Kombiniertes Auftreten von amyotropher Lateralsklerose und Multipler Sklerose

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Nervenarzt 2007 · 78:1440–1443DOI 10.1007/s00115-007-2340-yOnline publiziert: 19. September 2007© Springer Medizin Verlag 2007

B. Machner1 · S. Gottschalk2 · H. Kimmig1 · C. Helmchen1

1 Klinik für Neurologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck2 Institut für Neuroradiologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck

Kombiniertes Auftreten von amyotropher Lateralsklerose und Multipler Sklerose

Kasuistiken

Die mittlere Inzidenz der Multiplen Skle-rose (MS) in Europa beträgt durchschnitt-lich 4,3/100.000 Menschen, mit entspre-chenden Schwankungen in Abhängig-keit von regionaler und ethnischer Zuge-hörigkeit [12]. In Deutschland leben der-zeit etwa 120.000 Patienten mit einer Mul-tiplen Sklerose [8]. Die amyotrophe Late-ralsklerose (ALS) ist mit einer Inzidenz von ca. 1,5/100.000 Menschen (0,4–2,6) die häufigste Motoneuronerkrankung in den westlichen Industriestaaten [2, 9]. In Deutschland leben derzeit etwa 6000 Pa-tienten mit einer ALS.

Das gemeinsame Auftreten beider Er-krankungen ist hingegen eine außeror-dentliche Seltenheit, die Wahrscheinlich-keit einer Koinzidenz wird auf 3/10 Mrd. Menschen pro Jahr geschätzt [5]. Tatsäch-lich finden sich in der Literatur in den ver-gangenen 20 Jahren nur 3 gesicherte Fälle einer kombinierten MS und ALS [4, 5, 6], in Deutschland ist ein derartiger Fall bis-her nicht beschrieben worden.

Wir berichten im Folgenden über eine Patientin mit der seltenen koinzidenten Kombination beider Erkrankungen. Wir diskutieren die Beteiligung des 2. Mo-toneurons bei MS-Patienten, und wie sie den Beginn einer Motoneuronerkrankung im frühen Stadium maskieren kann.

Fallbeschreibung

Anamnese

Die 55-jährige kaufmännische Angestell-te berichtete bei Erstvorstellung über eine seit 6 Monaten bestehende, langsam pro-grediente Gangstörung. Gleichzeitig hat-

te sie eine leichte Schwäche in der linken Hand bemerkt. Sensible Symptome waren bis auf transiente Kribbelparästhesien der linken Hand nicht aufgetreten. Seit 3 Mo-naten wurde die Aussprache zunehmend verwaschen, 2 Wochen vor der Aufnahme fielen ihr Probleme beim Schlucken fester Speisen auf. Darüber hinaus bemerkte die Patientin seit etwa 2 Wochen unwillkür-liche Muskelzuckungen in einzelnen Mus-keln des linken Arms. Die weitere Kran-kenvorgeschichte sowie die Familiena-namnese waren unauffällig.

Klinischer Befund

Klinisch-neurologisch fand sich bei Erst-vorstellung eine distal betonte spastische Paraparese vom Kraftgrad 4, eine mä-ßige Dysarthrie und leichte Dysphagie sowie einzelne Faszikulationen im lin-ken M. biceps. Bis auf die Handmuskeln links (Thenar, Hypothenar, Interosseii), die eine geringgradige Atrophie aufwie-sen, zeigte sich ein normales Muskelre-lief der übrigen Muskulatur. Die Okulo- und Pupillomotorik waren wie die üb-rigen Hirnnerven unauffällig, der Masse-terreflex normal auslösbar. Die Muskelei-genreflexe waren an den oberen Extremi-täten seitengleich lebhaft, an der unteren Extremität mit verbreiterten Reflexzonen seitengleich gesteigert auslösbar, jedoch ohne Pyramidenbahnzeichen. Die Bauch-hautreflexe waren erhalten, der Trömner-Reflex beidseits positiv. Der Muskeltonus war in den oberen Extremitäten normal, in den unteren Extremitäten mäßig ge-steigert. Das Gangbild war spastisch-atak-tisch. Bis auf eine diskrete Hypästhesie der

Fingerkuppen an den Digiti I und II der linken Hand fanden sich keine Hinweise für Störungen der Sensibilität.

