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Sonderdruck aus Kurt Appel / Christian Danz / Richard Potz / Sieglinde Rosenberger/ Angelika Walser (Hg.) Religion in Europa heute Sozialwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche und hermeneutisch-religionsphilosophische Perspektiven Mit 10 Abbildungen V&R unipress ISBN 978-3-89971-941-3

Islamische Texte – Bewegungen der Deterritorialisierung und Umordnung der Dinge

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Sonderdruck aus

Kurt Appel / Christian Danz / Richard Potz /Sieglinde Rosenberger / Angelika Walser (Hg.)

Religion in Europa heute

Sozialwissenschaftliche, rechtswissenschaftlicheund hermeneutisch-religionsphilosophischePerspektiven

Mit 10 Abbildungen

V&R unipress

ISBN 978-3-89971-941-3

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Inhalt

Kurt AppelReligion und Transformation in der europäischen Gesellschaft heute . . . 7

Religionskritik und GottesfrageCritique of Religion and Conceptions of God

Herbert SchnädelbachWelchen Sinn hat es, wissenschaftlich von Gott zu reden? Nachfrageeines Philosophen bezüglich des Gegenstands der Theologie . . . . . . . 13

Christian DanzTheologie als Religionskritik. Zum Kritikpotential der Religion . . . . . 25

Religion in Inklusions- und ExklusionsprozessenInclusion and Exclusion

Ferdinand SutterlütyReligion in sozialen Inklusions- und Exklusionsprozessen . . . . . . . . 41

Sieglinde Rosenberger / Julia Mour¼o PermoserReligiöse Staatsbürgerschaft: Widersprüche der Governance vonDiversität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

Michael MinkenbergReligion, Staat und Demokratie in der westlichen Welt: Alte und neueHerausforderungen von Differenzierung und Pluralisierung . . . . . . . 85

Rechtliche Herausforderungen in den multireligiösenGesellschaften EuropasJuridical Challenges in Multi-religious Societies in Europe

Rik TorfsLaw and Religion in Europe. New Trends . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

Richard Potz / Brigitte SchinkeleEuroparecht – Wie hast Du’s mit der Religion? . . . . . . . . . . . . . . . 129

Religiöse SinnkonstruktionenConstructs of Meaning and Values in Europe

Herman WesterinkEveryday Religion, Meaning, and the Conflicting Discourses of Secularityand Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Niels Christian HvidtMeaning Making and Health in Contemporary European Society . . . . . 173

Rezeption und Hermeneutik religiöser TexteReception and Hermeneutics of Religious Texts

Rüdiger LohlkerIslamische Texte – Bewegungen der Deterritorialisierung undUmordnung der Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

Paul MandelJewish Hermeneutics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

Inhalt6

Rezeption und Hermeneutik religiöser TexteReception and Hermeneutics of Religious Texts

Rüdiger Lohlker

Islamische Texte – Bewegungen der Deterritorialisierungund Umordnung der Dinge

Gegen eurozentristische Vorwürfe einer mangelnden Logik und Stringenz in derislamischen Kultur beschreibt Rüdiger Lohlker die Hermeneutik islamischerTexte als eine Bewegung der Deterritorialisierung und Umordnung. Er typolo-gisiert verschiedene Formen, Texte zu betrachten und beschreibt schließlich an-hand der Struktur des Rhizoms die Eigenart islamischer Hermeneutik als einerKombination von Verkettungen und dem Element des Performativen. Entgegenfundamentalistischer Lesarten ist nicht die Erschließung der Wahrheit des Textsdie zentrale Aufgabe, sondern der Dialog mit dem Text selbst. Er allein sichert dieLebendigkeit des Texts über die Zeiten hinweg.

Arguing against common of a lack of logic and strictness in Islamic cultureRüdiger Lohlker understands the hermeneutics of Islamic texts as a movement ofdeterritorialization and reconfiguration. He constructs typologies of ways ofunderstanding texts saying, rhizomatic structures are a characteristic of Islamichermeneutics, a combination of interconnections and performative aspects. It isnot discovering the truth of texts, as the fundamentalist reading goes, it is thedialogue of reader and text that ensures a text is living through the times.

Wenn wir über islamische Texte und gerade über ältere islamische Texte spre-chen, also Texte sog. vormoderner oder nicht moderner Art, lässt sich ein In-teresse sicherlich antiquarisch begründen. Es handelt sich um Teile des ara-bisch-islamischen Erbes, das wiederum Teil des kulturellen Erbes der Mensch-heit ist. Damit ist eine Beschäftigung sicherlich gerechtfertigt. Ein Interesse lässtsich ferner theologisch begründen: Es handelt sich um die Ideengeschichte einerder wichtigen Weltreligionen, die theologisch aufgearbeitet und fruchtbar ge-macht werden kann. Auch religionswissenschaftlich lässt sich in vergleichenderHinsicht manche Erkenntnis aus den islamischen religiösen Wissenschaftengewinnen. Es gibt also ein vielfältig begründbares Interesse an älteren islami-schen Texten.

