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1 Jens Ruchatz Du bist Deutschland und die Popularität des Stars. Muster für Inklusion und Individualisierung [Erschienen in: Christian Huck/Carsten Zorn (Hg.), Das Populäre der Gesellschaft, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2007, S. 168-194] And to know yourself is to be yourself The Go-Betweens, Boundary Rider, 2005 Am 26. September 2005 wird zur besten Sendezeit, nach den Hauptnachrichten der Tagesschau, auf allen großen Fernsehkanälen zeitgleich ein zweiminütiger Spot ausgestrahlt, in dem eine Reihe prominenter und nicht prominenter Bundesbürger einen Appell vorträgt, der durch den repetitiv eingesetzten Slogan „Du bist Deutschland“ pointiert – darauf abzielt, „zu einer neuen Aufbruchstimmung in Deutschland beizutragen. Die Kampagne will die Menschen bewegen und aufrütteln. Und sie soll dazu führen, dass jeder wieder positiver, zuversichtlicher und motivierter in die Zukunft blickt. Denn: Es kommt auf jeden Einzelnen an, jede Leistung zählt. Wenn alle ihren Teil beitragen, können wir in Deutschland viel bewegen.“ (Was ist das Ziel 2005; vgl. auch Lutz 2005) Um durch solch ein Plädoyer für individuelle Eigeninitiative das kollektive Wohl zu befördern, initiieren einige Werbeagenturen, Fernsehstationen von ARD über RTL bis hin zu Pro7, Medienunternehmen wie Bertelsmann sowie die großen Zeitungsverlage eine mehrmonatige ‚Imagekampagne‘ – wie es in einer Pressemitteilung der Organisatoren stolz heißt, „die größte Social Marketing Kampagne in der Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland“. Das Herzstück der Kampagne bildet ein etwas pompös als „Manifest“ (2005) titulierter Text. Im Fernsehspot wird er in den Mund von einigen ‚unbekannten‘ Deutschen, in der Mehrzahl aber von Prominenten gelegt, die an verschiedenen wie beim Holocaust-Mahnmal, der Münchener Allianz-Arena oder dem Hamburger Hafen teilweise auch identifizierbaren Orten aufgenommen wurden. Der Text ermächtigt einerseits das Individuum, in dem er nicht nur zu Aktivität und Initiative ermuntert, sondern überdies die überragende Rolle des Einzelnen für das Gemeinwesen hier patriotisch als „Deutschland“ angesprochen – herausstreicht. So werden unter anderem popularisierte Bestände der Chaostheorie mobilisiert, um auch kleinste Veränderungen mit überraschend großen Effekten in Zusammenhang zu bringen: „Ein Schmetterling kann einen Taifun auslösen“, beginnt der

Du bist Deutschland und die Popularität des Stars

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Jens Ruchatz

Du bist Deutschland und die Popularität des Stars. Muster für Inklusion

und Individualisierung

[Erschienen in: Christian Huck/Carsten Zorn (Hg.), Das Populäre der Gesellschaft,

Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2007, S. 168-194]

And to know yourself is to be yourself

The Go-Betweens, Boundary Rider, 2005

Am 26. September 2005 wird zur besten Sendezeit, nach den Hauptnachrichten der

Tagesschau, auf allen großen Fernsehkanälen zeitgleich ein zweiminütiger Spot ausgestrahlt,

in dem eine Reihe prominenter und nicht prominenter Bundesbürger einen Appell vorträgt,

der – durch den repetitiv eingesetzten Slogan „Du bist Deutschland“ pointiert – darauf abzielt,

„zu einer neuen Aufbruchstimmung in Deutschland beizutragen. Die Kampagne will die

Menschen bewegen und aufrütteln. Und sie soll dazu führen, dass jeder wieder positiver,

zuversichtlicher und motivierter in die Zukunft blickt. Denn: Es kommt auf jeden Einzelnen

an, jede Leistung zählt. Wenn alle ihren Teil beitragen, können wir in Deutschland viel

bewegen.“ (Was ist das Ziel 2005; vgl. auch Lutz 2005) Um durch solch ein Plädoyer für

individuelle Eigeninitiative das kollektive Wohl zu befördern, initiieren einige

Werbeagenturen, Fernsehstationen von ARD über RTL bis hin zu Pro7, Medienunternehmen

wie Bertelsmann sowie die großen Zeitungsverlage eine mehrmonatige ‚Imagekampagne‘ –

wie es in einer Pressemitteilung der Organisatoren stolz heißt, „die größte Social Marketing

Kampagne in der Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland“.

Das Herzstück der Kampagne bildet ein etwas pompös als „Manifest“ (2005) titulierter Text.

Im Fernsehspot wird er in den Mund von einigen ‚unbekannten‘ Deutschen, in der Mehrzahl

aber von Prominenten gelegt, die an verschiedenen – wie beim Holocaust-Mahnmal, der

Münchener Allianz-Arena oder dem Hamburger Hafen teilweise auch identifizierbaren –

Orten aufgenommen wurden. Der Text ermächtigt einerseits das Individuum, in dem er nicht

nur zu Aktivität und Initiative ermuntert, sondern überdies die überragende Rolle des

Einzelnen für das Gemeinwesen – hier patriotisch als „Deutschland“ angesprochen –

herausstreicht. So werden unter anderem popularisierte Bestände der Chaostheorie

mobilisiert, um auch kleinste Veränderungen mit überraschend großen Effekten in

Zusammenhang zu bringen: „Ein Schmetterling kann einen Taifun auslösen“, beginnt der

2

Appell: „Der Windstoß, der durch seinen Flügelschlag verdrängt wird, entwurzelt vielleicht

ein paar Kilometer weiter Bäume. Genauso, wie sich ein Lufthauch zu einem Sturm werden

kann, kann deine Tat wirken.“ (Manifest 2005)1

Im Rahmen der Kampagne wird diese Ermächtigungsstrategie am stärksten auf der

Kampagnen-Homepage inszeniert, auf der sich jeder selbst zum Teil der Kampagne machen

kann, indem er ein Porträt zusammen mit Namen, Wohnort und einem persönlichen

Bekenntnis öffentlich zugänglich macht. Kombiniert zu zahllosen Mosaiken aus winzigen

Porträts, über die die individuellen Botschaften aufgerufen werden können, werden die

Einzelnen optisch allerdings wieder in einem Kollektiv aufgehoben, das sich zu der

Zielsetzung der Kampagne bekennt. „Du bist Deutschland – und du bist nicht allein“, heißt es

dazu in dem daneben angeordneten Frame. „Hier siehst du, wer sich bis jetzt zu Deutschland

bekannt und ein persönliches Statement abgegeben hat.“ (Galerie 2005). Schließlich wird

auch die klassische popkulturelle Möglichkeit angeboten, sich – analog zu einem Fan – durch

Konsum zu positionieren, indem man T-Shirts, Baseball-Caps, T-Shirts oder Kaffeebecher

mit dem Kampagnenlogo erwirbt und öffentlich zur Schau trägt.2

Das zum unverzichtbaren Fundament einer Gemeinschaft, der deutschen Nation, ermächtigte

Individuum wird aber andererseits – wie so häufig, wenn nationale Semantiken bemüht

werden – zugleich in die Pflicht genommen. Wohl und Wehe der nationalen Gemeinschaft

wird sprachlich dem Individuum aufgeladen. Die Aussage, „Du hältst den Laden zusammen.

Du bist der Laden“, markiert diese semantische Wende innerhalb des ‚Manifests‘, weil sie

noch beide Bedeutungsnuancen enthält. In der Folge wird dann aber die Konsequenz gezogen,

was es bedeutet, wenn man Deutschland ist: „Frage dich nicht, was die anderen für dich tun.

Du bist die anderen.“ (ebd.)3 Und schließlich endet die Botschaft in der Aufforderung, sich für

das eigene Land zu engagieren, anstatt Forderungen an es zu stellen: „Behandle dein Land

doch einfach wie einen guten Freund. Meckere nicht über ihn, sondern biete ihm deine Hilfe

an. Bring die beste Leistung, zu der du fähig bist.“ (ebd.) Damit wird die anfängliche

1 In den Internet-Blogs, die die Kampagne diskutieren, wird die unfreiwillige Komik des Arguments markiert: Wenn schon

ein Schmetterling einen Taifun auslösen könne, solle man dann nicht besser gar nichts tun? In der Tat besagt die

Chaostheorie ja, dass die Folgen eines jeden Ereignisses – im guten wie im schlechten – tendenziell unkalkulierbar sind. Aus

solch einer Einsicht eine Handlungsorientierung ableiten zu wollen, ist schlechterdings grotesk. Eine weitere Bizarrerie

unterläuft dem Ermächtigungsargument, wenn gegen Ende des Textes Subjekt und Objekt der Aktivität auf verwirrende

Weise verwischt werden. Wenn es heißt: „Schlag mit deinen Flügeln und reiß Bäume aus. Du bist die Flügel, du bist der

Baum“, ist dann ernstlich gemeint, das Individuum soll sich selbst ‚ausreißen‘ und entwurzeln? 2 Man kann fragen, warum das Bekenntnis dort dann allerdings nicht „Ich bin Deutschland“ lautet, sondern weiterhin mit

dem „du“ das beobachtende Gegenüber angesprochen wird. 3 Man kann hier eine Anspielung an die John F. Kennedys bei seiner Inaugurationsrede geäußerte Formulierung, „[a]sk not

what your country can do for you, ask what you can do for your country“ sehen, wobei im Fall von Du bist Deutschland das

politische Gemeinwesen kaschiert wird durch „die anderen“. Die Verantwortung des einzelnen wird dadurch extrem

personalisiert.

3

Argumentation umgekehrt und letztlich eine Bedingung angedeutet, die man erst erfüllen

muss, um als Bestandteil der Nation gelten zu können (vgl. auch Werber 2006).

Das markanteste Stilmittel des Werbetexts ist die direkte Anrede des Adressaten mit „du“.

