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Sein, Schein und Ursein bei Reinhold und einige Folgen
Rolf Ahlers
Inhalt Sein und Schein bei Reinhold und einige Folgen ................................................................ 1 1. Reinholds Religiöses Interesse in der Bardiliphase ....................................................... 1 2. Kritik des Sujektivismus und dessen Scheinphilosophie ................................................. 7 3. Identität, Differenz und Indifferenz ............................................................................... 14 4. Hypothese und Schluß ................................................................................................... 19
5. Das Urwahre, das Wahre und das Reelle ..................................................................... 35
6. Anwendung des Denkens und die Anfangsproblematik ................................................ 36 Bibliographie .................................................................................................................... 37
1. Reinholds Religiöses Interesse in der Bardiliphase
Meine Überlegungen über Sein und Schein in Reinholds Werk und einige derer Folgen
beschränken sich auf die längste Phase des „rationalen Realismus“, in der er von Bardili
Ende 1799 ausgeht und sich bis etwa 1803 kritisch dem Idealismus der jungen Jenaer
Kritischen Journalisten Schelling und Hegel gegenüberstellt. Dieser erste Teil (1) betont
Reinholds betont religiöses Interesse in dieser Bardiliphase. Dies Interesse ist für
Reinhold die Grundlage seines objektiven Idealismus. Von dieser Grundlage aus kritisiert
er – der zweite Teil (2) – den Subjektivismus Schellings (und Hegels). Schellings
Philosophie ist nur eine Scheinphilosophie und sogar Philodoxie. Diese
Scheinphilosophie entpuppt sich – im dritten Teil (3), in dem die Problematik der
Identität behandelt wird – als einen Indifferentismus. Da ein „Urwahres“ für Reinholds
Denken in dieser Phase grundlegend ist, muß er es aber neu konzipieren, um sich gegen
den Vorwurf zu schützen, sein neues – und Bardilis – Denken seien ein hartnäckiger
Dogmatismus. Diesen Schutz findet Reinhold (4) in einer entwicklungslogischen
Zuordnung von Hypothese und Schluß. Einige der Folgen der dargestellten
Unterscheidung von Sein und Schein bei Reinhold in seiner Bardili Phase sind neue
Spannungen mit Schelling – und weniger stark mit Hegel – mit dem er einen
„Vertilgungskrieg“ führt. Eine weitere wichtige Folge ist Reinholds Bereitstellung
wichtiger Theorieelemente für die Entwicklung Hegels Denken vor allem während der
2
Jenaer Jahre. Da Reinhold grundsätzlich ein systematischer Denker ist, wird durchweg
die Kontinuität zwischen verschiedenen Teilen und die systematischen Verbindungen im
Gesamtdenken Reinholds stärker betont als das üblich ist.
Reinhold meint Anfang des 19. Jahrhunderts, den eigentlichen Idealismus gefunden zu
haben und fängt an, ihn zu artikulieren. In dieser Phase gebraucht Reinhold solche
Begriffe wie „Wahrheit“, „das Urwahre“, „das schlechthin, ursprüngliche Wahre“, das
„An sich selbst Wahre()“,1 das „weder bloß Subjektiv oder Objektiv oder auch in
beyderley Rücksicht Absolute“2 „das durch sich selber Wahre“
3, das „Andere“, das auch
als „Etwas Höheres“ „übersinnlich Reelles“4, wie auch „Wesen“ Ü„Urgrund“ und auch
und das „Unbedingte“ beschrieben wird, welches mit dem „Urlicht“ der Vernunft
erkennbar ist.5 Seit dem Anfang seiner Bardiliphase versteht er seine Philosophie
1 Reinhold, (1801), BzÜ, H 1, 70
2 Reinhold (1804), Reinhold-Bardili Briefwechsel 3.
3 Reinhold, Schelling Rezension, (1800a), Sp. 366, H 1, 101
4 Reinhold, (1801), BzÜ, H 2, 15f.
5 Der Begriff „Urlicht der Vernunft“ stammt von Jacobi, mit dem sich Reinhold laut seines Ersten
Sendschreibens an Fichte vom März u. April 1799 in Eutin ausführlich über Grundfragen der Philosophie
besprochen hat. Vgl. Jacobi zum „Urlicht der Vernunft,“ Spinozabriefe (17851, 1789
2), JWA I. 349:5.
Reinhold spricht im Sendschreiben von 1799 vom „Urlicht“ der Vernunft, „von welchem das Licht sowohl
des reinen als des empirischen Wissens blosser Abglanz ist und durch welches allein die Vernunft sich
selbst und alles andere in dem Wahren selbst vernimmt“ (1799) 319. Es ist das „für sich und durch sich
schlechthin Wahre“ 313. Es ist das „wahre Seyn an sich selber“ 312f. Dies ist auch „Gott“ 316, 320. Es ist
das „schlechthin Unbegreifliche“ 316 und „Unendliche“, 319. „Im „Glauben an Gott“ 316 ist das Denken
des „getreue[n] NACHBILD[es]“, das nicht das „URBILD“ verfehlt 314 „ein Gottgegebenes, [...eine]
Offenbarung Gottes in uns“, 314. Immerhin spricht Reinhold aber schon in seinen Hebräischen Mysterien
von (1787) 1788 von der Identität von Vernunft und Offenbarung vgl. Hebräische Mysterien (1788)2 56.
Weiterhin ist interessant in diesem Zusammenhang, daß genau diese Identifizierung einer aufklärerisch-
autonomen Vernunft als Erkenntnisorgan reiner Wahrheit den „unseligen Streit“ (1787) 55 über die
historische Autentizität einer Wahrheit stiftenden religiösen Urquelle beilege. Und noch in der Synonymik
von 1812 beruft sich Reinhold schon gleich am Anfang (iiif) dieser Jacobi zugeeigneten Schrift, auf genau
dieses Verständnis von wahrheitsfähiger, in einem unmittelbaren Glauben verankerten Vernunft mit
Rückblick auf das Ende des „Vorberichts“ Jacobis Sendschreibens an Fichte (1799) JWA II, 193:20-31, in
dem Jacobi voraussieht dass er, Reinhold „um der Wahrheit willen“ „vor den Riß“ zwischen ihm und
Fichte treten muss, diesmal mit der schweren Last des älteren Jacobi auf dem Rücken, um also Jacobi, den
Älteren, diesen vcrteidigend „aus der Schlacht tragen“. Reinholds Hinweis in der späten Synonymik erinnert
nicht nur an das Ende des Vorberichts des Sendschreibens von 1799, sondern auch an Jacobis Brief an
Reinhold vom 10.9.1799, in dem er unmittelbar vor der Drucklegung des Sendschreibens meint, Reinhold
habe „allein Schuld“ daran, daß er das Sendschreiben drucken läßt, wodurch sich Jacobi veranlaßt fühlt,
darauf „gleich im Vorbericht“ hinzuweisen, Reinholds Leben und Wirken (1825), 248. Im Eutiner Gespräch
hat Reinhold Jacobi genötigt, er „sollte und müsste“ – so Jacobi rückblickend auf das Eutiner
Sommergespräch - auf Reinholds „Verantwortung und Gefahr“ hin das Sendschreiben veröffentlichen;
sowohl das Ende des Vorberichts als auch der Briefwechsel machen klar, daß Jacobi fürchtete, er bekomme
am Ende wohl noch „Händel“ mit Fichte über die Atheismusanschuldigung, weshalb er nun, am Ende der
Vorberichts betont, die für Reinhold typische Nötigung zur Veröffentlichung habe die Folge: „Von diesem
3
begründet im Grund dieses „Urwahren“ oder „Ursein“, „unbedingt Reelle(n) und (...) rell
Unbedingte(n)“.6 Ich zitiere: Dies Wahre ist „(w)as an sich und durch sich selbst Wahr
ist, und wodurch alles, was Wahr ist, seine Wahrheit hat, das Urwahre, das, was vor
Allem Andern Wahr ist, das Prius κατ’ εξοχην.“7 Philosophie ist die Anwendung oder
Ausführung in der veränderlichen Materie des ursprünglichen, unveränderlichen, sich
manifestierenden Urgrundes. Dabei wird diese Materie hypothetisch zwecks der
Manifestation als Bedingung der Manifestation, nicht als Bedingung des Urwesens,
vorausgesetzt.8 Die Einholung dieser Voraussetzung, also das Sein der Natur oder der
Materie, geschieht durchs Denken. Das Denken vergegenwärtigt das Sein. Denn nur im
Denken wird Ausgedehntes und Veränderliches der Materie, deren Wesen in „Gott ihr
wesentliches Seyn hat“, in der Anwendung und aller Veränderung „bestimmt“. Kein Sein
ohne Bestimmung. Das nichtausgedehnte Denken bestimmt die „mannigfaltige“ Materie
in aller Differenz und Spezifität.9 In dieser differenzierenden Bestimmung wird der
Materie Wesen und Identität festgestellt. Das Ziel ist die Einheit von Sein und Denken10
Zeitpunkt (der Veröffentlichung RA) an ist diese Schrift nicht mehr meine Sache und Eigenthum, sondern
Deines.“ (1799) JWA 2.1, 193:20-31. 6 Reinhold, (1801), BzÜ H 2, 29.
7 Reinhold, (1801), BzÜ H 1, 71. Vgl. Onnasch, (2004), „Wahrheit“, Onnasch deutet auf die antiken
Wurzeln des im dt. Idealismus neu aufblühenden Interesses am Begriff der absoluten Wahrheit. Es
verdient erwähnt zu werden, daß sich Reinhold dieser antiken Wurzeln außerordentlich bewußt ist. Die
Hebräischen Mysterien zitieren auf fast jeder Seite diese Wurzeln. Reinhold hebt besonders die Relevanz
des englischen Platonismus für die Aufklärung hervor. 8 BzÜ (1802a) Phänomenologie H 4, 106f.
9 BzÜ (1802a) Phänomenologie H 4, 106
10 Schon Plotin, häufig von Reinhold in den Hebräischen Mysterien zitiert, kannte diese Identität von
Denken und Sein. Vgl. Klaus Kremer, „Plotins Negative Theologie“ (2008). Im Parallelismustheorem
drückt dann Spinoza die Einheit von Denken und Sein aus. Vgl. Ethik (1677) pars 2, prop. 7: „Die Ordnung
und Verknüpfung von Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung von Dingen.“ Genau diese 7.
Propositio zitiert Jacobi in seinen Spinozabriefen JWA 1, 100:19-21, und besonders die Beilage VII, JWA
1, 247-265. Die Hebräischen Mysterien zitieren Spinoza nicht. Wir wissen aber von einer Eintragung des
Philologen und dann Jenaer Theologieprofessor Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761-1851) in sein
Reisetagebuch daß Reinhold von Wien nach Leipzig und Weimar kam mit dem Vorsatz, eine Doktorarbeit
über Spinoza zu schreiben, oder daß sich dieser Vorsatz im Umkreis von Gesprächspartnern in Weimar
firmierte. Herders Gott erschien 1787, das Jahr, in dem Reinholds Kantischen Briefe erschienen u.
Reinhold nach Jena berufen wurde. In diesem Jahr bemühte er sich auch um eine (Neu)Publikation seiner
Hebräischen Mysterien. Paulus hatte ihn nach Reinholds Umzug nach Jena am 27.6.1787 besucht. Das
Gespräch drehte sich um Kant, mit dem sich ja Reinhold in seinen Kantischen Briefen intensiv befaßt hatte,
aber auch um Spinoza. Paulus notierte sich die Zentralgedanken Reinholds über Spinoza so: „Alles, was
wir wissen sind nur Prädicate. Das Subject selbst kennen wir nicht. Was wir von ihm auffassen ist nur
phenomenon für unsere Vorstellungsart. Vom absoluten Subject können wir nichts behaupten oder
verneinen. Woran nichts, und was nicht unterschieden werden kann, ist Eines. Gott ist nicht teilbar, aber
alles ist Modification des absoluten Subjects, der einzigen Substanz.“ Reinhold, Korrespondenzausgabe
Band 1, (1983), 268, Anmerkung zu Wielands Brief vom 23. 9. 1787, Nummer 65. Ich bin Frau Karinna
4
im „Ur-Verhältnis“ von „Identität“ und „Nicht-Identität“.11
Es fällt auf, daß der
„Theologe[...] und Philosoph[...] Reinhold“12
betont, die „erste Aufgabe der Philosophie“
seines rationalen, nicht logischen Realismus, sei nur eine einzige, verstanden als nur ein
einziges Prinzip, und dieses sei „kein anderes Prinzip als die Manifestation des Urwesens
am Wesen der Dinge, oder die Offenbarung Gottes an der Natur.“13
Die Ausführung
dieser Philosophie ist nicht mehr eine praktische, wie noch in der „Zwischenposition“14
zwischen Jacobi und Fichte, sondern eine theoretische Aufgabe.
Das „an sich selbst und durch sich selbst“ „Urwahre“ und „Absolute“15
ist das „Einzig
mögliche und reellwahre“16
„aus welchem und für welchen die...logische Gewißheit...in
Eine und Ebendieselbe reelle Gewißheit..sich auflöset.“17
Denkende Gewißheit hat ihren
Grund im absolut-wahren Sein. Das ontologisch konzipierte Ureine, immer auch Vorbild
für systematisch-kohärente Einheit des Denkens, ist die Wahrheit schlechthin, aus der
Marx verpflichtet für diesen Hinweis. Paulus gibt hier in wenigen Sätzen einige Kardinalpunkte Reinholds
Spinozadeutung von 1787, wieder: Unterscheidung von absolutem und menschlichem Subjekt, die
Negativität – „das Subject selbst kennen wir nicht“ -, die Kluft, zwischem absolutem, nicht wissbaren und
menschlichem denken, und der einzigen Art, wir wir von ihm unmittelbar wissen, nämlich als Prädikation
oder Modifizierung des absoluten Subjekts selbst wissen können. Wir beachten auch die Neuorientierung
des Begriffs des „Einen“ jenseits der negativen Kluft, den wir schon von den Hebräischen Mysterien her
kennen, und der hier spinozistisch neu formuliert ist. Er spielt eine zentrale Rolle in Reinholds
Bardiliphase. 11
BzÜ (1801) H. 2, 181; (1803b) H. 5, 18; (1803c) H. 6, 24, Vgl. Bondeli (1998) „Hegels
Identitätsphilosophie“, S. 166 in Vieweg (1998), (Hg), Hegels Naturphilosophie. 12
Bondeli (1995a), Anfangsproblem 37. 13
BzÜ (1802b) Philodoxie Heft 4, 219, 107: Im rationalen Realismus findet „durchaus kein Dualismus –
sondern schlechthin absolute Einheit des Prinzips statt.“ Vgl Bondeli (1995a), Anfangsproblem 370. 14
In seinem ersten Sendschreiben an Fichte vom März und April 1799 schreibt Reinhold: „Ich bin seit
einigen Tagen persönlich in Eutin, und es wird mir durch jede Unterredung mit Jacobi einleuchtender, daß
ich meinen Standpunkt zwischen Ihm und Ihnen nehmen müsse...“ 308. 15
Im ersten, in Eutin geschriebenen Sendschreiben an Lavater und Fichte März u. April 1799, betont er als
seine eigene Position die von Jacobis glaubenden Nichtwissens, die auch von Fichte vertreten sei, eine
Position, durch die er mit Jacobi „auf immer vereinige(t)“ sei (1799) 308. Acht Monate später noch
beschreibt er im ersten Brief an Bardili ganz Jacobisch unser Wissen vom Absoluten „als dunkle Ahnung
des an sich selbst Wahren und schlechthin (nicht blos Subjektiv – oder Objektiv – oder auch in beyderley
Rücksicht) Absoluten“ Reinhold-Bardili Briefwechsel (1804), 3. Aber im 2. Sendschreiben an Fichte
(1801) betont Reinhold sowohl seine Distanz zu Bardili als auch zu Jacobi: „Bardilis Position ist durchaus
nicht jener Zwischenstandpunkt“, den er vorher bezogen hatte, und er habe Jacobi, betont er nun, „auf
immer verlassen müssen, in dem ich aus dem Bardilischen“ Standpunkt das „reine Sein“ der absoluten
Wahrheit, „das weder ein Subjektives noch ein Objektives ist, denken lernte.“ BzÜ (1801) H 1, 126.
Reinhold hat sich jetzt auch ganz von Fichte getrennt. Jacobis nichtwissender Glaube ist nun, 1801, also
in Wissen verwandelt, wohlgemerkt allerdings in ein Wissen um die Identität des einen Seins an dem
Wissen partizipiert. Es ist weder subjektiv, noch objektiv, weder Skepsis noch Dogmatismus, sondern
beides zugleich. 16
BzÜ (1801) H. 1, 100f. 17
BzÜ (1801) H. 1, Vorrede S. ixf. Vgl. Onnasch, E.-O. (2002) „Streit um das Absolute“ 188f.
