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Cathrine Fabricius-Hansen, Wolfgang Kühlwein (Hg.) FOKUS Linguistisch-Philologische Studien Band 37

Evidentialität und Epistemizität in der Bedeutung reportativer Satzadverbien im Polnischen und Deutschen

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Cathrine Fabricius-Hansen, Wolfgang Kühlwein (Hg.)

FOKUS

Linguistisch-Philologische Studien

Band 37

Gabriele Diewald, Elena Smirnova (Hg.)

Modalität und Evidentialität

Modality and Evidentiality

Wissenschaftlicher Verlag Trier

Gabriele Diewald, Elena Smirnova (Hg.):

Modalität und Evidentialität –

Modality and Evidentiality /

Trier : WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2011

(Fokus ; Bd. 37)

ISBN 978-3-86821-352-2

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz-Thyssen-Stiftung Köln.

Umschlaggestaltung: Brigitta Disseldorf

© WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2011

ISBN 978-3-86821-352-2

Alle Rechte vorbehalten

Nachdruck oder Vervielfältigung nur mit

ausdrücklicher Genehmigung des Verlags

WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier

Bergstraße 27, 54295 Trier

Postfach 4005, 54230 Trier

Tel.: (0651) 41503 / 9943344, Fax: 41504

Internet: http://www.wvttrier.de

E-Mail: [email protected]

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Anna Socka

Evidentialität und Epistemizität in der Bedeutung reportativer

Satzadverbien im Polnischen und Deutschen

1. Reportative Ausdrücke im Polnischen und Deutschen

Reportativität (hearsay) ist eine Subdomäne der Evidentialität, die ausdrückt, dass der Sprecher der aktuellen Äußerung seine Aussage auf früheren Äußerungen (gewöhnlich von einer anderen Person/von anderen Personen) gründet.

Zu den reportativen Ausdrücken gehören im Deutschen u.a. die Satzadverbien1

angeblich und vorgeblich sowie die Modalverbkonstruktionen wollen/sollen + Infini-tiv.2 Im Polnischen sind es die Satzadverbien podobno, ponow, niby, jakoby ! rzekomound die Modalverbkonstruktion miew + Infinitiv. Wiemer (2010:107-109) zählt zu den Reportativa auch die Adpositionen pln. zdaniem, według, dt. zufolge, gemäß, laut; da-bei verbindet sich nur zdaniem ausschließlich mit Bezeichnungen von Personen als Ur-hebern von berichteten Äußerungen, während alle anderen auch allgemeiner auf Grundlagen von Behauptungen etc. verweisen können (vgl. według ostatnich sondaxy

1 Satzadverb ist ein Terminus, der neben anderen wie Modalwort (etwa in Helbig/Helbig

1990 sowie in Helbig/Buscha 1998) oder Modalpartikel (in Zifonun et al. 1997) exis-tiert. In Socka (2010) bezeichne ich die hier behandelten Ausdrücke als reportative Partikeln. Leiss (2009) spricht von „Modalitätsadverbialen (epistemischen Adverbien)“, Abraham (2009) und Wierzbicka (2006) von epistemic adverbs. Charakteristisch für diese Ausdrücke ist, dass sie weder erfragbar noch negierbar sind. Dagegen können sie als Antwort auf Entscheidungsfragen fungieren und – im Deutschen – das Vorfeld be-setzen. In semantischer Hinsicht modifizieren sie den propositionalen Gehalt des Satzes (vgl. Ramat/Ricca 1998:190). Neben dem Satzskopus können sie verschiedene kleinere Skopi haben, insbesondere den über ein attributives Adjektiv (z.B. Kapitalanleger bei

angeblich erfolgreichen Investmentfirmen, „Mannheimer Morgen“ 01.08.1995). Für ei-ne ausführliche Diskussion in slavistischer Perspektive vgl. Wiemer/Vrdoljak (2011).

2 Die deutsche Modalverbkonstruktion wollen + Infinitiv ist auf Fälle beschränkt, in de-nen der Urheber der berichteten Äußerung mit dem Referenten der Subjekt-NP iden-tisch ist. Den sog. Referatskonjunktiv in desubordinierten Hauptsätzen des Deutschen (in denen er der einzige Wiedergabemarker ist) rechnet Aikhenvald (2006:134) zu den evidentiellen Strategien, d. h. „categories and forms which acquire secondary meanings somehow related with information source“ (ebd. 105; vgl. auch Socka 2008:383-387; Wiemer 2010:77, 116f.). Nach Diewald/Smirnova (2010b) zählt der Konjunktiv als Mittel der indirekten Wiedergabe dagegen nicht zu den reportativen, sondern zu den quotativen Ausdrücken, weil er die ursprüngliche Kommunikationssituation in die aktu-elle Kommunikationssituation einbettet und somit eine Origoverschiebung bewirkt.

3 Sprachgeschichtlich entwickelte sich das Satzadverb jakoby aus einer homonymen Kon-junktion, die im Polnischen weiterhin existiert (vgl. Wiemer 2010:106).

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‚den jüngsten Umfragen zufolge‘). Das Polnische besitzt ferner das Prädikativ4sły-

chaw, welches jedoch typischerweise nur das mittels einer Präpositionalphrase ausge-drückte Thema einer Äußerung fokussiert (vgl. ebd. 102, słychaw o strajku, wörtl.: ‚hör:INF über Streik‘, ‚man hört von dem Streik‘).

Mein Interesse gilt im Folgenden den Satzadverbien in beiden Sprachen, wobei niby wegen seiner relativ niedrigen Frequenz sowie der zusätzlichen konzessiven Be-deutungskomponente ausgeklammert wird (vgl. Wiemer 2006:47f.).

2. Zur Bedeutung

Es wird meistens angenommen, dass die reportative Bedeutungskomponente ein inhä-renter und folglich unlöschbarer Bestandteil der Bedeutung der Satzadverbien rzekomo, jakoby, podobno (vgl. z.B. Wiemer 2006) sowie angeblich und vorgeblich ist (vgl. z.B.

Ramat/Ricca 1998:269; Socka 2010).5 Zusätzlich wird allen eine epistemische Bedeu-tungskomponente zugeschrieben, bei der es sich um die Einstellung des aktuellen (d. h. wiedergebenden) Sprechers der wiedergegebenen Information (P) gegenüber handelt. Der aktuelle Sprecher drückt meistens seinen Zweifel an der Wahrheit von P aus, er kann sich jedoch auch der Beurteilung enthalten und eine neutrale (agnostische) Haltung annehmen. Wiemer (2006:24, 39, 43) paraphrasiert die epistemische Kompo-nente der einzelnen Satzadverbien mithilfe englischer Modalverben und postuliert ihre folgende skalare Anordnung je nach dem Grad des ausgedrückten Zweifels.

Abb. 1: Zunahme des epistemischen Zweifels (in Pfeilrichtung) (Wiemer/Socka in Vorb.)

Ferner schreibt Wiemer (2006) den epistemischen Bedeutungskomponenten der ein-zelnen Lexeme unterschiedlichen Status zu: Bei podobno und jakoby ist die epistemi-sche Komponente nur eine konversationelle Implikatur, bei rzekomo ein unlöschbarer Bestandteil der lexikalischen Bedeutung (vgl. ebd. 24, 39, 42f., Beispiele (1) bis (3)).

(1) Wszystko wskazuje jednak na to, Ue pamiVtniki Clintona bVdW jego wielkim sukcesem finansowym. Wydawca wydrukował w pierwszym nakładzie 1,5 mln egzemplarzy, ale zamówienia juU opiewajW na ponad 2 mln. Sama zaliczka dla autora wyniosła podobno

4 Die Wortklasse der Prädikative besitzt nach Wiemer (2010:87) folgende Eigenschaften:

1) Ihre Elemente sind unflektierbar (manche, wie słychaw, entsprechen formal ehemali-gen Infinitiven); 2) Syntaktisch treten sie ausschließlich in prädikativer Funktion auf; 3) Sie implizieren ein belebtes Argument (denkendes Wesen, Wahrnehmer), dessen syntaktische Realisierung oft blockiert ist (wie bei słychaw), und sie verlangen ein zwei-tes (oft propositionales) Argument, das durch einen eingebetteten Satz oder durch eine PP realisiert wird.