Das mit diesem „du“ adressierte Individuum wird differenziert gegen Deutschland, aber auch

entpolitisiert schlicht gegen die anderen, letztlich gegen die Gemeinschaft; zugleich aber kann

jedes „du“ die Seite wechseln zu den anderen und Teil der Gemeinschaft werden. Nicht von

ungefähr haben die Werber von Du bist Deutschland bei der Kombination von direkter

Ansprache und Verpflichtung als Vorbild an das berühmte Plakat „Uncle Sam wants you“

gedacht, mit dem die amerikanische Armee während des I. Weltkriegs um Rekruten warb.

Oliver Voss, verantwortlicher Mitarbeiter der Werbeagentur Jung von Matt, beschreibt selbst

die persönliche Anrede in seinem Slogan „Du bist Deutschland“ als Kern des textuellen

Appells:

Der Satz paßt, weil wir den Leuten damit sagen: Es hängt an Dir, was in Deutschland

passiert. Es geht um Dich! [...] Mit der direkten und persönlichen Ansprache wollten

wir vermeiden, daß die Deutschen wieder im Dichten und Denken verharren. Wir

wollten die Leute packen. Damit jeder tut, was er kann. [...] Durch die direkte

Ansprache, indem ein Finger aus dem Fernseher hinauszeigt, ist man zum Reagieren

geradezu gezwungen. [...] Bei ‚Wir sind Papst‘ und ‚Du bist Deutschland‘ kann sich

der Leser wegen der direkten Ansprache zunächst nicht entziehen. Die Sätze sind

entwaffnend. (Das kleine Du 2005)

Man muss Voss’ Glauben an die unerschütterliche Wirkmacht der persönlichen Adressierung

keineswegs teilen, um zu erkennen, dass für die Kampagne das Individuum nicht nur das Ziel,

sondern zugleich das Mittel ist, um es kommunikativ zu erreichen. Die durch die Werbung

intendierte Einstellungsänderung wird hier angeregt, indem der als Individuum konzipierte

Adressat gewissermaßen selbst offen und offensiv zum Thema des Spots gemacht wird.

Eine solche Ansprache des Individuums ist, wie im folgenden anhand systemtheoretischer

Überlegungen zu zeigen ist, nicht nur ein wesentliches Mittel, sondern ebenso ein Anliegen

populärer Kommunikation an sich, das über Werbung im engeren Wortsinn hinausreicht. Die

Kommunikationsform des Populären bearbeitet, so die für meinen Beitrag fundamentale

These, vor allem anderen das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Diese Logik soll

im folgenden entlang des hier eingeführten Beispiels herausgearbeitet werden. Ich werde

mich aber nicht allein den in der Kampagne als Individuen konzipierten Adressaten, sondern

4

ebenso den zur Adressierung eingesetzten Individuen zuwenden, denn die Strategie, Motive

und Beschreibungsmuster durch ein – fiktives oder prominentes – Individuum für andere so

attraktiv zu machen, dass sie von diesen aufgegriffen werden, scheint mir ein zentraler Modus

populärer Kommunikation. In diesem Sinn wird es fortan weniger um die nationalistisch

vergemeinschaftende Semantik von Du bist Deutschland gehen, sondern – am semantisch

scheinbar entgegengesetzten Pol – um den Star als populäre Figur, die durch Vorbildhaftigkeit

Individualisierung erleichtert, aber zugleich zu einem paradoxen Vorgang werden lässt. Du

bist Deutschland bietet sich hier als Beispiel vor allem deshalb an, weil der Fernsehspot Stars

in konventioneller Form als Vertrauensbildner zum Einsatz bringt, während die Anzeigen-

und Plakatkampagne auf eine innovative Strategie setzt, insofern sie die Modellhaftigkeit der

prominenten Person offensiv propagiert, aber auch in ihren Grenzen reflektiert. An der selben

Kampagne lassen sich damit zwei unterschiedliche Einsatzweisen des Stars vergleichen.

Zunächst gilt es jedoch, Klarheit über die Lage des Individuums in der Moderne zu gewinnen,

um das Bezugsproblem derartiger Kommunikation plausibilisieren zu können. Unter den

diversen Ansätzen, die sich mit der Geschichte der Individualität beschäftigen, scheint mir

Luhmanns Systemtheorie als bislang brauchbarste, weil sie Individualität als soziales

Phänomen deutet und dabei sehr plausibel in einen soziologischen Theorierahmen einpasst,

ohne von so etwas wie einem anthropologischen Existential „Individualität“ auszugehen.

1. Individualität in der funktional differenzierten Gesellschaft

Während zahlreiche Soziologien, Individualisierung als eine – wenn nicht die – zentrale

Tendenz gesellschaftlicher Entwicklung in der Moderne sehen (vgl. hierzu u.a. Schroer 2001;

Kippele 1998), hat Niklas Luhmann mitsamt dem Menschen auch das Individuum aus der

Gesellschaft verbannt.4 Wenn zur Gesellschaft nur zählt, was die Form von Kommunikation

annimmt, dann finden Individuen und Individualität dort höchstens als Thema von

Kommunikation Platz. Als Absender und Adressat von Kommunikation fungiert nicht das

unteilbare Individuum, sondern allenfalls die bereits ausschnitthaft zugerichtete Form einer

Person, an die sich vergleichsweise konkret-spezifische Erwartungen richten (vgl. Luhmann

2005: 137-148; ders. 1984: 429-432). In der funktional differenzierten Gesellschaft werden

Erwartungen jedoch in der Regel sehr viel allgemeiner adressiert: an Rollen oder Programme,

die von persönlichen Unterschieden ganz gezielt absehen. Dass das Individuum für die

funktional differenzierte Gesellschaft keine praktikable Bezugsgröße mehr darstellt, hängt

4 Ob Individualität in der Moderne neu formatiert, wenn nicht überhaupt erst erfunden worden sei, ist in Kulturgeschichte

oder historischer Anthropologie nicht unumstritten (vgl. Ruchatz 2004: 163-166; Sonntag 2000).

5

also damit zusammen, dass es sich zwar irgendwie an den verschiedenen Teilsystemen der

Gesellschaft beteiligen – z.B. einkaufen, zur Kirche gehen, wählen – kann und soll, sich aber

dabei eben gerade nicht in seiner ganzen Individualität einzubringen vermag, sondern jeweils

nur in dem engen, für den jeweiligen systemischen Vollzug relevanten, Ausschnitt

interessiert.

Indem Luhmann das Individuum dermaßen an den Rand drängt, redet er jedoch ebenso wenig

einer Bedrohung der Individualität das Wort (zu derlei Positionen vgl. Schroer 2001: 15-136).

Wenn er die Individuen in der Umwelt der Gesellschaft lokalisiert, versucht er vielmehr, das

prekäre Verhältnis der funktional differenzierten Gesellschaft zu ihnen präziser zu fassen.

Dabei geht er davon aus, dass Individualität – in dem Sinn, dass es unterscheidbare einzelne

Menschen gibt – an sich keine Erfindung der Moderne sei, sondern erläutert, dass

Individualität zu Zeiten segmentärer und stratifikatorischer Gesellschaftsdifferenzierung

durch die Position des Einzelnen in der Gesellschaft – seine Angehörigkeit zu einem

Subsystem: seinem Clan respektive seiner Schicht oder seinem Stand – automatisch

zugewiesen wurde. Die funktional differenzierte Gesellschaft kann Unteilbarkeit und Einheit,

also Individualität, hingegen nur noch außerhalb ihrer Grenzen gewähren. „Das Individuum

kann nicht mehr durch Inklusion, sondern nur noch durch Exklusion definiert werden“

(Luhmann 1989: 158), denn es lässt sich einem bestimmten ausdifferenzierten

Funktionssystem nicht mehr so zuschlagen, wie man vormals – qua Geburt – fest einer

Familie oder Schicht zugeordnet war. Jeder muss an Wirtschaft, Recht, Politik und Erziehung,

aber auch an Liebe, Wissenschaft und Religion partizipieren können, dafür aber insgesamt aus

der Gesellschaft draußen bleiben. Sozial inkludiert wird der Einzelne nicht mehr als

Individuum, sondern, wie gesagt, nur noch nach Maßgabe dessen, was für die Teilnahme am

jeweiligen System möglich und erforderlich ist.

Diese Entwicklung mit Émile Durkheim als Steigerung von Individualität zu werten, wäre vor

dem Hintergrund dieser Überlegungen nicht adäquat.5 Man müsste vielmehr davon ausgehen,

dass von einer Form der Individualisierung auf eine andere umgestellt wird, nämlich von

fremdreferentieller auf selbstreferentielle Bestimmung von Individuen. In diesem

Zusammenhang werden Gesellschaft und die Festlegung der individuellen Identität relativ

entkoppelt, was zu dem Eindruck geführt haben mag, es mit zunehmender Individualisierung,

wenn nicht gar der Befreiung des Individuums zu tun zu haben. Bei solcher Emphase handelt

es sich Luhmann zufolge aber lediglich um semantische Verbrämungen des radikal neuen und

5 Luhmann grenzt sich wiederholt von der Steigerungsthese ab (1989: 155 u. 229), auch wenn er die Beschreibung

Durkheims zuvor bekräftigt (151f.). Schroer (2001: 259-262 u. 274-283) differenziert Luhmanns Verhältnis zu dieser

Tradition.

6

unumgänglichen Zwangs, sich fortan in eigener Regie als Individuum zu beobachten und zu

beschreiben (Luhmann 2005: 126).6 Die moderne Auffassung von Individualität wäre dann

weniger als humanistische Errungenschaft, denn als „Zumutung“ (1989: 215) oder nüchterner

als „Folgeproblem“ (2005: 128; vgl. auch Schroer 2001: 261f.) funktionaler Differenzierung

abzuheften – ein Folgeproblem freilich, das in der Umwelt der Gesellschaft anfällt.

