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CARAVAGGIO UND DER INTERNATIONALE CARAVAGGISMUS Sammlungskatalog der Gemäldegalerie: Rom I Unter Mitarbeit von Marco Cardinali, Barbara Eble, Eva Götz, Michael Odlozil, Maria Beatrice De Ruggieri, Ina Slama, Robert Wald Wolfgang Prohaska und Gudrun Swoboda kunst historisches museum khm SilvanaEditoriale

Neue Hypothesen zu Caravaggio Maltechnik

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Caravaggio und der internationale Caravaggismus

Sammlungskatalog der gemäldegalerie: rom i

unter mitarbeit von

marco cardinali, Barbara eble, eva götz, michael odlozil,

maria Beatrice de ruggieri, ina Slama, robert Wald

Wolfgang Prohaska und gudrun Swoboda

kunsthistorisches

museumkhmSilvanaEditoriale

impressum

Unser besonderer Dank giltgilberto algrantiulrich BeckerSergio Benedettievelyn Beneschanna BernkopfBjörn Blauensteinermarco campiglikeith christiansenroberto continimaggy daly davisheiko dammmiklas doblerSybille ebert-Schifferermichael ederandrea emilianiSerge Fernandeznora Fischermartina FleischerBernadette Frühmannelisabeth garms-cornidesFiorella gioffredi Superbikrystyna greub-FraczSusanne hehenbergeraxel hémeryavshalom hodikSonja kocianannick lemoineStéphane loirePhilip mcevansoneyaangela negro

elke oberthalergiovanni Pagliarulokristine Patzruperta PichlerWolfram Pichlermatthias PfaffenbichlerJana Poschrudolf Preimesbergerlouise riceValeska von rosenPierre rosenbergmanfred ruperterich Schleierkarl SchützSebastian SchützeJohn Spikenicola SpinosaSabine Stanekagnes Stillfriedclaudio Strinatimonika Strolzkatharina uhlirrossella Vodretr. Ward BissellWendy Wassyng roworthclovis Whitfieldgerhard Wolfelisabeth Wolfikingo Zechner

Medieninhaber und Herausgeber dr. Sabine haag generaldirektorin des kunsthistorischen museums 1010 Wien, Burgring 5

redaktiongudrun Swoboda, ina Slama, Jana Posch

Lektoratelisabeth herrmann, Jana Posch, annette Schäfer

autoren der KatalogbeiträgeBarbara eble (Be) marco cardinali, maria Beatrice de ruggieri (emmeBi) eva götz (eg) michael odlozil (mo) Wolfgang Prohaska (WP) ina Slama (iS) gudrun Swoboda (gS) robert Wald (rW)

ÜbersetzungWolfram Pichler, Stefan albl art-Direktion Stefan Zeisler

gestaltungBrigitte Simma

Fotos©: khmFotografische leitung Stefan ZeislerFotos andreas uldrich Bildbearbeitung: tom ritter

abbildung auf dem Buchdeckel und Schmuckabbildungen:

kat.-nr. xxx

kurztitel: W. Prohaska und g. Swoboda, caravaggio und der internationale caravavggismus Wien 2010

iSBn 978-3-85497-194-8

© 2010 kunsthistorisches museum Wien

© 2010 Silvana editoriale milano

alle rechte vorbehalten.

Published with the assistance of the getty Foundation

inhalt

8 Sabine haag vorwort

10 karl Schütz vorwort

14 Wolfgang Prohaska und gudrun Swoboda Einleitung

16 maria Beatrice de ruggieri und marco cardinali (emmeBi)

„Kurze, aber wahre geschichte“ der caravaggesken Technik

54 Katalog

anhang

322 Quellen- und literaturverzeichnis

332 abb. nachweis

xxx Verzeichnis der gemälde

Projektleitung und realisationarti grafiche amilcare Pizzi Spa

Leitung dario cimorelli

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit lidia masolini, [email protected]

kein teil dieses Buches darf in irgendeiner Form oder mit irgendeinem elektronischen, mechanischen oder anderen Verfahren ohne schriftliche genehmigung der rechteinhaber und des Verlags reproduziert werden. mögliche rechteinhaber, die nicht kontaktiert werden konnten, können sich jederzeit an den Verlag wenden.