Gibt es darüber hinaus noch andere Begründungen für dieses Interesse, diedem Blick auf alte Manuskripte und Texte Sinn verleihen, und die jenseits dis-ziplinärer Grenzen, jenseits bloßen Wohlgefallens an Schriften, Illustrationenu. a.m. liegen?

Zur Beantwortung dieser Frage haben wir verschiedene Formen, Bücher undTexte zu betrachten. Sie seien hier mit Deleuze / Guattari typologisiert:

„Ein erster Buchttyp ist das Wurzel-Buch. Der Baum ist bereits das Bild der Welt, odervielmehr, die Wurzel ist das Bild des Welt-Baums. Es ist das klassische Bild des Buchsals schöne Innerlichkeit, organisch, signifikant und subjektiv (die Schichten des Bu-ches). Das Buch ahmt die Welt nach wie die Kunst die Natur : mit seinen eigenenVerfahrensweisen […] Die Natur verhält sich nicht so: Die Wurzeln sind dort Pfahl-wurzeln mit zahlreichen seitlichen und kreisförmigen, aber keinesfalls dichotomischenVerzweigungen. Der Geist bleibt hinter der Natur zurück. Selbst das Buch als natürlicheRealität gleicht mit seiner Achse und den sich darum rankenden Blättern einerPfahlwurzel. Das Buch als geistige Realität dagegen, der Baumoder die Wurzel als Bild,bringt unaufhörlich dieses Gesetz hervor: aus eins wird zwei, aus zwei wird vier… [..]Mit anderen Worten, dieses Denken hat die Mannigfaltigkeit nie begriffen: um aufgeistigem Wege zu zwei zu kommen, muss es von einer starken grundlegenden Einheitausgehen. Und vom Objekt aus gesehen, kann man auf natürlichem Wege zwar direktvon dem Einen zu drei, vier oder fünf gelangen, jedoch immer unter der Voraussetzungeiner starken, ursprünglichen Einheit, jener Hauptwurzel, die die Nebenwurzelnträgt.“1

1 Deleuze, Gilles / Guattari, F�lix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin1992, 14.

p Pfahlwurzel der keimenden Bohne, n SeitenwurzelnQuelle: http://de.academic.ru/dic.nsf/meyers/152732/Wurzel (Zugriff 08. 05. 2011).

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In dieser Perspektive finden wir das ideale Gesamtwerk, das opus magnum dereuropäischen Moderne wieder, das sich aber nicht als der Natur adäquat erweist,die es zumindest zuweilen zu analysieren vorgibt. Gibt es noch eine zweiteGestalt des Buches?

„Das Nebenwurzelsystem oder das Wurzelbüschel ist die zweite Gestalt des Buches, aufdie unsere Moderne sich gern beruft. In diesem Fall ist die Hauptwurzel verkümmert,ihr Ende ist abgestorben; und schon beginnt das wilde Wuchern einer Mannigfaltigkeitvon Nebenwurzeln. Hier kommt die natürliche Realität in der Verkümmerung derHauptwurzel zum Vorschein, aber dennoch bleibt ihre Einheit als vergangene, künftigeoder zumindest mögliche bestehen. […] Man könnte an die Methode des cut-up beiBurroughs denken; wenn ein Text mit einem anderen zusammengeschnitten wird,entstehen zahlreiche Wurzeln, sogar wild wachsende (man könnte von Ablegernsprechen), wodurch den jeweiligen Texten eine Dimension hinzugefügt wird. In dieserzusätzlichen Dimension des Zusammenschnitts setzt die Einheit ihre geistige Arbeitfort. So gesehen kann auch ein äußerst zerstückeltes Werk noch als Gesamtwerk oderOpus Magnum angesehen werden.“2

Auch in dieser Perspektive bemerken wir, dass das Eine sich letztlich durchsetzt(oder durchsetzen kann und muss), so fragmentiert die Erscheinungsform seinmag. Letztlich finden wir immer noch eine Verteidigung der territorialenGrenzen des einen Textes. Dies gilt auch für traditionelle, kollektiv definierteTexte, denn „…kollektiv definierte Texte unterliegen der Logik des Territorialen,

2 Deleuze, Gilles / Guattari, F�lix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin1992, 15.

Wurzelbüschel des GetreidesQuelle: http://de.academic.ru/dic.nsf/meyers/152732/Wurzel (Zugriff 08. 05. 2011).

