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Jens Ruchatz
Du bist Deutschland und die Popularität des Stars. Muster für Inklusion
und Individualisierung
[Erschienen in: Christian Huck/Carsten Zorn (Hg.), Das Populäre der Gesellschaft,
Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2007, S. 168-194]
And to know yourself is to be yourself
The Go-Betweens, Boundary Rider, 2005
Am 26. September 2005 wird zur besten Sendezeit, nach den Hauptnachrichten der
Tagesschau, auf allen großen Fernsehkanälen zeitgleich ein zweiminütiger Spot ausgestrahlt,
in dem eine Reihe prominenter und nicht prominenter Bundesbürger einen Appell vorträgt,
der – durch den repetitiv eingesetzten Slogan „Du bist Deutschland“ pointiert – darauf abzielt,
„zu einer neuen Aufbruchstimmung in Deutschland beizutragen. Die Kampagne will die
Menschen bewegen und aufrütteln. Und sie soll dazu führen, dass jeder wieder positiver,
zuversichtlicher und motivierter in die Zukunft blickt. Denn: Es kommt auf jeden Einzelnen
an, jede Leistung zählt. Wenn alle ihren Teil beitragen, können wir in Deutschland viel
bewegen.“ (Was ist das Ziel 2005; vgl. auch Lutz 2005) Um durch solch ein Plädoyer für
individuelle Eigeninitiative das kollektive Wohl zu befördern, initiieren einige
Werbeagenturen, Fernsehstationen von ARD über RTL bis hin zu Pro7, Medienunternehmen
wie Bertelsmann sowie die großen Zeitungsverlage eine mehrmonatige ‚Imagekampagne‘ –
wie es in einer Pressemitteilung der Organisatoren stolz heißt, „die größte Social Marketing
Kampagne in der Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland“.
Das Herzstück der Kampagne bildet ein etwas pompös als „Manifest“ (2005) titulierter Text.
Im Fernsehspot wird er in den Mund von einigen ‚unbekannten‘ Deutschen, in der Mehrzahl
aber von Prominenten gelegt, die an verschiedenen – wie beim Holocaust-Mahnmal, der
Münchener Allianz-Arena oder dem Hamburger Hafen teilweise auch identifizierbaren –
Orten aufgenommen wurden. Der Text ermächtigt einerseits das Individuum, in dem er nicht
nur zu Aktivität und Initiative ermuntert, sondern überdies die überragende Rolle des
Einzelnen für das Gemeinwesen – hier patriotisch als „Deutschland“ angesprochen –
herausstreicht. So werden unter anderem popularisierte Bestände der Chaostheorie
mobilisiert, um auch kleinste Veränderungen mit überraschend großen Effekten in
Zusammenhang zu bringen: „Ein Schmetterling kann einen Taifun auslösen“, beginnt der
2
Appell: „Der Windstoß, der durch seinen Flügelschlag verdrängt wird, entwurzelt vielleicht
ein paar Kilometer weiter Bäume. Genauso, wie sich ein Lufthauch zu einem Sturm werden
kann, kann deine Tat wirken.“ (Manifest 2005)1
Im Rahmen der Kampagne wird diese Ermächtigungsstrategie am stärksten auf der
Kampagnen-Homepage inszeniert, auf der sich jeder selbst zum Teil der Kampagne machen
kann, indem er ein Porträt zusammen mit Namen, Wohnort und einem persönlichen
Bekenntnis öffentlich zugänglich macht. Kombiniert zu zahllosen Mosaiken aus winzigen
Porträts, über die die individuellen Botschaften aufgerufen werden können, werden die
Einzelnen optisch allerdings wieder in einem Kollektiv aufgehoben, das sich zu der
Zielsetzung der Kampagne bekennt. „Du bist Deutschland – und du bist nicht allein“, heißt es
dazu in dem daneben angeordneten Frame. „Hier siehst du, wer sich bis jetzt zu Deutschland
bekannt und ein persönliches Statement abgegeben hat.“ (Galerie 2005). Schließlich wird
auch die klassische popkulturelle Möglichkeit angeboten, sich – analog zu einem Fan – durch
Konsum zu positionieren, indem man T-Shirts, Baseball-Caps, T-Shirts oder Kaffeebecher
mit dem Kampagnenlogo erwirbt und öffentlich zur Schau trägt.2
Das zum unverzichtbaren Fundament einer Gemeinschaft, der deutschen Nation, ermächtigte
Individuum wird aber andererseits – wie so häufig, wenn nationale Semantiken bemüht
werden – zugleich in die Pflicht genommen. Wohl und Wehe der nationalen Gemeinschaft
wird sprachlich dem Individuum aufgeladen. Die Aussage, „Du hältst den Laden zusammen.
Du bist der Laden“, markiert diese semantische Wende innerhalb des ‚Manifests‘, weil sie
noch beide Bedeutungsnuancen enthält. In der Folge wird dann aber die Konsequenz gezogen,
was es bedeutet, wenn man Deutschland ist: „Frage dich nicht, was die anderen für dich tun.
Du bist die anderen.“ (ebd.)3 Und schließlich endet die Botschaft in der Aufforderung, sich für
das eigene Land zu engagieren, anstatt Forderungen an es zu stellen: „Behandle dein Land
doch einfach wie einen guten Freund. Meckere nicht über ihn, sondern biete ihm deine Hilfe
an. Bring die beste Leistung, zu der du fähig bist.“ (ebd.) Damit wird die anfängliche
1 In den Internet-Blogs, die die Kampagne diskutieren, wird die unfreiwillige Komik des Arguments markiert: Wenn schon
ein Schmetterling einen Taifun auslösen könne, solle man dann nicht besser gar nichts tun? In der Tat besagt die
Chaostheorie ja, dass die Folgen eines jeden Ereignisses – im guten wie im schlechten – tendenziell unkalkulierbar sind. Aus
solch einer Einsicht eine Handlungsorientierung ableiten zu wollen, ist schlechterdings grotesk. Eine weitere Bizarrerie
unterläuft dem Ermächtigungsargument, wenn gegen Ende des Textes Subjekt und Objekt der Aktivität auf verwirrende
Weise verwischt werden. Wenn es heißt: „Schlag mit deinen Flügeln und reiß Bäume aus. Du bist die Flügel, du bist der
Baum“, ist dann ernstlich gemeint, das Individuum soll sich selbst ‚ausreißen‘ und entwurzeln? 2 Man kann fragen, warum das Bekenntnis dort dann allerdings nicht „Ich bin Deutschland“ lautet, sondern weiterhin mit
dem „du“ das beobachtende Gegenüber angesprochen wird. 3 Man kann hier eine Anspielung an die John F. Kennedys bei seiner Inaugurationsrede geäußerte Formulierung, „[a]sk not
what your country can do for you, ask what you can do for your country“ sehen, wobei im Fall von Du bist Deutschland das
politische Gemeinwesen kaschiert wird durch „die anderen“. Die Verantwortung des einzelnen wird dadurch extrem
personalisiert.
3
Argumentation umgekehrt und letztlich eine Bedingung angedeutet, die man erst erfüllen
muss, um als Bestandteil der Nation gelten zu können (vgl. auch Werber 2006).
Das markanteste Stilmittel des Werbetexts ist die direkte Anrede des Adressaten mit „du“.
Das mit diesem „du“ adressierte Individuum wird differenziert gegen Deutschland, aber auch
entpolitisiert schlicht gegen die anderen, letztlich gegen die Gemeinschaft; zugleich aber kann
jedes „du“ die Seite wechseln zu den anderen und Teil der Gemeinschaft werden. Nicht von
ungefähr haben die Werber von Du bist Deutschland bei der Kombination von direkter
Ansprache und Verpflichtung als Vorbild an das berühmte Plakat „Uncle Sam wants you“
gedacht, mit dem die amerikanische Armee während des I. Weltkriegs um Rekruten warb.
Oliver Voss, verantwortlicher Mitarbeiter der Werbeagentur Jung von Matt, beschreibt selbst
die persönliche Anrede in seinem Slogan „Du bist Deutschland“ als Kern des textuellen
Appells:
Der Satz paßt, weil wir den Leuten damit sagen: Es hängt an Dir, was in Deutschland
passiert. Es geht um Dich! [...] Mit der direkten und persönlichen Ansprache wollten
wir vermeiden, daß die Deutschen wieder im Dichten und Denken verharren. Wir
wollten die Leute packen. Damit jeder tut, was er kann. [...] Durch die direkte
Ansprache, indem ein Finger aus dem Fernseher hinauszeigt, ist man zum Reagieren
geradezu gezwungen. [...] Bei ‚Wir sind Papst‘ und ‚Du bist Deutschland‘ kann sich
der Leser wegen der direkten Ansprache zunächst nicht entziehen. Die Sätze sind
entwaffnend. (Das kleine Du 2005)
Man muss Voss’ Glauben an die unerschütterliche Wirkmacht der persönlichen Adressierung
keineswegs teilen, um zu erkennen, dass für die Kampagne das Individuum nicht nur das Ziel,
sondern zugleich das Mittel ist, um es kommunikativ zu erreichen. Die durch die Werbung
intendierte Einstellungsänderung wird hier angeregt, indem der als Individuum konzipierte
Adressat gewissermaßen selbst offen und offensiv zum Thema des Spots gemacht wird.