Silvana editoriale

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„Kurze, aber wahre geschichte“ der caravaggesken technik

maria Beatrice de ruggieri und marco cardinali (emmeBi)

i: Neue Hypothesen zu Caravaggios Maltechnik (marco cardinali)

die dieser abhandlung vorausgegangenen technologischen unter-suchungen sind teil einer komplexen kunsthistorischen Frage-stellung und mit zahlreichen caravaggio-Problemen oder quesiti caravaggeschi (longhi) verbunden, an denen sich die kunstge-schichte seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts abgearbeitet hat1. diese Fragen gehen von zwei hauptproblemen aus: Worin genau besteht das neue der malerei caravaggios („eine neue Speise, gewürzt mit einer solchen Sauce, soviel geschmack, appetit und

gaumenfreude, dass sie alle in ihren Bann zieht“2), und wie kann – so es sie tatsächlich gibt – die Schule caravaggios charakterisiert werden? Bei den diversen Versuchen, zumindest das erste dieser beiden Probleme auf kunstkritischer oder historischer Basis zu ent-falten und zu lösen, wurde allgemein der maltechnik und den ver-wendeten materialien ungewöhnlich viel aufmerksamkeit geschenkt. die caravaggio-Forschung ist, wie man gleich hinzufügen könnte, mit der entstehung und institutionalisierung von naturwissenschaft-

lichen untersuchungen der kulturgüter in italien verbunden; darüber hinaus ist es ihr – auch dank der jüngsten Beiträge aus dem anglosächsischen und deutschsprachigen raum – gelungen, das kunsthistorische interesse an der Wissenschaftsgeschichte und den um 1600 erzielten Fortschritten im Bereich der optik und ihrer technologischen anwendungen neu zu beleben, um so die Frage der Beziehung zwischen kunst und Wissenschaft in einem für die geschichte der westlichen kultur maßgeblichen Jahrhundert end-gültig wieder in das Zentrum der aufmerksamkeit zu stellen3.Schon den zeitgenössischen Quellen ist ein besonderes interesse für die maltechnik caravaggios und seiner nachfolger zu entnehmen, wobei aspekte betont wurden, die durch die moderne kunstge-schichte in spezifische themen der Forschung verwandelt werden sollten. Vereinfachend können wir die in den Schriften des 17. Jahr-hunderts enthaltenen technischen anmerkungen zur malerei caravaggios in zwei hauptbereiche zusammenfassen: die Frage der Beleuchtung und diejenige der (fehlenden) Zeichnung. Zunächst einmal zur Beleuchtung der Sujets. caravaggios ent-scheidung, „vor dem realen modell“ (davanti del naturale)4 zu malen, und seine für sakrale themen ungewöhnlichen ikono-graphischen lösungen hätten nicht eine so revolutionäre Wirkung entfaltet, wären sie nicht durch eine neuartige methode unter-stützt worden, die Bildgegenstände zu präsentieren, nämlich durch die Verwendung einer Beleuchtung, welche die grenzen des Bild-raumes gleichsam unter druck setzt und die Personen an den rand des Proszeniums rückt. gerade auf dieses „gebündelte licht, das ohne reflexe von oben kommt“ (mancini), das wie ein Schwerthieb mitten durch die Szene geht, wobei es die dargestellten Personen streift, gehen letztendlich viele der von den Biographen zitierten charakteristischen merkmale der ausführung zurück, wie z. B. die Verstärkung der kontraste („er verstärkte das dunkel“), die Ver-wendung einer dunklen imprimitur für die Wiedergabe der Schatten („er beließ die imprimitur in halbtönen“) und die einführung einer satten Farbgebung, die „nicht, wie einst, zart, mit wenigen Farben, sondern erfüllt von kräftigen dunklen tönen“ (Bellori)5 ist. ein anderer aspekt, dem wir uns im zweiten teil dieser arbeit widmen werden, betrifft den erfolg caravaggios bei den zeitge-nössischen malern und den bei vielen von ihnen offenkundigen Willen, ihm nachzueifern: „dannenhero folgten seiner manier fast durchgehends alle italienische mahler nach/ bereiteten sich auch mahlzimmer/ nach seiner art/ und ist hernach diese manier auch in hoch- und nider-teutschland nachgeahmet worden.“6

einige der zeitgenössischen Äußerungen über caravaggio stam-men zwar nicht von augenzeugen, die tatsächlich im atelier des künstlers anwesend waren, sie sind aber dennoch Primärquellen und es kann mit ihrer hilfe ein spezifischer malerischer effekt auf ein bestimmtes Verfahren der ausführung zurückgeführt werden. dies gilt etwa für mancinis rede von einem „gebündelte[n] licht […] ohne reflexe“ – eine präzise Wortwahl, die ein konzentriertes licht ohne jegliche refraktions- oder diffraktionswirkung in einem