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sie werden mit territorialer Leidenschaft verteidigt. Dabei finden die prinzipiellunbegrenzten Auslegungsmöglichkeiten traditioneller Texte ihre Grenze an derhysterischen Disposition ihrer Apologeten, die die Grenzen des Textes alsGrenze der Wahrheit definieren.“3

Gibt es Annäherungsweisen an den Text, die über diese Grenzen hinauswei-sen? Hier mag eine dritte Perspektive hilfreich sein, zu deren Beschreibungwiederum Deleuze / Guattari das Wort gegeben sei, die darauf verweisen, dass esnicht ausreichend ist, das Mannigfaltige nur zu proklamieren:

„Das Mannigfaltige muss gemacht werden, aber nicht dadurch, dass man immer wiedereine höhere Dimension hinzufügt, sondern vielmehr schlicht und einfach in allenDimensionen, über die man verfügt, immer nur n-1 (das Eine ist nur dann ein Teil desMannigfaltigen, wenn es davon abgezogen wird). Wenn eine Mannigfaltigkeit gebildetwerden soll, muss man das Einzelne abziehen, immer in n-1 Dimensionen schreiben.Man könnte ein solches System Rhizom nennen. Ein Rhizom ist als unterirdischerStrang grundsätzlich verschieden von großen und kleinen Wurzeln. […] Das Rhizomselber kann die unterschiedlichsten Formen annehmen, von der verästelten Ausbrei-tung in alle Richtungen an der Oberfläche bis zur Verdichtung in Zwiebeln undKnollen. […] Im Rhizom gibt es Gutes und Schlechtes: Die Kartoffel und die Quecke,dieses Unkraut […]“4.

Die ersten zwei Merkmale des Rhizoms sind das Prinzip der Konnexion und derHeterogenität. Jeder Punkt eines Rhizoms kann (und muss) mit jedem anderenverbunden werden. In einem solchen Rhizom

„verweist nicht jeder Strang notwendigerweise auf einen linguistischen Strang: semi-otische Kettenglieder aller Art sind hier in unterschiedlicher Codierungsweise mitbiologischen, politischen, ökonomischen etc. Kettengliedern verknüpft, wodurch nichtnur unterschiedliche Zeichenregime ins Spiel gebracht werden, sondern auch unter-schiedliche Sachverhalte. […] Ein semiotisches Kettenglied gleicht einer Wurzelknolle,in der ganz unterschiedliche sprachliche, aber auch perzeptive, mimische, gestischeund kognitive Akte zusammengeschlossen sind“5.

Das dritte Merkmal ist das Prinzip der Mannigfaltigkeit. Die Vielheit (oderMannigfaltigkeit) wird tatsächlich als Subjekt behandelt, ohne dass sie noch eineBeziehung zum Einen im natürlichen oder geistigen Sinne hat.6

„Es gibt keine Einheit, die dem Objekt als Pfahlwurzel dient oder sich im Subjekt teilt.Noch nicht einmal eine Einheit, die im Objekt verkümmert oder im Subjekt „wieder-

3 Bruckstein Coruh, Almut Sh.: „TASWIR – Ein Bildatlas zu Moderne und Islam. Zur Geneseeiner Ausstellungsidee“, in: dies. / Hendrik Budde (Hg.): TASWIR. Islamische Bildwelten undModerne. Berlin 2009, 13.

4 Deleuze, Gilles / Guattari, F�lix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin1992, 16 f.

5 Ebd.6 Ebd., 17.

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kehrt”. Eine Mannigfaltigkeit hat weder Subjekt noch Objekt, sondern nur Bestim-mungen, Größen, Dimensionen, die nicht wachsen, ohne dass sie sich dabei verändert.[…] Anders als bei einer Struktur, einem Baum oder einer Wurzel gibt es in einemRhizom keine Punkte oder Positionen. Es gibt nur Linien.“7

Als viertes Merkmal ist das Prinzip des asignifikanten Bruchs8 zu nennen.

„Ein Rhizom kann an jeder Stelle unterbrochen oder zerrissen werden, es setzt sich anseinen eigenen oder an anderen Linien fort. Man kann mit Ameisen nicht fertig wer-den, weil sie ein Tier-Rhizom bilden, das sich auch dann wieder bildet, wenn seingrößter Teil zerstört wird. Jedes Rhizom enthält Segmentierungslinien, die es strati-fizieren, territorialisieren, organisieren, bezeichnen, zuordnen etc.; aber auch Deter-ritorialisierungslinien, die jederzeit eine Flucht ermöglichen. Jedes mal wenn seg-mentäre Linien auf einer Fluchtlinie explodieren, gibt es eine Unterbrechung im Rhi-zom, aber die Fluchtlinie bildet einen Teil des Rhizoms. Diese Linien verweisen un-unterbrochen aufeinander.“9

7 Ebd., 18.8 Ebd., 19.9 Ebd., 9.

RhizomQuelle: http://anamsh13.blogspot.com/2010/11/new-media-versus-rhizome.html(Zugriff 24. 11. 2011).