Warum sollte sich die Gesellschaft – und die Wissenschaft von der Gesellschaft – dann

überhaupt noch mit den Individuen beschäftigen? Wenn Individuen so eindeutig aus der

Gesellschaft heraus fallen, dann sollten sie „den Soziologen“, wie Luhmann einmal

geschrieben hat, als Gegenstand, der seine Kompetenzen überschreitet und eigentlich in den

„Zuständigkeitsbereich“ der Psychologie fällt, nicht weiter interessieren (2005: 109). Vor

diesem Hintergrund erscheint es umso erstaunlicher, dass sich Luhmann trotzdem immer

wieder näher mit dem Individuum befasst hat. Zunächst einmal gilt auch für die

Systemtheorie die Selbstverständlichkeit, dass es ohne menschliche Individuen – und seien

diese auch in die Umwelt abgeschoben – keine Gesellschaft geben kann (ebd.: 7). Individuen

sind gewissermaßen eine ökologische Vorbedingung von Gesellschaft.7 Nur menschliches

Bewusstsein sei nämlich in der Lage Kommunikation, so formuliert Luhmann, zu „reizen“

(ebd.: 45f.). Um sich kommunikativ selbst zu reproduzieren, ist Gesellschaft also auf Input

aus ihrer psychisch-individuellen Umwelt angewiesen. Einerseits stellen Individuen als

Inklusion ihre psychische Komplexität, ihr Bewusstsein, zur Verfügung, damit

Kommunikation überhaupt an Kommunikation anschließen kann und soziale Systeme sich

reproduzieren; andererseits beziehen sich die psychischen Systeme auf Gesellschaft, um ihr

Bewusstsein in Sozialisation zu formieren, ohne dabei freilich Strukturen einfach übernehmen

zu können (vgl. Luhmann 1989: 162f.; 2005: 81f.). Inklusion und Sozialisation sind somit

wechselseitig aufeinander bezogen: „Sozialisation ist also eine Konsequenz von Inklusion,

sowie umgekehrt Inklusion eine Konsequenz von Sozialisation ist.“ (1989: 164). Diese Art

der Verknüpfung von psychischen und sozialen Systemen fasst Luhmann als Interpenetration

oder in späteren Texten als strukturelle Kopplung. Inklusion meint also nicht nur ein Recht

der Individuen, an allen Funktionssystemen beteiligt zu werden, sondern vielmehr auch eine

Erfordernis der Autopoiesis, der laufend erforderlichen Reproduktion der Gesellschaft durch

fortgesetzte Anschlusskommunikation. Die Individuen sind somit eine Ressource, für deren

6 Es ist daher kein Wunder, dass sich die komplexe Semantik des Individuums erst um 1800 ausbildet, als mit der

Durchsetzung funktionaler Differenzierung überhaupt Anlass besteht, gesondert über Individualität als Beschreibungsform

für Menschen nachzudenken (vgl. Luhmann 2005: 125f.; 1989: 158f. u. 165). 7 Dass es durchaus plausibel ist, auch existentiell notwendige Voraussetzungen in der Umwelt eines Systems zu verorten,

lässt sich am Beispiel des menschlichen Organismus leicht demonstrieren: Dieser könnte ohne Wasser, Sauerstoff in der Luft

und vieles Andere nicht existieren, ja, der Mensch hätte sich als Art ohne diese Ressourcen niemals entwickeln können. Und

doch wird man den Menschen nicht mit diesen Bedingungen verwechseln, sondern mühelos von ihnen unterscheiden.

7

Inklusionsbereitschaft die Gesellschaft, genauer gesagt: die einzelnen Funktionssysteme,

Sorge tragen müssen.

2. Werbung als populäre Kommunikationsform

Die Kampagne Du bist Deutschland spricht diese Ressource unmittelbar und scheinbar

persönlich mit dem „du“ an: Indem sie den Individuen psychische Motive offeriert, will sie

ermuntern, sich zu inkludieren und kommunikativ anzuschließen.8 Dabei setzt sie, wie

eingangs dargestellt, auf eine Mixtur aus vergemeinschaftender und individualisierender

Rhetorik, indem sie einerseits das Individuum ermächtigt und als Fundament der nationalen

Gemeinschaft würdigt, es andererseits moralisch verpflichtet, seine individuellen Vermögen

in den Dienst dieser Gemeinschaft zu stellen. Du bist Deutschland stellt Individuen, die sich

mit dem Label Deutschland identifizieren mögen,9 Motive bereicht, sich für die Gemeinschaft

zu engagieren und sich damit letztlich – in Luhmanns technokratischem Klartext –in soziale

Systeme zu inkludieren. Bei „Gemeinschaft“ und „Nation“ handelt es sich um

rückwärtsgewandte Semantiken, die Teilnahme an Gesellschaft, zumal an der für Luhmann

einzig noch existierenden ‚Weltgesellschaft‘, mit einem vielleicht kulturell, keinesfalls aber

sozialstrukturell einlösbaren Identifizierungspotential ausstatten, indem sie schrankenloser

Inklusion scharfe Exklusion gegenüberstellen. Wie die Semantik der Individualität kann auch

diejenige der Nation als Folgeerscheinung funktionaler Differenzierung angesehen werden.10

Wie Du bist Deutschland Inklusion nicht nur durch den Bezug auf das Kollektive, sondern auf

Individualität anstrebt, wird im weiteren zu diskutieren sein.

Mit ihrem Inklusionsappell leistet die Kampagne etwas, was der

Kommunikationswissenschaftler Guido Zurstiege als fundamental für alle

Werbungsanstrengungen gekennzeichnete hat: „Die Werbung versucht, durch die Produktion

und Distribution von Medienangeboten bei jeweils klar definierten Zielgruppen zwangfrei

folgenreiche Aufmerksamkeit, genauer: Teilnahmebereitschaft in Bezug auf Produkte,

8 Luhmanns Wortwahl „Beteiligung“ und „Partizipation“ legt semantisch eine Integration von Individuen in die Gesellschaft

nahe. Es gilt gleichwohl nach wie vor, dass zur Inklusion bereite Individuen nur in Ausfüllung einer Rolle (oder

allerhöchstens als Person) und auch nur durch Kommunikation (und nicht psychisch) inkludiert werden können. Ebenso

wenig kann die ‚individuelle‘ Umwelt der sozialen Systeme unmittelbar kommunikativ adressieren, wohl aber

Kommunikation in Hinblick auf größtmögliche Anschlussfähigkeit und -attraktivität für noch nicht Inkludierte angelegt

werden. 9 Guido Zurstiege (2005: 169) weist daraufhin, dass Werbung nur scheinbar alle adressiere und sich tatsächlich stets nur an

eine soziale Teilmenge, die Zielgruppe, wende. In der Tat schließt der Slogan ‚Du bist Deutschland‘ durch seine

demonstrativ patriotische Semantik einen großen Teil der verbreitungstechnisch erreichten Bevölkerung aus. Indem der

Fernsehspot auch Xavier Naidoo und Gerald Asamoah als farbige Deutsche einführt, distanziert er seine Semantik allerdings

wenigstens von einem genetisch-genealogischen Nationalismus. 10 Vgl. Luhmann (1997: 1051): „Im Begriff der Nation ebenso wie im Begriff des Menschen als Individuum und Subjekt

schafft die Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems sich einen hochplausiblen Ausweg, der es erlaubt,

Identitätsressourcen zu aktivieren, die die Funktionssysteme nicht bieten können.“

8

Leistungen, Personen und Botschaften zu produzieren.“ (Zurstiege 2001: 156) Zumeist zielt

Werbung darauf, den Konsum bestimmter Warenangebote zu verstärken, also zur Inklusion in

das ökonomische System anzuregen. Zurstiege legt allerdings wert darauf, dass sie nicht

ausschließlich für dieses System, sondern eben für alle Systeme diese Funktion erbringt:

„Teilnahmebereitschaft bedeutet im Rahmen des Wirtschaftssystems, die Bereitschaft für ein

bestimmtes Produkt zu zahlen, im Rahmen des politischen Systems die Bereitschaft, eine

bestimmte Partei zu wählen, im Mediensystem die Bereitschaft, ein bestimmtes Programm zu

rezipieren, im Religionssystem die Bereitschaft eine bestimmte Botschaft zu glauben etc.“

(Ebd.: 156) Mit dieser Begriffsbildung lässt sich auch eine Kampagne wie Du bist

Deutschland erfassen, die – insbesondere in ihrer Ausfaltung als Plakat- und Anzeigenserie –

zum Engagement in verschiedenen Systemen aufruft. Auf den Plakaten werden bekannte

Deutsche aus verschiedenen Funktionsbereichen als Erfolgsmodell vorgestellt: Für die Kunst

stehen Johann Wolfgang von Goethe, Ludwig van Beethoven, Albrecht Dürer, Helmut

Newton, Walter Gropius und Paul Kuhn, für die Politik Ludwig Erhardt und Alice Schwarzer,

für die Ökonomie Alfred Thyssen, Ferdinand Porsche, Adi Dassler und Beate Uhse, für den

Sport Max Schmeling, Michael Schumacher, Faris Al-Sultan, Franz Beckenbauer, Katarina

Witt und Claudia Pechstein, für die Massenmedien im engeren Sinn Günther Jauch und Tim

Mälzer, für die Wissenschaft Albert Einstein und für die Technik Otto Lilienthal. Zwar

versprechen die einzelnen Werbungen Belohnung in jeweils unterschiedlicher Währung – vor

allem auch Ruhm und Selbstbestätigung –, doch stets spielt ökonomische Honorierung dabei

mit.