Diagnostik

Das Elektroenzephalogramm (EEG) so-wie die visuell und akustisch evozierten Potenziale (VEP, AEP) zeigten Normal-befunde. Die Ableitungen des Blink- und Masseterreflexes waren ebenfalls unauffäl-lig. Die somatosensibel evozierten Potenzi-ale (SEP) des N. medianus sowie des N. ti-bialis beidseits zeigten normale Latenzen.

Die kraniale Magnetresonanztomogra-phie (cMRT) zeigte zahlreiche (n=12) pe-riventrikulär (insbesondere um beide Sei-tenventrikelhörner), im mittleren Bal-kendrittel sowie im Marklager (rechts temporal und frontal) gelegene T2-Läsi-onen (. Abb. 1a,b).

In der spinalen MRT fanden sich zwei weitere exzentrisch, im zervikalen Mye-lon gelegene T2-Läsionen ohne Kontrast-mittelaufnahme (. Abb. 1c). Die bild-morphologischen McDonald-Kriterien zur Diagnose einer MS waren damit er-füllt [10, 11].

Im Liquor fand sich eine lymphomo-nozytäre Pleozytose (66/3/μl) mit leicht erhöhtem Gesamteiweiß (50 mg/dl). Es ließen sich eine autochthone IgG-Synthe-se (29,5%) und oligoklonale IgG-Banden nachweisen. Der Delpech-Lichtblau-Quo-tient betrug 1,0. Die MRZ-Reaktion (au-tochthone Masern-, Röteln-, Zoster-Anti-körper) als Hinweis auf einen chronisch-entzündlichen ZNS-Prozess war positiv.

Die routinemäßigen Laboruntersu-chungen waren inklusive der Autoim-

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Zusammenfassung · Summary

Nervenarzt 2007 · 78:1440–1443   DOI 10.1007/s00115-007-2340-y© Springer Medizin Verlag 2007

B. Machner · S. Gottschalk · H. Kimmig · C. HelmchenKombiniertes Auftreten von amyotropher Lateralsklerose und Multipler Sklerose

ZusammenfassungDas gemeinsame Auftreten von amyotropher Lateralsklerose (ALS) und Multipler Sklero-se (MS) ist extrem selten. Wir berichten über eine 55-jährige Patientin, die sich mit einer seit 6 Monaten progredienten Gangstörung und einer seit 3 Monaten zunehmend ver-waschenen Aussprache vorstellte. Klinisches Korrelat war eine spastische Paraparese und eine leichtgradige Dysarthrie und Dysphagie. Aufgrund zusätzlicher paraklinischer Hinwei-se (multiple periventrikuläre Marklagerläsi-onen und zervikale Plaques im MRT, Autoim-munreaktion im Liquor mit autochthoner IgG-Produktion) waren die diagnostischen Kriterien einer Multiplen Sklerose erfüllt. 

Im Verlauf traten innerhalb von 3 Mo-naten generalisierte Faszikulationen, Atro-phien der kleinen Handmuskeln sowie bul-bäre Symptome (Dysarthrie und Dysphagie) in den Vordergrund. Elektromyographisch zeigten sich generalisierte akute und chro-

nische Denervierungszeichen mit patholo-gischer Spontanaktivität in allen Extremitäten ohne Hinweis für neurographische Leitungs-blöcke. Somit waren klinisch und elektrophy-siologisch auch die El-Escorial-Kriterien für ei-ne ALS erfüllt. 

Gleichwohl MS-Plaques in den Vorderhör-nern zu peripherer Denervierung führen kön-nen, ist aufgrund der ausgeprägten Zeichen einer generalisierten Beteiligung des 2. Mo-toneurons bei unserer Patientin von der sel-tenen Koinzidenz einer MS und ALS auszu-gehen. In der klinischen Praxis sollten peri-phere Denervierungszeichen bei Patienten mit „sicher“ diagnostizierter Multipler Sklero-se auch an eine Motoneuronerkrankung den-ken lassen.