raum bezeichnet, der keine reflektierenden oberflächen aufweist (er sieht nach mancini so aus, „als wäre man in einem Zimmer mit einem Fenster, dessen Wände schwarz bemalt sind“)7. ungenau erscheint im Vergleich dazu der von Sandrart gewählte Begriff „einiges kleines liecht“8, aus dem in der erzählung Belloris eine Beleuchtung wurde, die sich der „Verwendung eines hohen lichts, das senkrecht auf den wichtigsten teil des körpers fiel“9 verdankt. offenbar gehen die Quellen immer mehr davon ab, eine anordnung der lichtquelle und des modells im atelier zu beschreiben, die mit der Situation in den römischen Werken des reifen caravaggio tatsächlich übereinstimmt. es hat nicht den anschein, als ob die intensität des auf die Figuren seiner Bilder fallenden lichtscheins auf „einiges kleines liecht“ zurückzuführen wäre; und das licht fällt niemals genau von oben („senkrecht“) ein. Bellori könnte sich möglicherweise auf eine künstliche lichtquelle, etwa eine Fackel oder eine kerze, beziehen, wie dies seine erwähnung der „Verwen-dung eines hohen lichts“ nahe legt, wenn man sie mit der kritik an den „jungen leuten“ zusammensieht, die caravaggio „nach-eiferten, nackte modelle benützten und lichter aufstellten“10. in den gemälden caravaggios sind im Bildraum direkt sichtbare lichtquellen jedoch selten, und niemals werden sie – Die Sieben Werke der Barmherzigkeit machen dies deutlich – als hauptquelle des lichtes im Bildraum benützt.Wesentlich scheint hingegen die Beziehung zwischen der licht-quelle und den modellen, also der einfallswinkel des lichtes, zu sein. dieser Winkel ist bei den gemälden der römischen Jahre, die innen-räume zeigen, offenbar relativ konstant. er wird manchmal durch einen lichtstreifen auf einer mauer im hintergrund angezeigt – wie im Emmausmahl (london, national gallery) und in der giustiniani-Dornenkrönung (Wien, kunsthistorisches museum) –, zumindest einmal durch eine Spiegelung der lichtquelle selbst. der „schild-förmige Spiegel“ („scudo a specchio“), der am 26. august 160511 unter den Besitztümern des malers in seiner Wohnung am campo marzio inventarisiert wurde, ist aller Wahrscheinlichkeit nach jener, den magdalena in dem nunmehr in detroit verwahrten costa- gemälde hält und in dem sich eine höher liegende, eher einem oberlicht als einem Fenster ähnelnde quadratische Öffnung spiegelt.die lichtdiagonalen im hintergrund mancher gemälde sind ein-deutig ein kompositorisches mittel, das wahrscheinlich am ende des malprozesses hinzugefügt wurde und jedenfalls keinen realen Zusammenhang mit dem an den modellen zu beobachtenden licht aufweist. hingegen erlauben es uns die von den dargestellten Figuren geworfenen Schlagschatten und ihre eigenschatten, die vom maler im moment der Wiedergabe studierte geometrie der Beleuchtung mit großer genauigkeit zu rekonstruieren. Wie noch auszuführen sein wird, wurde unter einbeziehung von unterhalb der Bildoberfläche liegenden Spuren bei der Wiener Dornen­krönung eine exakte rekonstruktion der Beleuchtungssituation ver-sucht, da dieses gemälde unter den Werken caravaggios im khm

1 die wissenschaftlichen untersu-chungen – an denen auch die Verfasser beteiligt waren – fan-den in der restaurierwerkstatt der gemäldegalerie des kunst-historischen museums in enger Zusammenarbeit von Spezialis-ten für technologische Studien zur malerei des 17. Jahrhunderts, restauratoren, konservatoren und als kuratoren tätigen kunst-historikern statt. Sie betrafen ins-besondere 22 Werke, die von der leitung des Forschungsprojekts (Wolfgang Prohaska und gudrun Swoboda) aus dem corpus der gemälde caravaggios und der caravaggesken Schule in der gemäldegalerie des kunsthistori-schen museums ausgewählt wurden, wobei jenen Fällen be-sondere aufmerksamkeit galt, bei denen in hinblick auf Zu-schreibung und datierung un-gewissheit besteht. die kritische interpretation der erzielten er-gebnisse bediente sich auch