Eine solche Ansprache des Individuums ist, wie im folgenden anhand systemtheoretischer
Überlegungen zu zeigen ist, nicht nur ein wesentliches Mittel, sondern ebenso ein Anliegen
populärer Kommunikation an sich, das über Werbung im engeren Wortsinn hinausreicht. Die
Kommunikationsform des Populären bearbeitet, so die für meinen Beitrag fundamentale
These, vor allem anderen das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Diese Logik soll
im folgenden entlang des hier eingeführten Beispiels herausgearbeitet werden. Ich werde
mich aber nicht allein den in der Kampagne als Individuen konzipierten Adressaten, sondern
4
ebenso den zur Adressierung eingesetzten Individuen zuwenden, denn die Strategie, Motive
und Beschreibungsmuster durch ein – fiktives oder prominentes – Individuum für andere so
attraktiv zu machen, dass sie von diesen aufgegriffen werden, scheint mir ein zentraler Modus
populärer Kommunikation. In diesem Sinn wird es fortan weniger um die nationalistisch
vergemeinschaftende Semantik von Du bist Deutschland gehen, sondern – am semantisch
scheinbar entgegengesetzten Pol – um den Star als populäre Figur, die durch Vorbildhaftigkeit
Individualisierung erleichtert, aber zugleich zu einem paradoxen Vorgang werden lässt. Du
bist Deutschland bietet sich hier als Beispiel vor allem deshalb an, weil der Fernsehspot Stars
in konventioneller Form als Vertrauensbildner zum Einsatz bringt, während die Anzeigen-
und Plakatkampagne auf eine innovative Strategie setzt, insofern sie die Modellhaftigkeit der
prominenten Person offensiv propagiert, aber auch in ihren Grenzen reflektiert. An der selben
Kampagne lassen sich damit zwei unterschiedliche Einsatzweisen des Stars vergleichen.
Zunächst gilt es jedoch, Klarheit über die Lage des Individuums in der Moderne zu gewinnen,
um das Bezugsproblem derartiger Kommunikation plausibilisieren zu können. Unter den
diversen Ansätzen, die sich mit der Geschichte der Individualität beschäftigen, scheint mir
Luhmanns Systemtheorie als bislang brauchbarste, weil sie Individualität als soziales
Phänomen deutet und dabei sehr plausibel in einen soziologischen Theorierahmen einpasst,
ohne von so etwas wie einem anthropologischen Existential „Individualität“ auszugehen.
1. Individualität in der funktional differenzierten Gesellschaft
Während zahlreiche Soziologien, Individualisierung als eine – wenn nicht die – zentrale
Tendenz gesellschaftlicher Entwicklung in der Moderne sehen (vgl. hierzu u.a. Schroer 2001;
Kippele 1998), hat Niklas Luhmann mitsamt dem Menschen auch das Individuum aus der
Gesellschaft verbannt.4 Wenn zur Gesellschaft nur zählt, was die Form von Kommunikation
annimmt, dann finden Individuen und Individualität dort höchstens als Thema von
Kommunikation Platz. Als Absender und Adressat von Kommunikation fungiert nicht das
unteilbare Individuum, sondern allenfalls die bereits ausschnitthaft zugerichtete Form einer
Person, an die sich vergleichsweise konkret-spezifische Erwartungen richten (vgl. Luhmann
2005: 137-148; ders. 1984: 429-432). In der funktional differenzierten Gesellschaft werden
Erwartungen jedoch in der Regel sehr viel allgemeiner adressiert: an Rollen oder Programme,
die von persönlichen Unterschieden ganz gezielt absehen. Dass das Individuum für die
funktional differenzierte Gesellschaft keine praktikable Bezugsgröße mehr darstellt, hängt
4 Ob Individualität in der Moderne neu formatiert, wenn nicht überhaupt erst erfunden worden sei, ist in Kulturgeschichte
oder historischer Anthropologie nicht unumstritten (vgl. Ruchatz 2004: 163-166; Sonntag 2000).
5
also damit zusammen, dass es sich zwar irgendwie an den verschiedenen Teilsystemen der
Gesellschaft beteiligen – z.B. einkaufen, zur Kirche gehen, wählen – kann und soll, sich aber
dabei eben gerade nicht in seiner ganzen Individualität einzubringen vermag, sondern jeweils
nur in dem engen, für den jeweiligen systemischen Vollzug relevanten, Ausschnitt
interessiert.
Indem Luhmann das Individuum dermaßen an den Rand drängt, redet er jedoch ebenso wenig
einer Bedrohung der Individualität das Wort (zu derlei Positionen vgl. Schroer 2001: 15-136).
Wenn er die Individuen in der Umwelt der Gesellschaft lokalisiert, versucht er vielmehr, das
prekäre Verhältnis der funktional differenzierten Gesellschaft zu ihnen präziser zu fassen.
Dabei geht er davon aus, dass Individualität – in dem Sinn, dass es unterscheidbare einzelne
Menschen gibt – an sich keine Erfindung der Moderne sei, sondern erläutert, dass
Individualität zu Zeiten segmentärer und stratifikatorischer Gesellschaftsdifferenzierung
durch die Position des Einzelnen in der Gesellschaft – seine Angehörigkeit zu einem
Subsystem: seinem Clan respektive seiner Schicht oder seinem Stand – automatisch
zugewiesen wurde. Die funktional differenzierte Gesellschaft kann Unteilbarkeit und Einheit,
also Individualität, hingegen nur noch außerhalb ihrer Grenzen gewähren. „Das Individuum
kann nicht mehr durch Inklusion, sondern nur noch durch Exklusion definiert werden“
(Luhmann 1989: 158), denn es lässt sich einem bestimmten ausdifferenzierten
Funktionssystem nicht mehr so zuschlagen, wie man vormals – qua Geburt – fest einer
Familie oder Schicht zugeordnet war. Jeder muss an Wirtschaft, Recht, Politik und Erziehung,
aber auch an Liebe, Wissenschaft und Religion partizipieren können, dafür aber insgesamt aus
der Gesellschaft draußen bleiben. Sozial inkludiert wird der Einzelne nicht mehr als
Individuum, sondern, wie gesagt, nur noch nach Maßgabe dessen, was für die Teilnahme am
jeweiligen System möglich und erforderlich ist.
Diese Entwicklung mit Émile Durkheim als Steigerung von Individualität zu werten, wäre vor
dem Hintergrund dieser Überlegungen nicht adäquat.5 Man müsste vielmehr davon ausgehen,
dass von einer Form der Individualisierung auf eine andere umgestellt wird, nämlich von
fremdreferentieller auf selbstreferentielle Bestimmung von Individuen. In diesem
Zusammenhang werden Gesellschaft und die Festlegung der individuellen Identität relativ
entkoppelt, was zu dem Eindruck geführt haben mag, es mit zunehmender Individualisierung,
wenn nicht gar der Befreiung des Individuums zu tun zu haben. Bei solcher Emphase handelt
es sich Luhmann zufolge aber lediglich um semantische Verbrämungen des radikal neuen und
5 Luhmann grenzt sich wiederholt von der Steigerungsthese ab (1989: 155 u. 229), auch wenn er die Beschreibung
Durkheims zuvor bekräftigt (151f.). Schroer (2001: 259-262 u. 274-283) differenziert Luhmanns Verhältnis zu dieser
Tradition.
6
unumgänglichen Zwangs, sich fortan in eigener Regie als Individuum zu beobachten und zu
beschreiben (Luhmann 2005: 126).6 Die moderne Auffassung von Individualität wäre dann
weniger als humanistische Errungenschaft, denn als „Zumutung“ (1989: 215) oder nüchterner
als „Folgeproblem“ (2005: 128; vgl. auch Schroer 2001: 261f.) funktionaler Differenzierung
abzuheften – ein Folgeproblem freilich, das in der Umwelt der Gesellschaft anfällt.
Warum sollte sich die Gesellschaft – und die Wissenschaft von der Gesellschaft – dann
überhaupt noch mit den Individuen beschäftigen? Wenn Individuen so eindeutig aus der
Gesellschaft heraus fallen, dann sollten sie „den Soziologen“, wie Luhmann einmal
geschrieben hat, als Gegenstand, der seine Kompetenzen überschreitet und eigentlich in den
„Zuständigkeitsbereich“ der Psychologie fällt, nicht weiter interessieren (2005: 109). Vor
diesem Hintergrund erscheint es umso erstaunlicher, dass sich Luhmann trotzdem immer
wieder näher mit dem Individuum befasst hat. Zunächst einmal gilt auch für die
Systemtheorie die Selbstverständlichkeit, dass es ohne menschliche Individuen – und seien
diese auch in die Umwelt abgeschoben – keine Gesellschaft geben kann (ebd.: 7). Individuen
sind gewissermaßen eine ökologische Vorbedingung von Gesellschaft.7 Nur menschliches
Bewusstsein sei nämlich in der Lage Kommunikation, so formuliert Luhmann, zu „reizen“
(ebd.: 45f.). Um sich kommunikativ selbst zu reproduzieren, ist Gesellschaft also auf Input
aus ihrer psychisch-individuellen Umwelt angewiesen. Einerseits stellen Individuen als
Inklusion ihre psychische Komplexität, ihr Bewusstsein, zur Verfügung, damit
Kommunikation überhaupt an Kommunikation anschließen kann und soziale Systeme sich
reproduzieren; andererseits beziehen sich die psychischen Systeme auf Gesellschaft, um ihr
Bewusstsein in Sozialisation zu formieren, ohne dabei freilich Strukturen einfach übernehmen
zu können (vgl. Luhmann 1989: 162f.; 2005: 81f.). Inklusion und Sozialisation sind somit
wechselseitig aufeinander bezogen: „Sozialisation ist also eine Konsequenz von Inklusion,
sowie umgekehrt Inklusion eine Konsequenz von Sozialisation ist.“ (1989: 164). Diese Art
der Verknüpfung von psychischen und sozialen Systemen fasst Luhmann als Interpenetration
oder in späteren Texten als strukturelle Kopplung. Inklusion meint also nicht nur ein Recht
der Individuen, an allen Funktionssystemen beteiligt zu werden, sondern vielmehr auch eine
Erfordernis der Autopoiesis, der laufend erforderlichen Reproduktion der Gesellschaft durch
fortgesetzte Anschlusskommunikation. Die Individuen sind somit eine Ressource, für deren
6 Es ist daher kein Wunder, dass sich die komplexe Semantik des Individuums erst um 1800 ausbildet, als mit der
Durchsetzung funktionaler Differenzierung überhaupt Anlass besteht, gesondert über Individualität als Beschreibungsform
für Menschen nachzudenken (vgl. Luhmann 2005: 125f.; 1989: 158f. u. 165). 7 Dass es durchaus plausibel ist, auch existentiell notwendige Voraussetzungen in der Umwelt eines Systems zu verorten,
lässt sich am Beispiel des menschlichen Organismus leicht demonstrieren: Dieser könnte ohne Wasser, Sauerstoff in der Luft
und vieles Andere nicht existieren, ja, der Mensch hätte sich als Art ohne diese Ressourcen niemals entwickeln können. Und
doch wird man den Menschen nicht mit diesen Bedingungen verwechseln, sondern mühelos von ihnen unterscheiden.