SchlüsselwörterAmyotrophe Lateralsklerose · Multiple  Sklerose · Periphere Denervierung

Simultaneous presentation of amyotrophic lateral sclerosis and multiple sclerosis

SummaryThe concurrence of amyotrophic lateral scle-rosis (ALS) and multiple sclerosis (MS) is ex-tremely rare. We report on a 55-year-old fe-male patient presenting with a progressive gait disorder for 6 months and a speech dis-order for 3 months. Neurological examination revealed a spastic paraparesis and mild dys-arthria and dysphagia. Technical and labora-tory investigations met the diagnostic criteria for MS: magnetic resonance imaging showed multiple periventricular white matter and cervical lesions; cerebrospinal fluid showed a typical autoimmune response. Within the fol-lowing 3 months generalized fasciculations, atrophy of the small hand muscles and bul-bar signs were noticed. Nerve conduction studies revealed acute and chronic signs of 

denervation in all limbs without nerve con-duction block. Hence clinical and paraclini-cal examination met the El Escorial criteria for ALS. Although myelitic lesions in the anteri-or horn cells may lead to peripheral segmen-tal denervation, the generalized denervation suggested the unusual coincident combina-tion of ALS and MS in this patient. In clinical praxis motoneuron diseases should also be considered in patients with pronounced pe-ripheral denervations once “definite” MS has been diagnosed.

KeywordsAmyotrophic lateral sclerosis · Multiple  sclerosis · Peripheral denervation

mundiagnostik (ANA, ANCA, dsDNA, RF) und der mikrobiologischen Erreger-diagnostik unauffällig.

Therapie und Verlauf

Aufgrund der Hinweise für eine chro-nisch entzündliche ZNS-Erkrankung bei der Erstvorstellung erhielt die Patientin intravenös Methylprednisolon 1000 mg über 3 Tage, ohne dass es darunter zu ei-ner Besserung der Gangunsicherheit kam. Die Patientin gab mehr Sicherheit unter krankengymnastischer Behandlung an, jedoch ohne Änderung des objektivier-baren neurologischen Befundes bei der Entlassung.

Drei Monate nach der initialen Präsen-tation stellte sich die Patientin erneut vor. Im Verlauf hatten die Beschwerden deut-lich zugenommen. Selbständiges Trep-pensteigen war unmöglich geworden. Sprech- und Schluckstörung hatten weiter zugenommen, die orale Nahrungsaufnah-me war erschwert möglich. Die initial nur in einzelnen Muskeln im linken Arm be-stehenden Muskelzuckungen traten nun auch in den übrigen Extremitäten auf.

Klinisch-neurologisch fand sich bei der Verlaufsuntersuchung eine Zunahme der distal betonten spastischen Parapare-se vom Kraftgrad 3–4, eine mittelgradi-ge Dysarthrie und mäßige Dysphagie so-wie generalisierte Faszikulationen in al-len Extremitäten. Auch die Zunge zeigte deutliches Fibrillieren, jedoch ohne Hin-weise für eine Atrophie der Zungenmus-kulatur. Die Atrophie der kleinen Hand-muskeln links hatte weiter zugenommen, es zeigte sich darüber hinaus eine begin-nende Muskelatrophie des linken Ar-mes ohne manifeste Parese bei erhaltenen Muskeleigenreflexen (MER) der oberen Extremität. Weiterhin fanden sich bis auf leichte Kribbelparästhesien in den Finger-spitzen der linken Hand keine Störungen der Sensibilität.

Die paraklinische Diagnostik wur-de daher um eine Neuro- und Myogra-phie, zusätzliche Labor- und Liquorunter-suchungen sowie eine Tumorsuche (PET, Szintigraphie, Antikörper) erweitert und die kraniale und spinale MRT wiederholt:

Die Neuro- und Myographie zeigte ei-ne generalisierte, rein motorische Erkran-kung mit Nachweis von Spontanaktivität

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(positive scharfe Wellen, Fibrillationen) und chronisch neurogenem Umbau in al-len 4 Extremitäten ohne Nachweis eines Leitungsblocks oder einer Reduktion der motorischen und sensiblen Nervenleitge-schwindigkeiten (inklusive F-Wellen: un-tersucht in je 2 Nerven einer Extremität; El-Escorial-Kriterien [3]).

Die spinale und kranielle MRT zeigte unverändert die zahlreichen periventriku-lären Marklagerläsionen sowie die zervi-kalen myelitischen Plaques.

Im Liquor war die Zellzahl auf 9/3/µl gefallen, weiterhin fanden sich oligoklo-nale Banden im Liquor. τ-Protein und β-Amyloid im Liquor lagen im Normbe-reich.

Bei den Laboruntersuchungen waren die antineuronalen Antikörper (Yo, Hu, Ri, Ma2, CV2, Amphiphysin) negativ. An-tikörper gegen Gangliosid-GM1 (IgG) wa-ren erhöht (1259 BTU, Norm <1000), die Antikörper gegen Gangliosid-GM2 (IgM) lagen im Referenzbereich. Die basalen Schilddrüsenhormone (fT3, fT4, TSH) waren normwertig, die TPO-AK im Se-rum erhöht (1323 kIU/l).