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Eine zeitgenössische Fassung, die uns daran erinnert, dass ,Kettenglieder‘ le-diglich als Metapher zu verstehen sind, sähe dann folgendermaßen aus:

Wenn wir von Kettengliedern, Fluchtlinien und Deterritorialisierung reden, diesich mit einander verbinden, haben wir einen Schlüsselbegriff, der uns gleichbeschäftigen wird. In der Betrachtung sogenannter Literaturen, Kulturen undReligionen außerhalb Europas wird in Europa zumeist ein Defizit bemerkt: Esmangele an stringenten, logischen Konstruktionen etc. pp. Ich möchte dies nichtweiter ausführen. Es sei nur angemerkt, dass die arabisch geschriebene Dis-kussion über Logik in der muslimischen Welt bis in das 19. (20.) Jahrhundertproduktiv war.10 Es gibt also durchaus Diskursstränge und Verkettungen, dieModernität im europäischen Sinne implizieren.

Doch es gibt noch weitere Stränge, wobei hier zuerst Verkettungen von In-teresse sind. Die soeben skizzierte Position europäischer Provenienz ignoriertvöllig andere semiotische Praktiken. So gibt es in der geographischen und his-

Rizom zeitgenössischQuelle: http://wwwu.edu.uni-klu.ac.at/bpirker/Rhizom/1einstiegrhizom.htm(Zugriff 07. 05. 2011).

10 El-Rouayheb, Khaled: Relational Syllogisms and the History of Arabic Logic, 900 – 1900.Leiden u. a. 2010.

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torischen Kultur ganze Gattungen muslimischer Texte, die über semiotischeKetten verbunden sind.11 Von einem Thema wird zum anderen „gesprungen“, soder oberflächliche Blick auch vieler europäischer Orientalisten. Dies funktio-niert aber nur, wenn es Verkettungsbegriffe gibt, seien es Berichte über die Post,die zu Berichten über Tiere (Pferde) und Preise führen, oder Schilderungen desHofzeremoniells mit der Partizipation von Offizieren, die zu weiteren Schilde-rungen über das Heerwesen führen. Es sind Begleitumstände, die sich um einObjekt anordnen, und wieder zu neuen Objekten führen. All dies führt zu Ge-samtobjekten, die wiederum narrativ zum Ausdruck kommen und immer offenfür neue Anschlüsse sind. Ohne diese Verkettungen, die wiederum vor demHintergrund eines gebildeten Gespräches durchaus kritischer Art gesehenwerden müssen, lesen wir zwar, verstehen aber nicht. Ein performatives Ver-ständnis ist unabdingbar, gerade in oral-literalen Kommunikationen.

Eine wichtige Form dieser Kommunikation in muslimischen Kulturen sinddie Hadithe, Berichte hauptsächlich darüber, was der Prophet gesagt und getanhat (oder auch nicht).12 Die Struktur solcher Berichte ist im Grunde wie folgt:Zuerst finden wir eine Überliefererkette: X hat von Y gehört, dass Z gesagt hat, Ahabe von seinem Vater B gehört, der Prophet habe dies und das getan. Es gibtöfters verschiedene Überliefererketten. Es kann also auch heißen: R hat von Sgehört, dass T überliefert hat, A habe von seinem Vater B gehört, der Prophethabe dies und das getan. Es handelt sich also um zwei gemeinsame Glieder mitVerzweigungen, die – theoretisch – unendlich multiplizierbar sind. Dazu kommtein Text (ich sage bewusst nicht: der eigentliche Text) nach Abu Huraira: „Ichsagte zum Gottesgesandten: Wahrlich, ich bin ein junger Mann und befürchte,dass ich Unzucht begehe und keine Frau die ich liebe und heiraten kann. Erschwieg mir gegenüber [….]“.

Der Text ist nicht der Inhalt des Hadithes. Vielmehr machen erst die Über-liefererketten und der Text die Überlieferung aus. Die Rezitation eines Hadithessamt Überliefererkette(n) ermöglicht es dem Rezitierenden mit der Zeit desPropheten in Verbindung zu treten. Auch hier findet sich also das Element desPerformativen.

Es gibt immer wieder unterschiedliche Versionen des Textes, die multipli-zierbar sind je nach Zahl der ÜberliefererInnen. Auch hier sehen wir rhizo-matische Verbindungen unterschiedlichster Art, die mit jeder Rezitation wie-derum vervielfältigt werden und neue Mannigfaltigkeiten bilden. Diese rhizo-matische Struktur können wir graphisch so darstellen:

11 Lohlker, Rüdiger : „Al-’Umar�’s Bericht über Indien. Eine Studie zur arabisch-islamischenGeographie des 14. Jahrhunderts“, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesell-schaft 156 (2006), 339 – 367.

12 Brown, Jonathan A. C.: Hadith: Muhammad’s Legacy in the Medieval and Modern World.Oxford / New York 2010.

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Der zuerst genannte Name ist der ursprüngliche Überlieferer, ein Gefährte desPropheten Muhammad; die unten genannten sind abgekürzte Titel wichtigersunnitischer Sammlungen von Hadithen. Dazwischen sehen wir die vielfältigenVerbindungs- und Fluchtlinien, die aus bestimmten Überlieferungszusam-menhängen hinausführen. Im Text sieht dies einfacher aus:

Was hier formal bedeutsam erscheint, ist, dass die verschiedenen Verket-tungen mitsamt ihren Fluchtlinien auf einer Ebene, einem Plateau des überlie-ferten Wissens, ja, auf einem Blatt (oder mehreren gleichgeordneten Blättern)angeordnet sind. Wir haben also keine Privilegierung der einen über die andereEbene vor uns.