5
alles kommt, und in dem auch absolute Gewißheit ihren Grund hat. Das klingt
neuplatonisch und nicht, ja anti-Kantisch.18
Auch die Einheit-Vielheit Problematik ist
neuplatonisch und metaphysisch. Das Eine ist identisch nur mit sich selbst, aber auch mit
sich selbst im Anderen und der Differenz. Diese neue, Bardilische Thematik ist Reinhold
aber durchaus nicht fremd. Seine Hebräischen Mysterien, geschrieben 1784 und 1785 für
das Journal für Freimaurer, gebrauchen ähnliche Begrifflichkeit19
und zitieren Platon,
Plotin und besonders den englischen Neuplatonismus in einem systematisch-theologisch
gefärbten Gesamtgeschichtsbild, in dem vorgreifend – hypothetisch! – das Ende des
Sinnes der Schöpfung und der gesamten Geschichte in der Selbsterkenntnis und
Selbstoffenbarung des absolut Einen vorweg genommen ist.20
Nun, am Anfang des neuen
Jahrhunderts, „beschwört“ Reinhold Fichte in seinem Brief an ihn vom 1. Januar 1800
während der Zeit seines „Zwischenstandpunktes“,21
Bardilis Grundriß zu lesen. Denn er
enthält „eine völlig neue Darstellung des transzendentalen Idealismus.“ Er verstärkt dies
Urteil sofort: Bardilis Grundriß sei „eigentlich eine Erfindung“ des Idealismus, eine
Neuerfindung „auf einem völlig andern Wege“22
. Trotz Reinholds Missionseifers für
Bardilis ganz originelle Position, findet er sie aber auf Brücken, die er hinter sich nicht
zerschlagen hatte, for allem seine „Fortsetzung der Glaubensposition“23
und damit
verbunden wenigstens am Anfang das Pochen aufs philosophische „Nichtwissen“. Eine
18
Kant unterscheidet Erkenntnis, die immer auf mögliche Erfahrung beschränkt ist, und Denken, das auf
Gegenstände beschränkt ist, die über oder ausserhalb der Erfahrung liegen, (1781) KrV § 22 B 145ff. Er
assoziiert aber auch Denken mit Vorstellen, (1781) KrV § 16 im Kapitel über die synthetische Einheit der
Apperzeption, B 131ff. Bardili meint, vgl. Grundriß (1800) 2, 19, Kant verfehle damit die eigentliche
Aufgabe des Denkens. Bardili versteht Denken ontologisch, letztlich als identisch mit Sein. Das ist der Sinn
der Identitätsformel „Denken als Denken“. In Bardilis Perspektive verfehlt Kant grundsätzlich diesen Sinn
von Denken und kontaminiert ihn obendrein mit Empirie durch seine Vermischung von Denken und
Vorstellen. Vgl. Bondeli (1995a), Anfangsproblem 283-286. 19
Hebäische Mysterien (1787). 34ff. 20
Vgl. Jan Assmann, (Hg) Reinhold, Die Hebräischen Mysterien (1787). Assmann versieht seine
Neuausgabe mit einem Vorwort (5-10), einem Nachwort 157-199, und einem ausführlichen
wissenschaftlichen Apparat. Ausserdem folgt in dieser Neuausgabe unmittelbar auf Reinholds eigene
Schrift das kleine Werk Friedrich Schillers „Die Sendung Moses“ 129-156. Schiller versieht seine Schrift
am Ende mit einer kurzen Anmerkung, in der er darauf hinweist, daß Reinholds Schrift das Vorbild seines
eigenen Schreibens ist. Dieser Reinholdisch-Schillersche geschichtsphilosophische Entwurf hat erheblichen
Einfluß auf das Denken besonders im Deutschland des späten 18. und 19. Jahrhunderts gehabt. Wir
schulden Jan Assmann die neue Veröffentlichung dieses sonst fast unbekannten Frühwerk Reinholds. Er
machte darauf schon in seinem Werk Moses the Egyptian (1997) aufmerksam, vgl. 115-143. 21
Über Reinholds Systemwechsel vgl. W. Schrader (1993) „Reinholds Systemwechsel“ und M. Bondeli
(1995a) Anfangsproblem. 22
Jaeschke (1993) (Hg) PlS 2.1 69. Bondeli sagt, Bardili sei, obwohl von Leibniz und Plouquet beeinflusst,
eine „Art Eigengewächs“, (1995a) Anfangsproblem 277. 23
Bondeli, (1995a) Anfangsproblem 273ff.
6
weitere Brücke sind Grundelemente von Fichtes Ichspekulation, sowie die Betonung der
Begründung des Denkens, auch ein fichtesches Anliegen. Ich meine hinter allem steht
auch die ebenfalls ein Nichtwissen betonende Tradition des neueren und älteren
Platonismus eine von Reinhold beteuerte Kontinuierlichkeit seines Werkes im Rahmen
eines philosophisch hoch artikulierten religiösen oder religions-philosophischen
Interesse. Ich meine dies religiöse Interesse ist der Hintergrund Reinholds Gesamtwerkes
von den Hebräischen Mysterien bis zum Spätwerk der Synonymik. Dieses Interesse zieht
Hegel spätestens in seiner Jenaer Zeit an,24
aber man darf nicht den früheren
Enthusiasmus der Stiftler und Hauslehrer über „Reinhold und Fichte“ vergessen. Ich will
24
Sind Schelling und Hegel in ihrer frühen Jenaer Zeit durch Bardili und Reinhold beeinflußt? Klaus
Düsing meint, diese These sei nicht plausibel. Vgl. Düsing, (1976), Problem der Subjektivität, 95, 103. Vgl.
auch Düsing (1993), „Entstehung des spekulativen Idealismus“ in: Jaeschke (1993), Hg, PlS 2, vgl. bes.
154f. Ich folge hier der Ansicht Martin Bondelis, vgl (1995a) Anfangsproblem 279f: Bardilis „ontologisch-
logisches Denken“, geprägt durch die Unterstellung einer „Einheit von formalem und materialem Denken“
gehe von einer ähnlichen Grundidee aus wie Hegel in der Wissenschaft der Logik. Hegels Beschäftigung
mit Spinoza und mit dem Neuplatonismus war wohl ein anderer Grund für eine gewisse Offenheit für den
Bardilisch-Reinholdschen Neuansatz. Ich habe oben schon in Anmerkung 10 darauf hingewiesen, daß das
Parallelismustheorem bei Spinoza betont, Ethik pars 2, prop. 7: „Die Ordnung und Verknüpfung von Ideen
ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung von Dingen.“ Zur Identität von Sein und Denken bei
Spinoza vgl. auch Ethik Teil I, Definition 3. Zudem ist jetzt durch Schriften von Volker Rühle (1989)
„Jacobi und Hegel“ und Jürgen Gawoll u.a. Hegels seit Tübingen nicht aufhörende intensive Befassung mit
Jacobi, besonders mit dessen Spinozabriefen gesichert. Spinozas 7. Propositio zitiert Jacobi in seinen
Spinozabriefen JWA 1, 100:19-21. Die gesamte Beylage VI JWA 1, 233-246 der Spinozabriefe handelt
über den „Parallelismus“. Lessing war, nach Jacobis Bericht seines Gesprächs mit ihm im Sommer 1780,
besonders an diesem Thema interessiert und fragt: „Ich lasse Ihnen keine Ruhe; Sie müssen mit diesem
Parallelismus an den Tag.“ JWA 1, 27:5f. Bondeli meint also Bardilis seit 1799 vorliegender Grundriß
habe Hegels Konzeption der Logik beeinflußt. Spätestens seit 1802 sei die dialektische Struktur der Logik
durch Reinhold bestärkt. Das negative Element in Hegels Dialektik fehlt allerdings bei Bardili. Insofern
stellt Hegel in diesem Punkt „wohl gerade eine Art Gegen-Logik zur Bardilischen auf.“ Anfangsproblem
280 Anm. 63. Die Negativität stammt von Jacobis Sprung und von Reinholds Dialektik. Denn Jacobi, der
sich als einen „Spinozist-Antispinozist“ versteht der „reine Metaphysik gegen reine Metaphysik“ treibt,
Spinozabriefe. JWA 1, 128:16-18, spekuliert vernünftig in seiner Ablehnung eines spekulativen Verstandes
und deshalb betont dieser tief religiöse Denker 1799 er bewege sich zwischen einer Alleinphilosophie und
Unphilosophie (1799) JWA 2:1-5, und identifiziert letztere mit der „atheistischen“ „Religion des Spinoza“
(1799) JWA 2, 217:1 durch die er den „Mechanismus“ Spinozas und Fichtes „Alleinphilosophie“ radical
ablehnen muß. Und dieses Ablehnen ist eine Negativität. Und Reinhold betont auch 1799 nach dem
Eutiner Gespräch mit Jacobi im Namen derselben Religiosität: „Ich vernichte meine Vernunft, wenn ich sie
(die Urquelle aller Wahrheit) AUSSER MICH hinaussetze“ und „ein an sich selbst vernünftiger Gott ist ein
Unding“ (1799) 316, genau so wie für den Wissenschaftler Jacobi die Wissenschaft daran Interesse habe,
daß kein Gott sei. Vorbericht, (1819) JWA 1:343:18f. Ganz in diesem Sinne betont Hegel im
Systemfragment von 1800, das Wahre müsse „ein Sein außer der Reflexion“ haben. TWA I 421 Denn
verstehendes Wissen zerstört dessen Leben. Diese Fährte führt also von Jacobi und Reinhold zu dem
Jenaer Hegel. Dagegen betont Onnasch noch (2002) im „Streit um das Absolute“ mit Klaus Düsing, Hegels
spät Frankfurter und frühe Jenaer Systementwicklung vollziehe sich „mehr oder weniger eigenständig“,
„sicherlich inspiriert von Hölderlins Vereinigungsphilosophie, aber keineswegs von Fichte oder Reinhold.“
Er bezieht sich hier auf Düsings Aufsatz (2002) über die „Entstehung des spekulativen Idealismus“ PlS 2,
187.
7
die realen und möglichen Begegnungen vor dieser Zeit nicht noch einmal auflisten. Aber
indirekte Bezugspunkte zu dieser neuplatonischen religionsphilosophischen Problematik
müssen wir auch bedenken. Hegel hatte sich ja in Frankfurt intensiv mit verschiedenen
Formen neuplatonischer Alleinheitslehre befasst.25
Darüber hinaus ist
religionsphilosophisches Interesse aber auch eine wichtige Seite des deutschen
Idealismus insgesamt, besonders bei Hegel. Ernst-Otto Onnasch,26
Lu de Vos27
und
andere haben dies in verschiedenen Schriften betont. Reinholds neue Religiosität sieht in
Bardilis Identitätsphilosophie ein objektiv-logisches Kriterium der Kritik des
Subjektivismus.28
2. Kritik des Sujektivismus und dessen Scheinphilosophie
Die neue Position des rationalen, nicht logischen Realismus stellt sich einer Philosophie
der „Region des Scheines“29
gegenüber. Reinhold meint aber auch, daß überhaupt eine
neue Epoche im Denken am Anfang des 19. Jahrhunderts angefangen hat. Die Jenaer
„Scheinphilosophie“ oder auch „Philodoxie“30
steht in der Tradition der Philosophie von
Kant und Fichte. Sie kann sich kaum mit Realität befassen, weil sie endliche Subjektivät
verunendlicht und verabsolutiert – Hegels spätere „schlechte Unendlichkeit“ – und damit
das eigentliche Absolute verfehlt. Das Subjekt wurde mit dem Absoluten „amalgamiert“.
Reinhold selbst gehörte bis vor kurzem dieser fichteschen-schellingschen-Hegelschen
Richtung an. Jacobis Vernunftkritik und Bardilis Grundriß wurden aber die
25
Martin Bondeli hat die Verbindung „Reinhold und Hegel“ überzeugend in verschiedenen Schriften
dargestellt, vgl. „Reinhold und. Hegel“ (1995b), vgl. dslb. (1995a) Anfangsproblem. Die Schrift von
Onnasch (2002), „Streit um das Absolute“ betont den Neuplatonischen und christlich-trinitarischen Einfluß
auf Reinhold und Hegel. 26
Vgl. Onnasch (2004) „Wahrheit, absolute“. 27
de Vos, (1996) „Absolute Wahrheit?“ 28
Ich setze hier die Richtigkeit Bondelis Analysen (1995a und 1995b) über das Thema „Reinhold und
Hegel“ voraus. Es ist bekannt, daß Reinhold gegenüber dem Jenaer Programm, wie es von Schelling und
Hegel im Kritischen Journal entfaltet wurde, eine Kritik des Subjektivismus entwickelt, und diese in dem
frühen Jenaer, Fichteschen Schelling erblickt. Er sieht Hegel als Schüler Schellings. Hegel und Schelling
kritisieren ihrerseits aber an Reinhold nicht seine neueste Position, sondern interpretieren diese vielmehr
aus der Perspektive der früheren Grundsatzphilosophie. So erblicken sie in Reinhold und in Bardilis
Grundriss das, was Fichte in seiner Bardili Rezension einen „hartnäckigen Dogmatismus“, und eine
„Umarbeitung der Reinholdischen, weiland Elementarphilosophie“ nannte: Fichte (1800), Bardili
Rezension, 115f. 29
Reinhold, (1803), „Systemwechseln“ BzÜ H 5, 26f. 30
Reinhold, (1802b) „Philodoxie“ BzÜ H 4, 186-201, Vgl. auch Reinholds (1800a) „Schelling Rezension“
besonders 376, wo er vom „Non plus Ultra der Amalgamation des Denkens und Dichtens“ spricht. Vgl.
Bondeli, (1995b) „Hegel und Reinhold“ 53.
8
unmittelbaren Orientierungspunkte hinter dieser neuen Richtung – im weiteren Blickfeld
stehen Platon, Leibniz und andere. Reinhold kritisiert den Subjektivismus der
Transzendentalphilosophie. An Fichte z.B. verdeutlicht nennt er das Problem im ersten
Brief an Bardili als „reine Selbsttätigkeit oder reine Ichheit.“31
Das „hauptsächlichste
Resultat der Critik der reinen Vernunft...ist, daß die Wahrheit überhaupt nur Subjektiv
sey,...und in der als Täuschung erkannten Objektivität bestehe, von welcher Täuschung
aber die Philosophie dasjenige als...Schein, (als) Vorurtheil, (oder als) Wahrheit (nur) des
Scheins gelten lasse.“32
Dagegen steht Welt der „Erscheinung“. Dieser Bereich handelt
von den ausgedehnten und veränderlichen „Bedingungen“ – im Denken –, der
„Manifestation“ des unbedingten Urwesens.33
So ist “Erscheinung“ „keinesweges
Schein“. Schein „verwechcselt und vermengt“ oder „amalgamiert“ Erscheinung „mit dem
Unausgedehnten und Unveränderlichen, mit dem wesentlichen Seyn, mit dem Urbilde“.34
Und diese Verwechslung schafft Täuschung und Irrtum. Erscheinungslehre ist die
„zweyte Aufgabe „der Philosophie,...die Elementarlehre der Phänomenologie.“ Diese hat
eine Begründungsfunktion, nämlich die Zurückführung der Erscheinung auf ihr „Urbild,
den Archetypus, oder das Wesen als solches.“ Im Essay über die „Erste Aufgabe der
Philosophie“, die sich mit den Beziehungen des Denkens zum Absoluten und zur
Wahrheit befaßt, im 2. Heft der Beyträge35
meint Reinhold, Fichte habe in seiner
Aenesidemus Rezension „die ersten Winke über das Eigentümliche der Fichtischen
Philosophie gegeben.“36
Dies Charakterische bestehe darin, „daß die Philosophie
überhaupt in der Deduktion der Realität der Erkenntniß und des Erkennbaren aus der
absoluten Subjektivität bestehen müsse.“37
Reinhold meint deshalb im 2. Sendschreiben,
Fichtes Idealismus sei ein „wahrhaft dogmatischer Idealismus“38
, ja er, Fichte, nicht
31
Bardili Reinhold Briefwechsel (1804) 2f. Bei dieser Kritik am fichte-schellingischen Subjektivismus
wurden für Reinhold nicht nur Jacobi, sondern auch Jean Paul wichtig. Vgl. bes. Jean Paul, „Clavis
Fichtiana“ (1800a). Vgl. auch Jean Pauls Brief an Jacobi vom 21. 2. 1800 (1800b): „Der Begriff des
absoluten Ichs ist nach seiner (Fichtes RA) Aussage das absolute Ich selber und nichts mehr.“ 32
Reinhold, (1801), „Die erste Aufgabe der Philosophie“ BzÜ H 2, 20. Vgl. Schrader (1993), „Reinholds
‚Systemwechsel’“ 85ff, vgl. bes. 87. 33
Reinhold, (1802a), „Phänomenologie“ BzÜ H 4, 108f. 34
Reinhold, (1802a), „Phänomenologie“ BzÜ H 4, 108f. 35
Reinhold, (1801) „Die erste Aufgabe der Philosophie“BzÜ H 2, 1-71 36
Reinhold, (1801), „Die erste Aufgabe der Philosophie“BzÜ H 2, 48. 37
Reinhold, (1801), „Die erste Aufgabe der Philosophie“BzÜ H 2, 48. 38
Reinhold, (1801), „2. Sendschreiben an Fichte“ BzÜ H 1, 113-34, Zitat 125.