7
Inklusionsbereitschaft die Gesellschaft, genauer gesagt: die einzelnen Funktionssysteme,
Sorge tragen müssen.
2. Werbung als populäre Kommunikationsform
Die Kampagne Du bist Deutschland spricht diese Ressource unmittelbar und scheinbar
persönlich mit dem „du“ an: Indem sie den Individuen psychische Motive offeriert, will sie
ermuntern, sich zu inkludieren und kommunikativ anzuschließen.8 Dabei setzt sie, wie
eingangs dargestellt, auf eine Mixtur aus vergemeinschaftender und individualisierender
Rhetorik, indem sie einerseits das Individuum ermächtigt und als Fundament der nationalen
Gemeinschaft würdigt, es andererseits moralisch verpflichtet, seine individuellen Vermögen
in den Dienst dieser Gemeinschaft zu stellen. Du bist Deutschland stellt Individuen, die sich
mit dem Label Deutschland identifizieren mögen,9 Motive bereicht, sich für die Gemeinschaft
zu engagieren und sich damit letztlich – in Luhmanns technokratischem Klartext –in soziale
Systeme zu inkludieren. Bei „Gemeinschaft“ und „Nation“ handelt es sich um
rückwärtsgewandte Semantiken, die Teilnahme an Gesellschaft, zumal an der für Luhmann
einzig noch existierenden ‚Weltgesellschaft‘, mit einem vielleicht kulturell, keinesfalls aber
sozialstrukturell einlösbaren Identifizierungspotential ausstatten, indem sie schrankenloser
Inklusion scharfe Exklusion gegenüberstellen. Wie die Semantik der Individualität kann auch
diejenige der Nation als Folgeerscheinung funktionaler Differenzierung angesehen werden.10
Wie Du bist Deutschland Inklusion nicht nur durch den Bezug auf das Kollektive, sondern auf
Individualität anstrebt, wird im weiteren zu diskutieren sein.
Mit ihrem Inklusionsappell leistet die Kampagne etwas, was der
Kommunikationswissenschaftler Guido Zurstiege als fundamental für alle
Werbungsanstrengungen gekennzeichnete hat: „Die Werbung versucht, durch die Produktion
und Distribution von Medienangeboten bei jeweils klar definierten Zielgruppen zwangfrei
folgenreiche Aufmerksamkeit, genauer: Teilnahmebereitschaft in Bezug auf Produkte,
8 Luhmanns Wortwahl „Beteiligung“ und „Partizipation“ legt semantisch eine Integration von Individuen in die Gesellschaft
nahe. Es gilt gleichwohl nach wie vor, dass zur Inklusion bereite Individuen nur in Ausfüllung einer Rolle (oder
allerhöchstens als Person) und auch nur durch Kommunikation (und nicht psychisch) inkludiert werden können. Ebenso
wenig kann die ‚individuelle‘ Umwelt der sozialen Systeme unmittelbar kommunikativ adressieren, wohl aber
Kommunikation in Hinblick auf größtmögliche Anschlussfähigkeit und -attraktivität für noch nicht Inkludierte angelegt
werden. 9 Guido Zurstiege (2005: 169) weist daraufhin, dass Werbung nur scheinbar alle adressiere und sich tatsächlich stets nur an
eine soziale Teilmenge, die Zielgruppe, wende. In der Tat schließt der Slogan ‚Du bist Deutschland‘ durch seine
demonstrativ patriotische Semantik einen großen Teil der verbreitungstechnisch erreichten Bevölkerung aus. Indem der
Fernsehspot auch Xavier Naidoo und Gerald Asamoah als farbige Deutsche einführt, distanziert er seine Semantik allerdings
wenigstens von einem genetisch-genealogischen Nationalismus. 10 Vgl. Luhmann (1997: 1051): „Im Begriff der Nation ebenso wie im Begriff des Menschen als Individuum und Subjekt
schafft die Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems sich einen hochplausiblen Ausweg, der es erlaubt,
Identitätsressourcen zu aktivieren, die die Funktionssysteme nicht bieten können.“
8
Leistungen, Personen und Botschaften zu produzieren.“ (Zurstiege 2001: 156) Zumeist zielt
Werbung darauf, den Konsum bestimmter Warenangebote zu verstärken, also zur Inklusion in
das ökonomische System anzuregen. Zurstiege legt allerdings wert darauf, dass sie nicht
ausschließlich für dieses System, sondern eben für alle Systeme diese Funktion erbringt:
„Teilnahmebereitschaft bedeutet im Rahmen des Wirtschaftssystems, die Bereitschaft für ein
bestimmtes Produkt zu zahlen, im Rahmen des politischen Systems die Bereitschaft, eine
bestimmte Partei zu wählen, im Mediensystem die Bereitschaft, ein bestimmtes Programm zu
rezipieren, im Religionssystem die Bereitschaft eine bestimmte Botschaft zu glauben etc.“
(Ebd.: 156) Mit dieser Begriffsbildung lässt sich auch eine Kampagne wie Du bist
Deutschland erfassen, die – insbesondere in ihrer Ausfaltung als Plakat- und Anzeigenserie –
zum Engagement in verschiedenen Systemen aufruft. Auf den Plakaten werden bekannte
Deutsche aus verschiedenen Funktionsbereichen als Erfolgsmodell vorgestellt: Für die Kunst
stehen Johann Wolfgang von Goethe, Ludwig van Beethoven, Albrecht Dürer, Helmut
Newton, Walter Gropius und Paul Kuhn, für die Politik Ludwig Erhardt und Alice Schwarzer,
für die Ökonomie Alfred Thyssen, Ferdinand Porsche, Adi Dassler und Beate Uhse, für den
Sport Max Schmeling, Michael Schumacher, Faris Al-Sultan, Franz Beckenbauer, Katarina
Witt und Claudia Pechstein, für die Massenmedien im engeren Sinn Günther Jauch und Tim
Mälzer, für die Wissenschaft Albert Einstein und für die Technik Otto Lilienthal. Zwar
versprechen die einzelnen Werbungen Belohnung in jeweils unterschiedlicher Währung – vor
allem auch Ruhm und Selbstbestätigung –, doch stets spielt ökonomische Honorierung dabei
mit.
Luhmann konzipiert Werbung neben Nachrichten und Unterhaltung als einen
Programmbereich des Systems der Massenmedien, wobei alle von der Leitcodierung
Information/Nicht-Information regiert werden. Dass einerseits die Zurechnung von
Unterhaltung und Werbung auf diesen Code Schwierigkeiten aufwirft, andererseits die
Trennschärfe einer Codierung Information/Nicht-Information zu wünschen übrig lässt, wenn
bei jeglicher Kommunikation der Informationsgehalt errechnet und von der Mitteilung
unterschieden wird (vgl. z.B. Weber 2003: 214; Werber 2000: 331-333; Zurstiege 1998: 152),
schränkt die Plausibilität dieses Vorschlags ein. Deswegen muss man allerdings noch nicht an
der wunderbaren Systemvermehrung teilnehmen (vgl. hierzu kritisch Hahn/Werber 2004) und
wie Zurstiege Werbung gleich zu einem autonomen Funktionssystem aufrufen. Wenn man
sich auch darauf einigen mag, dass Werbung stets zu der einen oder anderen Form von
Inklusion motivieren will, dann muss man theorielogisch fragen, ob auch der Umkehrschluss
9
gilt: ob also wirklich alles, was für Teilnahmebereitschaft – oder eben: Inklusion – wirbt, auch
sinnvoll der Werbung zugeschlagen werden kann.11
Mir scheint es theoriearchitektonisch produktiver, jenes Bezugsproblem, das Zurstiege der
Werbung zuweist, mit Urs Stäheli allgemeiner dem Populären zuzurechnen. Das Populäre gilt
Stäheli als eine Kommunikationsform, die quer zu den gesellschaftlichen Funktionssystemen
liegt, um für jene Inklusion zu werben, die für die Autopoiesis und Funktionserfüllung eines
jeweiligen Funktionssystems erforderlich. Das Populäre stellt demnach eine
Kommunikationsform mit einer definierten Funktion, aber ohne festen
gesellschaftsstrukturellen Ort dar, weil das von ihr bearbeitete Problem in allen
Funktionssystemen anfällt. Populäre Kommunikation behandelt die jeweilige Grenze der
Inklusion, insofern sie diejenigen umwirbt, die noch nicht am System teilnehmen.
Andererseits wird populäre Kommunikation auch als Gefahr für die Identität des Systems
beobachtet, weil sie dem systemspezifischen Kommunikationscode oft nicht oder nur
unzureichend folgt. So lässt sich beispielsweise fragen, wie weit Populärwissenschaft noch an
der Differenz wahr/unwahr orientiert ist oder inwiefern die Inklusion unkundiger
Privatanleger Gefahren für das Wirtschaftssystem birgt.