eines Vergleiches mit den ergeb-nissen anderer – bereits zuvor von den Verfassern durchgeführ-ter – technologischer untersu-chungen an Werken caravagges-ker maler, die in den ersten Jahr-zehnten des 17. Jahrhunderts in rom tätig waren. Wir ergreifen die gelegenheit, um uns für das großzügige entgegenkommen und den gewinnbringenden meinungsaustausch bei all jenen zu bedanken, mit denen wir ge-meinsam forschen konnten, im Besonderen Wolfgang Prohaska gudrun Swoboda, elke ober-thaler, michael odlozil, ina Slama, robert Wald, Wolfram Pichler und matteo Positano.

2 „en nuestros tempos se levantò en roma michael angelo de carabaggio, en el Pontificado del Papa clemente Viii, con nuevo plato, con tal modo, y salsa guisado, con tanto sabor, apetito y gusto, que pienso se ha llevado el de todos con tanta golosina y

licecia, que temo en ellos alguna apoplexia en la verdadera doc-trina: porque le siguen glotonica-mente el mayor golpe de los pintores“, carducho 1633, 89.

3 Für die geschichte der unter-suchungen an den kulturgütern und ihre Beziehung zur cara-vaggio-kritik siehe cardinali – de ruggieri – Falcucci 2002 und besonders den katalogtext über die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten. in Bezug auf das thema der wissenschaftlichen Forschung und der optik im 16. und 17. Jahrhundert wird auf die von david hockney auf-gestellte und lebhaft diskutierte hypothese betreffend die – auch seitens caravaggios vorge-nommene – Verwendung von optisch-projizierenden Verfahren mittels linsen und konkavspie-geln in der malerei verwiesen (hockney 2001). Für eine genaue und weitgehend kritische analyse der hypothese aus einer histo-

risch-wissenschaftlichen Perspek-tive siehe dupré 2005. Vgl. auch kongr. akt. Berlin 2006.

4 im berühmten Brief des marchese Vincenzo giustiniani an seinen flämischen Freund dirk van amayden, der auf das dritte Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts datiert werden kann, wird cara-vaggio unter die „maler ersten ranges […]“ eingereiht, die „[…] [in der lage sind] […], das malen nach der maniera und dem der natur entnommenen Beispiel zu vereinen“, macioce 2003, 315.

5 mancini 1617–21/25 (1956), 108; Bellori 1672 (1976), 217, 226.

6 Sandrart 1675, ii, 189.7 mancini 1617–21/25 (1956),

108.8 Sandrart 1675, ii, 189.9 Bellori 1672 (1976), 217.10 Bellori 1672 (1976), 217f.11 Bassani – Bellini 1993, 69f.

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in hinblick auf die effekte des lichteinfalls am aufschlussreichsten ist. das ergebnis der Simulation betraf zuallererst eben diesen einfallswinkel des lichtes – einen Winkel von ca. 45 grad (zum Boden), der eine hoch oben befindliche Öffnung erforderlich macht: bei einem genügend hohen Zimmer eine Wandöffnung, andernfalls eine Öffnung in der decke12. in diesem Zusammen-hang ist daran zu erinnern, dass in einem dokument vom 1. Sep-tember 1605 auf einen von merisi verursachten Schaden in der decke des von ihm bewohnten hauses am campo marzio Bezug genommen wird, was von interpreten als Beweis für eine Öffnung angesehen wurde, die angebracht worden war, um das Sonnen-licht auf die bestmögliche Weise in das atelier einfallen zu lassen. Jüngste, noch unveröffentlichte dokumentenfunde scheinen dies zu bestätigen13.Wir müssen uns jedoch noch ein wenig mit der Bedeutung der historischen Quellen für die kunsthistorische Forschung beschäfti-gen. gerade im Fall caravaggios zeigen die unterschiede zwischen den erzählungen der Zeitgenossen und jenen aus späterer Zeit, selbst wenn man sich auf das 17. Jahrhundert beschränkt, wie stark auch die Beschreibung der maltechnischen Verfahren äußeren Faktoren unterworfen ist, ob diese nun auf eine Änderung des ge-schmacks und der theorien in Bezug auf Schönheit oder einfach auf rivalitäten oder persönliche neidgefühle zurückzuführen sind. indem er „endgültig das missverständliche [seiner] malerei […] im lichte des vorherrschenden klassizistischen idealismus“14 ver-urteilt, bezeichnet Bellori caravaggio als „arm an einfällen und im Zeichnen“15, wobei er die kritik Francesco Scannellis („ohne die erforderliche grundlage der Fertigkeit im Zeichnen, offenbarte er einen mangel an ideen“16) und jene des künstlers giovanni Baglione, eines erklärten Feindes von merisi, wiederholt: „viele junge leute bemühen sich zum Beispiel, ihn beim abbilden eines kopfes nach dem lebenden modell zu imitieren, ohne die grund-lagen des Zeichnens zu lernen, […] und geben sich nur mit dem