9
Jaobi, sei der eigentlich „hartnäckige Dogmatiker.“39
Der letzte Satz über Jacobi dieser
wichtigen Schrift40
resümiert dessen skeptische Transzendentalismusanalyse, die
Reinhold übernommen hatte: Da Jacobi den Transzendentalismus auf „bloße
Subjektivität“ zurück geführt hatte, die zum „Absoluten und Urwahren“ erklärt wurde,
muß man sich nicht wundern, daß die Transzendentalphilosophen dann auch das Subjekt
als Grundlage ihres Denken betonten. „Die Stifter der reinen Ichlehre ließen sich dies
(von Jacobi RA) nicht vergeblich gesagt seyn. Sie machten die Subjektivität ausdrücklich
und laut genug als das Absolute und Urwahre geltend.“41
Von Reinholds neuem Standpunkt aus gesehen ist seine verabschiedete also eine Position
der Meinung oder sogar Dichtung, “Philodoxie”, und nicht von echter Erkenntnis der
Wahrheit. Von seinem neuen Standpunkt aus gesehen muß Schellings
Identitätsphilosophie – in Hegels späteren, in der Phänomenologie formulierten Worten –
alles Wahre in die „Nacht“ der Indifferenz hinabstürzen, in der die „Naivität der Leere an
Erkenntniß“ herrscht.42
Aber diese Kritik Schellings Philosophie als einer Lehre der
Indifferenz und Gleichgültigkeit stammt von Reinhold, mein nächstes Thema.43
Da nicht
nur Fichte, Jacobi, und Reinhold, sondern auch Jean Paul44
und viele andere mitreden,
entwickelt sich eine „wahre publizistische Schlacht“45
zwischen „den beiden feindlichen
39
Reinhold, (1801), „2. Sendschreiben an Fichte“BzÜ H 1,124. 40
Reinhold, (1801), „Die erste Aufgabe der Philosophie“ BzÜ H. 2, 1ff. 41
Reinhold, (1801), „Die erste Aufgabe der Philosophie“ BzÜ H 2, 34. Vgl Schrader (1993), „Reinholds
‚Systemwechsel’“ 87. Jacobi hatte sich selbst ja schon im Sendschreiben an Fichte von 1799 als
eigentlichen Entdecker und Stifter des Idealismus beschrieben, den er als „Alleinphilosophie“, die innerlich
kohärent ist, seiner eigenen „Unphilosophie“ so gegenüberstellt, daß diese beiden Brüder wie Kain und
Abel „im Moment der Berührung sich gewißermaßen durchdringen“ aber trotzdem grundverschieden
„durch den höchsten Grad der Anthipathie“ sich gegenseitig bekämpfen.. Er selbst, so an Fichte, sei als
Erfinder des Idealismus „für den erkannt, der an der Tür Ihres Hörsaals stand, lange bevor er geöffnet
wurde, Sie erwartend stand und Weissagungen redete.“ Denn er selbst, Jacobi, habe den „kräftigsten
Idealismus“ erfunden JWA 2, 310, indem er gezeigt hat, daß die „schwebende produktive
Einbildungskraft“ JWA 2, 204:7f das freie Ich als den „Urheber, als den Schöpfer“ JWA 2, 234:4 der
Natur bestimmt hat, wodurch allein die innerliche Widersprüchlichkeit in Kant überwunden wurde. 42
Hegel (1807) Phänomenologie GW 9:17:27-29. 43
Vgl hierzu besonders Bondeli, (1995a) Anfangsproblem 355-357: „Die Indifferenz als
Differenzlosigkeit“. 44
Besonders instruktiv hier sind Jacobi (1787) David Hume über den Glauben, Jean Paul (1800a) „Clavis
Fichctiana seu Leibgeberiana”, PlS 2.1 81ff. Vgl. auch Bondeli (1995a), Anfangsproblem 317ff “Der
Grundmangel des subjektiven Denkens”. 45
Onnasch (2002), „Streit um das Absolute“ 188f.
10
Lagern“, die aber allen kräftigen Köpfen gefällt – so Jean Paul,46
mit vielseitigen
Verdächtigungen, Anschuldigen und Mißverständnissen.
Bardili und Reinhold benutzen den Begriff der Identität wie auch Schelling und Hegel.
Was genau ist aber gemeint mit diesem Begriff? Die literarische Schlacht ist trotz vieler
Missverständnisse kein Scheingefecht. Um den Unterschied gleich pointiert zu nennen:
Bardili und Reinhold sind motiviert an einer Identität von Denken und dem absoluten
Urgrund um im Denken „bei uns Menschen“ dies Absolute so zu „manifestieren“ oder zu
begründen, daß endlich-reell Mannigfaltiges und Ausgedehntes in aller Differenz und
Genauigkeit „offenbart“ wird. Urgrund und rechtes Begründen sind also in dieser Form
des Identitätsdenkens nicht nur verbunden: Der Urgrund ist am Ziel der Manifestation zu
„sich selbst zurückgekehrt, und bey sich selbst eingekehrt.“47
Aus Reinholds Sicht aber
ist die Tradition von Kant bis Schelling interessiert an der Identität von Subjekt und
(Denk-)Objekt. Weil diese Übereinstimmung im Subjekt ihre Grundlage hat, führt sie zu
Täuschung und Irrtum. Reinhold und Bardili dagegen stehen in der
Platonisch/Neuplatonischen Tradition, die starken Einfluß hatte auf christliches Denken.
Bardilis logischer und Reinholds rationaler Realismus stehen christlich-theologischer
Metaphysik nahe. Auf keinen Fall werden Anleihen von Begriffe und Denkschemata aus
dem allgemeinen religiösen Kulturmilieau gescheut.48
Bardili sagt im 14. Paragraphen
46
Jean Paul an Jacobi (1799) 23. Dezember, PlS 2.1 63 47
Reinhold, Karl Leonhard (1802) „Elemente der Phänomenologie“ BzÜ Heft 4, 104-185, Zitat 105. 48
Hier nur eine hermeneutische Überlegung über das Themna „Religion“: Im historisch angelegten
Fachgespräch über Denker der Vergangenheit besteht immer die Gefahr der Projektion heute
allgemeingültiger Voraussetzungen auf die untersuchten Gegenstände der Vergangenheit. Unsere Zeit
reagiert eher allergisch auf „Religion“; nicht dagegen die allgemeine europäiche Geisteshaltung vor zwei
Jahrhunderten. Wie wir heute den Kopf schütteln über die Verbannung des „Atheisten“ Fichte, so hätten
Denker von damals wenig Verständnis für unseren „Säkularismus“. Wir können heute mit Nietzsche und
Entzauberung etwas anfangen, diese und andere Phänomene würden aber Reinhold, Bardili, Hegel, und
Schelling eher befremden auch wenn sie zu diesen Phänomenen beigetragen haben. Die
Philosophiegeschichte ist reich an Beispielen solcher hermeneutischen Entgleisungen. Der Antisemitismus
ist ein anderes Beispiel. Wir sind heute hoch allergisch gegen eine möglicherweise antisemitisch motivierte
Unterstellung wie die von Jacobi: Fichte sei der „Meßias“ und „König spekulativer Vernunft“, der „Juden
spekulativer Vernunft“, nämlich Kant und Kantianer wie J. S. Beck ein „Stein des Anstoßes und ein Fels
des Ärgernißes“ wurde. So im Sendschreiben (1799) (JWA 2: 194-196). Reinhold, der zu Fichte
übergetreten war, sei ein „Israelit, in dem kein Falsch ist, Nathanael Reinhold“ JWA 2, 196:23-28;
Nathanael hatte den neuen Rabbi als den Messias anerkannt, Johannes 1, 45-51. Ist dann im Isreaelit
„Falsch“? Heute würde niemand, ganz zu schweigen ein Intellektueller von Rang, wagen so zu reden oder
denken. Jacobi ist hier aber nur scheinbar antisemitisch, denn er kritisiert Fichtes Spekulation nicht nur – ist
er selbst doch hoch spekulativ, sondern lobt ihn auch. Fichte wurde ein „Stein des Anstoßes“ nur als
11
seines Grundrisses, das Denken als Denken, „A“, sei „ewig sich selbst gleich und eben
dasselbe.[...] Das Denken selbst beginnt und endet nicht“ vor seiner Anwendung.49
In
dieser ewigen Identität gibt es weder Anfang noch Ende und es gibt keine Zeit. Auch
kann man kaum sagen, das „Denken als Denken“ hat einen Anfang und ein Ende, denn
auch es ist „vor der Zeit“, also ohne Anfang und Ende. So muß es also vorausgesetzt
werden, sozusagen „vor der Zeit“.50
Vorzeitliche Verborgenheit der höchsten Urwahrheit
bedeutet aber a) anonyme Namenlosigkeit, b) Alleinheit und c) Vorgedachtheit im Sinne
von unmittelbarem51
Mitsein weltlichen „Denkens“ vor allem Denken im Ursein.52
„Meßias“ und „König der Juden“, zu denen der Messias aber selbst gehört als Jude unter Juden. Jacobi
redet hier in der allgemein christlich-religiös gefärbten Sprache der deutschen Intelligenz, und weil sie
christlich war – man denke aber an Moses Mendelssohn, Henriette Hertz und andere! –, war sie wenigstens
latent antisemitisch. Wir leben aber heute nach dem Holocaust, anders als die Jacobis Hinweis auf Fichtes
Messianismus kommt nicht von ungefähr: Hat sich doch Jacobi zu Fichtes Selbstbezeugung als neuer
Messias bekannt – die Denker, sagt Fichte in der 2. Einleitungin die Wissenschaftslehre (1797), vor mir
haben alles „ganz verkehrt“ verstanden, sie haben „Dogmatismus statt transzendentalen Idealismus“
gelehrt, „ich allein verstehe es recht“ (Fichte, 1797, GA I, 4, 234f) – da Fichtes Vereinigungsphilosophie
auf seiner, Jacobis Glaubenslehre aufgebaut ist, und diese hat viel gelernt vom „Atheisten“ Spinoza: Fichte
beruft sich in diesem Messianismus in der Zweiten Einleitung pointiert auf Jacobis Glaubenslehre im David
Hume. Kurz: die „allgemeine Umgangsprache“ der Philosophen, die Lingua Franka, ist hier die der
christlichen Dogmatik, weshalb der Gesamtdiskurs dann diese auch zentral beeinflußt hat. Das ist deshalb
auch keine Verirrung eines in die Wüste dogmatischen Hokuspokus abwandernden theologischen Bruders.
Aus solchen Gründen bleibt die Theologie der Gegenwart ein Gesprächspartner ohne den die Philosophie
kaum auskommt, und umgekehrt. 49
Bardili (1800) Grundriß 69. 50
Ich weise noch einmal darauf hin, daß Reinhold schon in den Hebräischen Mysterien die Problematik
eines absolut Wahren vor allem Denken thematisiert hatte; sein geschichtsphilosophischer Entwurf des im
Vorzeitlichen und namenlos Wahren gegründeten Anfangs im Fortshreiten zum aufgeklärten Ziel aller
Geschichte konnte nur aufgrund des negativtheologischen Prinzips der Unerkennbarkeit alles Wahren vor
der Zeit verstanden werden. Später wurde dieses Prinzip dann in einer Philosophie ohne Beynamen neu
thematisiert. 51
Hegel verwendet später Jacobis Begriffe von Unmittelbarkeit, des pantheistisch unmittelbar gewissen
und Vermittlung und der wissenschaftlichen Vergewisserung um die Anfänglichkeit und das in-die-Zeit und
in das Denken-Treten dieses Vorgangs zu beschreiben, am besten am Anfang der Logik von 1812. 52
Reinholds Zusammendenken dieser drei Merkmale sind evident in seinem Gesamtwerk. In den
Hebräischen Mysterien (1784-1785) betont er die verborgene Gottheit, die die Epopten, die Eingeweihten
nicht denken sondern nur schauen können, hat „keinen Namen“ – 2001 Ausgabe 41 – und diese
Namenlosigkeit ist verbunden mit der Einzigkeit dieses Gottes und seiner All-Einheit, denn Zeitlichleit
impliziert Bestimmtheit, und deshalb auch polytheistische Vielheit. Der ägyptisch-Hebräische Gott hatte
aber keinen Namen, un deshalb steht als Inschrift auf der Pyramide zu Sais: „Ich bin alles, was ist, war und
seyn wird, meinen Schleyer hat kein Sterblicher aufgehoben.“ (42). Denn sterbliche, weltliche Endlichkeit
ist charakterisiert durch differente Bestimmtheit, mit der sterbliches Leben, ein Zeitabschnitt, ein Objekt
mit genau bestimmbaren Dimensionen, auch Denkobjekte „determiniert“ werden können, was heißt, ihr
Anfang und Ende kann bestimmt werden. Dies ist aber der Bereich der Welt, die durch Vielheit bestimmt
ist. Das Verbot der Vielgötterei, das die ägyptisch-hebräische Ein-Gott Religion, die Reinhold in den
Hebräischen Mysterien darstellt, betont, daß der anonyme, namenlose Gott unendlich ist, weshalb auch
diese „ägyptische Geheimlehre“ die „Lehre von der Unsterblichkeit“ impliziert, sowie auch die Lehre der
Schöpfung oder des Anfangs, denn determinierender Anfang, der Bestimmungen im Bereich des End-
lichen trifft, entsteht erst oder ist „erschaffen“, wenn ewig unbestimmte Identität mit sich selbst „aufhört“
12
Dieses Mitsein ist das allgegenwärtig gegebene Kriterium des Anfangs und der
Anwendung des Denkprozesses. Denn alles Denken ist Bestimmen und vorbestimmte
Unmittelbarkeit ist auch Ungedachtes. Bestimmen ist aber bei Bardili und Reinhold
Anwenden. Erst in der Anwendung beginnt und endet also ein Denkprozess und wird also
diese Voraussetzung eingeholt. In der Anwendung nun „bei uns Menschen“ „stürzt“ dies
Denken, ein Wissen des Wahren, „ins Leben“ und wird so wahres Wissen. Ich zitiere
genau: In der Anwendung auf eine gedachte Materie (B) – dies ist ein deutlicher
Angriffspunkt für die Kritik des „Dualismus“ von Seiten Fichtes, Jäsches u.a. – hat das
Denken (A) als Wahrheit wissendes Denken in einer „Ur-Theilung“ einen „C Stoff
bekommen“, wodurch es „ins Leben hinstürzt“. Dadurch entsteht der Gedanke, in dem
das gedachte „Objekt“ oder die „Materie“ oder auch die „Gewahrnehmung“, die
eigentlich den Leben schöpfenden Denkprozess startet, „zernichtet“ wird und, da es
subjektiv zu sehr belastet ist, zugrunde geht. Es entsteht in diesem Vorgang nicht das
Prius κατ’ εζοχην des Denkens als Denken, weil dieses Prius weder Anfang noch Ende
hat, also ewig ist. Der Gedanke eines bestimmten Objektes also initiiert den
Denkprozess „in der Zeit“. Indem alles Wahrnehmbare darin „zernichtet“ oder „vertilgt“
– ähnlich wie bei in Hegels Phänomenologie die Erscheinungswelt abgetragen – wird,
wird die Wirklichkeit eines Denkobjektes von der bloßen Möglichkeit abgetrennt. D.h.,
die „bloße Vorstellung“ einer Möglichkeit wird von objektiv richtigem Wissen getrennt.53
Subjektives Denken ist mit dem objektiv Gedachten in einer neuen Identität so vereint,
daß es den eigentlichen Grund des Gedachten von nur subjektivem, also täuschendem
Scheinwissen unterscheidet und im Zurückführen auf diesen Grund erst richtig begründet.
oder vielmehr „sich determiniert“. Dies ist dann auch „Offenbarung“ genannt. Reinhold zitiert in den
Hebräischen Mysterien Klemens von Alexandrien, Warburton und andere. Die Prädikatlosigkeit einer
Philosophie ohne Beinamen erscheint dann wieder in der Fundamentwchrift von 1791. Reinhold sagt dort:
„Das Geschäfte der kritischen Philosophie konnte nur, aber musste auch, mit der absoluten Grunderklärung
der Vorstellung geschlossen werden. Aber mit eben dieser Grunderklärung hört auch die Philosophie auf,
kritisch zu seyn; mit ihr geht die Wissenschaft des Fundamentes der Philosophie ohne Beynamen, geht
Elementarphilosophie an.“ Reinhold, Fundament (1791) 104. Und die Beyträge zur Berichtigung
bisheriger Mißverständnisse rufen ähnlich zu einer „wissenschaftlichen Philosophie ohne Beynamen“ auf
(1794) iii. Vgl. Bondeli und Lazzari (Hgg), Philosophie ohne Beynamen (2004). Die Problematik von
Verschleierung der Wahrheit bei Reinhold vgl. besonders Sabine Röhr (2005) „Die verschleierte Wahrheit“
337-347. 53
Bardili (1800) Grundriß 68-70.