Als Gattung populärer Kommunikation dient Werbung auch aus dieser Perspektive der
Inklusion in die Funktionssysteme. Der Vorzug der Subsumierung der Werbung unter das
Populäre liegt nicht nur darin, Werbung in Analogie zu anderen Genres populärer
Kommunikation zu setzen, sondern in diesem Rahmen auch das durch Werbung bearbeitete
Bezugsproblem genauer auszubuchstabieren.12
Werbung ist dann weder – oder zumindest:
nicht nur – ein autonomes Funktionssystem noch Teil des Systems der Massenmedien, also
innerhalb fester Systemgrenzen situierbar, sondern als vagabundierender
Kommunikationsmodus in allen Funktionssystemen anzutreffen. Bei Du bist Deutschland
fällt eine funktionssystemspezifische Zuordnung indes schwer, weil weder die Träger der
Kampagne klar einem System angehören, noch die Inklusion nur einem Funktionssystem
zugute kommen soll, selbst wenn der Ertrag vermutlich letzten Endes ökonomisch bemessen
wird. Außergewöhnlich an dieser Social Marketing-Kampagne ist darüber hinaus, dass eben
nicht nur zu Konsum oder zum Wählen – in systemtheoretischer Diktion: zur Besetzung von
Publikumsrollen – motiviert werden soll, sondern vielmehr die Übernahme von
11 Zu denken wäre hier etwa an Feuerwerke, Freibier, Gewinnspiele, populistische Wahlversprechen, Signierstunden,
Experimentalvorlesungen, Weltjugendtage und dergleichen mehr. 12 Vgl. beispielsweise Stäheli (2005: 164): „Werbung für wirtschaftliche Produkte oder Politik ist immer auch eine
Kommunikation im beworbenen Funktionssystem, da sie direkt auf den jeweiligen Code Bezug nimmt – also zu erreichen
versucht, dass ein bestimmtes Produkt gekauft wird oder dass eine bestimmte Partei die Regierungsrolle übernimmt.“
10
Leistungsrollen angeregt wird: Statt Museumsbesucher sollen Künstler, statt Konsumenten
Unternehmer und statt Wählern politische Aktivisten gewonnen werden.13
Über welche Möglichkeiten verfügt Werbung, um ihre Funktion zu erfüllen? Die
Werbeagentur Jung von Matt, die Du bist Deutschland maßgeblich gestaltet hat, scheint ihre
Leistung als geschickte Täuschung zu verstehen: „Gute Ideen sind wie das Trojanische
Pferd“, heißt es auf der Homepage der Agentur. „Sie kommen gut verpackt daher, so dass der
Mensch sie gerne hereinlässt. Erst dann entlarven sie ihr wahres Ziel: Eroberung.“ (Jung von
Matt o.J.) Werbung zielt demnach darauf, die eigene Absicht so zu verpacken und zu
maskieren, dass sie die Wachsamkeit des Bewusstseins umgehen und ihre Botschaften ohne
Gegenwehr in den Köpfen der Individuen einnisten kann. Diese Selbstbeschreibung der
Werber ist jenen Fremdbeschreibungen erstaunlich nahe, die apokalyptisch eine geradezu
magische Wirksamkeit persuasiver Kommunikation annehmen. So warnt der amerikanische
Kulturkritiker Vance Packard in seinem Bestseller Die geheimen Verführer von 1957 vor dem
„Griff nach dem Unbewußten in Jedermann“ (Packard 1957). Statt dieser seltsamen Allianz
zu folgen, sollte man mit Luhmann eher fragen, warum „gut situierte Mitglieder der
Gesellschaft so dumm sein [können], viel Geld für Werbung auszugeben, um sich in ihrem
Glauben an die Dummheit anderer zu bestätigen?“ Wenn Werbung auch versuche „zu
manipulieren“, so müsse sie dabei doch selbst voraussetzen, „daß dies von den Adressaten
vorausgesetzt wird“ (1996: 85). Werbung muss demnach in Rechnung stellen, dass die
Mediennutzer – anders als die Trojaner – damit rechnen, dass sie beeinflusst werden sollen.
Entrüstung über die zynische Selbstdarstellung der Werbeagentur wäre somit fehl am Platz,
will man nicht selbst der Eigenwerbung auf den Leim gehen.
Mit Stäheli lassen sich immerhin die allgemeinen Kennzeichen des Populären in der
werbenden Kommunikation auffinden: Hyperkonnektivität und affektive Besetzung. Als
Hyperkonnektivität fasst Stäheli „die Verwendung semantischer Formen, die in einer Vielzahl
unterschiedlicher Kontexte anschlussfähig sind“, also solche Formen, die leicht zugänglich,
im Idealfall allgemeinverständlich, sind (Stäheli 2005: 160). Da populäre Kommunikation
jedoch Inklusion gezielt verstärken will, reicht es nicht aus, lediglich die
Verständlichkeitshürden aus dem Weg zu räumen. Um zusätzlich Motivation zu fördern, sei
populäre Kommunikation daher – meist in enger Verknüpfung mit der Hyper-Konnektivität –
auch affektiv verankert. Zudem handelt es sich bei den in diesem Rahmen gemeinten Formen
in aller Regel um „funktionsunspezifische Kommunikationsmodi“, die im Dienst
verschiedener Systeme eingesetzt werden können (ebd.: 164).
13 Stäheli (2004: 171f. u. 180) geht davon aus, dass der Zweck populärer Kommunikation im Normalfall lediglich darin
besteht, das (noch) Nicht-Publikum zum Publikum eines Funktionssystems zu machen.
11
Dass Werbung dieses sehr allgemein gefasste Anforderungsprofil grundsätzlich erfüllt, ist
offensichtlich. Im folgenden werde ich allerdings nur eine formale Option populärer
Kommunikation fokussieren, die für Du bist Deutschland wie für viele andere Werbung
zentral ist: den Einsatz von Prominenten oder Stars. Stars können als eine wesentliche Form
des Populären angesehen werden, denn sie können einerseits die kognitive Zugänglichkeit
erleichtern, indem sie Sachverhalte und Handlungsempfehlungen anschaulich personalisieren;
andererseits sind sie – zumindest für ihre Fans – im Sinne einer einsinnig-persönlichen
Beziehung affektiv besetzt.14
Vertrauen in die bekannte Person des Stars kann beispielsweise
Komplexität reduzieren, wenn es darum geht, sich für ein bestimmtes Fabrikat von
Gummibärchen oder Nuss-Nugat-Creme zu entscheiden oder auch dafür, sein Geld in Aktien
einer bestimmten Firma anzulegen (vgl. aus aktuellem Anlass Öchsner 2006). Der
Kommunikationsmodus ist hier relativ simpel gestrickt: Der vertraute Star demonstriert, in
welcher Form er sich inkludiert, und fordert explizit oder implizit auf, es ihm gleich zu tun. Er
stellt seine eigene Popularität in den Dienst eines zu bewerbenden Produkts und hofft, die
affektive Besetzung seines Image auf die Ware zu übertragen. Wie sehr die Werbewirtschaft
mit solchen Konvertierungen zwischen Personen und Produkten rechnet, zeigt sich, wenn
Produkte einerseits mit einer „Markenpersönlichkeit“ ausgestattet werden (vgl. Séguéla 1983;
Zurstiege 2005), andererseits in umgekehrter Richtung Prominente als durch
Öffentlichkeitsarbeit zu etablierende „Marke“ angesprochen werden (vgl. Herbst 2003).15
Populäre Kommunikation durch Stars funktioniert – auch dieses Kriterium wird erfüllt –
unabhängig von dem Funktionssystem, das für Partizipation wirbt. Die meisten
Funktionsbereiche haben mittlerweile ihre eigenen als Star kommunizierten Persönlichkeiten
entwickelt – die Wirtschaft beispielsweise in Bill Gates, die Religion spätestens mit Papst
Johannes Paul II.. Außerdem kann das breite Arsenals von Stars aus Film, Fernsehen, Musik
und Sport nicht nur, worum es zunächst geht, das Publikum an die eigenen Waren binden,
sondern – wie bei Du bist Deutschland – ihre Prominenz auch in den Dienst verschiedener
Systeme, vornehmlich der Ökonomie, aber auch der Politik, stellen.
Mögen die mimetischen Mechanismen, mit denen der Star auf die adressierte Zielgruppe
Einfluss zu nehmen beabsichtigen, auch wenig komplex sein; voraussetzungsvoll ist
jedenfalls, dass Stars überhaupt dazu in die Lage versetzt sind, ja, dass es sie überhaupt gibt.
Die Frage, warum Inklusion – und das nicht nur in Werbung im engeren Sinn – oft über
prominente Individuen angesteuert wird, verlangt es, noch einmal zur Stellung der Individuen
14 Einsinnig persönlich, weil der Star personalisiert wird, die Fans in aller Regel jedoch nicht. 15 Es geht dabei zweifellos um den wechselseitigen Transfer von Aufmerksamkeit zwischen Stars, Massenmedien und
Produkten, wie Georg Franck (1998: 147-157) überzeugend skizziert hat, aber eben noch um mehr: Auch die Zuschreibung
von Eigenschaften und Wertungen soll übertragbar werden.
12
in der Moderne zurückzukehren, nun aber vor allem die Perspektive der Individuen in der
Umwelt der Gesellschaft einzunehmen.