5 Zu einer anderen Auffassung vgl. Leiss (2009 und öfter).

‘I think that P might be not true.’ Pol. podobno‘I think that P can be not true.’ jakoby

‘I think that P is not true.’ rzekomo

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10 mln i – jak Uartował Clinton – była o 2 mln dolarów wiVksza, niU ta, którW dostała za swoje wspomnienia jego Uona Hillary. (PWN, Rzeczpospolita 06.23, 2004)6

‚Alles deutet jedoch darauf hin, dass Clintons Memoiren sein großer finanzieller Erfolg werden. Der Verleger ließ in der ersten Auflage 1,5 Mio. Exemplare drucken, aber die Bestellungen belaufen sich schon jetzt auf über 2 Mio. Allein die Anzahlung für den Verfasser soll 10 Mio. betragen haben und war – wie Clinton scherzte – um 2 Mio. hö-her als diejenige, die seine Frau Hillary für ihre Erinnerungen erhalten hat.‘

(2) Jeszcze trudniej bez obawy naraUenia siV na XmiesznoXY rozprawiaY o zakorzenionych jakoby w polskim charakterze narodowym skłonnoXciach do korupcji, pijaZstwa czy anarchicznego sposobu obradowania. Wokół tego właXnie charakteru nagromadziła siVtaka masa nieporozumieZ, iU koniecznych jest choY parV słów komentarza. (PWN, Ja-nusz Tazbir, Silva rerum historicarum, 2002)

‚Noch schwerer ist es, ohne sich der Gefahr der Lächerlichkeit auszusetzen, über die angeblich im polnischen Nationalcharakter verwurzelten Neigungen zur Korruption, Trunksucht oder anarchischen Debattierweise zu diskutieren. Um eben diesen Charakter sammelte sich eine solche Menge an Missverständnissen, dass mindestens einige Worte Kommentar notwendig sind.‘

(3) Nigdy rzekomo autonomiczni sVdziowie nie przeciwstawili siV publicznie zwiWzkowym bossom. To była po prostu jedna druUyna grajWca w barwach PZPN, a przynajmniej tak to wyglWdało z zewnWtrz. (PWN, Rzeczpospolita 03.01, 1997)

‚Nie widersprachen die angeblich autonomen Schiedsrichter öffentlich den Vereinsbos-sen. Das war einfach eine Mannschaft, die für den PZPN spielte, oder zumindest sah das von außen so aus.‘

In Socka (2010:249f.) postuliere ich aufgrund von Belegen wie (4) und (5), dass die Paraphrase ‚I think that P is not true‘ für rzekomo zu stark ist, denn die Wahrheit von P wird hier durch den aktuellen Sprecher nicht völlig abgestritten. Vielmehr löst das Weltwissen in (4) etwa die folgende Schlussfolgerung aus: Da es sich um eine Presse-nachricht aus einer belagerten Stadt handelt, die folglich weder überprüft noch über-prüfbar ist, muss eine skeptische Einstellung angenommen werden. In (5) resultiert der Zweifel dagegen daraus, dass die beschriebenen Ereignisse weit zurückliegen und des-halb nicht mehr verifiziert werden können.7

(4) WciWU trzyma siV ostatni bastion talibów i ich faktyczna stolica Kandahar. MułłV Omara rzekomo widziano wczoraj, z ochronW, w centrum miasta. (PWN, yycie Warszawy, 26.11.2001)

‚Noch nicht eingenommen ist die letzte verbliebene Taliban-Hochburg und ihre fakti-sche Hauptstadt Kandahar. Mullah Omar wurde gestern angeblich mit Leibwächtern im Stadtzentrum gesehen.‘

(5) Musiał byY rzeczywiXcie bardzo stary, zmarł pod koniec lat szeXYdziesiWtych, podobno miał za sobW wielkW przeszłoXY artystycznW, przed wojnW grał duety z Pawłem

6 Alle Hervorhebungen stammen von der Verfasserin. Die Übersetzung polnischer Repor-

tativa mit deutschen (z.B. podobno mit sollen + Infinitiv in (1)) soll nicht als Behaup-tung einer vollen Äquivalenz der betreffenden Ausdrücke verstanden werden.

7 Ähnlich scheint das russische Satzadverb jakoby zu funktionieren (Alexander Letuchiy, persönliche Mitteilung).

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KochaZskim, rzekomo akompaniował Kiepurze, pisał muzykV do słuchowisk radio-wych. […] Nikt na dobrW sprawV nie wie, o czym myXlał, nikt go naprawdV nie znał. (PWN, W. Kowalewski, Bóg zapłacz!, 2000)

‚Er muss wirklich sehr alt gewesen sein. Er starb Ende der sechziger Jahre. Er soll auf eine großartige künstlerische Vergangenheit zurückgeblickt haben. Vor dem Krieg spielte er im Duo mit Paweł KochaZski, begleitete angeblich Kiepura, schrieb Musik für Hörfunkspiele. [...] Keiner weiß wirklich, was er dachte, niemand hat ihn wirklich gekannt.‘

Deswegen schlug ich vor, die epistemische Bedeutungskomponente von rzekomo – wie bei jakoby – mit ‚I think that P can be not true‘ anzugeben. Der Unterschied zu ja-koby sollte darin bestehen, dass sie keine Implikatur darstellt, also folglich nicht durch den Kontext blockiert werden kann (vgl. Socka 2010:250). Auch dieser Vorschlag er-scheint jedoch problematisch in Fällen von journalistischer Distanz, die im Abschnitt 3 besprochen werden.

Der Bedeutungsunterschied zwischen den beiden deutschen reportativen Satzad-verbien angeblich und vorgeblich ist subtiler und besteht anscheinend nicht in der Stärke oder dem Status des epistemischen Zweifels. Nach Meinung zumindest einiger deutscher Muttersprachler legt vorgeblich – nicht aber angeblich – nahe, dass die Quelle der wiedergegeben Information P der Ausführer einer im Satz erwähnten Hand-lung ist (z.B. in (6) – die Initiatoren der genannten Auseinandersetzungen).

(6) Zahlreiche nigerianische Autoren, unter ihnen die ins Deutsche übersetzten Schriftstel-ler Cyprian Ekwensi und Wole Soyinka, thematisierten den Bürgerkrieg von 1967-1970, als vorgeblich ethnisch sowie religiös motivierte Auseinandersetzungen zum Tod zahlreicher Igbo führten, deren Geschäftstüchtigkeit und Bildungsgrad sie zu einer Art Juden Westafrikas stempelten. (Cosmas, Mannheimer Morgen, 18.07.2007)

Besonders auffällig ist dagegen der Unterschied in der Frequenz: angeblich ist um bis zu zwei Größenordnungen frequenter als vorgeblich (vgl. Tab. 1).

Tab. 1: Frequenz von angeblich und vorgeblich (vgl. Quellennachweis) Korpus Wörterzahl angeblich angeblich

/Mio. Wörter

vorgeblich vorgeblich

/Mio. Wörter

Belletristik 3.660.810 76 20,8 0 0Sachbücher 619.399 44 71,0 4 6,5Wochenzeitschrift 4.890.997 300 61,3 7 1,4

Tagespresse 248.322.255 9.818 38,5 59 0,2Konversation 721.477 7 9,7 0 0Parlamentsdebatte 2.652.754 110 41,4 3 1,1

Deswegen wird das Deutsche von Ramat/Ricca (1998:230) zu den Sprachen mit nur einem reportativen Satzadverb gezählt, wobei „German angeblich tends to be more often employed to express distrust than neutral non-commitment“ (ebd.: 269).