13
Hegel sagt später, das Vorgedachte muß schmerzvoll zugrundegehen54
, damit es begriffen
wird. Es ist eine neue Formulierung von Reinholds „Zernichtung“. Hegel hat hier aber
auch Anstöße sowohl von Jacobis „Abgrund“ als auch dessen spinozistischer Substanz
und seinem „Übergang“ zum absolut subjektivem Geist und der Persönlichkeit erhalten.
Der Springer wagt verwegen seinen kühnen Salto: Der „Abgrund“ des Nichts der
pantheistisch unendlich vermittelten und absolut-notwendigen Substanz muß mit
Reinholds Wort „zernichtet“ werden. Denn sie ist innerlich widersprüchlich weil der
Schein trügt, die unendliche Vermittlung wird vermittelt und so „aufgehoben“ im
Übergang zum Geist. Betont wird hier wie bei Reinhold, in dieser Aufhebung werden
„Endlichkeiten und Vermittlungen vernichtet“,55
nur daß Reinhold nicht die
Begrifflichkeit der Unmittelbarkeit und Vermittlung benutzt. Hegel sagt in der Jacobi
Rezension von 1817, die Jacobi zitiert in seinem Brief an Neeb Mai 1817, der Springer
muß einen „Übergang“ zum absolut freien und geistigen Subjekt machen. Er werde zu
diesem „Umschwung in der Luft“ durch die notwendige „sich selbst aufhebende
Vermittlung“ gezwungen, wodurch er „fest und gesund“ und „auf die Füße“ jenseits des
Abgrundes zu stehen kommt. So erklärt Jacobi seinen Salto in einem Brief an Neeb vom
30. 5. 1817.56
Die Unbestimmtheit der absoluten, d.h. ins Unendliche fortschreitende
Vermittlung (Jacobi) wird gesteuert: Bestimmtheit, im Urgrund, „Urwahren“ des Geistes
verwurzelt (Reinhold), überwindet Beliebigkeit, Gleichgültigkeit und Philodoxie.
54
Schriften des jungen und auch maturen Hegel versuchen theologisches Gedanken – z.B. den
schmerzvolle Sühnetod Jesu – mit den Mitteln frühidealischer Theorien neu zu formulieren. Der „Schmerz
der Welt“ des jüdisch-Christlichen Gottes, der nicht Teil der Welt ist, negiert diese Welt; dieser „Schmerz
der Welt“ – so in den Heidelberger Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft (1817-1818), 263,
§ 169 – hat die Funktion, daß die Erscheinungswelt, die Welt des bloßen Scheins „zugrunde geht“. Sie muß
sogar – so 1802 – im „Abgrund des Nichts“ und im „absoluten Leiden“ des „speculativen Charfreitags“
zugrunde gehen und versinken, denn sie ist nicht wahr in sich selbst. Diese Negativität kann aber negiert
werden im „reinen Begriff“, der vom Täuschenden der Erscheinung befreit und so zur „heiterste(n)
Freyheit“ spekulativen Philosophierens „auferstehen kann, und muß“ Glauben und Wissen (1802) 413f. 55
Hegel (1817), Jacobi Rezension 6, PlS 2.1 390. 56
Jacobi Brief Nummer 360 an Neeb 30.5.1817 (1827) 464-470, Zitate 466f. Jacobi zitiert im Brief an
Neeb vom 30.5.1817 Hegels Rezension (1817) des 3. Bandes von Jacobis Werken (1816), (Hgg) Roth und
Köppen.
14
3. Identität, Differenz und Indifferenz
Wir sind also mit diesem Identitätsprinzip mit einem Vorgang konfrontiert mit folgenden
Elementen:57
1. Erstens (Religionsphilosophie), nennen Bardili und Reinhold die
Ewigkeit des Prius κατ’ εζοχην auch „Gott“ als den eigentlichen Grund aller
Erscheinung. Sie fügen sich damit also damit in die religionsphilosophische
Denktradition ein. Es ist die Tradition der negativen Theologie. Das sprachlose,
verstummende Staunen vor der Urwahrheit war ein starkes Element der Hebräischen
Mysterien. Denn zweitens 2. (Gott-Welt, Ewigkeit-Zeit), ist der Gott der ewigen
Selbstidentität vorzeitlich und vorsprachlich. Er hat weder Anfang noch Ende. Deshalb
ist er auch nicht denkbar, Jacobi sagte „über aller Vernunft“. Der Denkprozeß beginnt
erst mit dem Eintritt in die Zeit, in Begrifflichkeit und Aussprechbarkeit. Besser
formuliert: Die Identität kann erst als anfängliches Prinzip formuliert werden, wenn sie
gedacht, also in die Zeit eingetreten ist und ansprechbar wird. Ich will hier nur anmerken,
daß hiermit die Problematik des Hypothetischen im Prinzip schon auf dem Tisch liegt,
obwohl Reinhold dies 1799 noch nicht deutlich genug sieht. Reinhold betont noch März
und April 1799 in seinem Zwischhenstandpunktsbrief in Anlehnung an Jacobi, er nehme
„von ganzem Herzen“ Teil an Jacobis „Nichtwissen“58
denn der Anfang des Denkens hat
noch nicht begonnen. Diesen Standpunkt hat er aber nicht viel später „für immer“
verlassen. Drittens 3. (Ur-Theilung, Religions-Logik) wird also mit dem Anfang des
Denkens ein Unterschied, Bardili und Reinhold sagen eine „Ur-Theilung“ zwischen
Ewigkeit und Zeit gemacht. Das Ewige ist auch das Ganze, es muß also Endliches in sich
beinhalten. Man darf das Bardilisch-Reinholdsche Unternehmen nicht kontaminieren mit
den aristotelischen Form-Stoff Vorurteilen, obwohl selbstverständlich Grund genug für
57
Vgl. die hervorragende Zusammenfassung der Entwicklung Reinholds einheitlicher Systemkonzeption
zwischen 1800 und 1803 von Martin Bondeli, angefangen in Reinholds „Substanzialisierung der
Subjektphilosophie“ in einem absoluten Sein, bis zur Systemfassung um 1803, in der „die bei Bardili
angelegte dialektische Begründungsmethode, das Zurückführen des hypothetischen Ersten oder Bedingten
auf das Letzte oder den Grund, wahrheitstheoretisch in eine Richtung (so) weiter“ geführt wird, daß die
eigentliche, nämlich im absoluten Grund des „Urseins“ begründete Schlußfolgerung von der nur im
endlichen Subjekt beheimateten Korrespondenz von Denken und Sein als bloßem Scheindenken
unterschieden wird: Bondeli, in Vieweg (Hg)(1989), Hegels Naturphilosophie, 166f. 58
Reinhold (1799) 308
15
den Vorwurf des „Dualismus“ vorliegt,59
den Reinhold aber später abschwächt. Aus
diesem Grund stechen die Attacken, angefangen mit Fichtes Bardili-Rezension, die
beiden die von der früheren Elementarphilosophie Reinholds her bekannte „Formular-
Methode“ und einen „Form-Stoff“ Dualismus in die Schuhe schieben wollte, ins Leere.60
Das ewig mit sich identische Denkprinzip ist also schon vor aller Zeit „ur-getheilt“. Es
kann in der Formel „A in A durch A“ unendlich als abstraktes „Vieles“ wiederholt
werden. Die Identität dieser Ur-teilung impliziert eine solche Teilung. Diese Identität ist
reine Einheit weil sie nur mit sich selbst identisch ist. Dagegen ist die Wiederholung in
einem Anderen, B, die Anwendung des Denkens in der auf unterschiedliche Qualität und
auf differenzierendes Begreifen zielende „Mannigfaltigkeit“, was bedeutet, daß qualitativ
verschiedene Steine oder Insekten oder Pflaumen oder Birnen nur dadurch als „viele“
Objekte erkannt werden können, daß man von diesem Qualiätsunterschied „wegsieht“
oder von ihm „abstrahirt“.61
Das begründungslogische Ur-teil: „dieses einzelne Objekt ist
eine Pflaume“, kann nur dadurch gefällt werden, daß das abstrakte Allgemeine „Obst“, zu
dem diese Pflaume natürlich gehört, suspendiert oder „aufgehoben“ wird indem die
unendlich wiederholbare Wesensqualität dieser einzelnen Pflaume, „durch“ dieses
Urwesen im „Anderen“ dieser relativen Einzelheit mit der ureteilslogischen Kopula „ist“
identifiziert und so in ihren eigentlichen Wesensgrund zurückgeführt wird – : „Dies ist
eine Pflaume“. Es ist wichtig zu sehen, daß die so zu sich selbst zurückkehrende Identität
des „Urwahren“ unabhängig von einem „Anderen“ ist, denn es ist autark, während die
Wiederholung in einem Anderen, „C“ die endliche, vom Urwahren abhängige Vielheit
darstellt.62
Die Bestimmbarkeit im Bereich der Relativität und Endlichkeit als objektiv
„wahr“ – oder vielmehr „richtig“, Hegel hat gelegentlich auf diesen Unterschied
hingewiesen – steht also auf dem Spiel, aber sie ist abhängig vom unendlichen
59
Vgl. Ballauf, (1972). Zu Reinholds Zuordnung von Form und Stoff in der Bardiliphase, was richtig und
problematisch ist, vgl. Bondeli (1995) Anfangsproblem 295-300. . 60
Fichte, (1800), Bardili Rezension, 116. 61
Reinhold, (1801), BzÜ, H 1, 103f 62
Reinhold, (1801) BzÜ H 2, 102f, vgl. Bardili, (1800), Grundriß, 3. In der Identität des Urwahren
“monstriert“ sich dieses nur; dagegen wird deren Wiederholung in einem „Anderen“ als es selbst ist
„demonstriert“. Reinhold, (1801) BzÜ H 2, 102f. Es ist möglichc, daß Reinhold hier Jacobische Gedanken
über „demonstrieren“ aufgreift und weiter verarbeitet. Adäquat demonstrieren kann für Jacobi nur eine
schon gegründete Vernunft, eine Vernunft, die schon „gehabt“ ist in der Begrifflichkeit der 2. Beylage
Jacobis Sendschreiben an Fichte (1799), die mit den Worten anfängt „Hat der Mensch Vernunft oder hat
Vernunft den Menschen?“ JWA 2, 232, vgl. auch die identische Frage in der VII. Beylage der
Spinozabriefe, Jacobi, (17851, 1789
2) JWA 1, 259.
16
Urwahren. Diese Abhängigkeit des Endlichen vom Unendlichen, die allein endliche Welt
richtig begründet, hat Reinhold treffend in seiner Bardili Rezension festgehalten. Hier
unterscheidet er die „Unendlichkeit“ an sich, oder eigentliche Unendlichkeit, von der
„mathematischen Unendlichkeit“, die überhaupt nicht eigentlich unendlich ist, sondern
sich nur „endlich ins Unendliche“ perpetuiert.63
Hegel unterscheidet später sowohl in der
Logik als auch in der Enzyklopädie im selben Sinne eine „gute“ von der „schlechten
Unendlichkeit“. Die schlechte Unendlichkeit ist identisch mit dem ironischen
„perennierenden Sollen“. Es ist zu schwach, sich selbst zu verendlichen oder zu
bestimmen und perenniert daher unendlich in der indifferenten Einerleiheit. Es bleibt
unbestimmt und abstrakt, denn es kann seine Negativität nicht negieren oder über seine
unendliche Negativität hinausgehen.64
Reinhold spricht diese Problematik prägnant im 5.
Heft der Beyträge zur leichteren Übersicht mit dem Titel „Ueber die Philosophie, welche
schon in ihrem Prinzip Religion ist“65
an. Das Anliegen, die Endlichkeit zu verewigen
und die Welt zu vergöttlichen – und dies sieht er in der Tradition von Kant zu Fichte u.
Schelling – beschuldigt er der „Inkonsequenz“ weil es Denkstrukturen „unabhängig von
jener Urquelle alles Wahren (,) als schon ergründete und schon ausgemachte
Wahrheiten“ proklamiert.66
Dies heißt aber Wahrheit in Lüge verwandeln, Sein in
grundlosen, d.h. nichtigen Schein. Die Inkonsequenz stammt – trotz deutlichen und kaum
zu übersehenden Parallelen zwischen Reinholds und seiner Jenaer Kontrahenten
Anliegen – von Reinholds konsequenter Deutung Schellings und Hegels „Spekulation“
über Identität als Subjektivistismus. So ist „Identität“ bei Reinhold deutlich „religiös“,
wie sein Hinweis auf Malebranche klar macht: Endliche Geister nehmen alles in Gott
wahr und „die Urbilder der Dinge werden in Gott mitgeteilt“.67
Reinhold selbst weist auf
denselben religilösen Anspruch in seinen Kontrahenten, kommt aber nicht umhin, dies als
63
Reinhold (1800b), Bardili Rezension 276. Reinhold setzt sich hier ab von der mathematisierenden Logik
Bardilis. Vgl. hierzu Bondeli (1995), Anfangsprobroblem, das ich hier zitiere, 293. 64
Das ganze Zitat findet man ib Hegels Logik (1812-1813), GW 11, 81: „Der Grund, daß über diß
Hinausgehen nicht selbst hinausgegangen wird,“ sagt Hegel, ist folgender: „Es ist nur das schlechte
Unendliche vorhanden; [...] Die schlechte Unendlichkeit ist dasselbe, was das perennierende Sollen, sie ist
zwar die Negation des Endlichen, aber sie vermag sich nicht in Wahrheit davon zu befreyen; diß tritt an ihr
selbst wieder hervor, als ihr Anderes, weil diß Unendliche nur ist als in Beziehung auf das ihm andre
Endliche. Der Progreß ins Unendliche ist daher nur die sich wiederholende Einerleyheit eine und dieselbe
langweilige Abwechslung dieses Endlichen mit dem Unendlichen.“ 65
Reinhold (1803) BzÜ H 5, 171-180 66
Reinhold (1803) BzÜ H 5, 171. 67
Reinhold (1803) BzÜ H 5, 173.
17
kaum mehr als einen inkonsequenten Scheinanspruch zu deuten, weil die von Schelling
angestrebte Identität Gottes „mit dem Wesen der Natur schlechthin identisch“ ist.68
Und
diese Naturphilossophie=Gotteslehre kann dann auch in Reinholds Sicht einen „bald
skeptischen, bald kritischen, bald transzendentalen, bald apodiktischen“ Anstrich
nehmen, bei dem sich letztlich alles um nichts als „Erkenntniß des
Erkenntnißvermögens“ dreht, also weit von der „Manifestation Gottes an der Natur“
entfernt ist.69
Wegen dieser inkonsequenten Grundlosigkeit muß sie, wie Hegel später
sagt, im „Abgrund des Nichts“ der „Unendlichkeit“ des „reine(n) Begriffs“ „zugrunde“
gehen, d.h. die Negativität muß in ihren Abgrund zurückkehren und negiert werden.
Diese rechte Begründung des Endlichen ist aber das Tun des „reinen Begriffs“, Hegels
eigene Neuformulierung Reinholds und Bardilis „Denken als Denken“. So kann Hegel
später erstaunlich nahe an Reinholds Gedanken gelangen. Sagt dieser: „Die Manifestation
des, in seinem Wesen an sich schlechthin unbegreiflichen, Gottes an der Natur für das
Wesen, den Urgrund und Endzweck der Natur erkennen, ist im rationalen Realismus
zugleich das Wesen der Philosophie und Religion.“70
Hegels Worten im Zusatz des 24.
Paragraphen der Enzyklopädie sind ähnlich: „Gott allein ist die wahrhafte
Übereinstimmung des Begriffs und der Realität; alle endlichen Dinge aber haben eine
Unwahrheit an sich, sie haben einen Begriff und eine Existenz, die aber ihrem Begriff
unangemessen ist. Deshalb müssen sie zugrunde gehen (Bardili sagt, „zernichtet
werden“), wodurch die Unangemessenheit ihres Begriffs und ihrer Existenz manifestiert
wird.“71
Der Gegensatz zu Schellings positiver Spätphilosophie ist deutlich. Ich meine,
diese Art bei Reinhold und Hegel, Endliches ins Licht der Unendlichkeit und einer an
sich nicht erkennbaren Wahrheit zu setzen, um alle Widersprüchlichkeit und alles Dunkle
und Unechte im Endlichen recht zu beleuchten, sollte für uns heute von Interesse sein.