Luhmann konzipiert Werbung neben Nachrichten und Unterhaltung als einen

Programmbereich des Systems der Massenmedien, wobei alle von der Leitcodierung

Information/Nicht-Information regiert werden. Dass einerseits die Zurechnung von

Unterhaltung und Werbung auf diesen Code Schwierigkeiten aufwirft, andererseits die

Trennschärfe einer Codierung Information/Nicht-Information zu wünschen übrig lässt, wenn

bei jeglicher Kommunikation der Informationsgehalt errechnet und von der Mitteilung

unterschieden wird (vgl. z.B. Weber 2003: 214; Werber 2000: 331-333; Zurstiege 1998: 152),

schränkt die Plausibilität dieses Vorschlags ein. Deswegen muss man allerdings noch nicht an

der wunderbaren Systemvermehrung teilnehmen (vgl. hierzu kritisch Hahn/Werber 2004) und

wie Zurstiege Werbung gleich zu einem autonomen Funktionssystem aufrufen. Wenn man

sich auch darauf einigen mag, dass Werbung stets zu der einen oder anderen Form von

Inklusion motivieren will, dann muss man theorielogisch fragen, ob auch der Umkehrschluss

9

gilt: ob also wirklich alles, was für Teilnahmebereitschaft – oder eben: Inklusion – wirbt, auch

sinnvoll der Werbung zugeschlagen werden kann.11

Mir scheint es theoriearchitektonisch produktiver, jenes Bezugsproblem, das Zurstiege der

Werbung zuweist, mit Urs Stäheli allgemeiner dem Populären zuzurechnen. Das Populäre gilt

Stäheli als eine Kommunikationsform, die quer zu den gesellschaftlichen Funktionssystemen

liegt, um für jene Inklusion zu werben, die für die Autopoiesis und Funktionserfüllung eines

jeweiligen Funktionssystems erforderlich. Das Populäre stellt demnach eine

Kommunikationsform mit einer definierten Funktion, aber ohne festen

gesellschaftsstrukturellen Ort dar, weil das von ihr bearbeitete Problem in allen

Funktionssystemen anfällt. Populäre Kommunikation behandelt die jeweilige Grenze der

Inklusion, insofern sie diejenigen umwirbt, die noch nicht am System teilnehmen.

Andererseits wird populäre Kommunikation auch als Gefahr für die Identität des Systems

beobachtet, weil sie dem systemspezifischen Kommunikationscode oft nicht oder nur

unzureichend folgt. So lässt sich beispielsweise fragen, wie weit Populärwissenschaft noch an

der Differenz wahr/unwahr orientiert ist oder inwiefern die Inklusion unkundiger

Privatanleger Gefahren für das Wirtschaftssystem birgt.

Als Gattung populärer Kommunikation dient Werbung auch aus dieser Perspektive der

Inklusion in die Funktionssysteme. Der Vorzug der Subsumierung der Werbung unter das

Populäre liegt nicht nur darin, Werbung in Analogie zu anderen Genres populärer

Kommunikation zu setzen, sondern in diesem Rahmen auch das durch Werbung bearbeitete

Bezugsproblem genauer auszubuchstabieren.12

Werbung ist dann weder – oder zumindest:

nicht nur – ein autonomes Funktionssystem noch Teil des Systems der Massenmedien, also

innerhalb fester Systemgrenzen situierbar, sondern als vagabundierender

Kommunikationsmodus in allen Funktionssystemen anzutreffen. Bei Du bist Deutschland

fällt eine funktionssystemspezifische Zuordnung indes schwer, weil weder die Träger der

Kampagne klar einem System angehören, noch die Inklusion nur einem Funktionssystem

zugute kommen soll, selbst wenn der Ertrag vermutlich letzten Endes ökonomisch bemessen

wird. Außergewöhnlich an dieser Social Marketing-Kampagne ist darüber hinaus, dass eben

nicht nur zu Konsum oder zum Wählen – in systemtheoretischer Diktion: zur Besetzung von

Publikumsrollen – motiviert werden soll, sondern vielmehr die Übernahme von

11 Zu denken wäre hier etwa an Feuerwerke, Freibier, Gewinnspiele, populistische Wahlversprechen, Signierstunden,

Experimentalvorlesungen, Weltjugendtage und dergleichen mehr. 12 Vgl. beispielsweise Stäheli (2005: 164): „Werbung für wirtschaftliche Produkte oder Politik ist immer auch eine

Kommunikation im beworbenen Funktionssystem, da sie direkt auf den jeweiligen Code Bezug nimmt – also zu erreichen

versucht, dass ein bestimmtes Produkt gekauft wird oder dass eine bestimmte Partei die Regierungsrolle übernimmt.“

10

Leistungsrollen angeregt wird: Statt Museumsbesucher sollen Künstler, statt Konsumenten

Unternehmer und statt Wählern politische Aktivisten gewonnen werden.13

Über welche Möglichkeiten verfügt Werbung, um ihre Funktion zu erfüllen? Die

Werbeagentur Jung von Matt, die Du bist Deutschland maßgeblich gestaltet hat, scheint ihre

Leistung als geschickte Täuschung zu verstehen: „Gute Ideen sind wie das Trojanische

Pferd“, heißt es auf der Homepage der Agentur. „Sie kommen gut verpackt daher, so dass der

Mensch sie gerne hereinlässt. Erst dann entlarven sie ihr wahres Ziel: Eroberung.“ (Jung von

Matt o.J.) Werbung zielt demnach darauf, die eigene Absicht so zu verpacken und zu

maskieren, dass sie die Wachsamkeit des Bewusstseins umgehen und ihre Botschaften ohne

Gegenwehr in den Köpfen der Individuen einnisten kann. Diese Selbstbeschreibung der

Werber ist jenen Fremdbeschreibungen erstaunlich nahe, die apokalyptisch eine geradezu

magische Wirksamkeit persuasiver Kommunikation annehmen. So warnt der amerikanische

Kulturkritiker Vance Packard in seinem Bestseller Die geheimen Verführer von 1957 vor dem

„Griff nach dem Unbewußten in Jedermann“ (Packard 1957). Statt dieser seltsamen Allianz

zu folgen, sollte man mit Luhmann eher fragen, warum „gut situierte Mitglieder der

Gesellschaft so dumm sein [können], viel Geld für Werbung auszugeben, um sich in ihrem

Glauben an die Dummheit anderer zu bestätigen?“ Wenn Werbung auch versuche „zu

manipulieren“, so müsse sie dabei doch selbst voraussetzen, „daß dies von den Adressaten

vorausgesetzt wird“ (1996: 85). Werbung muss demnach in Rechnung stellen, dass die

Mediennutzer – anders als die Trojaner – damit rechnen, dass sie beeinflusst werden sollen.

Entrüstung über die zynische Selbstdarstellung der Werbeagentur wäre somit fehl am Platz,

will man nicht selbst der Eigenwerbung auf den Leim gehen.

Mit Stäheli lassen sich immerhin die allgemeinen Kennzeichen des Populären in der

werbenden Kommunikation auffinden: Hyperkonnektivität und affektive Besetzung. Als

Hyperkonnektivität fasst Stäheli „die Verwendung semantischer Formen, die in einer Vielzahl

unterschiedlicher Kontexte anschlussfähig sind“, also solche Formen, die leicht zugänglich,

im Idealfall allgemeinverständlich, sind (Stäheli 2005: 160). Da populäre Kommunikation

jedoch Inklusion gezielt verstärken will, reicht es nicht aus, lediglich die

Verständlichkeitshürden aus dem Weg zu räumen. Um zusätzlich Motivation zu fördern, sei

populäre Kommunikation daher – meist in enger Verknüpfung mit der Hyper-Konnektivität –

auch affektiv verankert. Zudem handelt es sich bei den in diesem Rahmen gemeinten Formen

in aller Regel um „funktionsunspezifische Kommunikationsmodi“, die im Dienst

verschiedener Systeme eingesetzt werden können (ebd.: 164).

13 Stäheli (2004: 171f. u. 180) geht davon aus, dass der Zweck populärer Kommunikation im Normalfall lediglich darin

besteht, das (noch) Nicht-Publikum zum Publikum eines Funktionssystems zu machen.

11

Dass Werbung dieses sehr allgemein gefasste Anforderungsprofil grundsätzlich erfüllt, ist

offensichtlich. Im folgenden werde ich allerdings nur eine formale Option populärer

Kommunikation fokussieren, die für Du bist Deutschland wie für viele andere Werbung

zentral ist: den Einsatz von Prominenten oder Stars. Stars können als eine wesentliche Form

des Populären angesehen werden, denn sie können einerseits die kognitive Zugänglichkeit

erleichtern, indem sie Sachverhalte und Handlungsempfehlungen anschaulich personalisieren;

andererseits sind sie – zumindest für ihre Fans – im Sinne einer einsinnig-persönlichen

Beziehung affektiv besetzt.14

Vertrauen in die bekannte Person des Stars kann beispielsweise

Komplexität reduzieren, wenn es darum geht, sich für ein bestimmtes Fabrikat von

Gummibärchen oder Nuss-Nugat-Creme zu entscheiden oder auch dafür, sein Geld in Aktien

einer bestimmten Firma anzulegen (vgl. aus aktuellem Anlass Öchsner 2006). Der

Kommunikationsmodus ist hier relativ simpel gestrickt: Der vertraute Star demonstriert, in

welcher Form er sich inkludiert, und fordert explizit oder implizit auf, es ihm gleich zu tun. Er

stellt seine eigene Popularität in den Dienst eines zu bewerbenden Produkts und hofft, die

affektive Besetzung seines Image auf die Ware zu übertragen. Wie sehr die Werbewirtschaft

mit solchen Konvertierungen zwischen Personen und Produkten rechnet, zeigt sich, wenn

Produkte einerseits mit einer „Markenpersönlichkeit“ ausgestattet werden (vgl. Séguéla 1983;

Zurstiege 2005), andererseits in umgekehrter Richtung Prominente als durch

Öffentlichkeitsarbeit zu etablierende „Marke“ angesprochen werden (vgl. Herbst 2003).15

Populäre Kommunikation durch Stars funktioniert – auch dieses Kriterium wird erfüllt –

unabhängig von dem Funktionssystem, das für Partizipation wirbt. Die meisten

Funktionsbereiche haben mittlerweile ihre eigenen als Star kommunizierten Persönlichkeiten

entwickelt – die Wirtschaft beispielsweise in Bill Gates, die Religion spätestens mit Papst

Johannes Paul II.. Außerdem kann das breite Arsenals von Stars aus Film, Fernsehen, Musik

und Sport nicht nur, worum es zunächst geht, das Publikum an die eigenen Waren binden,

sondern – wie bei Du bist Deutschland – ihre Prominenz auch in den Dienst verschiedener

Systeme, vornehmlich der Ökonomie, aber auch der Politik, stellen.

Mögen die mimetischen Mechanismen, mit denen der Star auf die adressierte Zielgruppe

Einfluss zu nehmen beabsichtigen, auch wenig komplex sein; voraussetzungsvoll ist

jedenfalls, dass Stars überhaupt dazu in die Lage versetzt sind, ja, dass es sie überhaupt gibt.