Letzteres ist wohl auf die Existenz der reportativen Modalverbkonstruktion sol-len + Infinitiv zurückzuführen, die im Default-Fall agnostisch-neutral ist (vgl. (7) und (8)).

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(7) Wieder ist ein Mythos des Technik-Zeitalters zerbrochen: Der Castor, dieser Behälter für hochradioaktiven Abfall, der angeblich Bomben, Erdbeben und Weltuntergänge un-beschadet übersteht, ist undicht. (Cosmas, Mannheimer Morgen, 22.05.1998)

(8) Dieses Mal war Nicole Scheer, Gattin des französischen Botschafters in Bonn, Gastgeberin einer solchen Benefiz-Shopping-Veranstaltung in der Residenz Schloß Er-nich hoch über dem Rhein. So exklusiv wie der Kundinnenkreis war das Angebot: kost-bares Porzellan, Bijouterien, edle Parfums, Lederwaren de Luxe und Seidentücher, ge-stiftet von französischen Nobelfirmen. Die Edelfrauenvereinigung soll schon über drei Millionen Mark für gute Zwecke vereinnahmt haben. (Cosmas, Mannheimer Morgen, 03.06.1995)

Bei den Modalverbkonstruktionen sollen + Infinitiv und wollen + Infinitiv sprechen Diewald/Smirnova (2010a:129) von „unsicherer Faktizität als Implikatur“. Darin stim-men sie überein mit Diewald (1999:228), der zufolge sich eine negative epistemische Komponente über konversationelle Implikaturen aus „dem Verweis darauf, dass der aktuelle Sprecher selbst nicht die Quelle der Faktizitätsbewertung ist“ ergeben kann. Das Aufkommen einer solchen Implikatur stelle bei wollen + Infinitiv den Default-Fall dar, während sollen + Infinitiv „in den allermeisten Fällen eine neutrale Wieder-gabe zitierter Rede“ ist (ebd. 229).

Auch für angeblich und vorgeblich lassen sich jedoch Belege finden, in denen die wiedergegebene Proposition P nicht bestritten, sondern allenfalls leicht angezwei-felt zu werden scheint (vgl. (9), (10)). Nach Zifonun et al. (1997:1131) signalisiert der Sprecher mit angeblich „bei nicht auf ihre Wahrheit geprüften oder überprüfbaren In-formationen“, dass er „die Verantwortung für die Information, die im restlichen Satz steckt“, nicht übernimmt.

(9) Sandra ahnte, dass die zarte weiße Haut der beiden bisher kaum einen Sonnenstrahl ab-bekommen hatte, und stellte das Badeleben unter das Motto: »Wer sich nicht einschmie-ren lässt, darf auch nicht ins Wasser. Basta!« […] Dimitrij konnte schwimmen wie ein Delphin. Angeblich hatte er es in einem Pool von Bekannten seiner Eltern gelernt. (Cosmas, S. Ramge: Strahlenkinder, Föritz 2006:99)

(10) Wandelt man durch das Museum, kommt einem die aberwitzige, vorgeblich altchinesi-sche Klassifikation von Tieren in den Sinn, die Jorge Luis Borges in Das Eine und die Vielen erwähnt: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, k) mit feinstem Kamel-haarpinsel gezeichnete, n) die von Weitem wie Fliegen aussehen. Michel Foucault dien-te diese Taxonomie als Beispiel für eine ganz andere als die abendländisch-rationale Ordnung der Dinge. (Cosmas, Die Zeit (Online-Ausgabe), 05.11.2009)

Angesichts solcher Belege liegt es nahe, auch für dt. angeblich und vorgeblich die epistemische Komponente als eine mit ‚I think that P can be not true‘ paraphrasierbare Implikatur zu postulieren.

3. Verlust der epistemischen Bedeutungsschattierung in Pressetexten

Korpusuntersuchungen fördern darüber hinaus Belege zutage, die zeigen, dass selbst diejenigen unter den hier behandelten reportativen Ausdrücken, deren negative episte-

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mische Komponente am stärksten ist, nämlich dt. angeblich und pln. rzekomo, sie in bestimmten Kontexten gänzlich verlieren können. In folgenden Pressemeldungen han-delt es sich um neutrale (agnostische) Inhaltswiedergaben von fremden Äußerungen.

(11) Durch Chlorgas sind in Räbke in Niedersachsen 24 Menschen verletzt worden. Der Schwimmeister des Freibades hatte bemerkt, daß das Gas aus einem Tank austrat. Feu-erwehren versuchten, mit Wasser das Chlor zu binden. Für Anwohner bestand angeb-lich keine Gefahr. dpa (Cosmas, Mannheimer Morgen, 15.05.1998)

(12) O fałszowanie dat przydatnoXci do spoUycia UywnoXci oskarUa toruZski hipermarket Geant grupa byłych pracowników sklepu. Dyrekcja koncernu nazwała to pomówieniem, a prokuratura wszczVła postVpowanie wyjaXniajWce w tej sprawie. Grupa byłych pracowników Geanta w Toruniu oXwiadczyła dziennikarzom, Ue w hipermarkecie notorycznie poddawano produkty miVsne "odXwieUaniu": m.in. myto nieXwieUe miVso w specjalnych roztworach, przepakowywano i umieszczano nowe daty przydatnoXci, a najstarszy towar przerabiano na miVso mielone, gulasz lub carpaccio. Takie surowce rzekomo dodawano teU do pizzy. (PWN, Metropol 03.7, 2001)

‚Eine Gruppe ehemaliger Mitarbeiter beschuldigt den Thorner Supermarkt Geant der Fälschung von Haltbarkeitsdaten für Lebensmittel. Die Konzernleitung bezeichnete dies als eine Verleumdung und die Staatsanwaltschaft leitete ein Ermittlungsverfahren in der Sache ein. Eine Gruppe ehemaliger Geant-Beschäftigter erklärte gegenüber Journalis-ten, dass in dem Supermarkt Fleischwaren notorisch „aufgefrischt“ wurden, d. h. altes Fleisch wurde in speziellen Lösungen gewaschen, umgepackt und mit neuen Haltbar-keitsdaten versehen, während die ältesten Produkte zu Hackfleisch, Gulasch oder Car-paccio verarbeitet wurden. Solche Zutaten verwendete man angeblich auch in der Pizza.‘

Im Nachrichtenkorpus aus der Zeitung „Rzeczpospolita“ tritt rzekomo häufiger als ja-koby oder podobno in Pressemeldungen über Rechtsübertretungen, ihre Verfolgung und gerichtliche Konsequenzen auf. Unter insgesamt 261 rzekomo-Belegen in diesem Korpus kamen 53 in der Verdachts- und Gerichtsberichterstattung vor (20,3%).8 In 31 davon signalisierte der Kontext Zweifel an der im Skopus von rzekomo stehenden Pro-position (vgl. (13)). In weiteren 22 Fällen schien dagegen rzekomo der Unterstreichung einer distanzierten Haltung des wiedergebenden Sprechers (Journalisten) zu dienen, der anscheinend von jedweder Parteinahme Abstand nimmt, sondern lediglich berich-tet (vgl. (14), Tab. 2).

(13) Krzysztofowi H. prokuratura zarzuca zorganizowanie i kierowanie w latach 1993-1994 pozornym systemem powiWzanych ze sobW transakcji XrutW i programami komputerow-ymi, dziVki którym, wraz ze współoskarUonymi, wyłudzili z urzVdów skarbowych ok. 1,5 mln zł rzekomo naleUnego VAT […] oraz dodatkowo usiłowali wyłudziY 2.5 mln zł. (PWN, Rzeczpospolita 2001, Nr. 08.25)

,Krzysztof H. wirft die Staatsanwaltschaft vor, in den Jahren 1993-1994 ein Scheinsys-tem von miteinander verbundenen Geschäften mit Schrot und Computerprogrammen organisiert und geleitet zu haben, mit dessen Hilfe er und die Mitangeklagten von Fi-

8 Dagegen sind es im Falle von jakoby 14 unter insgesamt 97 Belegen (14,4%), im Falle

von podobno 39 unter 932 (4,2%).