3. Die Zumutung der Individualität
Zwar hat Luhmann für sich selbst klar gestellt, dass es den Individuen auch außerhalb der
Gesellschaft gut – wenn nicht besser – gehen kann,16
dennoch hat er den Orientierungsverlust,
den die Verabschiedung der stratifikatorischen Zurechnung von Individuen gebracht hat,
durchaus ernst genommen und keineswegs als Befreiung abgefeiert. Seit der Aufklärung wird
zwar reklamiert, jeder sei ein Individuum, doch um zu klären, wie jeder die in dieser
Verallgemeinerung steckende Forderung, sich als ein spezifisches Individuum zu
respezifizieren, aus seinen eigenen Ressourcen erfüllen kann, wird lediglich auf die Fähigkeit
des Subjekts verwiesen, sein eigenes Selbst zu ergründen Wenn funktional differenzierte
Systeme ihre jeweilige Operationsweise autonom festlegen und der Einzelne auf
unterschiedliche Weise und zeitlich ungebunden partizipieren kann, dann kann die
Gesellschaft eine harmonische Abstimmung der verschiedenen Lebensbereiche nicht mehr
sicherstellen. Kurz: Sie kann dem Individuum gar nicht „bei seiner ‚Identitätsfindung‘
behilflich sein, ihm dafür Modelle oder Beispiele bieten oder ihm diese Aufgabe durch eine
vorgegebene ‚kollektive Identität‘ erleichtern“ (Luhmann 2005: 97; vgl. auch ebd.: 90f. u.
ders. 1989: 226).
Aus ureigenem Interesse scheint die Gesellschaft, obwohl Sie keine verbindlichen Vorgaben
zur individuellen Identitätsbildung mehr leisten kann, dennoch bemüht, die Individuen mit
den neuen Komplikationen zu versöhnen. Mindestens zwei Wege lassen sich hier meiner
Ansicht nach identifizieren: Zum einen differenziert sich in Liebesbeziehung und Familie ein
spezifischer Typus gesellschaftlicher Teilsysteme so aus, dass der Einzelne dort nicht in
Hinsicht auf eine partikulare Funktionalität behandelt wird, sondern ohne gesonderte
Zurichtung in seiner selbst gewählten Eigenheit auftreten darf. Da die Distanz
individualisierter Personen zu den anderen sozialen Systemen dabei nicht bewältigt, sondern
eher noch gesteigert wird, bilden sich zum anderen Semantiken aus, die exemplarisch
vorführen, wie Individualität konstruiert, gelebt und dargestellt werden kann: Es ist die
Individualität von Stars, die hier meiner Ansicht nach als mögliches Muster der
Selbstdarstellung angeboten wird.
16 Vgl. Luhmann (2005: 159): „Im übrigen ist nicht einzusehen, weshalb der Platz in der Umwelt des Gesellschaftssystems so
ein schlechter Platz sein sollte. Ich jedenfalls würde nicht tauschen wollen.“
13
Als Gegenpol zur Zunahme unpersönlicher Beziehungen in der funktional differenzierten
Gesellschaft, bildet sich also eine Art von Liebe bzw. Intimbeziehungen aus, die anhand der
innovativen Semantik der passionierten Liebe alle profanen, nicht-passionierten und
unpersönlichen Motive für Liebesbeziehungen ausschließt. Während persönliche
Beziehungen in der modernen Gesellschaft quantitativ abnehmen, lassen sie sich im Fall der
Liebe qualitativ dermaßen steigern, dass schließlich „mehr individuelle, einzigartige
Eigenschaften der Person oder schließlich prinzipiell alle Eigenschaften einer individuellen
Person bedeutsam werden“ (Luhmann 1982: 13).Die nicht mehr sozialstrukturell fundierte,
sondern idealerweise durch Selbstreflexion autonom erzeugte Individualität, kann
üblicherweise nur ausschnittweise in die von den Funktionssystemen eingerichteten Rollen
eingebracht werden, doch in der persönlichen Intimbeziehung findet die moderne Art, sich
selbst zu entwerfen, soziale Bestätigung und Sicherheit: „Was man als Liebe sucht, was man
in Intimbeziehungen sucht, wird somit in erster Linie dies sein: Validierung der
Selbstdarstellung. [...] Wenn Selbstdarstellung als ‚Bildung‘ der eigenen Individualität
gesellschaftlich freigegeben, also kontingent gesetzt ist, bedarf genau sie der sozialen
Abstützung.“ (ebd.: 209) Mit Elke Reinhardt-Becker lässt sich darüber hinausgehend
formulieren, dass Liebesbeziehungen, insofern sie das absolute Verstehen durch den
Liebenden kommunizieren, die Fragmentierung des Ich überwinden helfen und damit auch
konstruktiv an der Erstellung individualisierter Selbstentwürfe mitarbeiten (vgl. Reinhardt-
Becker 2005: 84 u. 299; Becker / Reinhardt-Becker 2001: 190).
Die von ihrer Logik her stets von passionierter Kurzlebigkeit bedrohte Liebesbeziehung kann
in der alltäglichen Form der Familie stabilisiert werden. Auch die Familie ermöglicht, ja,
erzwingt, wenn man sich für diese Lebensform entscheidet oder in sie hineingeboren wird, die
„Vollinklusion“ der Person. Die Funktion der Familie besteht Luhmann zufolge sogar darin,
an einem gesellschaftlichen Ort noch die Inklusion der vollen Person – aber freilich nicht des
Organismus, des psychischen Systems usw. – zu ermöglichen, so wie diese als Einheit quer zu
allen gesellschaftlichen Teilsystemen beobachtet werden kann (Luhmann 1990: 208). Wohl
aus diesem Grund habe man im „19. Jahrhundert mit seinen Neigungen zu simplen
Gegenüberstellungen die Familie als Heimat, als Ort des Rückzugs aus der Welt und als Ort
der psychischen Regeneration gefeiert.“ (ebd.: 209)
Auch wenn die intimen Interaktionssysteme Liebe und Familie ein Refugium bieten, in dem
Individuen noch als vollständige Person inkludiert werden, so bleibt dabei doch das
Verhältnis zur „Gesellschaft“ – die sich aus sozialstruktureller Perspektive als
innergesellschaftliche Umwelt des jeweiligen Intim- oder Familiensystems darstellt –
14
problematisch. In der persönlich strukturierten Intimkommunikation maskiert die Gesellschaft
sich als Nicht-Gesellschaft: Inklusion in Liebesbeziehungen oder in die Familie erscheint, da
individuell an Personen orientiert, gerade nicht als sozial. Die in Romanform verbreitete
Liebessemantik lokalisiert die Vereinigung der Liebenden nicht von ungefähr außerhalb der
Zivilisation, denn nur im gesellschaftsfernen Naturzustand können sie einander ganz erkennen
und annehmen (vgl. Reinhardt-Becker 2005: 70-73). Liebe und Familie mögen die Ich-
Identität stabilisieren, insofern sie eine Perspektive auf die individuelle Person geben, in der
die Erfahrung der Fragmentierung aufgehoben und das Individuum gewissermaßen geheilt
wird (vgl. ebd: 311).17
Durch den semantischen Rückzug der Individualität ins Private wird
die Frontstellung von Individuum und Gesellschaft letztlich nicht abgebaut, sondern
verschärft (vgl. aus anderer Perspektive Sennett 1986: 15-46). Wie Individualität und
gesellschaftliche Inklusion zusammenkommen sollen, bleibt unbeantwortet.
Das zweite Angebot, bei der selbstreferentiellen Individualisierung unter die Arme zu greifen,
steht in engem Zusammenhang mit der an die Differenz persönlich/unpersönlich angelehnten
Unterscheidung von privater und öffentlich-gesellschaftlicher Existenz. Wenn in der
Kommunikation über Stars Individualisierung exemplarisch vorgeführt wird, dann ist es vor
allem dieses Spannungsverhältnis – von Öffentlichem und Privaten, von Gesellschaftlichem
und Individuellem, von Inklusion und Exklusion –, das ins Zentrum des Interesses rückt. Der
Star kann damit als Muster fungieren, anhand dessen der Einzelne die Heterogenität seiner
alltäglichen Lebensvollzüge organisieren kann: „Schon die Zeitgenossen des Deutschen
Idealismus wissen, wie man’s tatsächlich macht: Man copiert andere! In sich selbst findet
man nicht den Gegenhalt, den man brauchte, um sich selbst bestimmen zu können.“
(Luhmann 2005: 127)18
Natürlich ist schon den Zeitgenossen die Paradoxie des Verfahrens
nicht verborgen geblieben, sich durch Imitation als einzigartiges Wesen zu konstituieren,
wenn „Andersseinkönnen heißt [...]: so sein wie ein anderer“ (1989: 221).19
Man tut diese
Vorgehensweise dann zwar „einerseits als verächtliche Entgleisung“ ab, muss sie jedoch
„andererseits als Lebensnotwendigkeit“ akzeptieren (2005: 127).
17 Luhmann selbst betont – zumindest für die Familie –, dass die Orientierung des Systems an der „Vollperson“ letztlich das
Problem verschiebt, denn das „zur Einheit-Bringen“ (1990: 208) von Verhalten in und außerhalb der Familie erscheint ihm
mehr Forderung als Leistung – quasi der Preis der Vollinklusion (ebd.: 200f. u. 208f.). 18 Luhmann (1989: 223-226; 2005: 89) führt noch eine andere Lösung des Problems selbstreferentieller Individualisierung
an: die Akzeptanz innerer Pluralität. Hier gerät nun nicht die Einzigartigkeit, wohl aber die Einheit, das zweite
Bestimmungsstück des Individuums, unter die Räder. 19 Selbst wenn man Individualisierung als virtuose Handhabung diverser Muster auffasst, die diese zu einer „so leicht nicht
duplizierbaren Synthese zusammenfügt“, bleibt immer noch die unvermeidliche Basisparadoxie, dass man zumindest das
grundlegende Muster, die „Ununterscheidbarkeit des eigenen ‚Selbst‘ von jedem anderen“ (Luhmann 2005: 94), kopiert.