Die Frage, warum Inklusion – und das nicht nur in Werbung im engeren Sinn – oft über

prominente Individuen angesteuert wird, verlangt es, noch einmal zur Stellung der Individuen

14 Einsinnig persönlich, weil der Star personalisiert wird, die Fans in aller Regel jedoch nicht. 15 Es geht dabei zweifellos um den wechselseitigen Transfer von Aufmerksamkeit zwischen Stars, Massenmedien und

Produkten, wie Georg Franck (1998: 147-157) überzeugend skizziert hat, aber eben noch um mehr: Auch die Zuschreibung

von Eigenschaften und Wertungen soll übertragbar werden.

12

in der Moderne zurückzukehren, nun aber vor allem die Perspektive der Individuen in der

Umwelt der Gesellschaft einzunehmen.

3. Die Zumutung der Individualität

Zwar hat Luhmann für sich selbst klar gestellt, dass es den Individuen auch außerhalb der

Gesellschaft gut – wenn nicht besser – gehen kann,16

dennoch hat er den Orientierungsverlust,

den die Verabschiedung der stratifikatorischen Zurechnung von Individuen gebracht hat,

durchaus ernst genommen und keineswegs als Befreiung abgefeiert. Seit der Aufklärung wird

zwar reklamiert, jeder sei ein Individuum, doch um zu klären, wie jeder die in dieser

Verallgemeinerung steckende Forderung, sich als ein spezifisches Individuum zu

respezifizieren, aus seinen eigenen Ressourcen erfüllen kann, wird lediglich auf die Fähigkeit

des Subjekts verwiesen, sein eigenes Selbst zu ergründen Wenn funktional differenzierte

Systeme ihre jeweilige Operationsweise autonom festlegen und der Einzelne auf

unterschiedliche Weise und zeitlich ungebunden partizipieren kann, dann kann die

Gesellschaft eine harmonische Abstimmung der verschiedenen Lebensbereiche nicht mehr

sicherstellen. Kurz: Sie kann dem Individuum gar nicht „bei seiner ‚Identitätsfindung‘

behilflich sein, ihm dafür Modelle oder Beispiele bieten oder ihm diese Aufgabe durch eine

vorgegebene ‚kollektive Identität‘ erleichtern“ (Luhmann 2005: 97; vgl. auch ebd.: 90f. u.

ders. 1989: 226).

Aus ureigenem Interesse scheint die Gesellschaft, obwohl Sie keine verbindlichen Vorgaben

zur individuellen Identitätsbildung mehr leisten kann, dennoch bemüht, die Individuen mit

den neuen Komplikationen zu versöhnen. Mindestens zwei Wege lassen sich hier meiner

Ansicht nach identifizieren: Zum einen differenziert sich in Liebesbeziehung und Familie ein

spezifischer Typus gesellschaftlicher Teilsysteme so aus, dass der Einzelne dort nicht in

Hinsicht auf eine partikulare Funktionalität behandelt wird, sondern ohne gesonderte

Zurichtung in seiner selbst gewählten Eigenheit auftreten darf. Da die Distanz

individualisierter Personen zu den anderen sozialen Systemen dabei nicht bewältigt, sondern

eher noch gesteigert wird, bilden sich zum anderen Semantiken aus, die exemplarisch

vorführen, wie Individualität konstruiert, gelebt und dargestellt werden kann: Es ist die

Individualität von Stars, die hier meiner Ansicht nach als mögliches Muster der

Selbstdarstellung angeboten wird.

16 Vgl. Luhmann (2005: 159): „Im übrigen ist nicht einzusehen, weshalb der Platz in der Umwelt des Gesellschaftssystems so

ein schlechter Platz sein sollte. Ich jedenfalls würde nicht tauschen wollen.“

13

Als Gegenpol zur Zunahme unpersönlicher Beziehungen in der funktional differenzierten

Gesellschaft, bildet sich also eine Art von Liebe bzw. Intimbeziehungen aus, die anhand der

innovativen Semantik der passionierten Liebe alle profanen, nicht-passionierten und

unpersönlichen Motive für Liebesbeziehungen ausschließt. Während persönliche

Beziehungen in der modernen Gesellschaft quantitativ abnehmen, lassen sie sich im Fall der

Liebe qualitativ dermaßen steigern, dass schließlich „mehr individuelle, einzigartige

Eigenschaften der Person oder schließlich prinzipiell alle Eigenschaften einer individuellen

Person bedeutsam werden“ (Luhmann 1982: 13).Die nicht mehr sozialstrukturell fundierte,

sondern idealerweise durch Selbstreflexion autonom erzeugte Individualität, kann

üblicherweise nur ausschnittweise in die von den Funktionssystemen eingerichteten Rollen

eingebracht werden, doch in der persönlichen Intimbeziehung findet die moderne Art, sich

selbst zu entwerfen, soziale Bestätigung und Sicherheit: „Was man als Liebe sucht, was man

in Intimbeziehungen sucht, wird somit in erster Linie dies sein: Validierung der

Selbstdarstellung. [...] Wenn Selbstdarstellung als ‚Bildung‘ der eigenen Individualität

gesellschaftlich freigegeben, also kontingent gesetzt ist, bedarf genau sie der sozialen

Abstützung.“ (ebd.: 209) Mit Elke Reinhardt-Becker lässt sich darüber hinausgehend

formulieren, dass Liebesbeziehungen, insofern sie das absolute Verstehen durch den

Liebenden kommunizieren, die Fragmentierung des Ich überwinden helfen und damit auch

konstruktiv an der Erstellung individualisierter Selbstentwürfe mitarbeiten (vgl. Reinhardt-

Becker 2005: 84 u. 299; Becker / Reinhardt-Becker 2001: 190).

Die von ihrer Logik her stets von passionierter Kurzlebigkeit bedrohte Liebesbeziehung kann

in der alltäglichen Form der Familie stabilisiert werden. Auch die Familie ermöglicht, ja,

erzwingt, wenn man sich für diese Lebensform entscheidet oder in sie hineingeboren wird, die

„Vollinklusion“ der Person. Die Funktion der Familie besteht Luhmann zufolge sogar darin,

an einem gesellschaftlichen Ort noch die Inklusion der vollen Person – aber freilich nicht des

Organismus, des psychischen Systems usw. – zu ermöglichen, so wie diese als Einheit quer zu

allen gesellschaftlichen Teilsystemen beobachtet werden kann (Luhmann 1990: 208). Wohl

aus diesem Grund habe man im „19. Jahrhundert mit seinen Neigungen zu simplen

Gegenüberstellungen die Familie als Heimat, als Ort des Rückzugs aus der Welt und als Ort

der psychischen Regeneration gefeiert.“ (ebd.: 209)

Auch wenn die intimen Interaktionssysteme Liebe und Familie ein Refugium bieten, in dem

Individuen noch als vollständige Person inkludiert werden, so bleibt dabei doch das

Verhältnis zur „Gesellschaft“ – die sich aus sozialstruktureller Perspektive als

innergesellschaftliche Umwelt des jeweiligen Intim- oder Familiensystems darstellt –

14

problematisch. In der persönlich strukturierten Intimkommunikation maskiert die Gesellschaft

sich als Nicht-Gesellschaft: Inklusion in Liebesbeziehungen oder in die Familie erscheint, da

individuell an Personen orientiert, gerade nicht als sozial. Die in Romanform verbreitete

Liebessemantik lokalisiert die Vereinigung der Liebenden nicht von ungefähr außerhalb der

Zivilisation, denn nur im gesellschaftsfernen Naturzustand können sie einander ganz erkennen

und annehmen (vgl. Reinhardt-Becker 2005: 70-73). Liebe und Familie mögen die Ich-

Identität stabilisieren, insofern sie eine Perspektive auf die individuelle Person geben, in der

die Erfahrung der Fragmentierung aufgehoben und das Individuum gewissermaßen geheilt

wird (vgl. ebd: 311).17

Durch den semantischen Rückzug der Individualität ins Private wird

die Frontstellung von Individuum und Gesellschaft letztlich nicht abgebaut, sondern

verschärft (vgl. aus anderer Perspektive Sennett 1986: 15-46). Wie Individualität und

gesellschaftliche Inklusion zusammenkommen sollen, bleibt unbeantwortet.

Das zweite Angebot, bei der selbstreferentiellen Individualisierung unter die Arme zu greifen,

steht in engem Zusammenhang mit der an die Differenz persönlich/unpersönlich angelehnten

Unterscheidung von privater und öffentlich-gesellschaftlicher Existenz. Wenn in der

Kommunikation über Stars Individualisierung exemplarisch vorgeführt wird, dann ist es vor

allem dieses Spannungsverhältnis – von Öffentlichem und Privaten, von Gesellschaftlichem

und Individuellem, von Inklusion und Exklusion –, das ins Zentrum des Interesses rückt. Der

Star kann damit als Muster fungieren, anhand dessen der Einzelne die Heterogenität seiner

alltäglichen Lebensvollzüge organisieren kann: „Schon die Zeitgenossen des Deutschen

Idealismus wissen, wie man’s tatsächlich macht: Man copiert andere! In sich selbst findet

man nicht den Gegenhalt, den man brauchte, um sich selbst bestimmen zu können.“

(Luhmann 2005: 127)18

Natürlich ist schon den Zeitgenossen die Paradoxie des Verfahrens

nicht verborgen geblieben, sich durch Imitation als einzigartiges Wesen zu konstituieren,

wenn „Andersseinkönnen heißt [...]: so sein wie ein anderer“ (1989: 221).19

Man tut diese

Vorgehensweise dann zwar „einerseits als verächtliche Entgleisung“ ab, muss sie jedoch

„andererseits als Lebensnotwendigkeit“ akzeptieren (2005: 127).