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nanzämtern ca. 1,5 Mio. Zloty angeblich fällige Mehrwertsteuer hinterzogen haben und zudem versuchten weitere 2,5 Mio. zu hinterziehen.‘

(14) Francja. OskarUony rosyjski marynarz. Przed sWdem w mieXcie Brest na zachodzie Francji rozpoczWł siV proces […] drugiego dowódcy na statku Melbridge Bilbao, który rzekomo nie zapobiegł osadzeniu jednostki na mieli[nie na wodach Zatoki MojaZskiej. 43-letni Władimir Czernyszow został oskarUony o spowodowanie zagroUenia Uycia i zdrowia załogi przez pogwałcenie podstawowych obowiWzków i zasad sztuki nawi-gacyjnej – napisano w akcie oskarUenia. (PWN, Rzeczpospolita 2002, Nr. 01.09)

,Frankreich. Russischer Matrose angeklagt. Vor Gericht in der Stadt Brest in Westfrank-reich begann der Prozess gegen den zweiten Kommandanten des Schiffs Melbridge Bil-bao, der es angeblich nicht verhinderte, dass die Einheit in der Molene-Bucht auf eine Sandbank lief. Der 43-jährige Vladimir Tschernischow wird angeklagt, durch fahrläs-sige Überschreitung von Pflichten und Regeln der Navigationskunst Leben und Ge-sundheit der Besatzung gefährdet zu haben – heißt es in der Anklageschrift.‘

Auch angeblich kommt in der Berichterstattung über Straftaten, ihre Verfolgung und richterliche Bewertung vor, allerdings etwas seltener als rzekomo. In einer Probe von 98 Belegen aus der Tageszeitung „Mannheimer Morgen“ trat das Satzadverb neunmal in völlig distanzierten Berichten über Verdachtsmomente auf (vgl. (15)) sowie sie-benmal in solchen, in denen der Kontext auf die Falschheit bzw. Unglaubwürdigkeit der betreffenden Proposition hinwies (vgl. (16)).

(15) Eine private Auseinandersetzung über finanzielle Forderungen zwischen Vater und Tochter eskalierte abends in einer Gaststätte in Oppau zu einer handfesten Auseinander-setzung. Angeblich schuldete die 25jährige Tochter ihrem 52jährigen Vater, beide sind aus Ludwigshafen, noch Geld. Seine Forderungen wollte der Vater nun in der Gaststätte eintreiben. Laut Polizei ging er auf seine Tochter los, schlug und trat auf sie ein und entriß ihr diverse Schmuckstücke. […] Der renitente 52jährige wurde festgenommen. (Cosmas, Mannheimer Morgen, 06.06.1995)

(16) Bereits am Dienstag konnten zwei angeblich 13jährige Kinder auf frischer Tat bei ei-nem Einbruch in der Heinigstraße festgenommen werden. […] Mit ärztlichen Altersgut-achten wurde einer der beiden Jungen auf annähernd 16 Jahre, der andere auf fast 14 Jahre geschätzt. Erst mit einem sogenannten Personenfeststellungsverfahren konnte die Identität der beiden Tatverdächtigen zweifelsfrei festgestellt werden. (Cosmas, Mann-heimer Morgen, 14.07.1995)

Das abweichende Verhalten von reportativen Satzadverbien in Pressenachrichten hat wahrscheinlich mit rechtlichen und medienethischen Normen zu tun, die Journalisten beachten müssen und die deshalb im Folgenden etwas ausführlicher referiert werden.

So verlangen sowohl die Pressegesetze der einzelnen Bundesländer, die Recht-sprechung als auch der Pressekodex des deutschen Presserates, dass der Journalist „alle Nachrichten vor ihrer Verbreitung mit der nach den Umständen gebotenen Sorg-falt auf Inhalt, Herkunft und Wahrheit [prüft]“ (§6 LPG NRW, zit. nach Soehring 2010:10). Analoges schreibt das polnische Pressegesetz in §12 vor. Ferner sind „[u]n-bestätigte Meldungen, Gerüchte und Vermutungen […] als solche erkennbar zu ma-chen“ (Pressekodex, Ziff. 2). Bestimmte Quellen von Nachrichten sind dabei privile-giert, „mit der Folge, dass die pressemäßige Sorgfalt in der Regel keine eigene Über-

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prüfung des Wahrheitsgehalts ihrer Meldung erfordert“; dazu zählen, neben Nachrich-tenagenturen, „Verlautbarungen von Behörden wie insbesondere Staatsanwaltschaften, Gerichten oder der Polizei“ (Soehring 2010:19f.). Dieser Umstand dürfte etwa den Ge-brauch von angeblich in (11) und (15) beeinflusst haben. Das Presserecht kennt auch den Begriff der Verbreiterhaftung:

„Auch wo die Medien sich Äußerungen nicht zu eigen machen, wo sie diese vielmehr ohne Einschränkungen und ohne Verklausulierungsversuche klar als diejenigen Dritter ausgeben, haften sie, wenn sie sich von deren Inhalt nicht in geeigneter Weise distanzie-ren.“ (ebd. 345)

Sowohl der geforderte Sorgfaltsmaßstab als auch die Form der Distanzierung unterlie-gen anscheinend keinen universellen Regelungen, sondern sind „nur anhand der jewei-ligen Umstände des Einzelfalls konkretisierbar“ (ebd. 23). Generell sind die (nachträg-lichen) Anforderungen der Gerichte weniger streng, wenn sie ein öffentliches Informa-tionsinteresse an der verbreiteten Nachricht erkennen.

So ist auch der investigative Journalismus dadurch möglich, dass Medien prinzi-piell berechtigt sind, unter Angabe der Quelle über Verdachtslagen (bezüglich strafba-rer Handlungen oder „nur mit einem sozialen oder moralischen Unwerturteil“ ver-knüpfter Verhaltensweisen) zu berichten, sofern (i) ein öffentliches Interesse an der Berichterstattung besteht, (ii) „hinreichende Anhaltspunkte für die Richtigkeit des Ver-dachts“ vorhanden sind, (iii) die Art der Darstellung deutlich macht, „dass es sich einstweilen um nicht mehr als einen Verdacht handelt“ (ebd. 359-361; vgl. Beispiel (12)).

Medien haften einerseits nicht für ihre Gerichtsberichterstattung, sofern sie „sachlich zutreffend“ ist (vgl. ebd. 345). Andererseits begründet die Gefahr einer schwerwiegenden Persönlichkeitsrechtsverletzung eine erhöhte Sorgfaltspflicht. Der Pressekodex formuliert das folgende Verbot der Vorverurteilung:

„Die Berichterstattung über Ermittlungs- und Gerichtsverfahren dient der sorgfältigen Unterrichtung der Öffentlichkeit über Straftaten und andere Rechtsverletzungen, deren Verfolgung und richterliche Bewertung. Sie darf dabei nicht vorverurteilen. Die Presse darf eine Person als Täter bezeichnen, wenn sie ein Geständnis abgelegt hat und zudem Beweise gegen sie vorliegen oder wenn sie die Tat unter den Augen der Öffentlichkeit begangen hat. […]

[…] Zwischen Verdacht und erwiesener Schuld ist in der Sprache der Berichter-stattung deutlich zu unterscheiden.“ (Richtlinie 13.1)

Ähnlich äußert sich der journalistische Ethikkodex des Vereins Polnischer Journalisten (Ziff. 14), während das polnische Pressegesetz es verbietet, Meinungen über die ge-richtliche Entscheidung zu äußern, bevor das Gericht der ersten Instanz das Urteil ge-fällt hat (§13). Dergleichen Regelungen dürften z.B. den Gebrauch von rzekomo in (14) beeinflusst haben.9

9 Ähnliches stellt Celle (2009:285) mit Bezug auf engl. allegedly fest: “By using alleged-

ly, the speaker […] disclaims responsibility for the validity of each accusation until facts are established by the investigation or the trial. This does not mean, however, that

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Der oben erwähnte Befund, dass angeblich seltener als rzekomo zur journalisti-schen Distanzierung in der Berichterstattung über Rechtsverletzungen und ihre ge-richtliche Beurteilung herangezogen wird, kann dagegen damit zusammenhängen, dass es im Deutschen ein anderes Satzadverb gibt, das auf solche Kontexte spezialisiert scheint, nämlich mutmaßlich.