kolorit zufrieden“17. ganz anders wird caravaggio hingegen vom marchese Vincenzo giustiniani – einem dem künstler nahe stehen-den, aufmerksam beobachtenden und interessierten kenner und Sammler – beurteilt. giustiniani subsumiert die arbeitsweise caravaggios zusammen mit derjenigen von carracci und guido reni unter der „zwölfte[n] art [zu malen], die perfekteste von allen […] denn so malten die vorzüglichen maler […], die sich um gute Zeichnung und wahres kolorit bemühten und darum, die lichter, so wie sie sind, genau wiederzugeben“18.die historischen Quellen wiederholen vielfach frühere Überlegun-gen, übernehmen sie oder schreiben sie um. aber auch jüngere kunsthistorische untersuchungen tradieren vielfach die ergebnisse früherer technischer und wissenschaftlicher Forschungen über caravaggios malerei als gegebene tatsachen, wodurch es in Bezug auf historische Fakten oder dokumente zu mehr oder weniger großen missverständnissen kommt. die diskussion, ob in seinen gemälden nun eine unterzeichnung vorhanden sei oder nicht, lässt auf der ebene wissenschaftlicher untersuchungen die debatte des 17. Jahrhunderts über den gegensatz von Zeichnung und Farb-gebung in moderner gestalt wieder aufleben. das oftmals nega tive urteil der Biographen der Vergangenheit (caravaggios Werke seien „ohne Zeichnung“) wird dann mit den ergebnissen der infrarot-reflektographien verschmolzen, die bei der mehrzahl der gemälde aus der reifezeit caravaggios keine Spuren einer darunter liegen-den unterzeichnung nachgewiesen haben – oder zu einem sol-chen nachweis nicht in der lage waren! auf diese Weise entsteht eine Vermischung verschiedener ebenen der auseinandersetzung: theoretische kategorien der stilistischen und historiographischen analyse vermengen sich mit elementen einer technischen analyse der malerei. und nicht nur das: Praktische grenzen der eingesetzten technologie sowie eine unreflektierte und unpräzise lesart der sich durch die naturwissenschaftlichen untersuchungen ergebenden aufnahmen führen insgesamt dazu, dass scheinbar etwas bestätigt