17 Luhmann selbst betont – zumindest für die Familie –, dass die Orientierung des Systems an der „Vollperson“ letztlich das

Problem verschiebt, denn das „zur Einheit-Bringen“ (1990: 208) von Verhalten in und außerhalb der Familie erscheint ihm

mehr Forderung als Leistung – quasi der Preis der Vollinklusion (ebd.: 200f. u. 208f.). 18 Luhmann (1989: 223-226; 2005: 89) führt noch eine andere Lösung des Problems selbstreferentieller Individualisierung

an: die Akzeptanz innerer Pluralität. Hier gerät nun nicht die Einzigartigkeit, wohl aber die Einheit, das zweite

Bestimmungsstück des Individuums, unter die Räder. 19 Selbst wenn man Individualisierung als virtuose Handhabung diverser Muster auffasst, die diese zu einer „so leicht nicht

duplizierbaren Synthese zusammenfügt“, bleibt immer noch die unvermeidliche Basisparadoxie, dass man zumindest das

grundlegende Muster, die „Ununterscheidbarkeit des eigenen ‚Selbst‘ von jedem anderen“ (Luhmann 2005: 94), kopiert.

15

4. Die Individualität der Unterhaltung

Als Vorlagen für Kopierindividualität zieht Luhmann zunächst Romanfiguren in Betracht,

zumal seit Don Quijote die Individualisierung durch die Nachahmung literarischer Muster

selbst zum Romanthema wird (1989: 221; 2005: 88; vgl. dazu auch Pott 1995). Fiktion legt

den nach Identitätsmustern Suchenden „verführerisch nahe, virtuelle Realitäten an sich selber

auszuprobieren – zumindest in einer Imagination, die man jederzeit abbrechen kann“

(Luhmann 1996: 111). Der Roman kann diese Funktion aber nur erfüllen, solange er nicht

vorwiegend nach den ästhetischen Maßgaben des ausdifferenzierten Kunstsystems gelesen

wird. Mitsamt der unterhaltend-fiktionalen Narration wechselt diese Funktion dann ins

System der Massenmedien über (ebd.:107). Der Programmbereich Unterhaltung wird samt

und sonders der Aufgabe verschrieben, im geschilderten Sinn Angebote zur

Individualisierung zu unterbreiten: „Unterhaltungsvorführungen haben“, so Luhmann, „immer

einen Subtext, der die Teilnehmer einlädt, das Gesehene oder Gehörte auf sich selbst zu

beziehen“ (ebd.: 112; meine Hervorhebung). Sowohl in Abgrenzung als auch in Zustimmung

zur dargestellten Figur kann sich der Mediennutzer in seiner eigenen Individualität

beobachten:

Unterhaltung ermöglicht eine Selbstverortung in der dargestellten Welt. [...] Das, was

als Unterhaltung angeboten wird, legt niemanden fest; aber es gibt genügend

Anhaltspunkte [...] für Arbeit an der eigenen ‚Identität‘. Fiktionale Realität und reale

Realität bleiben offensichtlich unterschieden, und eben deshalb wird das Individuum,

was seine Identität betrifft, Selbstversorger. (ebd.: 115f.)

Auch der einzigen anderen, von Luhmann mit dem Fernsehen verbundenen

Unterhaltungsform, die der fiktionalen Narration zur Seite steht, wird die selbe Funktion

zugeordnet, „nämlich [der] Gattung der höchstpersönlichen Erfahrungsberichte“: „Personen

werden, im Bild sichtbar, vorgeführt und ausgefragt, oft mit Interesse an intimsten Details

ihres Privatlebens.“ (ebd.: 111) Woran der fernsehabstinente Soziologe bei dieser kryptischen

Beschreibung gedacht haben mag, lässt sich nur mutmaßen. Möglicherweise dachte er an

frühe Daily Talkshows wie Hans Meiser oder Arabella, vielleicht aber auch an ältere Formate

des Prominenteninterviews wie die VIP-Schaukel.

Hier jedenfalls möchte ich einsetzen und die Vermutung äußern, dass es seit Mitte des 19.

Jahrhunderts zunehmend als real markierte und behandelte Personen sind, die sich als

16

modellhafte Figurationen von Individualität etablieren – und zwar prominente Personen, die

als herausgehobene Individuen Aufmerksamkeit auf sich vereinen können. Dabei handelt es

sich zunächst zum größten Teil um Künstler, insbesondere, aber zweifelsohne nicht nur

Schauspieler, deren Werk – im Sinne der Genieästhetik – als Entäußerung ihrer originären

Individualität gesehen wird.20

Nur genialen Künstlern, so pointiert Luhmann die Semantiken

um 1800, gesteht man noch Ausnahmen von der Kopierindividualität zu, wobei diese dann

gerade deswegen als probate Kopiervorlage figurieren (vgl. 1989: 222f.). Das Theater, die

Musik, aber auch Malerei und Literatur werden in der Moderne zunehmend durch die

Persönlichkeit der Künstler betrachtet, die schon bald nicht mehr allein aus den künstlerischen

Hervorbringungen herausgelesen werden müssen, sondern durch Informationen zum

Lebenswandel auch als Privatperson Gestalt gewinnen. So werden Literaten seit Goethes

Eckermann – in nachgerade stereotyper Manier – durch Interviews individuell charakterisiert

(vgl. Heubner 2002). In den USA, aber vermutlich auch in Europa bildet sich ab Mitte des 19.

Jahrhunderts, also bereits lange vor dem Fernsehen, ein Typus von Journalismus heraus, der

das Privatleben von Prominenten fokussiert (vgl. Ponce de Leon 2002). Das Individuum

taucht in den Massenmedien dann nicht mehr allein als fiktionales Konstrukt der

Unterhaltung, sondern als ‚reale‘ Person ebenso im Nachrichtenbereich auf.21

Es steht daher

zu vermuten, dass es auch mit dem Aufstieg massenmedialer Berichterstattung zu tun hat,

dass die reale prominente Persönlichkeit – oder anders gesagt: der Star – zunehmend als

potentielles Muster zur Individualisierung hinzutritt und in seiner identitätsstiftenden

Funktion möglicherweise sogar den fiktionalen Charakter in den Hintergrund drängt. Die

spezifische Funktionsweise des Stars als Muster für Individualisierung soll abschließend im

folgenden Kapitel ausgeführt werden.

5. Die Popularität des Stars

Während Werbespots üblicherweise die Aufforderung, das Konsumverhalten der gezeigten

Prominenten zu kopieren, um wie sie zu leben, nur implizieren, thematisiert Du bist

Deutschland das Verhältnis von Vorbildlichkeit und Kopierbarkeit offen. Zwar nutzt der

Fernsehspot Prominente wie gewöhnlich, um Aufmerksamkeit und Vertrauen in seine

Botschaft zu gewinnen. Er thematisiert aber überdies – noch im Sinn der Ermächtigung – das

20 Richard Sennett (1986: 252-264 u. 270-273) berichtet, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Bühnenpersönlichkeiten aufkamen, die wie der Geiger Paganini oder die Schauspieler Marie Dorval und Fréderick Lemaître

insbesondere für die virtuose Darstellung ihrer eigenen Individualität geschätzt wurden. 21 Schließlich könnte man notieren, dass auch der Programmbereich Werbung Individuen als Muster für eine – durch

Konsum zu erreichende – Kopierindividualität anbietet, nicht zuletzt auch in Du bist Deutschland. Für vage Bemerkungen in

dieser Richtung vgl. Luhmann 1995: 92f.

17

Verhältnis des Anhängers zum Star. So dekretieren Oliver Korritke, Reinhold Beckmann und

ein paar namenlose Jugendliche: „Dein Wille ist wie Feuer unterm Hintern. Er lässt Deinen

Lieblingsstürmer schneller laufen und Schumi schneller fahren.“ (Manifest 2005)22

Diese

wenig originelle Feststellung beabsichtigt freilich nur, erneut die Wirksamkeit scheinbar

unbedeutender individueller Handlungen darstellen will. Was man den verehrten Sportlern

angedeihen lässt, soll, so die Schlussfolgerung, nun bitte auch dem „guten Freund“

Deutschland zugute kommen.

Die gegenläufig angelegte Anzeigen- und Plakatkampagne bezieht sich dagegen nur indirekt

auf die Nation, indem sie verschiedene bekannte Persönlichkeiten aus der Geschichte und

Gegenwart Deutschlands – von Albrecht Dürer bis Beate Uhse – als Vorbilder, als

Kopiervorlagen, präsentiert. Der Slogan paradoxiert dann nicht mehr wie mit „Du bist

Deutschland“ das Verhältnis von Einzelnem und Gemeinschaft, sondern legt in

Formulierungen wie „Du bist Ludwig van Beethoven“ das Paradox der Kopierindividualität

offen, sein Selbst durch einen anderen zu gewinnen. Im Bild werden hierzu gerade nicht die

Gesichter dieser ‚Stars‘ kombiniert, sondern ihre potentiell namenlosen Imitatoren, die nur

selten in Nahsicht, sondern oft nur aus der Ferne oder fragmentarisch (z.B. deren Lippen)

abgebildet sind. Lediglich der Name dient als Chiffre für das mit dem berühmten Individuum

verbundene Projekt:

Du bist Johann Wolfgang von Goethe. Seinen ersten Bestseller hat Goethe mit 17

Jahren geschrieben. Das ist ungefähr die Zeit, die deine Buchidee schon in der

Schublade liegt. Du bist sehr wahrscheinlich nicht Goethe – aber wäre es nicht

interessant, herauszufinden, ob ein wenig von ihm nicht auch in dir steckt? Außer der

Briefmarke und einen Umschlag kostet es nichts, genau das herauszufinden. Der Profit

dagegen könnten Kinder sein, die dich verfluchen, weil sie deine Gedichte aufsagen

müssen, und ein netter Geldregen.

Diese Art von Slogan ist, insofern sie wenig voraussetzt, aber viel verspricht, auf möglichst

weit reichende Anschlussfähigkeit hin gearbeitet. Stets wird eine mögliche Parallele zwischen

dem Adressaten der Werbung und der prominenten Persönlichkeit ausgemalt:

Selbstgeschriebenes in der Schublade (Goethe), lustiger Name (Claudia Pechstein), Herkunft

aus einer Großfamilie (Dürer), Liebe zum Auto (Ferdinand Porsche), eine missbilligte

22 Kurz zuvor thematisiert der Spot in diesem Sinn die Schnittstelle vom Individuum und der Gruppe, in deren

Kollektivaktion es letztlich aufgeht: „Warum feuerst du dann deine Mannschaft im Stadion an, wenn deine Stimme so

unwichtig ist? Wieso schwenkst du Fahnen, während Schumacher seine Runde dreht? Du kennst die Antwort: Weil aus

deiner Flagge viele werden und aus deiner Stimme ein ganzer Chor.“ (Manifest 2005)

18

Leidenschaft (Beate Uhse), einen Fotoapparat zu besitzen (Helmut Newton), eine „schräge

Weltsicht“ (Alice Schwarzer) oder Freude am Musizieren (Beethoven). Auf diesem

Fundament setzt die Ermunterung an, die eigenen Fähigkeit auszubauen und zu nutzen oder

seine Hemmungen zu überwinden. Schließlich werden die möglichen Gratifikationen, seien

sie ökonomischer oder ideeller Natur, angedeutet.