(17) Nach der Veranstaltung randalierten teils vermummte Täter in der Innenstadt. Sie stürz-ten Müllcontainer um, zündeten einen an und warfen die Scheiben eines Geschäfts ein. Die Polizei nahm ein Dutzend Randalierer fest, die mutmaßlich Anhänger der linksex-tremen Szene seien. (Cosmas, Mannheimer Morgen, 22.01.2008)

Mutmaßlich ist primär ein epistemisches Satzadverb, das die Proposition in seinem Skopus als wahrscheinlich kennzeichnet (vgl. Helbig/Helbig 1990:168). Darüber hin-aus hat es eine inferentielle Bedeutungskomponente, indem es sie als Resultat einer Schlussfolgerung, die letztlich auf Sinnesdaten beruht, darstellt. Oft ist die schlussfol-gernde Instanz genannt. Handelt es sich bei der Berichterstattung über Ermittlungs- oder Gerichtsverfahren um die Polizei, die Staatsanwaltschaft etc., so wiederholt der Journalist ihre Befunde und distanziert sich zugleich von jedweder Stellungnahme.

Tab. 2: Mutmaßlich und seine polnischen Äquivalente in der Tagespresse mutmaßlich rzekom- domniemany przypuszczaln-

Satzadverb 292 261 --------------- 106

Darunter: in Verdachts- und Gerichtsberichterstattung

128 (43,8%) 22 (8,4%)10 --------------- 9 (8,5%)

Adjektiv 7.772 361 265 34

Darunter: in Verdachts- und Gerichtsberichterstattung

7.461 (96%11) 44 (12,2%)12 241 (90,9%) 2 (5,9%)

+ Täter 1.799 (23,2%) 0 10 (3,7%) 1

Das homonyme Adjektiv ist in der deutschen Pressesprache viel frequenter und fast ausschließlich auf den Themenkreis spezialisiert, wobei mutmaßlicher Täter seine bei weitem häufigste Kollokation darstellt (vgl. Tab. 2). Als sein polnisches Äquivalent kann domniemany gesehen werden, dem wiederum kein Satzadverb entspricht. Die ad-

the speaker does not believe these accusations […]. It should be stressed that unlike re-portedly, allegedly is extensively used in reports of criminal cases.”

10 Dies ist die Anzahl von Belegen für rzekomo in der Verdachts- und Gerichtsbericht-erstattung, in denen es keine negative epistemische Schattierung aufwies. Zusätzlich gab es 31 derartige Belege (11,8%), in denen die negative epistemische Bedeutungs-komponente durch den Kontext verstärkt wird, wie in Beispiel (14).

11 Dies ist ein geschätzter Wert, der anhand einer 100 Belege zählenden Stichprobe ermit-telt wurde.

12 Dies ist die Anzahl von Belegen für das Adjektiv rzekomy in der Verdachts- und Ge-richtsberichterstattung, in denen es keine negative epistemische Schattierung aufwies. Zusätzlich gab es 42 derartige Belege (11,6%), in denen die negative epistemische Be-deutungskomponente durch den Kontext verstärkt wird.

58

verbiale Funktion wird also durch rzekomo und teilweise durch das allgemeine przy-puszczalnie ‚vermutlich‘ übernommen (vgl. Wiemer/Socka in Vorb.).

4. Skepsis als generalisierte konversationelle Implikatur

4.1 Zum Begriff

Der Begriff der Implikatur wurde bereits mehrmals auf die Beschreibung der Bedeu-tung von reportativen Sprachmitteln angewendet (vgl. auch Abschnitt 2 oben), ohne dass freilich die beteiligten sog. Maximen explizit genannt wurden.

Nach H. Paul Grice, dem Schöpfer der Implikaturentheorie, kommen die sog. konversationellen Implikaturen durch das Ausnutzen (scheinbares Verletzen) bzw. die Befolgung des sog. Kooperationsprinzips sowie der Maximen zustande, die nach den Kategorien der Quantität, Qualität, Relevanz und Modalität geordnet sind.

“Cooperative Principle”: “Make your conversational contribution such as is required, at the stage at which it occurs, by the accepted purpose or direction of the talk exchange in which you are engaged.” (Grice 1975:45)

“Quantity”: “1. Make your contribution as informative as is required (for the current purposes of the exchange). 2. Do not make your contribution more informa-tive than is required.” (ebd.)

“Quality”: “Try to make your contribution one that is true”: “1. Do not say what you believe to be false. 2. Do not say that for which you lack adequate evi-dence.” (ebd. 46)

”Relation”: “Be relevant.”

“Manner”: “Be perspicuous”: “1. Avoid obscurity of expression. 2. Avoid ambiguity. 3. Be brief (avoid unnecessary proxility). 4. Be orderly.” (ebd.)

Die Maximen sind Regeln des rationalen Verhaltens, die der Hörer voraussetzt, wäh-rend er die vom Sprecher intendierte Bedeutung errechnet. Eine wesentliche Eigen-schaft von konversationellen Implikaturen ist daher ihre Rekonstruierbarkeit (calcula-bility). Die Rezeption der Theorie von Grice wurde durch die Tendenz zur Reduktion der Menge von Maximen dominiert.

Ebenfalls von Grice stammt die Einteilung in partikularisierte und generalisierte konversationelle Implikaturen (vgl. ebd. 56f.). Levinson (2000:16) unterscheidet die partikularisierten von den generalisierten konversationellen Implikaturen wie folgt:

“a. An implicature I from utterance U is particularized iff U implicates I only by virtue of specific contextual assumptions that would not invariably or even normally obtain.

b. An implicature I is generalized iff U implicates I unless there are unusual specific contextual assumptions that defeat it.” (Levinson 2000:16)

Nach dieser Definition finden die generalisierten konversationellen Implikaturen nor-malerweise statt, außer in spezifischen Kontexten, in welchen sie blockiert werden. Levinson siedelt sie auf der Ebene der utterance-type meaning an, die er zusätzlich zu den klassischen Griceschen sentence-meaning und speaker-meaning postuliert als: „a

59

level of systematic pragmatic inference based not on direct computations about spea-ker-intentions but rather on general expectations about how language is normally used“ (ebd. 20).

Als eine solche generalisierte konversationelle Implikatur könnte die negative epistemische Komponente dort betrachtet werden, wo sie defaultmäßig auftritt. Der Pressebericht über mutmaßliche Rechtsüberschreitungen wäre dann der spezifische Kontext, in welchem sie aufgehoben wird.

Die generalisierten konversationellen Implikaturen werden nach Levinson durch drei Prinzipien generiert, die primär als Schlussfolgerungsheuristiken zu verstehen sind (vgl. ebd. 35). Da die generierten Inhalte weitgehend kontextunabhängig sind, sind auch die Prinzipien relativ allgemein. Im Folgenden soll überlegt werden, welches der Prinzipien das im Abschnitt 3 geschilderte Verhalten der reportativen Satzadver-bien am besten erfasst.