15
4. Die Individualität der Unterhaltung
Als Vorlagen für Kopierindividualität zieht Luhmann zunächst Romanfiguren in Betracht,
zumal seit Don Quijote die Individualisierung durch die Nachahmung literarischer Muster
selbst zum Romanthema wird (1989: 221; 2005: 88; vgl. dazu auch Pott 1995). Fiktion legt
den nach Identitätsmustern Suchenden „verführerisch nahe, virtuelle Realitäten an sich selber
auszuprobieren – zumindest in einer Imagination, die man jederzeit abbrechen kann“
(Luhmann 1996: 111). Der Roman kann diese Funktion aber nur erfüllen, solange er nicht
vorwiegend nach den ästhetischen Maßgaben des ausdifferenzierten Kunstsystems gelesen
wird. Mitsamt der unterhaltend-fiktionalen Narration wechselt diese Funktion dann ins
System der Massenmedien über (ebd.:107). Der Programmbereich Unterhaltung wird samt
und sonders der Aufgabe verschrieben, im geschilderten Sinn Angebote zur
Individualisierung zu unterbreiten: „Unterhaltungsvorführungen haben“, so Luhmann, „immer
einen Subtext, der die Teilnehmer einlädt, das Gesehene oder Gehörte auf sich selbst zu
beziehen“ (ebd.: 112; meine Hervorhebung). Sowohl in Abgrenzung als auch in Zustimmung
zur dargestellten Figur kann sich der Mediennutzer in seiner eigenen Individualität
beobachten:
Unterhaltung ermöglicht eine Selbstverortung in der dargestellten Welt. [...] Das, was
als Unterhaltung angeboten wird, legt niemanden fest; aber es gibt genügend
Anhaltspunkte [...] für Arbeit an der eigenen ‚Identität‘. Fiktionale Realität und reale
Realität bleiben offensichtlich unterschieden, und eben deshalb wird das Individuum,
was seine Identität betrifft, Selbstversorger. (ebd.: 115f.)
Auch der einzigen anderen, von Luhmann mit dem Fernsehen verbundenen
Unterhaltungsform, die der fiktionalen Narration zur Seite steht, wird die selbe Funktion
zugeordnet, „nämlich [der] Gattung der höchstpersönlichen Erfahrungsberichte“: „Personen
werden, im Bild sichtbar, vorgeführt und ausgefragt, oft mit Interesse an intimsten Details
ihres Privatlebens.“ (ebd.: 111) Woran der fernsehabstinente Soziologe bei dieser kryptischen
Beschreibung gedacht haben mag, lässt sich nur mutmaßen. Möglicherweise dachte er an
frühe Daily Talkshows wie Hans Meiser oder Arabella, vielleicht aber auch an ältere Formate
des Prominenteninterviews wie die VIP-Schaukel.
Hier jedenfalls möchte ich einsetzen und die Vermutung äußern, dass es seit Mitte des 19.
Jahrhunderts zunehmend als real markierte und behandelte Personen sind, die sich als
16
modellhafte Figurationen von Individualität etablieren – und zwar prominente Personen, die
als herausgehobene Individuen Aufmerksamkeit auf sich vereinen können. Dabei handelt es
sich zunächst zum größten Teil um Künstler, insbesondere, aber zweifelsohne nicht nur
Schauspieler, deren Werk – im Sinne der Genieästhetik – als Entäußerung ihrer originären
Individualität gesehen wird.20
Nur genialen Künstlern, so pointiert Luhmann die Semantiken
um 1800, gesteht man noch Ausnahmen von der Kopierindividualität zu, wobei diese dann
gerade deswegen als probate Kopiervorlage figurieren (vgl. 1989: 222f.). Das Theater, die
Musik, aber auch Malerei und Literatur werden in der Moderne zunehmend durch die
Persönlichkeit der Künstler betrachtet, die schon bald nicht mehr allein aus den künstlerischen
Hervorbringungen herausgelesen werden müssen, sondern durch Informationen zum
Lebenswandel auch als Privatperson Gestalt gewinnen. So werden Literaten seit Goethes
Eckermann – in nachgerade stereotyper Manier – durch Interviews individuell charakterisiert
(vgl. Heubner 2002). In den USA, aber vermutlich auch in Europa bildet sich ab Mitte des 19.
Jahrhunderts, also bereits lange vor dem Fernsehen, ein Typus von Journalismus heraus, der
das Privatleben von Prominenten fokussiert (vgl. Ponce de Leon 2002). Das Individuum
taucht in den Massenmedien dann nicht mehr allein als fiktionales Konstrukt der
Unterhaltung, sondern als ‚reale‘ Person ebenso im Nachrichtenbereich auf.21
Es steht daher
zu vermuten, dass es auch mit dem Aufstieg massenmedialer Berichterstattung zu tun hat,
dass die reale prominente Persönlichkeit – oder anders gesagt: der Star – zunehmend als
potentielles Muster zur Individualisierung hinzutritt und in seiner identitätsstiftenden
Funktion möglicherweise sogar den fiktionalen Charakter in den Hintergrund drängt. Die
spezifische Funktionsweise des Stars als Muster für Individualisierung soll abschließend im
folgenden Kapitel ausgeführt werden.
5. Die Popularität des Stars
Während Werbespots üblicherweise die Aufforderung, das Konsumverhalten der gezeigten
Prominenten zu kopieren, um wie sie zu leben, nur implizieren, thematisiert Du bist
Deutschland das Verhältnis von Vorbildlichkeit und Kopierbarkeit offen. Zwar nutzt der
Fernsehspot Prominente wie gewöhnlich, um Aufmerksamkeit und Vertrauen in seine
Botschaft zu gewinnen. Er thematisiert aber überdies – noch im Sinn der Ermächtigung – das
20 Richard Sennett (1986: 252-264 u. 270-273) berichtet, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Bühnenpersönlichkeiten aufkamen, die wie der Geiger Paganini oder die Schauspieler Marie Dorval und Fréderick Lemaître
insbesondere für die virtuose Darstellung ihrer eigenen Individualität geschätzt wurden. 21 Schließlich könnte man notieren, dass auch der Programmbereich Werbung Individuen als Muster für eine – durch
Konsum zu erreichende – Kopierindividualität anbietet, nicht zuletzt auch in Du bist Deutschland. Für vage Bemerkungen in
dieser Richtung vgl. Luhmann 1995: 92f.
17
Verhältnis des Anhängers zum Star. So dekretieren Oliver Korritke, Reinhold Beckmann und
ein paar namenlose Jugendliche: „Dein Wille ist wie Feuer unterm Hintern. Er lässt Deinen
Lieblingsstürmer schneller laufen und Schumi schneller fahren.“ (Manifest 2005)22
Diese
wenig originelle Feststellung beabsichtigt freilich nur, erneut die Wirksamkeit scheinbar
unbedeutender individueller Handlungen darstellen will. Was man den verehrten Sportlern
angedeihen lässt, soll, so die Schlussfolgerung, nun bitte auch dem „guten Freund“
Deutschland zugute kommen.
Die gegenläufig angelegte Anzeigen- und Plakatkampagne bezieht sich dagegen nur indirekt
auf die Nation, indem sie verschiedene bekannte Persönlichkeiten aus der Geschichte und
Gegenwart Deutschlands – von Albrecht Dürer bis Beate Uhse – als Vorbilder, als
Kopiervorlagen, präsentiert. Der Slogan paradoxiert dann nicht mehr wie mit „Du bist
Deutschland“ das Verhältnis von Einzelnem und Gemeinschaft, sondern legt in
Formulierungen wie „Du bist Ludwig van Beethoven“ das Paradox der Kopierindividualität
offen, sein Selbst durch einen anderen zu gewinnen. Im Bild werden hierzu gerade nicht die
Gesichter dieser ‚Stars‘ kombiniert, sondern ihre potentiell namenlosen Imitatoren, die nur
selten in Nahsicht, sondern oft nur aus der Ferne oder fragmentarisch (z.B. deren Lippen)
abgebildet sind. Lediglich der Name dient als Chiffre für das mit dem berühmten Individuum
verbundene Projekt:
Du bist Johann Wolfgang von Goethe. Seinen ersten Bestseller hat Goethe mit 17
Jahren geschrieben. Das ist ungefähr die Zeit, die deine Buchidee schon in der
Schublade liegt. Du bist sehr wahrscheinlich nicht Goethe – aber wäre es nicht
interessant, herauszufinden, ob ein wenig von ihm nicht auch in dir steckt? Außer der
Briefmarke und einen Umschlag kostet es nichts, genau das herauszufinden. Der Profit
dagegen könnten Kinder sein, die dich verfluchen, weil sie deine Gedichte aufsagen
müssen, und ein netter Geldregen.
Diese Art von Slogan ist, insofern sie wenig voraussetzt, aber viel verspricht, auf möglichst
weit reichende Anschlussfähigkeit hin gearbeitet. Stets wird eine mögliche Parallele zwischen
dem Adressaten der Werbung und der prominenten Persönlichkeit ausgemalt:
Selbstgeschriebenes in der Schublade (Goethe), lustiger Name (Claudia Pechstein), Herkunft
aus einer Großfamilie (Dürer), Liebe zum Auto (Ferdinand Porsche), eine missbilligte
22 Kurz zuvor thematisiert der Spot in diesem Sinn die Schnittstelle vom Individuum und der Gruppe, in deren
Kollektivaktion es letztlich aufgeht: „Warum feuerst du dann deine Mannschaft im Stadion an, wenn deine Stimme so
unwichtig ist? Wieso schwenkst du Fahnen, während Schumacher seine Runde dreht? Du kennst die Antwort: Weil aus
deiner Flagge viele werden und aus deiner Stimme ein ganzer Chor.“ (Manifest 2005)
18
Leidenschaft (Beate Uhse), einen Fotoapparat zu besitzen (Helmut Newton), eine „schräge
Weltsicht“ (Alice Schwarzer) oder Freude am Musizieren (Beethoven). Auf diesem
Fundament setzt die Ermunterung an, die eigenen Fähigkeit auszubauen und zu nutzen oder
seine Hemmungen zu überwinden. Schließlich werden die möglichen Gratifikationen, seien
sie ökonomischer oder ideeller Natur, angedeutet.