Neben dieser formellen Betrachtung erscheint noch ebenfalls bedeutsam:Hadithe vergegenwärtigen Geschichte(n). Durch das Vortragen eines Hadithesist es möglich, sich in die Zeit des Propheten zu versetzen, ihn gegenwärtig zumachen. Es geht also nicht nur um eine räumliche Anordnung der Rhizome desTextes auf einer Ebene, einem Blatt. Auch die zeitliche Dimension wird im Ha-dith als performative Handlung spürbar und zugleich aufgehoben. DieseFluchtlinie weist über den Text weit hinaus. Sie vernichtet aber nicht Ge-

Rhizomatische StrukturQuelle: http://www.islamic-awareness.org/Hadith/narramaimun.html (Zugriff 08. 05. 2011).

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schichte.13 Hadithe vergegenwärtigen in ihrem Vortrag die Erfahrungen derfrühen islamischen Gemeinschaft immer wieder neu, auch durch praktischeHandlungen, denn sie dienen als Handlungsanweisungen für Gläubige (undnicht als Quellen für Historiker). Wir können zeitgenössische Lektüren also nurdecodieren, wenn wir den Code des alltäglichen Lebens verstehen. Zugleichkönnen wir sie auch nur verstehen, wenn wir sie als Geschichten imaginierenund mit unseren Lebenswelten verbinden. Sonst sind sie Buchstabe, toterBuchstabe.

Sie sind also Geschichten, die immer wieder neu inszenierbar sind. Neudarstellbar, gehen sie ein in das Repertoire der Geschichten der Welt, bei-spielsweise die „Geschichten von den Propheten“ oder die Geschichten desProphetenonkels Hamza ibn ’Abd al-Muttalib, dessen Geschichten in Südost-asien in Form der „Hikayat Amir Hamza“ bis heute populär sind bis hin zutheatralischen Aufführungen.14

Aus Ibn ’Asakir : Vierzig Hadithe über die Bestrebung den Dschihad durchzuführen.Quelle: http://www.smith.edu/insight/stories/jihad.php (Zugriff 06. 05. 2011).

13 Nagel, Tilman: „H˙

adıt¯

– oder : die Vernichtung der Geschichte“, in: Cornelia Wunsch (Hg.):XXV. Deutscher Orientalistentag, Vorträge, ZDMG-Supplementa 10 (1994), 118 – 128.

14 Yousof, Ghulam-Sarwar: „Islamic Elements in traditional Indonesian and Malay Theatre“,in: Kajian Malaysia 28i (2010), 83 – 101.

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Weniger theatralisch aber ebenfalls höchst wirksam sind Werke des scha-riatischen Denkens. Werke des islamischen Rechts gelten nicht gerade als Werkeproduktiven Denkens, eher als Werke der reinen Repetition – was für Juristenunter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit erst einmal nicht verwerflich ist.Allerdings ist die Welt, die Gegenstand rechtlichen und auch schariatischenDenkens ist, immer dynamisch. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Dy-namisierung von schariatischen Handbüchern, die gleichzeitig in der Traditionverankert ist. Diese Dynamik ist durchaus ein Kennzeichen schariatischenDenkens.

Ein typisches Kapitel aus einem schariatischen Werk stammt aus einemKommentar zu einer Versifizierung der Lehre der malikitischen und damit einerder sunnitischen Hauptrechtsschulen, die besonders im Maghreb bis heutevorherrschend ist, und die wohl im neunzehnten Jahrhundert verfasst wurde.15

Diese Versifizierung fasst aus der praktischen Perspektive eines Richters dieLehren dieser Rechtsschule zusammen, kann also als Verdichtung bereits be-stehender Rhizome von Diskursen verstanden werden, die sich wiederum invielerlei kommentierenden Werken weiter verzweigt. Es geht um das Problem,ob ein Vormund – im Normalfalle der Vater – bei Abschluss eines Ehevertragessein Mündel, meistens seine Tochter, zur Zustimmung zum Abschluss desEhevertrages zwingen könne.16

Eingeleitet wird dieser Abschnitt mit grammatikalischen und lexikalischenErläuterungen, die die sprachlichen Grundlagen der Untersuchung klären.17

Dann wird das Problem diskutiert, wann dem Vater ein Zwangsrecht über seineTochter zustehe. Dann geht der Verfasser zur Frage über, wann und wie der Vatereine Einwilligung von seiner Tochter für den Abschluss eines Ehevertrages be-nötigt. Dies leitet über zu Fragen, die mit der Heirat von Sklaven zusammen-hängen, ein auch noch im neunzehnten Jahrhundert in Marokko verbreitetesPhänomen. Dies wiederum führt zu Erwägungen über Personen, denen derVater (oder der Vormund) seine Tochter nicht zur Frau geben und natürlich auchnicht zur Ehe zwingen darf. Genannt werden Lepröse, Geistesschwache,Schwarze oder sozial nicht ebenbürtige Männer. Letzteres führt zu Erwägungen,wann und ob der Herrscher bei sozial nicht ebenbürtigen Ehen eingreifen muss.