Ich kehre zu meiner Auflistung der Kardinalpunkte in Reinholds Verständnis der
Identität zurück und führe sie zuende: Wenn meine Deutung, die bis jetzt in diesem
Identitätsverständnis 1. eine relionsphilosophische Dimension konstatiert mit 2.
Aufmerksamkeit auf die Thematik Gott-Welt und Ewigkeit-Zeit in einer Weise, die in der
68
Reinhold (1803) BzÜ H 5, 173. 69
Reinhold (1803) BzÜ H 5, 172. 70
Reinhold (1803) BzÜ H 5, 171. 71
Hegel, TWA Band 8, 86
18
Identität 3. eine „Ur-theilung“ erkennt, die eine Religionslogik impliziert – wenn diese
Deutung des Identitätsproblems bei Reinhold richtig ist, ist viertens 4.
(Entwicklungslogik) eine genetische Entwicklung mit diesem Gedanken impliziert.72
Das
Identitätsprinzip ist ein „genetisches Prinzip“ (Bondeli, er sagt auch ein
„entwicklungslogisches“ Prinzip),73
das sich im Denken vollzieht, angefangen mit
Hypothesen bis hin zum Schluß. Hier ist also Geschichte im Spiel. Das ist dann 5.
(Geschichtsphilosophie) also ein geschichtsphilosophischer Gedanke,74
oder zunächst
genauer, ein Gedanke der die Geschichtlichkeit des, oder das Fortschreiten im Denken
selbst impliziert. Geschichtlichkeit ist immer, wie auch Denken, ein Phänomen der Zeit,
denn Unendlichkeit ist auch zeitlos, wie auch vor- oder aussergedanklich. Wir müssen
also bei Reinhold feststhaltern, daß Zeit und endliche Realität nur im Zusammenhang mit
dem „Höheren“ der Ewigkeit gedacht wird.
So kommt Reinhold schon in den frühen Schriften des 19. Jahrhunderts dazu, als er
Jacobis Position des Nichtwissens „für immer verlassen“ hatte, Schellings
„Indifferenzphilosophie“ pointiert als „vollendete Philodoxie“ kritisiert, weil er die
Nichtexistizenz eines „Höheren“ über dem „Ich und der Natur“ „ausdrücklich für die
Bedingung aller wahren Erkenntnis der Natur und des Ichs ansieht.“ Durch dies
Ausscheiden des Höheren könne man weder Ich noch Natur erkennen. Obendrein wird
„die Natur zu einem bloßen Wiederschein des Ichs“, Natur wird also degradiert zu einer
anthropathischen Selbstverdopplung des Ich. Denken im Rahmen von Schellings
Indifferenzphilosophie soll deshalb als Philodoxie nur eines „bloßen Schein(s) der
Wahrheit“, also nur einer Scheinwahrheit fähig sein.75
Spätestens hier drängt sich also
die Frage der Begründung des Denkens auf, d.h. das Schreiten der Begründung von der
Hypothese zur Bewährung der Hypothese im Schluß, der nächste und letzte Teil dieser
Überlegungen.
72
Karl Ameriks hat in verschiedenen Schriften auf diese Dimension in Reinhold hingewiesen als Anfang
des „historical turn“ in der Geschichte der Philosophie. Vgl. Ameriks (2004) „Reinhold über die
‚historische Wende‘“. 73
Bondeli, (1995a) Anfangsproblem 302f. 74
Schon die Hebräischen Mysterien gingen von einer geschichtsphilosophischen Position aus. 75
Reinhold, (1802b) Philodoxie BzÜ H 4, 188.
19
4. Hypothese und Schluß
Die religiöse Begrifflichkeit des „Urwahren“ oder „Urseins“, die betont von Jacobis
nichtwissenden Glaubensphilosophie ausgeht aber über Jacobi hinausstrebt zum
Wissen76
, verarbeitet also auf neue Art Bardilis Grundriß der ersten Logik. Genauer,
Jacobis nicht wissenschaftlich greifbares Urwahres wird sowohl von Jacobi, als auch
Fichte und auch noch Reinhold während seiner „Zwischenposition“ als Grundlage des
„organisiertes Nichtwissens“77
und deshalb einer „Unphilosophie“ behauptet. Inzwischen
hat sich aber die Wetterlage endgültig durch Fichtes Bardili Rezension geändert. Jacobi
betont sein Nichtwissen „in dem genau entgegengesetzten Sinne“ schreibt Reinhold nun
an Fichte, „in welchem Sie und ich ehemals mit Ihnen, dasselbe glauben und
bekennen.“78
Jacobis Vernunftkritik „hält das Spekulative Wissen überhaupt, folglich
auch das von Ihm als das einzigmögliche konsequente anerkannte System desselben, das
Sie aufstellen, für organisiertes Nichtwissen. Er ist also also der Skeptiker und Sie sind,
Ihm gegenüber, der hartnäckige Dogmatiker.“79
Der Grund ist klar: Jacobi hatte in
seinem Sendschreiben an Fichte überhaupt den gesamten Idealismus, angefangen mit
Kant, als einen „Chimärismus“, also eine Scheinwissenschaft und deshalb als einen mit
dem „apriorische(n) Heiligenschein“ ausgestatteten „Nihilismus“ diagnostiziert, der
nichts von Wahrheit und Gott weiß, sondern im Gegenteil nur philosophisches
Spekulieren über das „Gesetz der Identität“, dem Gesetz der Identität „des Ichs als des
Nicht-Ichs“ und dies als Gott versteht.80
Reinholds Diagnostik des Identitätsdenkens des
fichteschen Schellings um 1800 als Scheinwissen nimmt diese Jacobische Diagnostik des
„unvergleichliche(n) Sendschreiben(s)“81
in sein eigenes Denken auf.82
In dem von
76
Reinhold, (1801a) „Was heißt philosophiren?“ BzÜ H 1, 67-69. 77
Reinhold, (1801c) „2. Sendschreiben an Fichte“ BzÜ H 1, 124, PlS 2.1 130 78
Reinhold, (1801c) „2. Sendschreiben an Fichte“ BzÜ H 1, 123f, PlS 2.1 130 79
Reinhold, (1801c) „2. Sendschreiben an Fichte“ BzÜ H 1, 123f, PlS 2.1 130. 80
Jacobi (1799) Sendschreiben JWA 2, 215: 10f; 214:3; 214:30. Die Formulierung des „apriorische(n)
Heiligenschein Nihilismus“ des Idealismus findet man in der Schrift von 1802 Über das Unternehmen des
Kritizismus JWA 2, 320:13, wo der Humesche Empirismus als Nihilismus diagnostiziert wird, und JWA
2,325:10, über den Nihilismus des Idealismus. Schon im David Hume Über den Glauben (1787), also
schon vor Erscheinen von Kants Kritik der praktischen Vernunft, hatte Jacobi aber den Idealismus als
unbegründete Scheinwissenschaft des Nichts diagnostiziert in der gelehrt wird: „Ich bin alles, und außer mir
ist im eigentlichen Verstande nichts.“ JWA 2, 61:14f. 81
Reinhold (1799) 1. Sendschreiben an J. C. Lavater und J.G. Fichte 308. 82
Die philosophische Diskussion um Sein und Nichts geht bis in die Antike zurück. Vgl. Kobusch (1984)
„Nichts, Nichtseiendes“ 805-829. Aber die Verbindung von „Nichts“ mit dem „Nihilismus“ ist
20
Fichte und Schelling vertretenen „Nichtwissen“ findet man in Reinholds Deutung, die
wissenschaftliche Zerstörung aller Wahrheit. Reinhold dreht also den Spieß, mit dem
Fichte Reinhold als „harnäckigen Dogmatiker“ gegen Fichte um, dessen „nichtwissende“
Spekulation Atheismus und Nihilismus impliziere. Und Reinhold bemüht sich nun, eine
bessere Wissenschaft zu entwerfen, die sich wohl am Urgrund alles Wahren orientiert,
aber sowohl Dogmatismus als auch Skeptizismus in sich verarbeitet.83
Dabei kommt er
auf eine neue Art, die Anfangsproblematik so zu verstehen, daß die hypothetische
Voraussetzung der Wahrheit erst am Ende des Denkprozesses, oder am Ende des
ausgearbeiteten Systems, eingelöst werden könne.
Die These der Unerkennbarkeit des Absoluten ist, wie schon erwähnt mit Hinweis auf
Platon und Plotin, ein wichtiges Stück der Tradition negativer Theologie. Reinhold beruft
sich in den Hebräischen Mysterien mehrere Male auf Plotin und die Neuplatonische
Tradition.84
Ein bloßes Behaupten der Unerkennbarkeit des Absoluten bringt aber
Schwierigkeiten. Es ist zumindest zirkular. Es wird hier etwas behauptet von dem man
nichts weiss, oder besser, es wird etwas behauptet bevor man es oder von ihm weiss oder
frühidealistischen Ursprungs. Vgl. Kobusch, (1984) bes. 829f., und Müller-Lauter (1975)(1984). Der
Begriff „Nihilismus“ ist ein Neologismus von J. H. Obereit, vgl. Müller-Lauter, (1984) 846f. Der Kant-
Herausgeber Jenisch unterscheidet (1796) in Grund und Werth Kants einen „bedingten“ von einem
„unbedingten Idealismus“. Jenisch hebt Kants Betonung „der gänzlichen Irrealität unserer Erkenntniß“
hervor 200, insofern „in unserer Erkenntniß von den Erscheinungen überall nichts reelles, in Rücksicht der
Dinge an sich, enthalten sey“ 162. Dem unbedingten Transzendental- Idealismus zufolge ist unsere
Erkenntnis „bloß ein blindes Auge“ sein 272, oder „ein Glas, auf dessen Außenseite gleichsam ein fremdes
Gemählde angeklebt ist.“ 276, vgl.199. Die Dinge an sich sind nach dieser Auffassung „schlechterdings
Nichts“ für unsere Erkenntnis 276f: dies nennt Jenisch „den Gedanken des unbedingten transcendental-
idealistischen Nihilismus.“ Hier erscheint dann die Kurzformel: „Idealistische(r) Nihilismus“ 274. Dieser
Gedanke steckt als gefährliche Möglichkeit zwar schon im Ansatz Kants, aber nur seine „mehr als
dogmatischen Schüler führen ihn durch“ 193ff. Jenisch nennt in solchen Zusammenhängen keine Namen:
Sowenig wie Kant ist Fichte (über den er sich sehr respektvoll äußert) für ihn Nihilist. Aber Jacobi hatte
diese Konsequenz schon 1787 im David Hume, gezogen, ja eigentlich schon in den Spinozabriefen 1785.. 83
Vgl. Reinhold, (1803c) BzÜ H 6, 99ff. Sechszehnter Abschnitt der „Neue(n) Auflösung der alten
Aufgabe der Philosophie“ § 34, „Manifestation des Wesens, Erscheinung und Schein. Dogmatismus und
Skepticismus.“ Diese „Neue Auflösung der alten Aufgabe der Philosophie“ führt am Anfang, auf S. 1 des
Sechsten Heftes folgende Anmerkung: „Die N. 1 im Heft V gelieferte Populäre Darstellung des rationalen
Realismus – nach seinen Resultaten geht hier in die Beschreibung dessen nach seinen Prinzipien über,
folglich in die Aufklärung und Verdeutlichung dessen, was in jenen Aphorismen eigentlich nur als das erst
Aufzuklärende, und zu Verdeutlichende aufgestellt wurde. Daher müssen die folgenden §.§. auch ohne
Jene durchaus verständlich seyn können, obwohl dieselben die im vor. Hefte versprochene Fortsetzung
von Jenen enthalten.“ Dies sechste und letzte Heft, datiert „Kiel, den 12. Sept. 1803“, enthält also die
ausgereifste Prinzipienlehre des rationalen Realismus. 84
Vgl. besonders Kremer, Klaus (2008), „Plotins negative Theologie. ‚Wir sagen, was Es nicht ist. Was Es
aber ist, das sagen wir nicht’“ in: Schüßler, Werner (Hg) (2008), 9-29.
21
wissen könnte. So ist ein Urwahres, von dem man nichts wissen kann, ist hoch
problematisch, es sei denn man formuliert es als eine Arbeitshypothese. Deshalb muß
Reinhold, will er dies Jacobische unphilosophische Urwahre85
(das er das „Jacobische
reine Seyn, und zwar Gottes Seyn“ nennt)86
als identisch mit Bardilis philosophisch-
logischem Sein behaupten, und dabei sowohl Jacobi als auch Bardili umwandeln. Dabei
werden zwei Verfarensweisen, die er sich in seiner fichteschen Phase angeeignet hatte,
wichtig: 1. Fichtes guten Zirkel eignet er sich an und wird 2. ermächtigt in einem Prozess
des Deduzierens und Begründens. Dies sind beides Elemente Fichteschen Denkens.
Reinhold redet selbst von einer „Reformation“ der Philosophie. Und in diesem
Umwandlungsprozeß entsteht dann die Hypothese-Schluß Dialektik. Dabei wird aber
auch die Dialektik Platons, etwa im Liniengleichnis,87
wichtig, die ebenfalls schrittweise
von einer Hypothese oder vorausgesetzten Möglichkeit durch den Prozess einer Negation
zur Wirklichkeit einer neuen Position fortschreitet.88
Reinhold bezieht sich ausdrücklich
in dieser Hypothese-Schluß Dialektik auf Platon, und er weicht darin nicht von Bardili ab,
sondern wird von diesem vielmehr bestärkt, weil Bardili ebenfalls in dieser platonischen
Tradition steht. Bardilis Logik ist nicht „undialektisch“.89
Auch hier können wir also
eine Kontinuität im Denken Reinholds feststellen von den Platonischen Hebräischen
Mysterien zu Kant, zu Fichte, und Jacobi zu Bardili.
Hegel kennt diese Hypothese-Schluß Dialektik gut, denn aus der Jenaer Zeit stammt sein
Leitsatz „Der Grundsatz eines Systems der Philosophie ist ihr Resultat.“ Er hat später, in
der Enzyklopädie, dieses Theilement seines Systems hervorgehoben. Hegel spricht aber
schon in dem von Rosenkranz beschriebenen Fragment Nr. 46 aus den frühen Jeneaer
Jahren von der Anfangsproblematik in der Philosophie, die „allerdings auch ihr
85
Reinhold, (1801b) BzÜ H 1, „Was ist das Denken, als Denken?“ 100f. 86
Reinhold, (1801c) BzÜ H 1, „2. Sendschreiben an Fichte“ 118, PlS 2.1 128 87
Platon, (1990) Werke Buch VI, Politeia, 511, b-c. Vgl. Bondeli, (1998) „Hegels und Reinholds
Rationaler Realismus“ in Vieweg, (Hg) (1998), 165f. 88
Reinhold, Karl Leonhard (1802c) „Die Simplicität der Philosophie im Gegensatz mit der Duplicität der
Philodoxie“ BzÜ Heft 2, 213: Es war „insbesondere dem Platon das, was er, in seiner Republik, die
Dialektik nannte, die rein vernünftige Wissenschaft, die Wissenschaft des Objektiven, zugleich
Vernunftlehre und Wesenslehre. In ihr bewähret sich die Vernunft als solche durch die Abscheidung des
Scheins von der Wahrheit vermitteltst der Zurückführung des Wahren auf das Urwahre, des Wesens der
Natur auf die sich daran manifestirende Gottheit.“ 89
Düsing behauptet Bardilis Logik sei „undialektisch“ in seiner Schrift (1976) Subjektivität in Hegels Logik
95, Anm. 75, 103, Anm. 101. Vgl. Bondeli (1998) „Hegel u. Reinholds Rationaler Realismus“ in Vieweg
(1998) (Hg), 165.
22
Ausgang“ sein müsse.90
Diese Dialektik enthält die andere spannungsvolle Verbindung
von Dogmatismus und Skepsis, denn ein nur behauptetes Ursein ist doch recht
dogmatisch und jede ehrliche Überlegung einer solchen unbegründeten Vorgabe muß
skeptisch verfahren. Ich habe hierauf schon hingewiesen. Und wenn Reinholds Kritik der
nun abgelehnten „Grundlosigkeit der Kantischen Philosophie“ samt seinen
transzendentalphilosophischen Epigonen irgend einen Sinn haben soll, dann doch wohl
diesen, daß er besser begründen und für philosophisches Denken einen solideren Grund
legen will. Diesen besseren Grund findet Reinhold weder in Jacobis theologischer Form
des „Urwahren“, noch in Bardilis Identitätsphilosophie, sondern in einer Kombination
und Umarbeitung beider Elemente in seiner eigenen systematischen Konzeption unter
ständiger Rückführung grundsätzlicher Probleme besonders auf die Tradition der
negativen Theologie und besonders auf Platon und die Platonische Denktradition.