Erfolg bemisst sich dabei nicht zuletzt am Bekanntheitsgrad, der den Prominenten erst den

Platz in der Kampagne verschafft hat und als soziale Bestätigung ihrer Individualisierung

ausgelegt werden kann. Allerdings wird die Person durch den Text jeweils auf ein eng

gestecktes Set von Qualitäten verengt, statt die ganze Persönlichkeit einzubeziehen. Letztlich

werden die Einzelnen als nach verschiedenen Bereichen – Kunst, Ökonomie, Politik, Sport,

Technik, Wissenschaft – spezifizierte Chiffren für Erfolg in Anspruch genommen, anhand

derer sich die Belohnung von Eigeninitiative vorführen lässt. Prominente zu kopieren bleibt

damit kein abstraktes Programm mehr, sondern findet sich in eine praktikable Anleitung

umgesetzt, was mit welchem Ziel wie imitiert werden soll. So erläutert die Homepage der

Kampagne auch ganz allgemein: „Wie kann man Albert Einstein, Claudia Pechstein oder

Günter Jauch sein? Indem man zu sich selbst steht und an sich glaubt. Indem man sagt, was

man denkt, und zeigt, was man kann. Dafür braucht man keinen Nobelpreis, keine

Goldmedaille oder eine Fernsehshow.“ In der Anzeigenserie, die Deutschland abgesehen vom

Kampagnenlogo gar nicht mehr aufruft, wird Individualisierung mit Inklusion nach dem

urliberalen Prinzip Adam Smiths versöhnt, Gemeinwohl aus individuellem Streben zu

gewinnen. Alle Texte versprechen in letzter Konsequenz individuelle Selbstverwirklichung

durch Inklusion, insofern sie das Ausschöpfen der eigenen Potentiale und Ideen zum

Ausgangspunkt nehmen. Wer etwas für sich tut, tut etwas für Deutschland, und wird dafür –

so das Versprechen – sozial bestätigt. Indem die prekäre Spannung von intim-privater und

öffentlicher Existenz – wohlgemerkt semantisch! – getilgt wird, erscheint geradezu eine neue

Form von ‚Inklusionsindividualität‘.23

Das Verhältnis öffentlich/privat muss im Falle des als Muster präsentierten Stars nicht jedes

Mal explizit ausgeführt werden, sondern kommt ihm qua seiner internen Struktur zu. Hierin

unterscheidet er sich maßgeblich von älteren Strategien, Individuen als Orientierungsmarken

für andere Individuen zu etablieren. Insbesondere der Katholizismus hat einen beträchtlichen

medialen Aufwand getrieben, um etwa durch die Diffusion von Bildern und Legenden Heilige

als Vorbilder gottgefälligen Lebens zu propagieren. Nach Individualisierung im modernen

23 Nur als überwindbares Handicap auf dem Weg zur Selbstverwirklichung – der zu Hänselei Anlass gebende Name Claudia

Pechstein, Dürers Herkunft aus einer Großfamilie oder Max Schmelings aus kleinen Verhältnissen – tauchen die Spannungen

zum Privaten auf.

19

Sinn sucht man hier allerdings vergebens, sind Heilige doch vielmehr daraufhin angelegt,

christlichen Lebenswandel als allgemeine Handlungsnorm, also ein Abstraktum, zu

personifizieren (vgl. Ruchatz 2001: 340f.). Der Star hingegen funktioniert dagegen nicht mehr

als Typus in diesem Sinn, sondern als einzigartig und autonom verstandenes Individuum, in

dem sich öffentliche und private Lebenssphären integrieren.24

Dass der Star auf eine

gesellschaftliche Problemlage, eine Krise des Individuums in der Moderne, antwortet, ist von

den wissenschaftlichen Diskursen – von Theorie möchte man angesichts eines

augenscheinlich vom populären Gegenstand affizierten Reflexionsniveaus meist nicht reden –

zwar immer wieder erwähnt, aber noch nicht konsequent ausgearbeitet worden.25

Seit der Pionierarbeit Richard Dyers ist das semiotisch gefasste Konzept des ‚Image‘ zur

Basis der filmwissenschaftlichen Starforschung geworden. Das Image eines Stars umfasst

alles, was in der Öffentlichkeit über ihn kursiert, und lässt sich damit als „extensive,

multimedia, intertextual“ (1986: 3) beschreiben. Man könnte das Image aus

systemtheoretischer Perspektive als die kommunikativ – und damit gesellschaftlich –

prozessierbare Form der populären Person fassen, die freilich ihre Wirksamkeit daraus zieht,

dass hinter den Zeichen eine real existierende, eigentliche Person vorausgesetzt wird. So

beschränkt sich das Image eines Filmstars nicht nur auf das öffentliche – man könnte auch

sagen: professionelle – Auftreten, also etwa als Summa der Filmrollen, sondern umfasst

gleichermaßen das auf die private Person bezogene Wissen. Zwar kann die Teilnahme an

allen Funktionsbereichen der Gesellschaft, in Leistungs- wie in Publikumsrollen, zum

Element eines Starimages werden(Konsum, Rechtsstreitigkeiten, Religiosität, Kunstrezeption

oder -produktion, sportliche wie auch politische Aktivitäten) – dies interessiert aber nur,

insoweit es Aufschluss über die Person an sich gibt. Im Vordergrund stehen aber stets die als

Refugium des authentischen Individuums angesehenen Sozialsysteme Liebe und Familie. Es

macht die Figur des ‚Stars‘ gerade aus, nicht auf die als öffentlich markierte professionellen

Existenz auf Bühne oder Leinwand reduziert zu sein, die zuallererst die Aufmerksamkeit auf

die Person des Stars lenkt, sondern von dort aus auf das Privatleben überzugreifen, um den

‚ganzen Menschen‘ in seiner Individualität zu erfassen.26

Richard deCordova hat in seiner Studie zur Genese des Filmstars gezeigt, wie mit dem

mehrfachen, wieder erkennbaren Erscheinen eines Darstellers im frühesten Film vom

24 Bekanntlich wurden Filmstars von den publicity departments der Hollywood-Studios nach bestimmten Typen modelliert

(z.B. dem Vamp; vgl. exemplarisch Patalas 1963). Während beim Star diese Gleichförmigkeit als ‚authentische‘

Persönlichkeit des Individuums kaschiert wird, leitet sich die Ausnahmestellung der Heiligen nicht aus ihrer Individualität

her, sondern verweist explizit auf die göttliche Gnade verweisen, als deren Träger sie auserwählt wurden. 25 Vgl. Garncarz 1989: 323f., Fowles 1992: 9-39, sowie nach wie vor am hellsichtigsten, aber theoretisch ebenso wenig

ausgearbeitet Dyer 1986: 8-18. 26 Im allgemeinen gebrauche ich die Begriffe „Prominenter“ und „Star“ nahezu synonym, wobei der Star-Begriff jedoch

enger gefasst und nur dort verwendet wird, wo die hier skizzierte Struktur mit gemeint ist.

20

Publikum allmählich überhaupt erst eine Person, die so genannte picture personality

konstruiert wird, die schließlich durch einen Eigennamen und ein Privatleben als Individuum

‚vervollständigt‘ wird:

The picture personality was defined […] by a discourse that restricted knowledge to

the professional status of the actor. With the emergence of the star, the question of the

player’s existence outside his or her work in film became the primary focus of

discourse. The private lives of the players were constituted as a site of knowledge and

truth. (1990: 98)

Weil, was die Kommunikation über Stars betrifft, die Differenz öffentlich/privat als re-entry

ins Öffentliche eingeführt und das Private naturgemäß nur insoweit beobachtet wird, als es in

die Öffentlichkeit gelangt, erwächst ein geradezu manisches Interesse, das Privatleben der

Stars nach authentischen Informationen, dem unfingierten, quasi dem ‚privaten Privaten‘, zu

durchleuchten.27

Dieses Muster, das Interesse von einer durch öffentliches Auftreten bekannt

gewordenen Person auf die Privatperson auszudehnen und in ihrer Einheit als Individuum zu

konstituieren, gilt nicht nur für den Filmstar, auch wenn dieser durchaus als die idealtypische

Realisierung gelten darf. Ein solches Interesse an öffentlichen Privatpersonen bildet sich im

Laufe des 19. Jahrhunderts heraus und hält bis in die Gegenwart an, wobei die

Tätigkeitsbereiche, in denen Personen öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen können,

heute über die performativen Künste hinaus von Sport bis hin zu Wirtschaft und Politik

reichen. Ich schlage vor, das beschriebene Muster – in Anlehnung an Michel Focaults

‚Autorfunktion‘ (1988: 16-23) – als ‚Starfunktion‘ zu bezeichnen, die bestimmte, durch

massenmediale Kommunikation bekannt gewordene, Personen als ‚Stars‘ auszeichnet.

Insofern der Star als reales Individuum ausstaffiert ist, das öffentliche und privat-intime

Existenz integriert, bietet er sich als Muster für Individualisierung an, das die Beziehung von

Individuum und Inklusion bearbeitet. Seine Bedeutung als populäre Figur läge demnach vor

allem darin, die fundamentale Problematik des modernen Individuums aufzugreifen und ihr

mit einem ganz konkreten Fall gelebter Individualität zu begegnen. Als populäres, quasi

voraussetzungslos nachvollziehbares und affektiv besetztes, Modell führt jeder Star

exemplarisch vor, wie sich gesellschaftliche Inklusion und Individualisierung vereinbaren

lassen. Stars demonstrieren mithin, wie Stäheli in Bezug auf das Populäre generell formuliert

27 Authentifizierend wirken insbesondere Skandale (vgl. deCordova 1990: 117-146), insofern sie scheinbar die vor dem

authentischen Privatbereich errichtete öffentliche Fassade zum Einsturz bringen. Freilich entsteht der Effekt der Authentizität

nur in Differenz zu dem, was als konstruiert aufgefasst wird.