Wie üblich wird auch hier noch eine nutzbringende Erörterung (fa’ida) an-geführt, die eine Geschichte erzählt, die im rechtlichen Kontext als Fallbeispielezu qualifizieren ist. Sie liefert weiteres Denkmaterial, an das wieder neue Ket-tenglieder der Reflexion gebunden werden können und das vom Verfasser

15 Abu al-Hasan ’Ali b. ’Abd al-Salam al-Tasuli: al-Bahja fi Sharh al-Tuhfa, Bd.1. Beirut 1991.16 Vgl. Lohlker, Rüdiger : Islamisches Familienrecht. Methodologische Studien zum Recht

m�likitischer Schule in Vergangenheit und Gegenwart. Band 1. Göttingen 2002.17 Abu al-Hasan ’Ali b. ’Abd al-Salam al-Tasuli: al-Bahja fi Sharh al-Tuhfa, Bd.1. Beirut 1991,

48 ff.

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kommentiert wird. Die Diskussion geht noch etliche Seiten weiter, soll aber ausPlatzgründen an dieser Stelle abgebrochen werden.

Wie wird dieses Material dargeboten? Es werden in erster Linie Zitate auseiner Vielzahl vorheriger Werke angeführt. In unserem Falle sind es 26 identi-fizierbare Werke, die mit einer Frequenz von 11 bis einem Mal genannt werden,wobei wir davon ausgehen dürfen, dass uns implizite Verweise entgangen sind.Daneben treten immer eigene Ausführungen des Verfassers. Sind diese der„eigentliche“ Text? Dies ist nicht zutreffend. Vielmehr ist die Kombination derkunstvoll verwobenen Zitate und der eigenen Erwägungen des Autors das Ei-gentliche des Textes. Die gelehrte Tradition im Rahmen eines gewissen Kanons18,und damit nach gewissen Regeln geformt, ist mit all ihren Rhizomen, Verbin-dungs- und Fluchtlinien auf einer Ebene, einem Plateau der rechtsgelehrtenDiskussion angeordnet. Von dieser Ebene ausgehend können weitere Verket-tungen hergestellt werden bis hin zu Entscheidungen moderner marokkanischerGerichte. Das hier kurz betrachtete Werk sollten wir als eine Verdichtung, eineKnolle im Rhizom der maghrebinischen gelehrten Diskussionen begreifen. EineBeurteilung nach den Maßstäben des Werkmaßstabes und der originalen Au-torschaft des europäischen 19. Jahrhunderts geht völlig in die Irre und kann hiernur eine bloße Kompilation ohne eigenen Wert erkennen.

Es ist bereits erwähnt worden, dass der Text ein Kommentar zu einemLehrgedicht sei. Hier findet sich also die umgekehrte Bewegung: Lange Textewerden zu einem Lehrgedicht kondensiert, das als Knolle verbleibt und neueRhizome austreibt, nämlich Kommentare, Superkommentare, Glossen etc. pp.An diesen Bruchstellen ordnen sich Fluchtlinien an, die in Form von Kom-mentaren zu Kommentaren etc. gestaltet sein können. Bemerkenswert ist, dasseben nicht hierarchisiert wird, sondern alle semiotischen Glieder nebeneinanderim Text angeordnet sind. Hin und wieder werden einzelne Meinungen als an-erkannt ausgezeichnet, gleich darauf finden sich aber wiederum andere,gleichwertige Meinungen – und das als fortlaufende Kette von Texten.

Kommen wir noch einmal zum Gedicht zurück. Die Konstruktion mitRandglossen, die eben nicht als reine Fußnoten verstanden werden sollten, waswir auch in Zeiten der Wertschätzung der Paratexte (hier im Sinne von Genette200119) sicherlich nicht tun werden, ist nicht auf rechtliche Diskussionen be-schränkt, sondern existiert auch in literarischen Texten. Hier ein Teil aus demGolestan, dem Rosengarten, des persischen Dichters Sa’adi (gest. 1292):

18 Siehe Lohlker, Rüdiger : Islamisches Familienrecht. (Vgl. FN 16).19 Genette, G�rard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt / Main 2001.