4.2 Das Q-Prinzip

Das sog. Q-Prinzip entspricht der ersten Submaxime der Quantität in der Theorie von Grice („Make your contribution as informative as is required (for the current purposes of the exchange)“). In der folgenden vereinfachten Formulierung besteht es aus einer Anweisung an den Sprecher und einer Folgerung/Konsequenz daraus für den Adressa-ten:

“Speaker: Do not say less than is required. Addressee: What is not said is not the case.” (Huang 2007:41)

Die grundlegende Idee beim Q-Prinzip ist, dass der Gebrauch eines Ausdrucks (insbe-sondere eines semantisch schwächeren) aus einer Menge von mehreren hinsichtlich ihrer Bedeutung kontrastierenden Ausdrücken die Negation der Bedeutung Q-implika-tiert, die mit einem anderen (insbesondere einem semantisch stärkeren) verbunden ist (vgl. Huang 2007:242). Die Mengen von bedeutungsmäßig kontrastierenden Ausdrü-cken werden meistens Horn-Skalen genannt. Eine Horn-Skala ist ein Paar <q, p>, wo-bei p ein informationsmäßig schwächeres, q ein informationsmäßig stärkeres Element ist, z.B. <identical, similar>. Dann wird durch die Äußerung von p die Negation von q implikatiert (wie in Beispiel (18)).

(18) The two impressionist paintings are similar. +> The two impressionist paintings are not identical. (ebd.)13

Das Q-Prinzip findet also auf konzeptuelle Domänen Anwendung, in welchen kontras-tierende Inhalte mithilfe von grundsätzlich ähnlichen Formen ausgedrückt werden (vgl. Levinson 2000:40). Eine solche Domäne stellt z.B. die Raumtopologie im Deut-schen dar.

13 Das Symbol +> bedeutet ,implikatiert‘.

60

Laut Ehrich (1992) bildet das lokale da mit hier und mit dort die Hornskalen

<hier, da> und <dort, da>, in denen es jeweils den schwächeren Term darstellt. Folg-

lich impliziert der Gebrauch von da eine Lokalisierung außerhalb der Regionen, die

durch hier und dort denotiert werden. Der präferierte semantische Wert von da ist also

„nicht in der proximalen Umgebung der Origo“ sowie „nicht in der distalen Umge-

bung der Origo“. Beide Bedingungen werden erfüllt durch die periphere Umgebung

der Origo, welche – so Ehrich (1992:22) – die proximale Umgebung des Adressaten

inkludiert. Daher „bezieht sich da [...] vorzugsweise (wenn auch nicht notwendiger-

weise) auf die Umgebung des Adressaten“ (ebd. 22).

DIST(L0) PER(L0) PROX(L0)

IMM (L0)

dort da hier hier

L0

Abb. 2: Topologische Regionen und Präferenzwerte der Lokaldeiktika (nach Ehrich 1992:16,

22)

Der Ansatz ermöglicht es, bei einer eher minimalistischen Semantik, die innerhalb ei-

nes Bedeutungsfeldes sich abzeichnenden Oppositionen als „Präferenzwerte“ der je-

weiligen Lexeme zu rekonstruieren. Das Instrument der skalaren Opposition erlaubt

es, die betreffenden sprachlichen Mittel bezüglich einer Bedeutungsdimension zu ver-

gleichen. <podobno, jakoby> und <rzekomo, jakoby> scheinen Hornskalen in diesem

Sinne darzustellen. Dies würde die Wiemersche Explikation von jakoby als “a re-

portive marker which in terms of epistemic stance is more underdetermined than rze-komo” bestätigen (Wiemer 2006:42).

Wie sieht es im Deutschen aus, das praktisch ein einziges reportatives Satzadverb

besitzt, nämlich angeblich? Ramat/Ricca (1998:230) stellen in ihrer typologischen Un-

tersuchung zu Satzadverbien in europäischen Sprachen fest, dass die epistemische Be-

deutungskomponente eines Satzadverbs hauptsächlich von der Existenz (oder dem

Fehlen) eines alternativen Adverbs in der betreffenden Sprache abhängt. Sie sehen ei-

ne Analogie zwischen reinen epistemischen Adverbien und reportativen Adverbien. In

Sprachen, die kein epistemisches Adverb mit der Bedeutung ,probably‘ haben (wie Al-

banisch oder Sardinisch), benutzen die Informanten für diese Bedeutung das Lexem

mit der Bedeutung ,perhaps‘, das dann die allgemeine Unsicherheitsbedeutung erhält.

Hat dagegen eine Sprache im reportativen Bereich keine getrennten Ausdrücke für die

neutral-agnostische Distanzierung einerseits (‚reportedly‘) und die epistemische Skep-

sis andererseits (‚allegedly‘), so werde für beides eine Einheit gebraucht, nämlich eine,

die die epistemische Skepsis als Implikatur zulässt (‚allegedly‘). Letzteres sei nach der

Meinung der Autoren beim deutschen angeblich der Fall.

da da dort

61

Die Tatsache, dass – wie Ramat/Ricca (1998:269) selber zugeben (vgl. oben Ab-schnitt 2) – angeblich meistens eine negative epistemische Schattierung aufweist, ist wohl auf die Existenz des im Default-Fall agnostisch-neutralen sollen + Infinitiv zu-rückzuführen, das anscheinend als das schwächere Glied der Horn-Skala <angeblich, sollen + In !"!#!$%&betrachtet werden muss. Zwar ist das Konzept der Horn-Skala in der Theorie von Levinson (2000) beschränkt auf „items (lexems) that are lexicalized to the same degree, and which can be substituted into the same slot in a particular sen-tence” (Schwenter 1999:102). Allerdings kritisiert z.B. van der Auwera (1997:176) diese Forderung als zu streng (unduly severe) und als von Levinson in seinen Analysen selbst nicht erfüllt.

Die Levinsonsche Restriktion würde freilich zu der Sichtweise u.a. von Leiss (2009) passen, die strikt zwischen grammatischen und lexikalischen Modalitäts- und Evidentialitätsmarkern unterscheidet. Laut Leiss

„[…] sind [...] Modalitätsadverbiale (epistemische Adverbien) nicht in der Lage, die Funktion von epistemischen Modalverben zu kompensieren, da sie nicht das volle Leis-tungsspektrum von epistemischen Modalverben aufweisen“ (ebd. 4).

Die Modalverbkonstruktion in (19) und das Modalitätsadverb in (20) sind nach Leiss (ebd. 8) nur „auf den ersten Blick“ „funktionsgleich“.

(19) Er will die Klausur bestanden haben (EMV).

(20) Er hat die Klausur angeblich bestanden. (Eadv)

Der Unterschied zwischen beiden ist vielmehr der folgende:

„Bei epistemischen Adverbien […] wird ausschließlich die Einschätzung des Wahr-heitswerts der Proposition durch den Sprecher kodiert; bei den Sätzen mit epistemischen Modalverben […] kommt eine zusätzliche Information hinzu [...]: die Quelle der Infor-mation. […] Es wird zwar immer wieder behauptet, dass gerade evidentiale Adverbien beide Komponenten aufweisen können [...], doch handelt es sich hier vielmehr um das Kippen von der einen Lesart in die andere. So kann angeblich als Quotativ mit Nennen der Quelle und damit als evidentiales Adverb eingeordnet oder als epistemisches Ad-verb verstanden werden. [...] Die Lesart kippt von einer monodeiktischen Lesart in eine andere monodeiktische Lesart.“ (ebd. 8, 13)

Beim näheren Hinsehen erweisen sich jedoch selbst die Paare <podobno, jakoby>, <rzekomo, jakoby> als keine Horn-Skalen (vgl. Wiemer/Socka in Vorb.), da sie die Ei-genschaft nicht besitzen, dass das stärkere Element das schwächere impliziert, weswe-gen die Implikatur durch die sog. metasprachliche Negation gestrichen werden kann (vgl. Huang 2007:45f.). Die Streichung der Implikatur glückt für die Skalen <identi-cal, similar> (vgl. (21a)) und <dort, da> (vgl. (21b)), nicht aber für die Reportativa: (21c) ist deviant.