Ein Tumor konnte in einer Ganzkör-perpositronenemissionstomographie (PET) nicht nachgewiesen werden. Die Schild-drüsenszintigraphie zeigte einen „heißen“ Knoten im Sinne einer fokalen Autono-mie ohne Malignitätsverdacht.

Aufgrund der erfüllten El-Escorial-Kriterien (. Tab. 1) mit Zeichen des 1. und 2. Motoneurons in 3 Regionen konn-te schließlich die zweite Diagnose einer

definitiven amyotrophen Lateralsklerose gestellt werden. Diese Zuordnung stützt sich bei unserer Patientin auf Zeichen des 1. und 2. Motoneurons in folgenden Regi-onen: lumbosakral (Paraspastik und Fas-zikulationen der unteren Extremität), zer-vikal (atrophische Paresen der oberen Ex-tremität bei erhaltenen Muskeleigenref-lexen/Trömner) und bulbär (Dysphagie und Dysarthrie, Fibrillationen der Zun-genmuskulatur).

Insbesondere wegen der raschen Pro-gredienz (Gangunsicherheit, Dysarthrie) wurde die Behandlung mit Riluzol (Rilu-tek®) begonnen.

Diskussion

Die klinische Präsentation im Frühsta-dium der Erkrankung mit einer progre-dienten Gangstörung und einer spasti-schen Paraparese im neurologischen Be-fund war unter Berücksichtigung der Zu-satzbefunde (MRT, Liquor) vereinbar mit der Diagnose einer chronisch entzünd-lichen ZNS-Erkrankung, am ehesten ei-ner Multiplen Sklerose mit primär chro-nisch progredientem Verlauf.

Die MRT-Veränderungen mit peri-ventrikulär gelegenen Marklagerläsionen waren charakteristisch für eine MS, eben-so die Autoimmunreaktion im Liquor mit autochthoner IgG-Produktion und oligo-klonalen Banden.

Auch die initialen klinischen Zeichen einer Beteiligung des 2. Motoneurons wa-ren noch mit der Diagnose einer MS ver-

einbar. Tatsächlich sind gerade die bei unserer Patientin nachgewiesenen Atro-phien der kleinen Handmuskeln bei MS-Patienten beschrieben worden [14]. Sie werden meist auf Plaques im zervikalen Rückenmark zurückgeführt, wie sie sich auch in der spinalen MRT bei unserer Pa-tientin zeigten. In späteren Stadien kön-nen Immobilität oder die Nutzung eines Rollstuhls zu ähnlichen Ausfällen durch Druckläsionen peripher Nerven führen.

Obgleich eine Schädigung des 2. Mo-toneurons bei MS-Patienten, z. B. durch Demyelinisierung im spinalen Vorder-hornbereich, vorkommt, lassen sich die generalisierten Faszikulationen an den Armen wie auch an beiden Beinen und die ausgeprägten neurogenen Denervie-rungszeichen im EMG nicht mit den zer-vikalen myelitischen Läsionen unserer Pa-tientin erklären.

Aufgrund der im Verlauf rasch progre-dienten Schädigung des 2. Motoneurons (generalisierte Faszikulationen), der Schä-digungszeichen des 1. Motoneurons, der im Vordergrund stehenden Bulbärsymp-tomatik bei Aussparung der Sensibilität und der elektrophysiologischen Zusatz-untersuchungen (Elektroneuro-/Myogra-phie) waren die El-Escorial-Kriterien für die Diagnose einer amyotrophen Lateral-sklerose erfüllt.

Die ausgeprägten Marklagerläsionen im MRT hingegen gehen weit über die bei einigen ALS-Patienten beschrie-benen subkortikalen Läsionen im fronta-len Marklager hinaus [1]. In MRT-Studien

Abb. 1 8 a, b Kranielles MRT (Flair-Sequenz). Im Verlauf der Pyramidenbahn ist eine geringe Signalsteigerung beidseits zu sehen (Linienpfeile), wie sie bei der ALS vorkommen kann. Unabhängig davon zeigen sich für die MS typische Läsionen des periventrikulären und tiefen Marklagers (gestrichelte Pfeile). c MRT des Spinalkanals (T2-Wichtung). Transversale Schicht in Hö-he C1/2: exzentrisch im Rückenmark gelegene Läsion mit dem typischen Aspekt einer MS-Läsion (gestrichelter Pfeil)