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Der „Urtext“ wird mit der Glosse umschrieben, die im Manuskript auch nichtdurch durchgehende Linien getrennt sein muss, so dass beide Texte miteinanderverschmelzen. Zu sehen sind transversale Bewegungen die den Rahmen des„Urtextes“ hin zur Glosse überschreiten und beide verschränken. Beide bildenein Bild, das weiter ergänzt werden kann. Auch hier, in einem nicht genuinreligiösen Genre, finden wir also eine rhizomatische Struktur, die eben nicht anden „Urtext“ als Pfahlwurzel anschließt, sondern diesen als Verdickung undVerdichtung des Rhizoms und als Verknüpfungs- und Verkettungspunkt mit derin ihm verbundenen vorherigen Traditionen nutzt. Damit bildet sich ein Plateaudes Rosengartens mit all seinen Erweiterungen. Rhizome können weiterwachsen, wachsen weiter und werden weiter wachsen. Sie verschlingen sichbereits mit unterschiedlichen Rhizomen und verbinden sich sogar in unver-mutete Richtungen.

Eine Richtung, soll hier abschließend genannt werden, nämlich der Hyper-text. Noch 1989 wurde vermutet, dass das Aufkommen des Hypertextes gerade inden humanities Konflikte produzieren könnte. Es kam anders. Hypertexte trafenauf geradezu grenzenlose Begeisterung.

Nicht nur die elektronisch produzierten fest verlinkten Texte sind Hypertexte.Auch in der Literatur finden wir sie, wie James Joyce „Finnegan’s Wake“ zeigt.Innige Verlinkungen dieser Art finden wir jedoch bereits in den hier diskutiertenTexten. Diese sind nicht nur schriftlicher, sondern auch oraler Art. Sie resonierenim wahren Sinne, wenn sie räsonnieren, indem sie aufgeführt und vorgetragen

GolestanQuelle: http://ottomanbook.blog.com/ (Zugriff 20. 4. 2011).

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werden. „Sie führen vor, dass der Prozess und die performativen Effekte derLektüre weder endgültig fixierbar noch eindeutig adressierbar sind, sondernimmer wieder neu – und nicht immer vorhersehbar – produziert werden.“20

Wir können also auch hier potentielle Fluchtlinien der Decodierung und derDeterritorialisierung, die über die Grenzen des Textes hinausweisen, erkennen.In der Praxis sind die betreffenden Aussagen natürlich in die Texte der kano-nisierten Möglichkeiten des Denkens eingebunden und weisen selten darüberhinaus. Die Vielheiten, die sich aus den Texten ergibt, unterliegen immer ge-wissen Regeln, die es zu finden gilt.21 Diese Regeln können aber überschrittenwerden und werden es auch:

Ein 1662 gestorbener Gelehrter aus Fes (im heutigen Marokko) behandelte ineiner Abhandlung (Maiyara o. J.) über die Vormundschaft des Vaters beim Ab-schluss des Ehevertrages für seine Tochter das Problem, ob der Vater berechtigtsei, seine Tochter auch zwangsweise zu verheiraten (s. o.).22 Wir können dieeinzelnen Erwägungen hier nicht weiter verfolgen, wollen aber ein Sonderpro-blem beachten: ob die Zustimmung der Braut explizit erfolgen muss oder nicht.Der Autor konstatiert, dass eine explizite Zustimmung seitens einer bereitsverheiratet gewesenen Frau erforderlich sei, üblicherweise aber die expliziteZustimmung einer noch nicht verheiratet gewesenen Frau nicht eingeholt werde.Ihr Schweigen wird als ausreichend betrachtet. Nun führt der Autor aber einenGedanken ein, der bedenkenswerte Folgen hat: Wenn es sich um Sachverhaltehandelt, die über die bloße Absichtserklärung hinausgehen, eine Ehe einzuge-hen, sei durchaus die explizite Zustimmung erforderlich. Dies gelte insbeson-dere bei vermögensrechtlichen Geschäften, so auch im Falle der Brautgabe, dieein integraler Bestandteil der Eheschließung ist. Da es sich formal um einAustauschgeschäft handelt, bei dem üblicherweise Münzen den Eigentümerwechseln, ist eine explizite Zustimmung der vertragsschließenden Parteien,deren eine die Braut ist, erforderlich, selbst wenn sie durch einen Vormundvertreten wird. Damit wird im Rahmen der Regeln, die für schariatrechtlicheTexte im Gebiet des heutigen Marokko galten, geradezu eine Wendung der Zu-stimmungsregelungen bei der Eheschließung erzielt – und dies im Kommentarzu einem versifizierten Rechtswerk, das einen Knoten in den Rhizomen dermaghrebinischen Diskussionen bildet, von denen wiederum Kommentare, Su-perkommentare und Glossen mit ihren semiotischen Kettengliedern abzweigen.

20 Schumacher, Eckard: „Hyper / Text / Theorie: Die Bestimmung der Lesbarkeit“, in: StefanAndriopoulos / Gabriele Schabacher / Eckhard Schumacher (Hg.): Die Adresse des Mediums.Köln 2001, 133.

21 Vgl. Eco, Umberto: Die Grenzen der Interpretation. München 1999, 187.22 Vgl. Lohlker, Rüdiger : Islamisches Familienrecht. (Vgl. FN 16).