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(21) a. The two impressionist paintings are not only similar, they are identical.

b. Es regnet nicht nur da, sondern auch dort.

c. *Złamał sobie nogV nie jakoby, tylko rzekomo. ,Er hat sich ein Bein gebrochen nicht [jakoby], sondern [rzekomo].‘

4.3 Das M-Prinzip

Das M-Prinzip lautet in der vereinfachten Formulierung durch Huang (2007) wie folgt:

„Speaker: do not use a marked expression without reason. Addressee: what is said in a marked way is not unmarked.“ (Huang 2007:50)

Das Prinzip entspricht der Griceschen Maxime der Modalität (Levinson 2000:38 iden-tifiziert es insbesondere mit der ersten Submaxime „Avoid obscurity of expression“ sowie der dritten: „Be brief“). Auch hier haben wir mit einer Menge von konkurrie-renden Ausdrücken zu tun – sie unterscheiden sich diesmal jedoch hinsichtlich ihrer Form; der Gebrauch eines markierten Ausdrucks löst die Implikatur aus, dass die mit einem einfacheren, unmarkierten Ausdruck verbundene Interpretation nicht intendiert war (vgl. Wiemer/Socka in Vorb., (22)).

(22) a. John stopped the car. +> John stopped the car in the usual manner.

b. John caused the car to stop. +> John stopped the car in an unusual way, for example, by bumping into a wall.

(Huang ebd. 51)

Subsumiert man auch die Opposition zwischen einer Markierung und ihrem vollstän-digen Fehlen (einer Null-Markierung) unter dieses Prinzip, lässt sich die folgende, auf den reportativen Ausdruck dizque im mexikanischen Spanisch bezogene, Argumenta-tion von Olbertz (2007:165) in seinem Sinne auffassen14:

“[…] when there is no need to specify information source15, why would a speaker both-er to indicate that a given communicative content is not first-hand? Indeed, it would not be communicatively relevant to indicate the information source, to the interlocutor, if this had no additional function. Put differently, if a speaker does indicate the source, thus (in a Gricean sense) infringing the maxime of Quantity, the hearer necessarily in-fers that there must be some reason for this, i.e. that there must be some implicature.

14 Olbertz selbst beruft sich hier zwar auf die Gricesche Quantitätsmaxime, meint dabei

jedoch offensichtlich deren zweite Submaxime „Do not make your contribution more informative than is required“, die der dritten Modalitätssubmaxime „Be brief“ ähnelt und in einigen reduktionistischen Ansätzen mit ihr zusammengelegt wird (vgl. das R-Prinzip von Horn 1984). Deshalb werden die Ausführungen von Olbertz an dieser Stelle angeführt.

15 Olbertz (2007:172) nennt zwei Fälle, in denen die Informationsquellenangabe obligato-risch ist: 1. wenn die Obligatorik aus einem hohen Grammatikalisierungsgrad des Evi-dentialitätsmarkers resultiert, 2. wenn sie auf sozialen Konventionen (z.B. im akademi-schen Bereich) beruht.

63

The only logically possible reason one could think of is that the speaker wishes not to be held responsible for the reliability of this content. This is the point at which the sub-jective element, i.e. the relation between the communicated content and the speaker’s personal belief comes into play.”

Je redundanter in einem gegebenen Kontext die Angabe der Informationsquelle, desto eher kommt es, soweit sie erscheint, zu der Implikatur, dass der Sprecher gegenüber der Information eine skeptische Einstellung hat. Zum Beispiel ist in (23) bereits auf-grund des Weltwissens klar (und durch den Referatskonjunktiv wird es noch unterstri-chen), dass es sich um eine Information aus zweiter Hand handeln muss.

(23) Aus anderen lokalen Quellen konnte ich […] am 14. Jänner 2001 in Erfahrung bringen, dass Zahradnik wegen Nichtbefolgung der Beflaggungsp licht am Geburtstag des Füh-rers vom Ortsgruppenleiter verhaftet wurde. Angeblich habe er stattdessen an seinem eigenen Geburtstag sein Haus beflaggt. (Cosmas, Mattle, C.: Gustav von Festenberg,Oberhausen, 2002:335)

Dies wäre jedoch ein recht allgemeiner Befund, der wenig besagt über das Zusammen-spiel inhärenter lexikalischer Semantik und des Kontextes bei der Entstehung von epistemischen Bedeutungsnuancen in Fällen wie (2)-(16).

Sieht man dagegen von dem Sonderfall der Null-Markierung ab, lassen sich unter den hier behandelten Satzadverbien keine Ausdrücke wie to cause (the car) to stop in (22b) ausmachen, bei denen eine komplexere Form mit permanenter Markiertheit auf der Bedeutungsseite einhergeht (vgl. Wiemer/Socka in Vorb.).

4.4 Das I-Prinzip

Das Levinsonsche I(nformativität)-Prinzip entspricht der zweiten Submaxime der Quantität im Ansatz von Grice („Do not make your contribution more informative than is required“) und kann vereinfacht wie folgt formuliert werden:

“Speaker: Do not say more than is required (bearing the Q-principle in mind) Addressee: What is generally said is stereotypically and specifically exemplified.” (Huang 2007:46)

In Wiemer/Socka (in Vorb.:14) wird es folgendermaßen charakterisiert:

“Q- and I-Principle are sort of antagonists: contrary to the Q-Principle, the I-Principle assumes a lower-bounding implicature. The most important difference between Q- and I-implicatures is that while Q-implicatures exclude a stronger element (function, mean-ing) that is not meant, I-implicatures enrich the utterance toward some stronger (more specific) information that was not stated. Thus, I-implicatures typically arise from stere-otypical assumptions.”

Ein Vorteil des Prinzips besteht darin, dass es sich nicht auf Mengen von Ausdrücken, sondern auf einzelne Ausdrücke bezieht. Indem es erlaubt, Schlüsse aufgrund von ste-reotypen Annahmen zu ziehen, passt es zu der gängigen Implikatur von der reportati-ven Bedeutung auf eine epistemische Stellungnahme, die in der Literatur etwa auf fol-gende Weise paraphrasiert wird: ‚Bezieht sich der Sprecher auf frühere Äußerungen

64

anderer Personen, so möchte er die Verantwortung für die Wahrheit ihres propositio-nalen Gehalts nicht übernehmen‘ (vgl. ebd. 15)16. Schlussfolgerungen dieser Art, die die jeweiligen hier behandelten Ausdrücke unter Default-Bedingungen hervorrufen, wären also genau auszuformulieren und als generalisierte konversationelle Implikatu-ren zu betrachten.

Wie es das Konzept vorsieht, können generalisierte konversationelle Implikatu-ren durch spezifische kontextuelle Bedingungen auch gestrichen werden. Gazdar (1979) entwarf die folgende Hierarchie von Faktoren, die eine Implikatur streichen können:

“Implicature cancellation procedure a) background assumptions b) contextual factors c) semantic entailments d) conversational implicatures

(i) Q-implicatures […] (ii) M-implicatures (iii) I-implicatures” (zit. nach Huang 2007: 54)

Ganz oben in der Hierarchie befinden sich Hintergrundannahmen, zu denen allgemei-nes Weltwissen, aber auch das Wissen über mögliche rechtliche Konsequenzen von Äußerungen in bestimmten Textsorten (z.B. Zeitungsnachrichten), gezählt werden können. Mit Verweis auf dieses Wissen lässt sich die Streichung der epistemischen ge-neralisierten Implikatur der reportativen Satzadverbien rzekomo und angeblich zumin-dest für die spezifische Textsorte Zeitungsnachricht und insbesondere den Themen-kreis Verdachts- und Gerichtsberichterstattung gut erklären (vgl. ausführlicher dazu in Wiemer/Socka in Vorb.).

Weiteren Untersuchungen muss die Frage vorbehalten bleiben, ob es die einzigen „specific contextual assumptions“ sind, die bei rzekomo zu diesem Ergebnis führen. Ferner wären analoge Bedingungen für andere der hier behandelten reportativen Satz-adverbien (pln. podobno, jakoby; dt. vorgeblich) zu ermitteln.