wird, was wir gar nicht wissen können. im vorliegenden Fall der malerei caravaggios bleibt die Feststellung einer eventuell vor-handenen dunklen markierung auf einer braunen oder rötlichen Präparierung unterhalb einer gewissen malschichtendicke weiter-hin problematisch, die bis vor ca. einem Jahrzehnt gebräuchliche technologie der infrarotreflektographie schloss die möglichkeit entsprechender nachweise sogar fast zur gänze aus. Wenn aber das Fehlen einer darunter liegenden Zeichnung nunmehr fast den Status eines gemeinplatzes in der caravaggio-Forschung erreicht hat19 (wozu ein falsch verstandener „wissenschaftlicher Beweis“ das Seinige beitrug), so muss im gegenzug die komplexität der technischen analyse von gemälden hervorgehoben werden, speziell wenn man es mit einem maler zu tun hat, dessen modus operandi im laufe weniger Jahre eine radikale Änderung erfuhr und zum zentralen Bezugspunkt für viele künstler seiner Zeit wurde.die gruppe der im kunsthistorischen museum in Wien aufbewahrten Werke caravaggios besteht aus drei in Bezug auf komposition, Format, malgrund und erhaltungszustand so unterschiedlichen gemälden, dass sie der wissenschaftlich-technologischen analyse mehr als nur einen anreiz bieten und diese vor zahlreiche heraus-forderungen stellen. tatsächlich erweist sich diese heterogenität jedoch als repräsentativ für die vielen Facetten eines Stils, bei dem die verschiedenen Verfahren und materialien nicht einzeln bewer-tet werden können, sondern zueinander in Beziehung gesetzt und im Zusammenhang mit der genese und der mit dem jeweiligen Werk verbundenen intention gesehen werden müssen. darüber hinaus stellt jedes dieser drei gemälde einen angelpunkt in Bezug auf Zuschreibung und chronologische einordnung dar, wobei die analyse dieser Fragen nur dann zu einer klärung beitragen kann, wenn sie sich nicht an rigide und formelhafte interpretations-schemata hält.gerade eine schematische interpretation der durch wissenschaft-liche analyse gewonnenen resultate hat weit verbreitete irrtümer bei der Beschreibung der maltechnik caravaggios erst möglich ge-macht. Zu den am häufigsten geäußerten Fehlinterpretationen zählt, wie wir schon gesehen haben, die vermeintliche abwendung caravaggios von der Zeichnung und von der führenden rolle, die sie traditionell sowohl bei vorbereitenden Studien als auch in der malerischen ausführung einer komposition innehatte. diese annahme spiegelt sicherlich eine allgemeine tendenz von cara-vaggios Stilentwicklung wider: Während die auf hellem unter-grund gemalten Frühwerke definierte ränder und klar umrissene Formgrenzen aufweisen, erscheinen die Formen in den auf brau-ner grundierung ausgeführten gemälden der reifezeit ohne klare umrisse, als körper, die nur so weit aus dem Schatten treten, wie es die ebene des einfallenden lichts jeweils zulässt. tatsächlich konnte bei Frühwerken (z. B. beim Knaben mit Früchtekorb, (rom, galleria Borghese) oder bei der Ruhe auf der Flucht nach Ägypten, (rom, galleria doria Pamphilj) mittels infrarotreflektographie das Vorhandensein einer unterzeichnung nachgewiesen werden,

wobei dies nicht zuletzt durch den deutlichen kontrast zwischen den dunklen markierungen und dem hellen malgrund möglich wurde. da sich ein solcher kontrast bei einem dunklen grund nicht ergibt, reicht das Fehlen derartiger markierungen entlang der Figurenränder in den infrarotreflektographien der späteren Werke alleine nicht aus, um ihre existenz tout court abstreiten zu können.neue erkenntnisse zu dieser schwierigen Frage wurden durch die jüngsten, auf einer innovativen technischen grundlage durch-geführten untersuchungen gewonnen – untersuchungen, die das Vorhandensein von Spuren einer Zeichnung auch in braun grundierten gemälden aus der reifezeit caravaggios nachzu-weisen vermögen20. es muss sogleich hinzugefügt werden, dass es traditionelle Funktionen der Zeichnung gibt, die in der entwick-lung von caravaggios maltechnik durch die einführung anderer Verfahren abgelöst wurden. Wir beziehen uns hier insbesondere auf das auftreten von einritzungen, die merisi einführt, um die umrisse der körper und des chiaroscuro festzulegen, und die nicht mit einer konturzeichnung gleichzusetzen sind. in zweiter linie ist in diesem Zusammenhang auch eine Praxis des Farbauftrags zu nennen, bei welcher der maler die verschatteten Figurenteile nicht eigentlich ausführt, sondern sie vielmehr nur andeutet – durch aussparungen, in denen die braune grundierung durchscheint. es handelt sich zweifellos um technische Verfahren, die an die Worte karel van manders erinnern: „nach Zeichnungen zu malen, auch wenn sie die realität wiedergeben, ist sicherlich nicht dasselbe, wie das echte vor sich zu haben und der natur in den verschiedenen Farben zu folgen“21. dennoch sind die argumente, die auch in jüngster Zeit wieder vorgebracht wurden, um die Vorstellung von einem „Zeichner“22 caravaggio aufleben zu lassen, durchaus als sinnvoll anzusehen. die vorliegende Studie hat gezeigt, dass nicht nur die „etwas trockenen“ Figuren (Baglione) seiner ersten Schaffensphase Spuren einer unterzeichnung aufweisen, sondern dass man auch in hinblick auf den großteil der übrigen Werke caravaggios durchaus von einer art Zeichnung sprechen kann – vorausgesetzt, man behält die eigenart ihrer Funktionen und ihre spezifischen ausformungen im auge.