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Es ist also nicht „die jouissance dessen, der interpretiert“23, welche zählt. DerText verfällt nicht der Beliebigkeit. Außerhalb der reinen Fortschreibung desBekannten können aber traditionelle Texte deterritorialisiert werden und wei-tergedacht werden, ohne dass sie zu einer bloßen Ansammlung disparaterMeme24 werden. Sie stehen in einem Kontext, aber dieser Kontext kann und mussjeweils zu einem anderen Kontext werden, denn sonst ist er keine Aussage mehr.Letztere existiert gerade nur aufgrund der Möglichkeit, in einem anderenKontext wiederholt zu werden.25

„Anderenfalls wäre keine Lektüre möglich. Sobald man einen Text zu lesen vermag –und sei es auch nur auf dem elementaren Niveau seiner Entzifferung – gehört manseinem Kontext in wie auch immer geringem Maße an. […] Um einen Text außerKontext lesen zu können, muss man seinem Kontext bereits angehören. Erst im Innerendieser Zugehörigkeit können und müssen unterschiedliche Lektürekräfte voneinanderabgehoben werden. Und erst in diesem Innern (das also in Wahrheit kein Inneres mehrist) gibt es auch nur die leiseste Möglichkeit eines Widerstands gegen das Gelesene,dessen Sprache man – stets außer Kontext und stets in ihm – bis zu einem gewissenPunkt teilen muss […], wenn man anders sich nicht um das für jede Lektüre uner-lässliche Minimum an Identifikation bringen will“26.

Ein Heraustreten ist also möglich und notwendig. Damit werden die Möglich-keiten der Interpretation verschoben. Nicht mehr die Erschließung der Wahrheitdes Textes, des Autors wird zur zentralen Aufgabe.27 Vielmehr ist der Eintritt inden Dialog mit dem prinzipiell unabgeschlossenen Text die Herausforderung,die traditionelle Texte am Leben erhält. Und es ist ihre Struktur, die es ermög-licht, die starren Grenzen der Logik des Territorialen gerade moderner Lektürenislamischer traditioneller Texte zu überwinden wie ihn die Salafiyya pflegt, diediese zu reinen Depots von Beweisen macht, ohne sie zu begreifen.

Letztlich ist häufig im nicht geschriebenen Buchstaben vieles zu entdecken,dessen sich eine bloße Lektüre nicht bewusst ist. Ein letztes Beispiel : Die fast alleSuren des Korans einleitende Formel „Im Namen Gottes, des Barmherzigen, desAllerbarmers“ wird im Arabischen defektiv geschrieben. Nehmen wir denEingangsteil : „bi – (i)smi – llah …“. Das in Klammern gesetzte (i) markiert hierden arabischen Buchstaben alif, der im Schriftbild entfällt. Dieser Einleitungs-formel hat der große Sufi Ibn ’Arabi ein eigenes Kapitel in seinem großen Werk

23 Eco, Umberto: Die Grenzen der Interpretation. München 1999, 189.24 Im ursprünglichen Sinne der Melodien, Ideen, Arten Töpfe zu machen (Dawkins 1989) und

nicht im Sinne der weiteren theoretischen Annahmen Dawkins’.25 Bennington, Georges / Derrida, Jacques: Jacques Derrida. Ein Porträt. Frankfurt / Main 1994,

95.26 Ebd.27 Es ist sicherlich eine weiterhin wichtige Aufgabe, die verfolgt werden muss, den Text, gerade

den traditionellen Text genau zu rekonstruieren.

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„Die mekkanischen Eröffnungen“ (al-Futuhat al-makkiyya) gewidmet. Dortheißt es zu dieser Stelle, dass durch den Buchstaben ba’ und den darunterbefindlichen Punkt28 überhaupt erst die Schöpfung in Erscheinung trete. Durchdas ba’ wird der Buchstabe alif, der mit der Schöpfung assoziiert wird, erstaussprechbar29 – ein Satz mit großen theologischen Konsequenzen. Bei derLektüre müssen wir uns also auch in dieser Richtung über den Text hinausbewegen. Wir müssen das Nichtgeschriebene lesen. Damit bewegen wir unsentlang einer Fluchtlinie der Deterritorialisierung, die uns aus den Texten hin-ausführt. Oder : auch dieser Text ist eine Verkettung verschiedener Gedankenund Praktiken entlang einiger Fluchtlinien hin zu neuen Texten und damithoffentlich aktuell und aktualisierbar.

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28 In der arabischen Schrift ist das ba’ durch einen Punkt unter dem Schriftzug von der Reiheähnlicher Buchstaben zu unterscheiden.

29 Das zum ba’ hinzugefügte Zeichen für den Vokal i signalisiert, dass an dieser Stelle ein in derSchrift nicht erkennbarer Buchstabe alif mitschwingt (Ibn ’Arabi, Muhyiaddin (o.J.): al-Futuhatal-Makkiyya Band 1 83 (http://al-mostafa.info/data/arabic/depot/gap.php?file=001784a-www.al-mostafa.com.pdf) (Zugriff 07.05.2011).

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