Bardilis Erste Logik gab vor, „objektiv“ denken zu lernen. Reinhold, angeleitet
von Jacobi, deutet nun aber Kant und Fichtes „reine Ichlehre“ subjektivistisch: Jacobi
habe richtig gesehen, daß “durch die Kantischen Critiken durchgängig, aber
stillschweigend nichts als bloße Subjektivität unter dem Charakter des Absoluten und
Urwahren vorausgesetzt und geltend gemacht wurde. Die Stifter der reinen Ichlehre
ließen sich dieses nicht vergeblich gesagt seyn. Sie machten die Subjektivität
ausdrücklich und laut genug als das Absolute und Urwahre geltend.“ (BzÜ Heft 2, S. 34).
Reinholds „Reformation“ der Philosophie aber nahm Abschied sowohl von Jacobi als
auch von Bardili. Er betont in seinem 2. Sendschreiben an Fichte datiert „Kiel, 23. Nov.
1800“, in der er sich durch Verarbeitung Fichtes vernichtenden Bardidli Rezension zu
neuer Klarheit und Verabschiedung seiner Zwischenposition durchgerungen hat:
„Bardilis Standpunkt ist durchaus nicht jener Zwischenstandpunkt zwischen dem
Fichtischen und Jacobischen Philosophie.“ Er betont, er habe Jacobis Standpunkt „auf
immer verlassen müssen.“ Aber die Art, wie er Jacobis Standpunkt des Nichtwissens
90
Beide Zitate aus Hegel, G.W.F., (1803-1806) Jenaer Notizbuch GW 5, 496:7-10; vgl. den editorischen
Bericht zu Vorbehalten gegenüber Rosenkranz‘ Datierung. Vgl. hierzu Onnasch(2002), „Streit um das
Absolute“ in Vieweg (2002) (Hg), 191.
23
eines Urwahren und reinen Sein verließ, ist wichtig: Jacobi vertrat den Dualismus:
objektive Realität steht unbegründet dem „Egoismus“ gegenüber. Jacobi betonte die
Alternative: „Ich bin und es sind Dinge ausser mir“ oder ich vertrete den absoluten
Egoismus der Fichteschen „Alleinphilosophie“. Reinhold aber begegnet diesem
Dualismus aus der Perspektive der (Fichteschen) Notwendigkeit der Begründung. Und
dieses Anliegen der Begründung bringt drei neue Theorien in die Diskussion: 1. erstens,
den Hypothese-Schluß Zirkel, der im Schluß im Nachhinein die Hypothese bestätigt oder
verwirft oder modifiziert, 2. die Skeptizismus-Dogmatik Einheit oder Dialektik, und 3.
die Einheit von ursprünglich unendlichem Ursein, endlichen Dingen und dem Chorismos
des Nichts, das zwischen beiden liegt. Besonders der letzte Punkt beinhaltet einen Aspekt
der Anfangsproblematik. Denn „Ich vernichte meine Vernunft, wenn ich sie (die Urquelle
aller Wahrheit") AUSSER MICH hinaussetze schreibt Reinhold an Fichte im ersten
Sendschreiben vom März/April, 1799 (PlS S. 53) Denn ein unbestimmbarer Gott mit
einer unendlichen Vernunft muß widersprüchlich zu meiner endlichen Vernunft sein.
Dies Denken geht also über Jacobi, aber auch über Bardili hinaus. Wie gesagt, er hat
Jacobis Standpunkt „auf immer“ verlassen, „indem ich aus dem Bardilischen“
Standpunkt der reinen Logik Jacobis „reine Seyn, das weder ein Subjektives noch ein
Objektives ist, denken lernte.“ (BzÜ Heft 1, 126, PlS 2.1, 131) Bardilis Identität der
„reinen Logik“ ist das Medium Reinholds Umformung von Jacobis nichtphilosophischen
urwahrene „reinen Seins“. Und aus dieser Umformung entsteht etwas neues, das „weder
ein Subjektives noch ein Objektives ist“, sondern beides zugleich. Und das neue, das bei
Reinhold entsteht ist auch Skeptizismus und Dogmatismus zugleich. Wie auch Identität
und Differenz zugleich. Hegel betont im Teil der Differenzschrift, das sich mit Reinholds
hypothetischen Anlaufen befaßt, Jacobis Voraussetzung des Urwahren, sei für Reinhold
wichtig geworden. Jacobi „leugnet aber als Skeptiker, daß es menschlich gewußt werden
kann.“ Dann fährt Hegel fort: „Reinhold hingegen sagt, er habe“ dieses urwahre reine
Sein „denken gelernt, durch ein formelles“, an Bardilis Logik geschulten „Begründen, in
welchem sich für Jacobi das Wahre nicht findet.“ (GW IV, 84f: Zeilen 35ff). Was immer
Hegel sonst noch negatives über Reinholds Problematisieren und Hypothetisieren sagt, es
ist heute klar,91
daß alle hier angedeuteten Problemkreise Grundlage für Hegels Denken
91
Bondeli, „Reinhold und Hegel“, H-St. 30, 1995,...Bondeli, Anfangsproblem, ...
24
wurden: Voraussetzungslosigkeit, die hypothetisierende Anfangsproblematik des
Denkens – beide sind theologisch-mythologisch im Dogma der Welterschöpfung aus dem
Nichts92
enthalten – der Identität der Identität und Differenz, wie auch der Art, wie
letztlich Wahrheit, ja sogar Reinholds und Jacobis „Ursein“ zentral für Hegel wurden.
Dagegen muß ein der der transzendentalen Tradition wie die von Fichte und Schelling
vertreten, als „Scheinphilosophie“ erkennbar werden. Reinholds „Reformation“ der
Philosophie inititiert die Frage, die viel später am Anfang von Hegels Logik wieder
auftaucht in der Frage, womit philosophisches Denken anfangen müsse. Aber Reinholds
Schwierigkeit, die eng verbunden ist mit seiner zuerst behaupteten und dann abgelehnten
„Zwischenposition“, setzt auch den anderen Gedanken der Begründung in Gang.
[Nun meine ich, dieser ungetarnte, für uns heute oft irritierend wirkende religiöse
Anflug kann von der frühesten Periode der Hebräischen Mysterien93
bis zur Spätphase
der Sprachphilosophie durchverfolgt werden. Bei aller bekannten Diskontinuitäten in
seinem Denken scheint mir dieser religiöse Anspruch eine wichtige Konstante zu sein,
auch wenn die Art, wie er das Unbedingte konzipiert, ändert. Reinhold betont, diese
objektive und religiöse Seite seiner Philosophie ist für ihn „mehr als frommer Wunsch“.94
Er ist „empört“ über die Vernachlässigung dieser eigentlichen Aufgabe der Philosophie.
Er ist empört über die Reduktion dieser Objektivität auf nichts als einen „empirischen
Realismus“. Er ist empört über die letztlich an dieselbe Empirie gebundene
transzendentalen Erkenntnisstrukturen seiner Jenaer Kontrahenten die sich Kant
verpflichtet fühlen. Dieser Transcendentalismus will einerseits nichts gelten lassen was
über die Möglichkeit ihrer Erfahrung hinausfliegt. Sich für „keine höhere Wahrheit (zu)
interessieren“ ist schlimm genug. Durch die „absolute Subjectivität“ der
Transzendentalphilosophie führt aber dadurch unausweichlich zum Schluß, „daß die
Realität der Erkenntnis...aufgehoben werde.“95
Der Transzendentalismus Kants hat das
92
Fichte tippt schon richtig, wenn er im Brief an Reinhold vom 4. 7. 1800 über Bardilis Logik schreibt „Sie
nehmen diesen, den ich einen Dogmatiker vom bekannten ontologischen Beweise für das Daseyn Gottes
nennen möchste, für einen transcendentalen Idealisten. Wir sind sonach in der Erklärung des Schriftstellers
nicht einig.“ Fichte zitiert sodann aus Bardilis Vorwort, in dem Bardili Kant abwandelnd, gehauptet „aus
der Logik einen reellen Gegenstand heraus geklaubt zu haben.“ Fichte Brief Nummer 545, GA III-4, 271-
273, zitiert aus PlS 2.1 S. 110. 93
Carl Leonhard Reinhold, Die Hebräischen Mysterien oder die älteste Freymaurerey, 94
Reinhold, „Die erste Aufgabe der Philosophie in ihren merkwürdigsten Auflösungen“ S. 1ff in Beytr. Z.
Leichteren Übersicht d. Zustandes d. Phil. Heft 2, Hambureg: Perthes, 1801, Zitat S.20. 95
Reinhold, „Erste Aufgabe“ 26.
25
„Unbedingte“ durch die Erforschung der Bedingungen reeller Erkenntnis dieses
Unbedingte „in sich selbst entdeckt“96
und sich dadurch wahres Erkennen verbaut. Als
sich Reinhold 1797 an Fichtes Position anschließt tat er dies – so nach seinem
rückblickenden Resume der Gründe für diesen Schritt um den Satz des Bewußtseins als
oberstes Prinzip seiner Philosophie von jeglicher Empirie zu reinigen. Er sagt in seiner
Rechtfertigung seines Positionswechsels rückblickend, damit zugleich die Einwände von
Aenesidemus-Schulze und Eberhard anerkennend: „Ich lernte durch Fichte einsehen, daß
die Philosophie so lange keine Transzendentale Erkenntnis weder aufzuweysen habe
noch selbst sey, solange sie sich genöthiget sehe, die Realität dessen, was sie
transcendental nennt, von außen her Bedingt seyn zu lassen.“97
Diese Nötigung durch
Empirie militiert geradezu gegen das gesamte Programm des Transzendentalismus. Das
hatte Maimon erkannt: Reinhold läßt Maimon also eine wichtige Einsicht in seine eigene
und die Denkentwicklung hin zu einer besonderen Form des objektiven Idealismus
aussprechen: Es sei „Maimon gelungen, aus der Critik selber bündig zu beweisen, daß
der Criticismus nichts mehr und nichts weniger als die Propädeutik zu dem vollendeten
Skepticismus, dieser aber die einzigmögliche Philosophie als Wissenschaft sey.“98
Diese Entwicklungen konnten Reinhold zum Einfluß Jacobis und Bardilis führen
und der älteren über Wolf und Leibniz auf Platon zurückgehenden Denktradition,. Von
diesem neuen Standpunkt aus fängt er an, Fichtes, und dann auch Schellings, als
subjektivistisch zu verstehen und deshalb den Kritizismus mis- oder doch wenigstens nur
halb zu verstehen weil das Urteilskriteriuum in das Subjekt selbst verlegt wurde. Diese
Absolutsetzung der Subjektivität empört Reinhold spätestens seit 1799. Ich brauche nicht
96
Reinhold, „Erste Aufgabe“ aaO 26. 97
Rechenschaft über meinen nSystemwechsel 1803, Heft 5 der Beyträge Übersicht 1803 S. 23ff, Zitat S.
34f. 98
„Erste Aufgabe der Philosophie“ S. 41 in Beytr. Z. Leichteren Übersicht d. Zustandes d. Phil. Heft 2,
Hambureg: Perthes, 1801. Hegelkenner bemerken hier einen wichtigen Punkt in Hegels Denken, der
eigentliche Philosophie als identisch mit dem „vollendeten Skeptizismus“ versteht, vgl. Phän, GW 9,
56:12-13, vgl. Jacobi Spinozabriefe JWA I,1, 27f, vgl. auch Stäudlin, Geschichte und Geist des
Skeptizismus Leipzig: Siegfried Lebrecht Crusius 1794, S 39. Der gesamte „Vorbegriff“ der Logik, des
ersten Teils der Enzyklopädie von 1830, §§ 19-83, muß gedeutet werden als eine breit ausgedehnte
Ausführung Hegels Grundgedanken, der von Reinhold kommt, wissenschaftliche Philosophie sei letztlich
nichts als der „vollendeten Skeptizismus.“. Es ist wichtig hier die vollendete Skepsis zu unterscheiden von
der „Seichtigkeit“ z.B. Schulzes Verständnis der Skepzis, die jeden Mangel an Gedanken zu einem sich
selbst klugen Skeptizismus“ stempelt. S. 21 Enz Hg. Nicolin-Pöggeler, Hbg: Meiner, 1969,, 7. Ausgabe.
Schon Reinhold hatte erkannt, daß die Form des Skepsis, die z.B. von Schulze in seinem Aenesidemus 1792
vertreten ist, hohl ist, weil Schulze der gesamten transzendentalen Tradition vorwirft letztlich nichts als
genau der Subjektivismus zu sein, der nach Schulze das Wesen jeglicher Philosophie ist.
26
zu erwähnen, daß Reinholds Verständnis der Religionspohilosophie oder Theologie
weder der durch Kant unmöglich gewordenen „streitigen Prinzipien der (...) Metaphysik“
noch „den immer mehr problematisch gewordenen Lehren der positiven Theologie“
seiner Zeit nahesteht.99
Schließlich charakterisiert er diese von ihm abgelehnten
supranaturalistischen Relikte der Vergangenheit als „Theorie des Aberglaubenjs“.100
Ich
meine Reinhold ist sich genauso wie Jacobi oder Fichte oder Hegel sehr wohl der
Eigendynamik dieser beiden Wissenschaften, der Philosophie und Religionsphilosophie
in seiner Zeit bewußt und er versteht sich als Philosoph, vielleicht als Religionsphilosoph
in unserer heutigen Wissenschaftsnomenklatur. Seine Philosophie hat einen religiösen
Kern, und dieser Kern wird mit den genannten Begriffen „Sein“, „Grund“, „Urgrund“,
das „Wesen“ oder „Wesen des Wesens“,101
die „Wahrheit“, das „Urwahre“ oder „das
durch sich selber Wahre“ angesprochen. Dann versteht Reinhold diesen religiösen
Anspruch nicht nur als das Objekt schlechthin sondern weiterhin als das objektve
Kriterium eines objektiven Denkens102
, an dem gemessen die Jenaer Philosophie des
Philosophischen Journals als „Philodoxie“ und als „Scheinphilosophie“ erscheint, weil
sie nur in einem autonomen, sich selbst und sogar die Natur begründenden Subjekt
fundiert. Ohne diesen Orientierungsstandpunkt der Objektivität verkommt alles Denken
zu „leere(r) Vernünfteley“.103
Am Anfang möchte ich hier nur die aus heutiger philosophischer Sicht
wenigstens befremdenden „theologischen“ Anspruch „monstrieren“. Ich will diese Sache
99
Reinhold, „Die erste Aufgabe der Philosophie in ihren merkwürdigsten Auflösungen“ S. 1ff in Beytr. Z.
Leichteren Übersicht d. Zustandes d. Phil. Heft 2, Hambureg: Perthes, 1801, Zitat S. 4f. 100
„Erste Aufgabe“, aaO, 4. 101
„Erste Aufgabe“ aaO 18f. 102
Ich beziehe mich hier auf eine Deutung Hegels Denkens von Christoph Halbig, Objektives Denken
Stuttgart: Frommann-Holzboog, 2002. In seiner Bardiliphase bemängelt Reinhold schon bei Kant, daß „die
einzig mögliche objektive Realität der Erkenntnis einzig und allein in der Erfahrung selbst, und in dieser
zunächst an den durch Begriffe verknüpften Erscheinungen zu suchen und zu finden“ seien. Er bemängelt
an der der in der KrV vertreten Art des „Realismus“ „einzig und allein der Empirische“ sei. „Alles reelle
Wissen ist lediglich empirisch; und nur das empirische Wissen ist Reell. Hingegen ist das philosophische,
spekulative, oder, wie es in der Critik (d.r.Vernunft Vf) heißt, das transzendentale Wissen lediglich
idealisch; und nur der transzendentale Idealismus ist die wahre Philosophie.“ „Die Erste Aufgabe der
Philosophie“ in Beyträge zur leichteren Übersicht des Zustandes der Philosophie beym Anf.d.19.Jhrdts H.
2, (1801) S. 16. Demgegenüber versteht Reinhold die Erkenntnis objektiver Realität als die erste Aufgabe
der Philosophie. Einn ähnliches Ziel streben aber auch Schelling und Hegel an Es ist nicht zu übersehen,
daß die Kontrahenten Schelling und Hegel auch einen „objektiven Realismus“ anstrebn, genauso wie
Reinhold. Bondeli bemerkt denn auch diese Übereinstimmung der philosophischenn Grundstimmung der
beiden Parteien, Anfangsproblem 265. 103
„Die erste Aufgabe“ 18.