caravaggio und die tafelmalerei: David mit dem Haupt des

Goliath

gerade das Problem der Zeichnung wird vom David mit dem Haupt des Goliath des kunsthistorischen museums erneut aufge-worfen, und zwar mit Bezug auf bestimmte malerische techniken, die mit der entscheidung für einen bestimmten Bildträger zusam-menhängen. es handelt sich um ein Bild, das auf holz ausgeführt wurde, genauer gesagt: auf einer tafel, auf der bereits ein anderer maler ein Szene mit Venus und Mars dargestellt hatte23. die maltechnik des Bildes mit David und Goliath scheint für die ent-wicklung caravaggios ziemlich ungewöhnlich zu sein. das Werk

12 eine analoge Situation wird – nicht zufällig – von leonardo bevorzugt, wie aus der folgen-den Beschreibung hervorgeht: „il lume da ritrarre dal naturale […] de’ essere in modo situato ch’ogni corpo facci tanta longa per terra la sua ombra, quanto è la sua altezza“ („um nach der natur zu malen, muss das licht so gerichtet sein, dass jeder körper am Boden einen Schatten wirft, der ebenso lang ist, wie er selbst hoch ist“), Pedretti 1995, 85. auch zahlreiche andere maler schlagen die Verwendung einer ähnlichen Beleuchtung vor: Örtlich und zeitlich caravaggio

näher ist Bernardino campi, der empfiehlt: „ritrare il rilieuo, togliendo il lume alto“, campi 1584.

13 macioce 2003, 175.14 macioce 2003, 324.15 Bellori 1672 (1976), 218.16 Scannelli 1657, 51.17 Baglione 1642, 138.18 macioce 2003, 315.19 die rolle der Zeichnung bei

caravaggio stellt die kritik seit jeher vor ein dilemma, da kein graphisches Werk erhalten ge-blieben oder bekannt ist, das dem meister mit Sicherheit

zugeschrieben werden kann. Zu den wenigen, die anderer auffassung sind, zählt alfred moir, ein historiker, der die these von caravaggio als Zeich-ner vertritt. Seine Positionen sind in den letzten Jahren von nevenka kroschevski wieder aufgegriffen worden. moir 1969; kroschevski 2002.

20 die derzeit laufenden unter-suchungen, die zur Veröffent-lichung eines von den Verfassern dieser abhandlung, rosella Vodret und giulia ghia, erstellten reper-toriums über die maltechnik caravaggios führen sollen,

haben z. B. das Vorhandensein einer unterzeichnung beim Martyrium des hl. Matthäus (rom, San luigi dei Francesi) aufgezeigt. gleichzeitig hat der vom istituto nazionale di ottica applicata zur Verfügung gestellte multi-nir-Scanner eine Zeich-nung unter der maloberfläche des Letzten Abendmahls (mai-land, Pinacoteca di Brera) nach-gewiesen, Bellucci – Frosinoni – Pezzati 2010.

21 Van mander 1604.22 ebert-Schifferer, im druck.23 Vgl. inv.-nr. 125, S. XX, Fig. 5 in

diesem Band.

caravaggios maltechnik

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abb. 3: caravaggio, david mit dem haupt des goliath. makroaufnahme. Wien, khm. ©: ebenda.

die einritzungen in den beiden gemälden stehen in ver-gleichbarer Weise – und im gegensatz zum üblichen Ver-fahren – nicht in einem Zusammenhang mit der malerischen ausführung, sondern scheinen ihr vorauszugehen und die Funktion der traditionellen unterzeichnung zu erfüllen. in beiden gemälden wurde die grau-braune Vorbereitungs-schicht – im Falle des David dient sie dazu, die darunter liegende malerei zu verdecken – in analoger Weise aufge-tragen: Sie weist einen – in der infrarot-untersuchung gut dokumentieren – eigenartig gestreiften und nur wenig deckenden charakter auf, der mehrfach auch bei gemälden und bozzetti von rubens festgestellt wurde (Abb. 3). diese streifige imprimitur ist beim größten teil von rubens’ ins-gesamt 450 modelli leicht zu erkennen und mehrheitlich sichtbar belassen. die gleiche art der Vorbereitung ist auch bei seinen ausgeführten tafelgemälden nachweisbar, und zwar sowohl bei einer Betrachtung aus nächster nähe als auch in der infrarotreflektogramm24. es ist bemerkenswert, dass caravaggio – nach den bisherigen Forschungen war er dies bezüglich beinahe der einzige unter den italienischen malern25 – ein element der flämischen maltechnik übernom-men hat. karel van mander, der diesem technischen detail wohl nicht zufällig seine aufmerksamkeit schenkte, führt es auf Jan de hollander (tätig zwischen 1528 und 1542) und Brueghel d. Ä.26 zurück. der nachweis der streifigen impri-mitur bei der Bekehrung Pauls und beim David wird so – zusammen mit den anderen technischen Übereinstimmun-gen – auch für die Beurteilung der urheberschaft am Wiener gemälde bedeutsam. im Übrigen kehrt in beiden Werken der gleiche aufbau des chiaroscuro wieder: die Schatten werden durch eine Überlagerung dunkler lasuren erzeugt. im unterschied dazu sieht die technik des reifen caravaggio eine ausgiebige Verwendung des dunklen tons in der grun-dierung vor und lässt diesen in den Schattenpartien im Sinne eines aus sparungsverfahrens offen stehen (Abb. 4 a und b).

