fernrohr-Ablesemethode, die

auch in der Geophysik Anwendung fand, direkten Eingang in Helmholtz' Labor.

Helmholtz sah den telegrafischen Kommunikationsprozess aber auch in Analogie zu

Abläufen der Nachrichtenübertragung auf den Nervenbahnen im menschlichen Körper.

Mit dem Bau des verbesserten Myographen kommt Helmholtz auf die zu Beginn seiner

Versuche zur Muskelbewegung eingesetzte Methode der maschinellen

Kurvenzeichnung zurück. Die Rückkehr zu dieser Methode verdeutlicht, wie wichtig es

war, seine Forschungsergebnisse anschaulich und schnell einem Publikum vorzustellen.

Davon konnte regelrecht der Erfolg eines Projektes abhängen, denn, wie Helmholtz am

eigenen Leib erfuhr, war die allein zu fachlich formulierte und knappe

Berichterstattung, an eine teilweise nur spärlich vorgebildete beziehungsweise aus

anderen Forschungszweigen stammende Zielgruppe, ein schwieriges Unterfangen. Der

Myograph sollte die Kommunikation der Forschungsergebnisse erleichtern. Bei dieser

Apparatur bediente sich Helmholtz, auch im Rückgriff auf Ludwigs Kymographen, der

Technologie von Dampfmaschinen – ein weiteres Beispiel für den Technologietransfer

aus physiologie-fremden Gebieten. Ermöglicht wurden diese Transfers auch durch das

Forschungsnetzwerk, das sich innerhalb der Forschungsgemeinde und zwischen den

Forschern der verschiedensten Disziplinen spannte, wobei Emil du Bois-Reymond

immer eine wichtige Mittlerrolle spielte. Beide Schüler von Johannes Müller und

Mitglieder in der Physikalischen Gesellschaft tauschten sich über die Jahre intensiv in

Briefen über ihre Forschungsarbeit und insbesondere auch Helmholtz' nerven-

physiologische Arbeiten aus. Du Bois-Reymond beriet Helmholtz, stellte Kontakte zu

Wissenschaftlern, Mechaniker und Kupferstechern her, stellte Helmholtz' Berichte in

der Berliner Akademie und in Paris vor, schrieb die Berichte sogar in eine

verständlichere Form um und ermöglichte dadurch sicherlich auch den eintretenden

Erfolg von Helmholtz Unterfangen. Aber auch Mechaniker wie Halske oder Rekoss, die

Teile von Apparaten für Helmholtz bauten und mit ihm abstimmten, spielten ein große

Rolle beim Gelingen der Versuche. Nichtzuletzt Helmholtz' Frau Olga, die diverse

Assistenzaufgaben übernahm, als Versuchsperson fungierte und sogar eigene Versuche

309 Vgl.: Schmidgen 2009 – Die Helmholtz-Kurven, S. 17; Siehe dazu auch Brain, Robert M.; Wise, Norton M. (1994): Indicator Diagrams and Helmholtz's Graphical Methods. In: Lorenz Krüger (Hg.): Universalgenie Helmholtz. Rückblick nach 100 Jahren. Berlin: Akademie Verlag, S. 124–145

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durchführte, ist ein wesentlicher Bestandteil der Experimente und eine genauere

Untersuchung ihres Anteils, der in dieser Arbeit nicht stattfand, wäre sicherlich

lohnenswert.

In seiner Rezension von Schmidgens „Helmholtz-Kurven“, die auch für die Verfassung

der vorliegenden Arbeit eine große Bedeutung gespielt hat, bringt Stefan Rieger die

Problematik aber auch die Notwendigkeit von Arbeiten, die sich auf die Apparate und

ganze Forschungsmaschinen konzentrieren, zum Ausdruck.310 So würde ihnen häufig

ihre Akribie und Materialverliebheit vorgeworfen und ihre Relevanz für ein breiteres

Publikum in Zweifel gezogen. Rieger hebt dagegen hervor, dass diese Form der

Wissenschaftsgeschichtsschreibung – eine kulturwissenschaftlich geprägte, möchte ich

hinzufügen – jedoch den Weg frei mache auf einen andere Sicht auf die Wissenschaft

und das Wissen selbst. Er schreibt:

[Diese andere Sicht] bricht mit den Mythen eines ingenialen und intentionalen Forschungshandelns und stellt den Wissenschaftsbetrieb selbst als Forschungsmaschine dar, die Kontingenzen produziert und prozessiert: Dieses Wissen ist ohne Kenntnis ihrer Bestandteile, den Laboratorien und Instituten, den Apparaturen und Experimentalanordnungen, aber auch den Usancen der Publikationspolitik und den Eigendynamiken der Forschungshandelns nicht zu haben.311

Die vorliegende Arbeit versucht auf eben diese Weise, wenn auch nicht alle

erwähnenswerten Bereiche Berücksichtigung finden konnten, ein Licht auf die

Forschungsmaschine, die sich um Helmholtz' Versuche zur Nervenleitgeschindigkeit

entfaltete, zu werfen und dadurch das Spektrum einer neuen Sichtweise auf die

Forschungspraxis zu eröffnen.

310 Vgl. im Folgenden: Rieger, Stefan: Henning Schmidgen, Die Helmholtz-Kurven. Auf der Spur der verlorenen Zeit. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 34 (2011): Rezensionen. WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim. S. 82-83, hier S. 83311 Rieger, Stefan: Henning Schmidgen, Die Helmholtz-Kurven. Auf der Spur der verlorenen Zeit. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 34 (2011): Rezensionen. WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim. S. 82-83, hier S. 83

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7. Abbildungsverzeichnis

Umschlaggestaltung/Titelcollage: Franziska Roeder

Abbildung 1: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 365, Fig. 3

Abbildung 2: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 365, Fig. 1

Abbildung 3: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 365, Fig. 1

Abbildung 4: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 365, Fig. 7

Abbildung 5: Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 365, Fig. 6

Abbildung 6: Meyers Konversationslexikon (1885-1892), Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, S. 880

Abbildung 7: Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 217, Fig. 1

Abbildung 8: Langendorff 1891 – Physiologische Graphik, S. 195

Abbildung 9: Combes (1855): Ueber einen Druck Indicator für Dampfmaschinen. In:‐ Polytechnisches Journal 135, S. 246–256. Online verfügbar unter http://dingler.culture.hu-berlin.de/article/pj135/ar135054, zuletzt geprüft am 15.11.2011

Abbildung 10: Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 217, Fig. 1

Abbildung 11: Langendorff 1891 – Physiologische Graphik, S. 276

Abbildung 12: Langendorff 1891 – Physiologische Graphik, S. 278

Abbildung 13: Langendorff 1891 – Physiologische Graphik, S. 53

Abbildung 14: Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 217, Fig. 1

Abbildung 15: Foto: Mirko Junge (Wikipedia, CC-BY-SA)

Abbildung 16: Foto: Franziska Roeder

Abbildung 17: Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 217, Fig. 1

Abbildung 18: Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 20, Fig. 6

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Abbildung 19: Sarton, George (1952): A Guide to the History of Science. A First Guide for the Study of the History of Science With Introductory Essays on Science and Tradition. Waltham, Mass., U.S.A.: Chronica Botanica Company, S. 39

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• Volta, Alessandro (1900): Briefe über thierische Elektricität (1792). Oswald’s Klassiker der exakten Wissenschaften Nr. 114, Hg. von A.J. von Oettingen. Leipzig

• Vorträge und Reden von Hermann von Helmholtz (1903). 5. Aufl. 2 Bände. Braunschweig: Vieweg und Sohn (1)

• Wagner, Johann Jacob (1803): Von der Natur der Dinge. Leipzig: Breitkopf und Härtel. Online verfügbar unter http://books.google.de/books?id=idMAAAAAcAAJ&hl=de&pg=PA1-IA1#v=onepage&q=arteri%C3%B6se&f=false, zuletzt geprüft am 11.11.2011

• Weber, Eduard (1846): Muskelbewegung. In: Rudolph Wagner (Hg.): Handwörterbuch der Physiologie mit Rücksicht auf physiologische Pathologie, 3, Teil 2. Braunschweig: Vieweg, S. 1–122

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