21

hat: „Inclusion is really quite good fun.“ (2002: 332) Im Star ist also in nuce bereits jenes

Problem enthalten, dem sich die Kampagne Du bist Deutschland verschrieben hat. Die Stars,

die Du bist Deutschland Gesicht und Stimme oder zumindest ihren Namen geliehen haben,

stehen schon vor ihrer konkreten Thematisierung für eben diese Vereinbarkeit von Inklusion

und Individualität.

Damit ist eine wesentliche Voraussetzung für die Etablierung von Stars impliziert:

Gedächtnisbildung. Wenn es erforderlich wäre, das Image einer massenmedial präsentierten

Person jedes Mal von Grund auf neu zu etablieren, dann hätten sich Stars als bekannte und

verstetigte Konstrukte von Individualität nie ausbilden können. Erst mit der Zeit kann sich

überhaupt eine hinreichend komplexe, von anderen unterscheidbare Persönlichkeit aufbauen.

Ein Gedächtnis ermöglicht es, die jeweils neuen Informationen als solche einzuschätzen und

in Bezug auf die Konstruktion der Individualität des Stars auszuwerten. Dies gilt für das

System der Massenmedien, das stets zu unterscheiden hat, was als bekannt vorausgesetzt

werden kann und was noch unbekannt, also informativ, ist (Luhmann 1996: 32-48), aber auch

für die psychischen Systeme, die jede neue Information als Bestätigung oder Abweichung in

ihr Konstrukt der Star-Persona einbeziehen. Jede Erwähnung eines Stars – etwa in einem

Werbesport – ruft einen bestimmten Wissenshorizont auf und kann dann mit ihm operieren.

Umgekehrt erweitert jeder neuerliche Abruf einer Starperson deren Image.28

Mithin bleibt die

Individualitätsbildung von Stars im Vergleich zu derjenigen fiktionaler Charaktere

zukunftsoffen.

So kann der Star allerdings seine Funktion, Individualisierung exemplarisch aufzuzeigen,

nicht reibungslos erfüllen, denn über eine formelhaft prästabilisierte Individualität verfügt

auch er nicht. Das Starimage – das lässt die Diversität und Fülle der imagebildenden Quellen

ahnen – bietet nicht per se eine kohärente Erzählung vom Leben und Arbeiten eines

Individuums. Vielmehr taucht hier das Problem der Individualitätsbildung in symbolisch-

verkleinerter Form noch einmal auf: Aus einer Vielzahl heterogener, möglicherweise auch

widersprüchlicher Zeichen muss eine Einheit prinzipiell erst noch hergestellt werden (vgl.

z.B. Dyer 1986: 8).29

Allerdings werden die über Stars publizierten Informationen in aller

Regel nicht ungeordnet, sondern bereits in Bezug auf einen jeweils zugrunde gelegten

Entwurf des jeweiligen Individuums hin präsentiert. Dies gilt in besonderem Maße für

28 Bei einem Zyniker wie Harald Schmidt kann es durchaus erstaunen, dass er zu einer Teilnahme an Du bist Deutschland

bereit war. 29 In der klassischen Zeit Hollywoods geben die PR-Abteilungen der Studios Acht, dass das innerfilmische Rollenimage und

das außerfilmische Leben in Einklang stehen. Als Beispiel hierfür kann Ingrid Bergman dienen, deren Filmrollen mit ihrem

privaten Image als so schöne wie pflegeleichte Ehefrau und Mutter korrespondierente, bis sie ein neues Leben an der Seite

Roberto Rosselinis begann. So heißt es 1945 in der Zeitschrift Photoplay: Bergmans „proudest achievement is the successfull

combination of a fine career and a perfect home life“ (Zit. Garncarz 1989: 333).

22

Biographie und Autobiographie, aber auch für das Personality-Interview, das sein Interesse

auf das Zwischenspiel von Privatleben und öffentlicher Existenz richtet. Doch selbst jeder

Kurzartikel der Klatschpresse oder jeder neue Filmauftritt eines Stars bezieht die neu

veröffentlichte Information auf den bekannten Rahmen. Es bleibt aber stets freigestellt, sich

den angebotenen Lesarten anzuschließen, denn die zu jedem Star kursierenden

Wissensbestände sind so reichhaltig, dass sie eine Vielzahl von Deutungsangeboten

legitimieren. Individualisierung verläuft also im Vergleich zu fiktionalen Figuren

dynamischer und ‚interaktiver‘: Weder wird die Person aus der homogenen Perspektive eines

Erzählers präsentiert, noch ist der Informationsfluss zeitlich abgeschlossen. Bei als

‚Legenden‘ auf Permanenz gestellten Stars wie Marylin oder Elvis endet der Informationsfluß

nicht einmal Jahrzehnte nach dem Tod.

Die individuelle Identität von Stars fällt zwar weniger stabil aus, liegt aber in ihrer Dynamik

näher an der lebensweltlichen Erfahrung. Doch wie steht es überhaupt um die Vorbildlichkeit

und Kopierbarkeit des Stars, wenn dessen Aufmerksamkeitsbonus gerade auf seine

Ausnahmestellung, auf jene exzeptionellen Vermögen und Leistungen zurückgeführt werden,

die den Grund der öffentlichen Individualisierung bilden? Die Optionen und Ressourcen von

Stars, ihre Persönlichkeit auch in die öffentlich-professionellen Rollen einzubringen, sind

sicher nicht repräsentativ. Dennoch hat sich die Semantik des „Vorbilds“, so wie sie auch Du

bist Deutschland zugrunde legt, fest mit der des Stars verbunden (vgl. stellvertretend Hurth

2001). Wer ambitioniert in Schauspiel, Musik oder Sport ist, mag – davon zeugen die

Starsearch-Formate – durchaus gleichwertige Talente für sich beanspruchen. Ebenso wie die

Überhöhung gehört zum Star allerdings die Veralltäglichung: Die Differenz öffentlich/privat

korrespondiert mit Begriffen wie „Halbgott“ oder die Behauptung einer dialektischen

Beziehung von Nähe und Ferne (vgl. z.B. Morin 1972). Die Nähe wird dabei durch jene

Segmente des Images sichergestellt, in denen der Star außerhalb seines professionellen

Arbeitsbereichs agiert. Zwar mag der er ein glamouröseres, durch seine Prominenz

begünstigtes Leben führen, doch gehört das Scheitern des privaten Glücks bekanntlich zu den

Standards der Starpublizistik. Ein Großteil der Stars kann als Beleg dafür gelten, dass das

Privatleben – vermutlich gerade, weil man dort immer noch den Kern individueller Existenz

sucht – nicht mehr der heilsame und geschützte Rückzugspunkt, sondern selbst gefährdet ist.

Stars liefern keineswegs nur Erfolgsgeschichten der Individualisierung.

Die Frage der Kopierbarkeit kann nun noch einmal differenzierter beantwortet werden. Zum

einen können einzelne oder mehrere Verhaltensweisen und Selbstdarstellungen eines

konkreten Stars imitiert werden. Politische Partizipation, Konsum oder Kleidungsstile können

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so als Element der individuellen Selbstdarstellung entlehnt werden. Das affektive attachment

fungiert dabei als Selektor, welche Vorbilder in Frage kommen. Du bist Deutschland leistet

eine Konkretisierung des Kopierbaren und bricht die Persönlichkeit des Stars auf wenige

anschlussfähige Züge, nämlich den Impetus der Selbstverwirklichung, herunter. Der Star

fungiert dann als Index des Realen, der dafür einsteht, dass das Muster nicht fiktiv, sondern

realisierbar sei. Individualität könnte dann in einer individuellen und praktikablen Mischung

verschiedener Vorlagen bestehen (vgl. Luhmann 2005: 94).

Zum anderen können Stars – aus einer distanzierteren, weniger involvierten Perspektive –

ganz allgemein als populäre Figur angesehen werden, an denen sich diverse zeitgenössische

wie ältere Relationierungen von Individuum und Gesellschaft, von Privatem und

Öffentlichem, studieren lassen, die teilweise gar nicht mehr auf Unteilbarkeit, sondern

gewissermaßen auf ‚Dividualität‘ (vgl. Schroer 2001: 268), also eine womöglich

unproblematische Gegenüberstellung privater und öffentlicher Rollen, setzen. In diesem Sinn

könnten Stars dann Beispiele, die von dem Druck, private und öffentliche Existenz auf einen

Nenner zu bringen, entlasten – oder aber anspornen, es doch zu tun. Denn als Muster und

Vorbilder bleiben Stars, nicht zuletzt was die Relationierung von privatem und öffentlichem

Leben betrifft, genauso unverbindlich und frei wählbar wie die fiktionalen Charaktere aus

Roman, Spielfilm oder Fernsehserie, die erlauben, vorliegende Konstrukte von Individualität

mit dem eigenen zu vergleichen. Weil Stars als real existent aufgefasst werden, können diese

Muster jedoch nicht als pures Gedankenspiel, als pure Fiktion, abgewiesen werden. In Stars

stellen die gesellschaftlichen Funktionssysteme mithin diversifizierte und für jeden

zugängliche semantische Muster bereit, anhand derer man sich als Individuum fassen und

zugleich in Relation zur Gesellschaft setzen kann.30

Wenn wir uns bemühen, Goethe, Katarina

Witt oder Franz Beckenbauer zu seine, dann sind wir nicht nur Deutschland, sondern auch in

einer bestimmten Weise sozial inkludiert.

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30 In Luhmannscher Diktion könnte man die an Stars gewonnen Muster von Invididualität als Semantiken, also „höherstufig

generalisierbaren, relativ situationsunabhängig verfügbaren Sinn“ (Luhmann 1980: 19) verstehen, der für die

Selbstbeschreibung als Individuum abgerufen werden kann.

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