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Kasuistiken

zur ALS wurden mit Hilfe des Diffusion-Tensor-Imaging (DTI) Schädigungen des Tractus corticospinalis identifiziert, die durch Abnahme der fraktionierten Ani-sotropie bildlich dargestellt werden kön-nen [13]. Auch in diagnostischen Routine-sequenzen wie der Flair-Sequenz wurden leichte Signalsteigerungen in der Pyra-midenbahn bei der ALS beschrieben [7]. Diese fanden sich auch bei unserer Pati-entin (. Abb. 1), sie können aber eben-falls bei Gesunden beobachtet werden. Ei-ne DTI-Messung wurde bei unserer Pati-entin nicht durchgeführt.

Auch die Autoimmunreaktion im Li-quor unserer Patientin ist nicht mit den Liquorveränderungen vereinbar, die bei der ALS beschrieben wurden. Obwohl spezifische Marker bislang fehlen, findet man bei einem Teil der ALS-Patienten ei-ne milde Schrankenstörung (erhöhtes Ge-samteiweiß) sowie in der Frühphase der Erkrankung eine Erhöhung des τ-Pro-teins, jedoch bislang keine oligoklonale Banden [15].

Die typischen MRT-Veränderungen und die Autoimmunreaktion im Liquor stützen daher die Diagnose einer MS.

Rückblickend war die klinische Erst-manifestation mit einer zunehmenden Gangstörung und Zeichen einer spas-tischen Paraparese sowohl mit einer MS wie auch mit einer Motoneuronerkran-kung vereinbar. Hingegen wären klinisch objektivierbare Sensibilitätsstörungen ein Differenzierungskriterium zwischen bei-den Erkrankungen. Die von der Patien-tin angegebenen Parästhesien konnten je-doch nicht sicher als Schub gewertet wer-den.

Weitere Differenzialdiagnosen wie die multifokale motorische Neuropa-thie (MMN) oder spinale Muskelatro-phie (SMA) sind aufgrund zentraler Zei-

chen, fehlender Leitungsblöcke in der Neurographie und der unauffälligen Fa-milienanamnese unwahrscheinlich. Ein (para)neoplastisches Syndrom konnte bei der Patientin weitgehend ausgeschlossen werden (PET, antineuronale Antikörper).

Unter Berücksichtigung des klinischen Verlaufs sowie der gesamten parakli-nischen Untersuchungen musste bei der Patientin schließlich die seltene Kombina-tion einer chronisch entzündlichen ZNS-Erkrankung (Multiple Sklerose) und einer Motoneuronerkrankung (amyotrophe La-teralsklerose) diagnostiziert werden.

Fazit für die Praxis

Wir sehen in dem Auftreten dieser bei-den Erkrankungen (ALS, MS) bei unserer Patientin keinen kausalen Zusammen-hang. Für eine gemeinsame Pathogene-se fehlen bisher theoretische und patho-physiologische Hinweise, so dass es sich in diesem Fall wohl um die extrem sel-tene Koinzidenz einer ALS und MS han-delt. Dieser Bericht unterstreicht die Notwen-digkeit der klinischen Aufmerksamkeit, neue Symptome bei einer sicheren MS auf ihre Plausibilität zu überprüfen, sie kritisch in das bisherige Krankheitsbild einzuordnen und auch eine seltene, aber mögliche, zweite Diagnose in Betracht zu ziehen.

KorrespondenzadresseDr. B. MachnerKlinik für Neurologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus LübeckRatzeburger Allee 160, 23538 LübeckBjoern.Machner@neuro.uni-luebeck.de

Interessenkonflikt.  Der korrespondierende Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

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Tab. 1  Revidierte El-Escorial-Diagnosekriterien (nach Brooks et al. [3])

Kriterien Diagnose

Zeichen des 2. MN nur in ≥ einer Region ODERZeichen des 1. MN nur in ≥ einer Region

Vermutete ALS

1. und 2. MN in einer Region Mögliche ALS

1. und 2. MN in einer Region ODER 1. MN ≥ einer RegionUNDakute Denervierung ≥ 2 Extremitäten im EMG

Wahrscheinliche „laborgestützte“ ALS

1. und 2. MN in 2 Regionen Wahrscheinliche ALS

1. und 2. MN in 3 Regionen Definitive ALSMN Motoneuron; Region bulbär, zervikal, thorakal und lumbosakral.

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