Erfolg bemisst sich dabei nicht zuletzt am Bekanntheitsgrad, der den Prominenten erst den
Platz in der Kampagne verschafft hat und als soziale Bestätigung ihrer Individualisierung
ausgelegt werden kann. Allerdings wird die Person durch den Text jeweils auf ein eng
gestecktes Set von Qualitäten verengt, statt die ganze Persönlichkeit einzubeziehen. Letztlich
werden die Einzelnen als nach verschiedenen Bereichen – Kunst, Ökonomie, Politik, Sport,
Technik, Wissenschaft – spezifizierte Chiffren für Erfolg in Anspruch genommen, anhand
derer sich die Belohnung von Eigeninitiative vorführen lässt. Prominente zu kopieren bleibt
damit kein abstraktes Programm mehr, sondern findet sich in eine praktikable Anleitung
umgesetzt, was mit welchem Ziel wie imitiert werden soll. So erläutert die Homepage der
Kampagne auch ganz allgemein: „Wie kann man Albert Einstein, Claudia Pechstein oder
Günter Jauch sein? Indem man zu sich selbst steht und an sich glaubt. Indem man sagt, was
man denkt, und zeigt, was man kann. Dafür braucht man keinen Nobelpreis, keine
Goldmedaille oder eine Fernsehshow.“ In der Anzeigenserie, die Deutschland abgesehen vom
Kampagnenlogo gar nicht mehr aufruft, wird Individualisierung mit Inklusion nach dem
urliberalen Prinzip Adam Smiths versöhnt, Gemeinwohl aus individuellem Streben zu
gewinnen. Alle Texte versprechen in letzter Konsequenz individuelle Selbstverwirklichung
durch Inklusion, insofern sie das Ausschöpfen der eigenen Potentiale und Ideen zum
Ausgangspunkt nehmen. Wer etwas für sich tut, tut etwas für Deutschland, und wird dafür –
so das Versprechen – sozial bestätigt. Indem die prekäre Spannung von intim-privater und
öffentlicher Existenz – wohlgemerkt semantisch! – getilgt wird, erscheint geradezu eine neue
Form von ‚Inklusionsindividualität‘.23
Das Verhältnis öffentlich/privat muss im Falle des als Muster präsentierten Stars nicht jedes
Mal explizit ausgeführt werden, sondern kommt ihm qua seiner internen Struktur zu. Hierin
unterscheidet er sich maßgeblich von älteren Strategien, Individuen als Orientierungsmarken
für andere Individuen zu etablieren. Insbesondere der Katholizismus hat einen beträchtlichen
medialen Aufwand getrieben, um etwa durch die Diffusion von Bildern und Legenden Heilige
als Vorbilder gottgefälligen Lebens zu propagieren. Nach Individualisierung im modernen
23 Nur als überwindbares Handicap auf dem Weg zur Selbstverwirklichung – der zu Hänselei Anlass gebende Name Claudia
Pechstein, Dürers Herkunft aus einer Großfamilie oder Max Schmelings aus kleinen Verhältnissen – tauchen die Spannungen
zum Privaten auf.
19
Sinn sucht man hier allerdings vergebens, sind Heilige doch vielmehr daraufhin angelegt,
christlichen Lebenswandel als allgemeine Handlungsnorm, also ein Abstraktum, zu
personifizieren (vgl. Ruchatz 2001: 340f.). Der Star hingegen funktioniert dagegen nicht mehr
als Typus in diesem Sinn, sondern als einzigartig und autonom verstandenes Individuum, in
dem sich öffentliche und private Lebenssphären integrieren.24
Dass der Star auf eine
gesellschaftliche Problemlage, eine Krise des Individuums in der Moderne, antwortet, ist von
den wissenschaftlichen Diskursen – von Theorie möchte man angesichts eines
augenscheinlich vom populären Gegenstand affizierten Reflexionsniveaus meist nicht reden –
zwar immer wieder erwähnt, aber noch nicht konsequent ausgearbeitet worden.25
Seit der Pionierarbeit Richard Dyers ist das semiotisch gefasste Konzept des ‚Image‘ zur
Basis der filmwissenschaftlichen Starforschung geworden. Das Image eines Stars umfasst
alles, was in der Öffentlichkeit über ihn kursiert, und lässt sich damit als „extensive,
multimedia, intertextual“ (1986: 3) beschreiben. Man könnte das Image aus
systemtheoretischer Perspektive als die kommunikativ – und damit gesellschaftlich –
prozessierbare Form der populären Person fassen, die freilich ihre Wirksamkeit daraus zieht,
dass hinter den Zeichen eine real existierende, eigentliche Person vorausgesetzt wird. So
beschränkt sich das Image eines Filmstars nicht nur auf das öffentliche – man könnte auch
sagen: professionelle – Auftreten, also etwa als Summa der Filmrollen, sondern umfasst
gleichermaßen das auf die private Person bezogene Wissen. Zwar kann die Teilnahme an
allen Funktionsbereichen der Gesellschaft, in Leistungs- wie in Publikumsrollen, zum
Element eines Starimages werden(Konsum, Rechtsstreitigkeiten, Religiosität, Kunstrezeption
oder -produktion, sportliche wie auch politische Aktivitäten) – dies interessiert aber nur,
insoweit es Aufschluss über die Person an sich gibt. Im Vordergrund stehen aber stets die als
Refugium des authentischen Individuums angesehenen Sozialsysteme Liebe und Familie. Es
macht die Figur des ‚Stars‘ gerade aus, nicht auf die als öffentlich markierte professionellen
Existenz auf Bühne oder Leinwand reduziert zu sein, die zuallererst die Aufmerksamkeit auf
die Person des Stars lenkt, sondern von dort aus auf das Privatleben überzugreifen, um den
‚ganzen Menschen‘ in seiner Individualität zu erfassen.26
Richard deCordova hat in seiner Studie zur Genese des Filmstars gezeigt, wie mit dem
mehrfachen, wieder erkennbaren Erscheinen eines Darstellers im frühesten Film vom
24 Bekanntlich wurden Filmstars von den publicity departments der Hollywood-Studios nach bestimmten Typen modelliert
(z.B. dem Vamp; vgl. exemplarisch Patalas 1963). Während beim Star diese Gleichförmigkeit als ‚authentische‘
Persönlichkeit des Individuums kaschiert wird, leitet sich die Ausnahmestellung der Heiligen nicht aus ihrer Individualität
her, sondern verweist explizit auf die göttliche Gnade verweisen, als deren Träger sie auserwählt wurden. 25 Vgl. Garncarz 1989: 323f., Fowles 1992: 9-39, sowie nach wie vor am hellsichtigsten, aber theoretisch ebenso wenig
ausgearbeitet Dyer 1986: 8-18. 26 Im allgemeinen gebrauche ich die Begriffe „Prominenter“ und „Star“ nahezu synonym, wobei der Star-Begriff jedoch
enger gefasst und nur dort verwendet wird, wo die hier skizzierte Struktur mit gemeint ist.
20
Publikum allmählich überhaupt erst eine Person, die so genannte picture personality
konstruiert wird, die schließlich durch einen Eigennamen und ein Privatleben als Individuum
‚vervollständigt‘ wird:
The picture personality was defined […] by a discourse that restricted knowledge to
the professional status of the actor. With the emergence of the star, the question of the
player’s existence outside his or her work in film became the primary focus of
discourse. The private lives of the players were constituted as a site of knowledge and
truth. (1990: 98)
Weil, was die Kommunikation über Stars betrifft, die Differenz öffentlich/privat als re-entry
ins Öffentliche eingeführt und das Private naturgemäß nur insoweit beobachtet wird, als es in
die Öffentlichkeit gelangt, erwächst ein geradezu manisches Interesse, das Privatleben der
Stars nach authentischen Informationen, dem unfingierten, quasi dem ‚privaten Privaten‘, zu
durchleuchten.27
Dieses Muster, das Interesse von einer durch öffentliches Auftreten bekannt
gewordenen Person auf die Privatperson auszudehnen und in ihrer Einheit als Individuum zu
konstituieren, gilt nicht nur für den Filmstar, auch wenn dieser durchaus als die idealtypische
Realisierung gelten darf. Ein solches Interesse an öffentlichen Privatpersonen bildet sich im
Laufe des 19. Jahrhunderts heraus und hält bis in die Gegenwart an, wobei die
Tätigkeitsbereiche, in denen Personen öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen können,
heute über die performativen Künste hinaus von Sport bis hin zu Wirtschaft und Politik
reichen. Ich schlage vor, das beschriebene Muster – in Anlehnung an Michel Focaults
‚Autorfunktion‘ (1988: 16-23) – als ‚Starfunktion‘ zu bezeichnen, die bestimmte, durch
massenmediale Kommunikation bekannt gewordene, Personen als ‚Stars‘ auszeichnet.
Insofern der Star als reales Individuum ausstaffiert ist, das öffentliche und privat-intime
Existenz integriert, bietet er sich als Muster für Individualisierung an, das die Beziehung von
Individuum und Inklusion bearbeitet. Seine Bedeutung als populäre Figur läge demnach vor
allem darin, die fundamentale Problematik des modernen Individuums aufzugreifen und ihr
mit einem ganz konkreten Fall gelebter Individualität zu begegnen. Als populäres, quasi
voraussetzungslos nachvollziehbares und affektiv besetztes, Modell führt jeder Star
exemplarisch vor, wie sich gesellschaftliche Inklusion und Individualisierung vereinbaren
lassen. Stars demonstrieren mithin, wie Stäheli in Bezug auf das Populäre generell formuliert
27 Authentifizierend wirken insbesondere Skandale (vgl. deCordova 1990: 117-146), insofern sie scheinbar die vor dem
authentischen Privatbereich errichtete öffentliche Fassade zum Einsturz bringen. Freilich entsteht der Effekt der Authentizität
nur in Differenz zu dem, was als konstruiert aufgefasst wird.