27
nicht hier nicht weiter entwickeln. Ich meine Reinholds religionstheoretischer,
theologischer Wahrheitsanspruch sollte durchaus ernst genommen werden. Wenn man
heute sagt, den Wahrheitsanspruch lassen wir gelten, aber das Religiöse kann
wegfallen104
, sind nicht adäquat untersuchte wissenschaftstheoretisch Prätentionen im
Spiel, z.B. daß wissenschaftliche Philosophie auf intellektuell nachprüfbare, d.h. rationale
Weise verfährt, und dies bei den theologischen oder sich mit Religionsphilosophie
befassenden Fachkollegen nebenan nicht der Fall ist. Allenfalls läßt Philosophie die
Legitimität der Religionsphilosophie gelten. Ohne auf diese schwierige
wissenschaftstheoretische Frage des Wissensschaftsanspruchs der Theologie oder der
Philosophie und deren Verhältnis weiter einzugehen, will hier nur nebenbei erwähnen,
daß gelgegntlich von wissenschaftlich kaum in Frage gestellte Denker wie Dieter Henrich
oder Gunnar Hindrichs auf undurchschaute Motifgründe in Hegels Denken oder auf
seine spekulativen Abendteuer hingewiesen wird.105
Ich stelle wie gesagt diese
Beobachtungen an den Anfang meiner Überlegungen weil ich meine, wir können
Reinhold religionsphilosophische Wahrheitsansprüche von vor zweithundert Jahren, als
diese Dinge noch ganz anders aussahen, heute durchaus philosophisch ernst nehmen.
Das es die Religionsphilosophie als Wissenschaft noch garnicht gab,106
macht Reinhold
nur noch interesanter.
104
Gadamer meinte in seiner Analyse Hegels Denken inn seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode, fast
alles sei legitim, nur das Absolute müsse wegfallen. 105
Vgl. die grundsätzlichen, kürzlichc gemachten Bemerkungen Eilert Herms in seinem Beitrag
„Philosophie und Theologie im Horizont des reflektierten Selbstbewußtseins“ S. 23-52 in Helmer, Kranich,
Rehme-Iffert, Hgg, Schleiermachers Dialektik. Die Liebe zum Wissen in Philosophie und Theologie
Tübingen: Mohr Siebeck, 2003. Herms beobachtet, daß wir heute gewähnt sind, philosophische von
theologischer Wissenschaft zu trennen, und daß dabei nicht überlegte wissenschcaftstheoretischhe
Vorurteile und Prätentionen im Spiel sind. Ich zitiere S. 23: „Die Selbstverständlichkeiten sind wirkliche
oder behauptete. Von den wirklichen lebt das Zeitalter, unter den prätendierten leidet es. Zu den
prätendierten Selbstverständlichkeiten unseres Zeitalters gehört die Auffassung, daß Philosophie und
Theologie zwei toto coelo verschiedenen Rationalitätsmustern gehorchen. Philosophie folgt der Vernunft
voraussetzungslos und uneingeschränkt. Theologie läßt hingegen die Vernunft, wenn überhaupt, nur im
Rahmen von Voraussetzungen sprechen, die ihrerseits nicht vernünftig ausweisbar sind. Indem diese Sicht
als Selbstverständlichkeit prätendiert wird, tendiert sie dazu, unbefragt auch den Umgang mit der
kulturellen Überlieferung zu leiten - jedenfalls, soweit sich dieser unkritisch vollzieht. Daß diese
Selbstverständlichkeit jedoch nur prätendiert ist, zeigt sich schon an der Tatsache, daß die Überlieferung
selbst auch völlig andere Verhältnisbestimmungen kennt - sobald man dieses Erbe nur einmal entschlossen
auf seinen eigenen Aussagesinn, auf seinen 'Eigensinn' hin befragt. Ein Paradebeispiel dafür ist das
theologisch-philosophische Lebenswerk Schleiermachers." Vgl. auch ds. “Gotteslehre und
Ideologiebegriff, EvTheol. 38:1/2, 61-78, vgl. bes. S. 69 106
Walter Jaeschke hat in verschiedenen Schriften darauf hingewiesen,, daß mit Hegels
religionsphilosophischen Vorlesungen, angefangen im Jahr 1821, diese Disziplin ins Leben gerufen wurde.
28
Grund für diese Überlegung ist Reinholds Behauptung, seine
entwicklungslogische Identitätsophilosophie107
sei objektiv verläßlich, während
Schellings nur eine Scheinidentität darstellt, weil es in Wahrheit eine „Duplicität“ der
Prinzipien versteckt (BzÜZPAnJhdst Heft 2 S. 219). Diese Kritik an Schelling hängt mit
Reinholds Kritik an der Denkrichtung seit Kant zusammen. Reinhold betont, der
Anspruch auf objektive Realitätserkenntnis des Kantischen Kritizismus beruhe auf einer
„optische(n) Täuschung“. Das Pochen der Bewährung der Legitimität unserer
Vorstellungen durch „empirische...Empfindungen“ gewähre ihnen „durchaus nicht()“
mehr Objektivität als „spekulativew Wissen“. Das Pochen auf Erfahrung muß „dem
Erfahrenden objektiv scheinen“. (BzÜZPAnJhdst Heft 2 S. 19) Reinhold wählt seine
Terminologie miti Vorsicht. Dieser Schein der Objektivitivität täuscht, weil auf
Erfahrung, Empirie, und Anschauung angewiesenes Wissen „nicht weniger subjektiv
(sind) als die Formen der Vorstellungen. Diese sind das unveränderliche, jene das
veränderliche.“
Wie kommt Reinhold eigentlich auf seine neue Position, die er in seinen Beyträgen zur
Philosophie am Anfang des 19. Jahrhunderts formuliert? Wir hören immere wieder über
die abrupten Kehrtwendungen, die Reinhold mehrere male in der Genese seines Denkens
gemacht habe. Reinhold selbst konzediert sehr wohl sein Einschlagen eines neuen
Weges. Aber er rechtfertigt seine neue Position und weist durchaus auf Kontinuitäten.
Wir fragen also: Wie kommt Reinhold eigentlich auf seine neue Gegenposition
vor allem gegen Schelling? Reinhold distanziert sich von Fichtes „Reduktion“ der
Kantischen „Realität der Erkenntnis“ auf „absolute Subjektivität“ (BlÜdPA19Jhdts Heft
2, S. 48). Diese „Reduktion“ sieht Jacobi, so Reinholds richtige Analyse, hat Fichtes
„Reduktion“ vorbereitet durch den Hinweis auf die Widersprüchlichkeit in Kants
kritischer Philosophie. Diese Widersprüchlichkeit wird oft vereinfachend als der
realistisch-idealistische „Dualismus“ in Kant dargestellt, und dieser innerliche
Widersprucdh müsse durch ein einziges Prinzip überwunden werden. Und Fichte weist in
der 2. Einleung in die WL auf die berühmte Beilage über den Transcendentalen
Idealismus Jacobis zu seinem David Hume, in der Jacobi den „kräftigsten Idealismus“
107
Bondeli charakterisiert Reinholds Identitätsphilosophie mit diesem Begriff S. 369f Anfangsproblem.
29
prophezeiht hat als einzig möglichen Weg, diese Probleme in dem von Kant
eingeschlagenen Weg zu überwinden. Jacobis Diagnose wirkt auf Kant selbst, der hofft,
durch diese Debatte in der 2. Aufl. der KdrV seine „Widerlegung des Idealismus“
Klarheit zu schaffen. Reinhold aber versteht all diese Schritte als eine aus dem
idealistischen Ansatz konsequent folgende „Reduktion“ des neuen Realismus, den er
durch Bardilis Grundriß der ersten Logik räpresentiert findet.108
Schulzes Skeptizismus spielt eine positive Rolle in Fichtes Aenesidemus
Rezension (1792). Aber diese der Skepsis eine positive Rolle konzedierende Schrift ist
doch der Wahrheitsfindung gewidmet und richtet sich deshalb zugleich antriskepttisch
gegen den Autor des Aenesideus. Fichte richtete sich aber auch gegen Reinholds „Satz
des Bewußtseins“ des Versuchs über menschliches Vorstellungsvermögen (1789), dem
obersten Grundsatz, der alles Denken auf ein eingizes Prinzip vereinigen soll ohne
deshalb allerdings das Ziel einer. Fichtes Vorwurf: Der oberste Bewußtseinsansatz krankt
an „Empirie“, „Abstraktion“ und „Formalismus“.109
Diese Kritik trifft Reinholds Satz
des Bewußtseins: „Im Bewußtseyn wird die Vorstellung durch das Subject vom Subject
und Object unterschieden und auf beyde bezogen.“110
Fichte zitiert genau diesen Satz in
seiner Aenesidemus Rezension111
betont aber daß Reinholds Beteuerung, der oberste
Grundsatz sei keine Abstraktion seinen eigenen Ansprüchen widersprechen müsse, da sie,
wenn nicht auf Abstraktion, dann aber auf Empirie gegründet sein müssen.112
Nun zitiert Hegel genau diese Kritik Fichtes und Aenesidemus in seiinem Berner
Manuskript zur Psychologie unnd Transzendentalphilosophie zitiert . Das
„VorstellungsVermögen“ sei ein „Empfindungsvermögen“, verbunden mit
„Empfindsamkeit“, ja „Sinnlichkeit“.113
Hegel versteht Reinholds „Vorstellung“
psychologisch als authoritätshörigen „positiven Glauben“ der den Maßstäben einer
108
Vgl. „Erste Aufgabe d. Philosophie“ S. 48 Heft 2 in Beyträge zur leichteren Übersicht 1801. 109
Fichte, Werke I, S. 8: „Der Satz des Bewußtseins, an der Spitze der gesammten Philosophie gestellt,
gründet sich (...) auf empirische Selbstbeobachtung, und sagt allerdings eine Abstraktion aus.“ Unter
anderen äußert auch Hegel in der Berner Zeit dieses Urteil über Reinholds obersten Grundsatz: 110
Reinhold, Beyträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen Jena, Maucke, 1790,
S- 167. 111
Fichte, Werke I, 5. 112
Fichte, Werke I, 7f. Es muß beachtet werden, daß Hegel genau diese Kritik Fichtes und Aenesidemus in
seiinem Berner Manuskript zur Psychologie und Transzendentalphilosophie zitiert . Das 113
Hegel, GW I, 169.
30
autonomen Vernunft nicht Genügsamkeit leisten kann.114
Hegels Berner Kantianismus
ordnet „VerstandesBegriffe“ dem empirisch Erscheinenden unter. „Vernunft, welche
das Unbedingte verlangt“ sieht diese tiefere Erkenntnis als bloßes Scheinwissen. (GW 1,
168).
Das theologische Element des „urwahren“ (Beytr. I, 101f) „Urseins“ spielt bei
Reinhold in der Zeit der Beyträge zur leichteren Übersicht die wichtige Rolle,
eigentliches von uneigentlichem Denken, oder auch Denken von Scheindenken zu
unterscheiden.115
Seine Überlegungen enthalten folgende Probleme und
Unterscheidungen:
Erstens begegnen wir hier der uralten Problematik des Unterschieds zwischen
Einheit und Vielheit. Reinhold ist sich außerordentlich bewußt der langen
philosophischen und theologischen Geschichte dieses Problems.
Zweitens unterscheidet Reinhold aber, anders als Bardili, absolute von relativer
Vielheit. Bardili kennt diese Unterscheidung nicht. Mit der der Unterscheidung zwischen
Einheit und Vielheit ist
Drittens die Frage der Wiederholbarkeit des Einen im Vielen, d.h., der Identiät
des Einen in den verschiedenen Formen des Vielen verbunden, mit denen das Eine
identisch ist. Dieses Thema ist noch einmal differenziiert als Mannigfaltigkeit, und deren
abstrakte Form der Vielheit. Reinhold sagt „Ein Mancherley von Steiunen, Pflanzen,
Steinen, Insekten mancherley Art, kann nur dadurch als ein Vieles bestimmt, gezählt,
berechnet werden, daß von der Mannigfaltigkeit desselben weggesehen (abstrahirt)
wird.“ (Beytr. Z.l. Übersicht H. 1, 104) . Die Frage der Wiederholung, die wir aus der
jüngeren Philosophiegeschichte, z.B. von Kierkegaards Schrift Gjentagelesen,
Wiederholung (1843) kennen, ist auch eine uralte Frage, die in der Tradition die Teilhabe
endlicher Vielheit am unendlich Götlichen, und die Präsenz des Unendlichen im
Endlichen andeutet, aber dann doch letztlich mit der Frage der Identität und
Identifizierbarkeit des Einzelnen verbunden ist.
114
Vgl. das auch in Bern verfaßte Manuskript „Ein Positiver Glaube“.
GW 352ff, vgl. bes. 354. 115
Vgl hier „Wesen des Denkens als Denkens“ S. 106ff im Beitrag „Nummer IV, Was ist das Denken als
Denken S,. 199 Heft I, Beyträge zur leichterten Übersicht Hamburg: Perthes, 1801.
31
Weiterhin ist viertens n diesem Komplex von Problemen enthalten die Frage des
Anfangs, mythologisch-theologisch als Schöpfung bekannt, aber philosophisch auch als
Spontanäität, Freiheit und Souveränität bekannt.
Mit diesem Komplex ist deshalb auch fünftens verbunden die Thematik des
hypothetisch-voräufigen Anfangens (Beyträge 1801 Heft 1, S. 101). Die Frage des
Kreislaufes, die mit dem Problem der Wiederholung schon angedeutet wurde, zielt auf
die Vollendung im Schluß. Aber die Bewegung von der Hypothese zum Schluß enthält
auch die andere Dimension von Erscheinen, Erschliessen oder Offenbaren.
Sechstens ist mit der Gesamtproblematik der Komplex der Identität und Differenz
verbunden. Differenz ist endliche Wiederholbarkeit des Einen in einem Anderen. (Beytr.
Üb Z. D.Phil. am Anf. D. 19. Jhdts H 1, 103f.). Endliche Wiederholbarkeit impliziert also
Differenzierung in dem Sinne der Wiederholung des Einem im Anderen.
Warum macht Reinhold mit seiner neue Position den Anspruch einen
„Realismus“ zu vertreten? Die Gründe sind vielseitig und nicht unproblematisch.
Erstens ist seine neue, an Bardilis Grundriss orientierte Positition wie schon
Bardili selbst gegen den „Idealismus“ der Richtung Kant-Fichte-Schelling-Hegel
gerichtet. Der „Realismus“ dieser Position findet seinen Ausdruck vor allem in der
„Anwendung“ des Denkens. Zuerst einiges über die Art, wie Reinhold dies versteht:
Denken ist „Rechnen“. Im Rechnen wiederholt sich das Denken absolut
unendlich in „reine(r) Identität“ (BlÜ H. 1, 106) und auch relativ – Hegel hat mit
Reinhold gemein und von diesem seine Unterscheidung von guter und schlechter
Unendlichkeit übernommen. Absolute Unendlichkeit schließt jedes „Nacheinander und
Nebeneinander aus sich aus“, sie wird gedacht als A=A116
, und ist somit reine Identität.
Sie ist die relative Unendlichkeit ermöglichende Voraussetzung alles mathematischen
„Nacheinander“ und „Nebeneinander“. Auch diese nur relative Iterabilität kann
unendlich wiederholbart werden. (BlÜ H. 1, 107). Während sich die absolute Identität in
sich selbst unendlich wiederholt, im Sinne von A=A, wiederholt sie sich in der endlichen
Wiederholung in einem Anderen, A=C. Es ist deutlich, daß diese Uminterpretation
116
Unmittelbar nach seiner „Zwischenposition“ meinte Reinhold, sein neuer barilischer Standpunkt des
logischen Realismus habe eine gewisse Kontinuität mit Fichte.
32
Bardilis Grundlisses erhebliche Anleihen von der Subjkektphilosophie der Richtung Kant
bis Fichte macht, der er ja bis vor kurzem selbst, angehört hat,während seiner
„Zwischenperiode“. 117
Reinhold hat die Bestimmbarkeit der endlichen Realität deutlich
im Auge. Aber er will diese Bestimmbarkeit der endlichen Realität in der unendlichen
Identität begründen. Diese unendliche Identität ermöglicht endliche Wiederhol- und
Bestimmbarkeit. Der Ermöglichungsgrund hat dabei vorerst einen hypothetischen oder
problematischen Wert. Erst die Anwendung in und auf objektive Realität, das „Material“
des Denkens, und ermöglicht es, ein bestimmtes Objekt zu konzeptualisieren.118
Verdeutlicht man sich, wie Reinhold diese „Anwendung“ versteht, nämlich als
den objektiven Stoff oder die Materie des Denkens, wird klar, wie viele Anleihen er bei
der von ihm kritisierten Tradition des Transzendentalismus macht. Das Denken hat
formierende Qualität, die auf amorphe, vor dem Denken noch nicht deutliche Materie
oder den objektiven Denkstoff angewendet werden muß. Und zwar muß dieser vor dem
Denken amorphe Stoff hypothetisch „postuliert“ werden (BzÜ Heft 2, 111, v gl. Bondeli
Anf. 296). Nur durch diese Anwendung wird das Gedachte objektiv und deutlich.
Reinhold bleibt hier überdies angreifbar gegenüber dem laut und deutlich geäusserten
Vorwurf des Dualismus (Bondeli, Anf. 311ff, Nr. 3.3.4.2), der gegen seine
Elementarphilosophie erhoben wurde und auch in der neuen Phase des logischen
Rationalismus z.B. von Fichte aber auch von Hegel erhoben wird.