5. noch zu angeblich

Die epistemische Zweifelschattierung von angeblich scheint schwächer zu sein als bei rzekomo. Beispiele, in denen die Implikatur gestrichen ist, sind für angeblich leichter zu finden. Dies kann aber im Deutschen auch dadurch verursacht werden, dass der

16 Zum Beispiel rekonstruiert Wunderlich (1981) die mit sollen + Infinitiv verbundene Im-

plikatur als die folgende Schlussfolgerung: „Es kann verschiedene Gründe dafür geben, dass jemand einen nicht-eigenen Behauptungsanspruch indiziert, z.B. weil er die Quelle seines Wissens belegen will. Allerdings ist in gewissen Kontexten der folgende Schluss als konversationelle Implikatur möglich: Jemand, der ausdrücklich einen fremden Be-hauptungsanspruch indiziert, will damit deutlich machen, dass er ihn nicht übernehmen will“ (ebd. 28).

65

konkurrierende reportative Ausdruck, sollen + Infinitiv, einen unterschiedlichen Grammatikalisierungsgrad aufweist. So scheint der Gebrauch von angeblich oft nicht durch seine Bedeutung, sondern gerade durch diesen formalen Unterschied motiviert zu sein. Zum Beispiel wird die Modalverbkonstruktion gemieden, wenn der betref-fende Satz bereits ein anderes Modalverb ((24)) bzw. ein Verb im Konjunktiv (resp. der würde-Ersatzform) enthält ((25)).

(24) Jünger bekommt das Gespräch zweier Soldaten mit, in dem es um sein Verhalten an der Front geht. Ein Rekrut merkt an, dass der Leutnant nie in Deckung gehe, während ein älterer Soldat darauf hinweist, dass Jünger sehr wohl Deckung nehme, allerdings nur, wenn auch ein wirklich gefährliches Projektil herannahe [...]. Als erfahrener Krieger kann Jünger sich ein solches Verhalten angeblich leisten, denn er hat »den Endpunkt der Geschosskurve schon im Gefühl« (ebd.). (Cosmas, Blotzheim, D.: Ernst Jüngers „Heldenehrung“, Oberhausen 2000:102)

(25) Ich habe von einer Studie gehört, in der angeblich jeder dritte Mann Frauen vergewalti-gen würde, wenn es nicht unter Strafe stünde. (Cosmas, Dietrich, J.: Ich bin okay!, Fö-ritz 2006:144)

Ferner wird angeblich dort bevorzugt, wo im Präsens oder Futur über die Gegenwart oder Zukunft gesprochen wird, denn die reportative Bedeutung der Konstruktion kommt dann (insbesondere bei belebten Subjekten und Handlungsverben, vgl. Die-wald 1999:280) nicht eindeutig zur Geltung (vgl. (26)), sowie – aus Gründen der Kompaktheit – in Schlagzeilen (27) und bei attributiven Adjektiven im Skopus des Satzadverbs (28).

(26) Die USA erwägen nach Worten von Verteidigungsminister William Perry die Wieder-aufnahme der unterirdischen Atomwaffenversuche. Sein Ministerium werde wahr-scheinlich in den kommenden ein oder zwei Wochen entscheiden, welche Alternative es unterstützen werde, sagte Perry. Bislang sei keine Entscheidung gefallen. Die Optionen reichten von keinen Tests bis hin zur Wiederaufnahme der unterirdischen Explosionen. Angeblich drängt das Verteidigungsministerium auf die Wiederaufnahme der Tests. (Cosmas, Mannheimer Morgen, 20.06.1995)

(27) Angeblich mehrere Opel-Spitzenmanager unter Verdacht (Cosmas, Mannheimer Mor-

gen, 29.06.2005)

(28) […] nicht einmal J. P. O’Sullivan, einen angeblich kassenfreien und kostenlosen Dentisten im südlichen Stadtteil Stockwell hatten wir ausgetestet […] (Cosmas, Wühle, M., Faber, S. P.: London. Kein Fall für Wachsfiguren. Föritz 2005:115)

Kommt im vorangehenden Satz bereits ein sollen + Infinitiv vor, wird angeblich aus stilistischen Gründen vorgezogen.

(29) Eigens für das Management der BahnCard hat die Bank in Nordhorn die Citicard Card Operations GmbH gegründet, die derzeit 250 Mitarbeiter zählt, am Jahresende sollen es 350 sein. Die Bahn spart durch die Verlagerung des Kartenmanagements zur Citibank angeblich 30 bis 40 Mio. DM pro Jahr. (Cosmas, Mannheimer Morgen, 01.07.1995)

Sollen längere Textpassagen als Redewiedergabe gekennzeichnet werden, treten manchmal angeblich, sollen + Infinitiv und der Referatskonjunktiv in Nachbarsätzen auf, anscheinend ohne Unterschied in der Bedeutung.

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(30) Sascha kam tatsächlich bei mir rum, angeblich hat er ’ne halbe Stunde geklingelt […]. Sascha behauptet, ich sei nackt an die Tür gekommen, der Nachbar soll gleich ab-gehauen sein, und ich hätte gesagt, was willst denn du hier, laß mich schlafen, gelallt soll ich haben und immer durch die Wohnung gelaufen sein, nackt. (Cosmas, Schädlich, H. J.: Versuchte Nähe, Reinbek 1977: 48)

In einer 100 Belege zählender Stichprobe aus verschiedenen Textsorten ließen sich fast zwei Drittel der Vorkommen von angeblich ohne skeptische epistemische Schat-tierung auf solche formalen Gründe zurückführen.

6. Zusammenfassung

Ergebnisse von Korpusuntersuchungen legen nahe, dass die epistemische Bedeutungs-komponente deutscher und polnischer reportativer Satzadverbien eine generalisierte konversationelle Implikatur darstellt: Normalerweise ist sie präsent, kann aber unter spezifischen kontextuellen Bedingungen gestrichen werden. Untersucht man die Natur dieser Implikatur, so erweisen sich sowohl das Q-Prinzip als auch das M-Prinzip im Sinne von Levinson (2000) als unbrauchbar, da die analysierten Lexeme nicht in den notwendigen implikativen Relationen zueinander stehen. Stattdessen lassen sich die generalisierten konversationellen Implikaturen für jedes einzelne der Satzadverbien als Schlüsse aus stereotypen Prämissen erklären, d. h. unter Zugrundelegung des I-Prin-zips. Die Implikatur aus dem Verweis auf eine fremde Quelle der Information auf den epistemischen Zweifel des aktuellen Sprechers ist für pln. rzekomo in der Verdachts- und Gerichtsberichterstattung gestrichen. Beim dt. angeblich kann dagegen das Aus-bleiben der Implikatur auch formale Gründe haben, nämlich dann, wenn das Satzad-verb in Umgebungen auftritt, in denen sollen + Infinitiv unmöglich oder unüblich ist.

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In den Belegen:

Cosmas – elektronische Korpora des Instituts für Deutsche Sprache (Mannheim):

<https://cosmas2.ids-mannheim.de/cosmas2-web/>; Stand: 06.10.2011

(Beleg (10): 01.09.2010).

PWN – elektronischer Korpus des Verlags PWN: <http://korpus.pwn.pl>;

Stand: 06.10.2011.

In den Tabellen:

Belletristik – Cosmas – Subkorpora div, wam, gr1 (außer „Trivialliteratur“) (Septem-

ber 2010).

Sachbuch – Cosmas – Subcorpus fsp (September 2010).

Wochenzeitschrift – Cosmas – „Die Zeit”, Online-Ausgabe 2009 (September 2010).

Tagespresse – deutsch: Cosmas – Subcorpus mm („Mannheimer Morgen“ 1995-2008)

(April 2010); polnisch: PWN – Subkorpus Nachrichten der „Rzeczpospo-

lita“ (Januar 2011).

Konversation – Datenbank Gesprochenes Deutsch des IDS – Subkorpora DS und FR

(Dezember 2010).

Parlamentsdebatte – Deutscher Bundestag – Plenarprotokolle, 24.03.-30.09.2010:

<http://www.bundestag.de/dokumente/protokolle/plenarprotokolle/

plenarprotokolle/index.html> (Oktober 2011).