21
hat: „Inclusion is really quite good fun.“ (2002: 332) Im Star ist also in nuce bereits jenes
Problem enthalten, dem sich die Kampagne Du bist Deutschland verschrieben hat. Die Stars,
die Du bist Deutschland Gesicht und Stimme oder zumindest ihren Namen geliehen haben,
stehen schon vor ihrer konkreten Thematisierung für eben diese Vereinbarkeit von Inklusion
und Individualität.
Damit ist eine wesentliche Voraussetzung für die Etablierung von Stars impliziert:
Gedächtnisbildung. Wenn es erforderlich wäre, das Image einer massenmedial präsentierten
Person jedes Mal von Grund auf neu zu etablieren, dann hätten sich Stars als bekannte und
verstetigte Konstrukte von Individualität nie ausbilden können. Erst mit der Zeit kann sich
überhaupt eine hinreichend komplexe, von anderen unterscheidbare Persönlichkeit aufbauen.
Ein Gedächtnis ermöglicht es, die jeweils neuen Informationen als solche einzuschätzen und
in Bezug auf die Konstruktion der Individualität des Stars auszuwerten. Dies gilt für das
System der Massenmedien, das stets zu unterscheiden hat, was als bekannt vorausgesetzt
werden kann und was noch unbekannt, also informativ, ist (Luhmann 1996: 32-48), aber auch
für die psychischen Systeme, die jede neue Information als Bestätigung oder Abweichung in
ihr Konstrukt der Star-Persona einbeziehen. Jede Erwähnung eines Stars – etwa in einem
Werbesport – ruft einen bestimmten Wissenshorizont auf und kann dann mit ihm operieren.
Umgekehrt erweitert jeder neuerliche Abruf einer Starperson deren Image.28
Mithin bleibt die
Individualitätsbildung von Stars im Vergleich zu derjenigen fiktionaler Charaktere
zukunftsoffen.
So kann der Star allerdings seine Funktion, Individualisierung exemplarisch aufzuzeigen,
nicht reibungslos erfüllen, denn über eine formelhaft prästabilisierte Individualität verfügt
auch er nicht. Das Starimage – das lässt die Diversität und Fülle der imagebildenden Quellen
ahnen – bietet nicht per se eine kohärente Erzählung vom Leben und Arbeiten eines
Individuums. Vielmehr taucht hier das Problem der Individualitätsbildung in symbolisch-
verkleinerter Form noch einmal auf: Aus einer Vielzahl heterogener, möglicherweise auch
widersprüchlicher Zeichen muss eine Einheit prinzipiell erst noch hergestellt werden (vgl.
z.B. Dyer 1986: 8).29
Allerdings werden die über Stars publizierten Informationen in aller
Regel nicht ungeordnet, sondern bereits in Bezug auf einen jeweils zugrunde gelegten
Entwurf des jeweiligen Individuums hin präsentiert. Dies gilt in besonderem Maße für
28 Bei einem Zyniker wie Harald Schmidt kann es durchaus erstaunen, dass er zu einer Teilnahme an Du bist Deutschland
bereit war. 29 In der klassischen Zeit Hollywoods geben die PR-Abteilungen der Studios Acht, dass das innerfilmische Rollenimage und
das außerfilmische Leben in Einklang stehen. Als Beispiel hierfür kann Ingrid Bergman dienen, deren Filmrollen mit ihrem
privaten Image als so schöne wie pflegeleichte Ehefrau und Mutter korrespondierente, bis sie ein neues Leben an der Seite
Roberto Rosselinis begann. So heißt es 1945 in der Zeitschrift Photoplay: Bergmans „proudest achievement is the successfull
combination of a fine career and a perfect home life“ (Zit. Garncarz 1989: 333).
22
Biographie und Autobiographie, aber auch für das Personality-Interview, das sein Interesse
auf das Zwischenspiel von Privatleben und öffentlicher Existenz richtet. Doch selbst jeder
Kurzartikel der Klatschpresse oder jeder neue Filmauftritt eines Stars bezieht die neu
veröffentlichte Information auf den bekannten Rahmen. Es bleibt aber stets freigestellt, sich
den angebotenen Lesarten anzuschließen, denn die zu jedem Star kursierenden
Wissensbestände sind so reichhaltig, dass sie eine Vielzahl von Deutungsangeboten
legitimieren. Individualisierung verläuft also im Vergleich zu fiktionalen Figuren
dynamischer und ‚interaktiver‘: Weder wird die Person aus der homogenen Perspektive eines
Erzählers präsentiert, noch ist der Informationsfluss zeitlich abgeschlossen. Bei als
‚Legenden‘ auf Permanenz gestellten Stars wie Marylin oder Elvis endet der Informationsfluß
nicht einmal Jahrzehnte nach dem Tod.
Die individuelle Identität von Stars fällt zwar weniger stabil aus, liegt aber in ihrer Dynamik
näher an der lebensweltlichen Erfahrung. Doch wie steht es überhaupt um die Vorbildlichkeit
und Kopierbarkeit des Stars, wenn dessen Aufmerksamkeitsbonus gerade auf seine
Ausnahmestellung, auf jene exzeptionellen Vermögen und Leistungen zurückgeführt werden,
die den Grund der öffentlichen Individualisierung bilden? Die Optionen und Ressourcen von
Stars, ihre Persönlichkeit auch in die öffentlich-professionellen Rollen einzubringen, sind
sicher nicht repräsentativ. Dennoch hat sich die Semantik des „Vorbilds“, so wie sie auch Du
bist Deutschland zugrunde legt, fest mit der des Stars verbunden (vgl. stellvertretend Hurth
2001). Wer ambitioniert in Schauspiel, Musik oder Sport ist, mag – davon zeugen die
Starsearch-Formate – durchaus gleichwertige Talente für sich beanspruchen. Ebenso wie die
Überhöhung gehört zum Star allerdings die Veralltäglichung: Die Differenz öffentlich/privat
korrespondiert mit Begriffen wie „Halbgott“ oder die Behauptung einer dialektischen
Beziehung von Nähe und Ferne (vgl. z.B. Morin 1972). Die Nähe wird dabei durch jene
Segmente des Images sichergestellt, in denen der Star außerhalb seines professionellen
Arbeitsbereichs agiert. Zwar mag der er ein glamouröseres, durch seine Prominenz
begünstigtes Leben führen, doch gehört das Scheitern des privaten Glücks bekanntlich zu den
Standards der Starpublizistik. Ein Großteil der Stars kann als Beleg dafür gelten, dass das
Privatleben – vermutlich gerade, weil man dort immer noch den Kern individueller Existenz
sucht – nicht mehr der heilsame und geschützte Rückzugspunkt, sondern selbst gefährdet ist.
Stars liefern keineswegs nur Erfolgsgeschichten der Individualisierung.
Die Frage der Kopierbarkeit kann nun noch einmal differenzierter beantwortet werden. Zum
einen können einzelne oder mehrere Verhaltensweisen und Selbstdarstellungen eines
konkreten Stars imitiert werden. Politische Partizipation, Konsum oder Kleidungsstile können
23
so als Element der individuellen Selbstdarstellung entlehnt werden. Das affektive attachment
fungiert dabei als Selektor, welche Vorbilder in Frage kommen. Du bist Deutschland leistet
eine Konkretisierung des Kopierbaren und bricht die Persönlichkeit des Stars auf wenige
anschlussfähige Züge, nämlich den Impetus der Selbstverwirklichung, herunter. Der Star
fungiert dann als Index des Realen, der dafür einsteht, dass das Muster nicht fiktiv, sondern
realisierbar sei. Individualität könnte dann in einer individuellen und praktikablen Mischung
verschiedener Vorlagen bestehen (vgl. Luhmann 2005: 94).
Zum anderen können Stars – aus einer distanzierteren, weniger involvierten Perspektive –
ganz allgemein als populäre Figur angesehen werden, an denen sich diverse zeitgenössische
wie ältere Relationierungen von Individuum und Gesellschaft, von Privatem und
Öffentlichem, studieren lassen, die teilweise gar nicht mehr auf Unteilbarkeit, sondern
gewissermaßen auf ‚Dividualität‘ (vgl. Schroer 2001: 268), also eine womöglich
unproblematische Gegenüberstellung privater und öffentlicher Rollen, setzen. In diesem Sinn
könnten Stars dann Beispiele, die von dem Druck, private und öffentliche Existenz auf einen
Nenner zu bringen, entlasten – oder aber anspornen, es doch zu tun. Denn als Muster und
Vorbilder bleiben Stars, nicht zuletzt was die Relationierung von privatem und öffentlichem
Leben betrifft, genauso unverbindlich und frei wählbar wie die fiktionalen Charaktere aus
Roman, Spielfilm oder Fernsehserie, die erlauben, vorliegende Konstrukte von Individualität
mit dem eigenen zu vergleichen. Weil Stars als real existent aufgefasst werden, können diese
Muster jedoch nicht als pures Gedankenspiel, als pure Fiktion, abgewiesen werden. In Stars
stellen die gesellschaftlichen Funktionssysteme mithin diversifizierte und für jeden
zugängliche semantische Muster bereit, anhand derer man sich als Individuum fassen und
zugleich in Relation zur Gesellschaft setzen kann.30
Wenn wir uns bemühen, Goethe, Katarina
Witt oder Franz Beckenbauer zu seine, dann sind wir nicht nur Deutschland, sondern auch in
einer bestimmten Weise sozial inkludiert.
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30 In Luhmannscher Diktion könnte man die an Stars gewonnen Muster von Invididualität als Semantiken, also „höherstufig
generalisierbaren, relativ situationsunabhängig verfügbaren Sinn“ (Luhmann 1980: 19) verstehen, der für die
Selbstbeschreibung als Individuum abgerufen werden kann.
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