Bardili denkt sich die Verdeutlichung als „Zernichtung“ oder „Vertilgung“ des
Stoffes (Grundriß der Logik 57), obwohl die Materie an sich „unvertilgbar“ bleibt.
Reinhold übernimmt nicht konsequent diese Terminologie der Zertilgung oder
Vernichtung, Vertilgung. Anstelle dieser Begriffe bevorzugt er den Begriff Aufheben. In
einer längeren „Anmerkung“ seines Aufsatzes über die „Elemente des Rationalen
Realismus“ von 1801 (BzÜ H. 2, 176ff) erklärt er die „Anwendung“ des „Denkens als
Denken“ in der uns von Hegel her bekannten Dialektik der Negation oder Vernichtiung in
derselben Bewegung, die das Positive und Unendliche hervorhebt. Reinhold betont, die
117
Vgl. Bondeli, Anfangsproblem 315. Dieses Erbe erklärt auch, warum Reinhold in dieser seiner längsten
Periode seines Denkens mehr mit der Richtung Fichte—Schelling-Hegel gemein hat, als er es selbst
wahrhaben will. 118
Bondeli, Anfangsproblem 302ff: „Der Beginn im erkennenden Denken. Die Hypothese.“
33
Bestimmung der „unbestimmten“, „Materie des Denkens“, liegt in der Anwendung des
Denkens.
Reinhold setzt sich dem Vorwurf des Dualismus (Materie und Form, gedachtes
Objekt und denkendes Subjekt) und des Dogmatismus aus. Ist dieser Vorwurf
berechtigt? Ich versuche hier diesen Vorwurf abzuwenden. Folgende Begriffe und
Begriffspaare werden von Reinhold gebraucht: Einheit und Vielheit steht gegenüber dem
Begriffspaar Einheit und Mannigfaltigkeit. Das Eine verstanden als Identität steht
gegenüber demselben Einen verstanden als Anderes. Dabei sind diese beiden Arten des
Einen – einmal als Identität, dann als Anderes – nur verschiedene Weisen des Denken.
Wir könnten vielleicht sagen, die erste Art ist abstrakt, denn Reinhold betont, dieses
Denken sei unbestimmt, die zweite, angewendete Art des Denkens ist bestimmt, wir sagen
auch konkret. So steht blosses oder „reines“, „abstraktes“119
Denken gegenüber
angewandtem Denken (BzÜ H 2, 180-181) in dem es sich bestimmt oder determiniert.
Bloße Wiederholung des Einen im Einen ist „unendlich“, während die Wiederholung
deselben Einen im Anderen „endlich“ ist. (BiÜ H 1, 103) Dabei ist reines Denken
unabhängig, und die Bedingung des Denkens des Anderen. Das Denken des Anderen ist
also nur „durch“ reines oder bloßes Denken möglich, es ist also abhängig von reinem
Denken. Das Eine, in der Weise seiner absoluten Identität, ist unbestimmt und
unbestimmbar, aber sie bestimmt sich in ihrer Wiederholung im Anderen.
Nun gebraucht Reinhold solche Begriffe wie „Materie“ oder „Stoff“ der zum
abstrakten, nur mit sich selbst identischen Denken „hinzukommen“ muß, damit das
Denken etwas Bestimmtes im konkreten Denkakt denken kann. Und die Frage entstand
und entsteht für uns, ob sich Reinhold damit nicht dem „Dogmatismus“ eines
„Dualismus“ von „Materie“ und „Denken“ aussetzt.120
Das „Andere“ selbst wird als das
zum Denken „Hinzukommende“ beschrieben (BzÜ H 2, S.. 181, vgl. H. 1, 110f) oder
119
Reinhold benutzt nicht häufig den Begriff „abstrakt“ um das reine Denken seiner selbst in seiner
unendlichen Selbstiteration zu beschreiben. Vgl. aber BzÜ Heft 1, S. 104, wo die Identität von Vielem und
Mannigfaltigem, Identität und Disersität oder Differenz betont wird mit dem einzigen Unterschied, daß
Diversität (z.B. diverse Meerespflanzen, Reinhold sagt, „manchgerley von Steiinen, Pflanzen, Insekten“
BzÜ H. 1, S. 104) nur dadurch „als ein Vieles bestimmt, gezählt, berechnet werden (kann), daß von der
Mannigfaltigkeit desselben weggesehen (abstrahirt) wird“. Er erklärt diese innere Beziehung des abstrakten
Vielen zum konkreten Mannigfaltigen im Denken indem er betont, daß diese Nichtwiederholbarkeit und
daher Unberechenbarkeit des Einen und demselben „an dem Anderen“, was auch „Rechnen“ genannt wird,
in diesr Abstraktion „aufgehoben wird.“ BzÜ Heft 1, S. 104. 120
Vgl. Bondeli Anf. 296f zu diesem Vorwurf.
34
auch als das „Hinzukommende Andere“ beschrieben. Ich meine, der Vorwurf einer
materiellen Vorgabe, etwa eines Kantischen Ding an sich, ist nicht von Reinhold
intendiert. Vielmehr betont er an vielen Stellen, das „Andere“ des Denkens, das
„Hinzukommende“, ist selbst nur „durch“ das Denken selbst möglich, aber Notwendig,
damit Denken überhaupt erlöst wird aus seiner Abstraktheit. In sich selbst das das
Denken unabhängig, und das Andere, das aus dem Denken selbst hinzukommt, ist
abhängig von von der reinen Identität des sich selbst wiederholenden Denkens. Man
könnte, ich meine, man sollte dies Andere theologisch als eine „Schöpfung aus dem
Nichts“, nämlich dem Nichts der sonst, ohne diese Schöpfung reinen Abstraktion
verstehen. Dieser Prozeß ist von Reinhold recht kompliziert überlegt, aber die
Durchdringung lohnt sich. Ich beschreibe nur einige der wichtigen Schritte:
Das Denken setzt sich als Denken in reiner Identität und Einheit. Diese
Selbstsetzung ist vorerst abstrakt, weil sie noch keinen konkreten Inhalt hat. Aber sie ist
trotzdem vorläufig die notwendige Vorausetzung jedes Erkennens, das einen konkreten
Inhalt denkt. So ist die Vorläufigkeit dieser Voraussetzung „blos(ses) Monstriren()“, nur
vorläufig andeuten und noch keine eigentliche Anwendung des Denkens, hat also noch
keinen eigentlichen Inhalt. Erst im Rechnen erfolgt das eigentliche Denken als
Demonstration eines Inhalts. (BZÜ H. 1, 102) Und erst durch diese Demonstration, die
auf ihren Inhalt analysiert werden kann, gelangt das Denken „auf das Urwahre am
Wahren und auf das Wahre am Urwahren.“ (BzÜ H 1, 101)121
Dies bedeutet, daß erst
am Ende Klarheit besteht indem das Licht der Wahrheit erscheint.
Reinhold redet so wie Bardili vom „Denken als Denken“. Solche Rede hat eine
antikantische und antitranszendentalphilosophische Pointe.
Reinhold betont, dieser Schritt im Denken in seiner Einheit ist „als solches, in
keinem Andern“. (BzÜ H 1, 104f)
121
Reinhold steht hier im Fahrwasser Bardilis Unterscheidung von seinsfundieretem Denken und Urteilen
der Vernunft Grundriß der ersten Logik 130ff.. Diese Unterscheidung folgt dem Ziel, eine angebliche
Psychologisierung seitens Kants und der Transzendentalphilosophie zu vermeiden, vgl. zB Grundriß 130ff.
In diesem psychologisierenden „Verkennen“ des eigentlichen Geschäfts der Philosopohie (BzÜ H 1, 101)
wird das Wahre mit Spoontaneität und Freiheit verbunden. Vgl. Bondeli, Anfangsproblem 286f. Ich kann
hier nicht die Berechtigung dieses Psychologievorwurfes seitens Bardilis und Reinholds in seiner
Bardiliphase verfolgen. Wichtig scheint mir aber Reinholds, sowie auch Bardilis Betonung der Wahrheit,
die letztlich ein ontologisches Interesse hat, zu denken. Bondeli sagt, Bardili verfolgt das Interesse, „eine
seinsfundierte denkende Vernunft zu denken“, aaO, 286.. Hierin kommt Bardili einen zentralen Interesse
Gottlob Freges nahe.
35
5. Das Urwahre, das Wahre und das Reelle
Es fällt auf, daß Reinhold am Anfang seiner Bardiliphase das Thema der absoluten
Wahrheit aufbringt. Ist dies ein „harnäckiger Dogmatismus“ der die bekannten
„Foormular-Methode“ der Elementarphilosophie wieder aufkocht? Der die von Kant
demolierte Metaphysik durch eine eigentlich verrammelte Hinterfür wieder einführt? Das
könnte man meinen, wenn man sowohl die Methode, als auch den Inhalt der von Kants
Transzendentalismus als Masstab heranzieht. So wurde ja Reinhold auch beurteilt von
Kant selbst, von Jäsche, Fichte, Schelling und Hegel in der Differenzschrift.
Reinhold initiert aber in Wahrheit eine zweite Revolution ein. Er hatte die erste,
die Kantische, besonders mit seinen Kntischen Briefen vorangetrieben. Jetzt initiert er
zusammen mit seinem neuen Mitstreiter Bardili, und anderen wie Jacobi, die zweite
Revolution innerhalb des deutschen Idealismus. Sie beruft sich nicht nur auf Bardili und
Jacobi, sondern auch Platon u. andere, wie Leibniz und Jacobi (BzÜ H. 1, 89). Die
Begriffe des Wahren und Urwahren greifen weit zurück in die Geschichte des
europäischen Denkens.122
Die Verbindung dieser Begrifflichkeit mit dem Anliegen von
Bardilis Logik deuten auf eine andere Dimension dieser zweiten Revolution: Die
Einführung der Problematik der Begründung. Hegels Denken mit allen seinen
Hauptmerkmalen – ich erwähne hier nur die Anfangsproblematik, die
Begründungsproblematik (man denke nur an solche Themen wie Grund, Zugrundegehen,
und Abgrund – und der Anspruch der logischen Kohärenz und zu überzeugen – diese
Themen stammen vor allem von Reinhold, genauer, von Reinholds Bardiliphase.
Bardilis Grundriss der ersten Logik war polemisch gegen den Transzendentalismus der
Kantischen Philosophie gerichtet. Mindest ebenso wichtig ist aber der Einfluß Jacobis,
denn nicht nur Jacobis Vernunftkritik sowie Jacobis Glaubensphilosophie samt solcher
Begriffe wie „Wahrheit“, „Urwahrheit“ usw. fanden Eingang in Reinholds Schriften in
seiner Bardiliphase.
122
Vgl. E.-O. Onnasch, „Wahrheit, absolute“ HWPh 11 135-137.
36
6. Anwendung des Denkens und die Anfangsproblematik
Reinhold betont in seinem „rationalen Realismus“, der von Bardilis „logischem
Realismus“ abweicht indem er ihn in wichtigen Punkten uminterpretiert, daß das Denken
angewandtes Denken sein müsse. Das Thema der Anwendung stammt aus dem
Denkzusammenhang, aus dem heraus er 1799 noch während er seiner
„Zwischenposition“ auf Bardili stößt. Er sagt am Anfang seines Briefwechsels mit Bardili
von 1804, noch in der Vorrede, die verschiedenen Behauptungen von Bardilis Gruundriß,
schon im Titel, über den Schlüssel zu einer Naturphilosophie, „die Logik zur
Wissenschaft des realen Objektes zu erheben“, hätten ihn eigentlich nur abgeschreckt,
das Buch auf Anraten seines Hamburger Freundes des Verlegers Perthes, der ihm das
Buch lieh, zu lesen. Aber schon im ersten Brief an Bardili vom Herbst 1799 betont er, er
habe es nicht weniger als fünf mal durchgelesen, anstatt es Perthes zurückzuschicken.
Was ihn bewog, nicht zur Post zu gehen, sondern sich das Buch ernstlich vorzuhehmen,
war die Problematik der Identität, spezifisch die Art, wie sich Bardili das Verhältnis von
Einheit und Vielheit in der Anwendung des Denkens im Rechnen vorstellt. Hier, in der
Problematik der Anwendung, aber verbunden mit der Neuplatonischen Problematik des
Verhältnisses von Einheit und Vielheit, findet Reinhold die Brücke von seiner
Zwischenposition zu Bardili. Denn er stieß ja nicht aus einem Denkvacuum auf Bardili.
Sein gleich im ersten Brief an Bardili angedeuteter Denkzusammenhang war die Position
zwischen Jacobi und Fichte, wie er im ersten Sendschreiben an Fichte sagt. Jacobis
Anliegen war aber ein objektive Wahrheit; Fichtes aber das praktisch angewandet und
deduzierende Denken.
Diese beiden verschiedenen Denktradionen in Reinholds „Zwischenposition“
führen zu Reinholds Umdeutung Bardilis „logischen Realismus“. Dieser ist bestimmt
durch den Gedanken der Identität der Einheit und Vielheit. Reinhold resümiert in
knappen Worten in der Vorrede des Bardili-Reinhold Briefwechsels das zentrale Thema,
was ihn anzog: Manches in Bardilis Identitätsformel schien ihm widersprüchlich,
besonders die Problematik der Identität oder Einheit der Identität und Nichtidentität.
Bardili betont die Unzulänglichkeit verschiedener Formen der bisherigen Logik. Wenn
Reinhold selbst in seinen Vorlesungen auch – wenn nicht direkt von „Widersprüchen“ in
diesen verschiedenen Formen geredet hatte, dann beobachtet er doch „unüberwindliche
37
Schwierigkeiten und Dunkelheiten (BRBW1804 viif). Und im oft widerspenstigen
Weiterlesen von Bardilis Grundriß123
ging ihm dabei „plötzlich“ das „Wesen des
Widerspruches“ auf, der „Widerspruch aller Widersprüche“. Und dies Wesen des
Widerspruchs müsse „im Verwechseln der Identität mit der Nichtidentität und dieser in
jener“ im Denken bestehen. Dieses Verwechseln müsse auch „Denken im Nichtdenken“
widersprüchlich verbinden, „wobey also das Denken, und das bloße Vorstellen vermengt
wird.“ (BRBW1804 viii). Aber die Widersprüche können behoben werden, überzeugte
Bardili Reinhold, indem sie bisher unerkannt, sozusagen sich selbst als solche zu
erkennen geben indem sie vom Denken als ungültig und unbrauchbar erkannt werden.
Da die Widersprüche aber Dimensionen der phänomenalen Welt selbst sind, wird diese
als in sich selbst widersprüchliche Scheinwelt erkennbar und zum bloßen Schein
herabgesetzt indem ihre innere Widersprüchlichkeit im Denken zum Vorschein kommt
und beim Namen genannt wird. Die Identität des Denkens ist also durch unmittelbare
Verwobenheit mit den Erscheinungen eine Identität der Dinge selbst, denn deren
Widersprüchlichkeit ist nur die Widersprüchlichkeit des Denkens selbst. Reinhold betont,
daß die falsch verstandene „Logik“ unvermeidlich die eigentliche Identität des Denkens
verkannt habe. Und dieses Verkennen hafte der „sogenannten spekulativen Philosophie,
sie mag nun als ehemalige Metaphysik, oder dermalige Transzendentalphilosophie
auftreten“ an. Mit der „Entdeckung und Vertilgung jener Widersprüche“ entsteht „eine
völlig neue, von keinem unserer Reformatoren [...] auch nur geahndete [...] Ordnung der
Dinge für die Philosophie überhaupt.“ (BRBW1804 viiif).
Bibliographie
I. Primärliteratur
123
Im Reinhold-Bardili Briefwechsel begegnet man fast auf jeder Seite wenigstens Reinholds Briefen vieles
an Bardilis Grundriß das sich gegen Reinholds Verständnis sperrt. So z.B im ersten Brief an Bardili vom
Dez, 1799, kann sich Reinhold mit vielem dieses Buches nicht abfinden. So fühlte er sich schon durch den
„sonderbaren Titel“ abgeschreckt. Die Dedikation des Buches an die antikantischen Herder, Schlosser,
Eberhard und Nikolai und die polemischen Stellem im Buch selbst haben ihn oft „emport () und
zurückgeschreckt.“ S. 4. Das bedeutet doch wohl, daß Reinhold trotz betonter Wendung zu Bardili
durchaus eine Kontinuität mit seiner kantisch-transzendentalen Phase erkennt. Andere aber, z.B. Fichte,
mußten schon aus dieser Widmung bei Reinhold ein Zürückfallen in seine Phase der
Elementarphilosophiee fürchten. Fichte hat dieses deutlich genug ausgedrückt in seiner Bardilirezension.
38
Bardili, Christoph Gottlieb (1800), Grundriss d. ersten Logik gereinigt von den
Irrthümern bisherirer Logiken überhaupt, der Kantischen insbesondere; Keine Kritik
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