abb. 1: caravaggio, david mit dem haupt des goliath. infrarotreflekto-gramm. Sichtbar sind sowohl die dunklen linien der unterzeichnung (Profil der nase, der Wange) als auch helle ritzspuren entlang des kopfes (unter den haaren). Wien, khm. ©: ebenda.

abb. 2: caravaggio, Bekehrung des hl. Paulus. infrarotreflektogramm und drei makroaufnahmen. rom, Slg. odescalchi. ©: ebenda.

24 Stols-Witlox – doherty – Schoon-hoven 2008.

25 ein weiteres Beispiel wurde auf einem der gemälde beobachtet, die im laufe der untersuchun-gen analysiert wurden: angelo

caroselli, Singender Mann, kunsthistorisches museum, ge-mäldegalerie, inv.-nr. 1583, sie-he S. XX in diesem Band.

26 Van mander 1604, 215. es ist wahrscheinlich, dass merisi das

Verfahren während seiner tätig-keit in der Werkstätte des cava-lier d’arpino von einem aus dem gebiet nördlich der alpen stam-menden kollegen entlehnt hatte. die Werkstätte wurde im Übri-

gen auch von Floris claesz van dyck besucht, der van mander als Quelle für seine angaben zu caravaggio diente.

abb. 4 a: caravaggio, david mit dem haupt des goliath. makroaufnahme. Wien, khm. ©: ebenda.

abb. 4 b: caravaggio, Pilgermadonna. makro-aufnahme. rom, Sant’agostino. ©: ebenda.

weist technische merkmale auf, die im rahmen kunsthistorischer und technologischer analysen bisher auf verschiedene momente im künstlerischen Werdegang merisis bezogen wurden. der ein-satz von lasuren bei der Wiedergabe der Schatten und die klare Bestimmung einiger Profile mittels Zeichnung scheinen vor allem mit dem Frühwerk vereinbar zu sein, während die Wahl der dunklen grundierung zusammen mit der technik der einritzungen caravaggios Vorgangsweise in den ersten Jahren des 17. Jahrhun-derts entspricht (Abb. 1). dieses zum Zeitpunkt der am Wiener gemälde durchgeführten untersuchungen fast unbekannte, ja bei-

nahe „suspekte“ Zusammentreffen verschiedener merkmale wurde später auch in der Bekehrung Pauls der Sammlung odescalchi fest-gestellt, d. h. in dem – sieht man vom eigentümlichen Bildträger der Medusa in den uffizien (leinwand auf konvexer holzunterlage) ab – einzigen erhaltenen weiteren tafelgemälde caravaggios. auch im odescalchi-gemälde wurden Spuren einer dunklen, mit breitem Pinsel ausgeführten unterzeichnung festgestellt und es konnte das gleichzeitige Vorhandensein von Spuren einer Zeichnung und von ritz-Spuren nachgewiesen werden; in der aus arbeitung der konturen ergänzen sie einander (Abb. 2).

caravaggios maltechnik

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die kürzlich erfolgte restaurierung der Bekehrung Pauli der Samm-lung odescalchi, der ersten Fassung des für die cerasi-kapelle bestimmten gemäldes, hat also wertvolle technische daten ans licht gebracht und damit eine neue Vergleichsbasis geschaffen. der Vergleich trägt dazu bei, bestimmte Zweifel hinsichtlich der Zuschreibung und datierung des David zu beseitigen – Zweifel, die durch einige merkwürdige und ungewöhnliche Züge in der materiellen Struktur des gemäldes genährt wurden, und zwar trotz der unverkennbaren stilistischen und morphologischen nähe des Bildes zu anderen, für caravaggio gesicherten Werken27. die beiden miteinander verglichenen tafelbilder weisen einen ähnlichen kom-positions- und ausführungsprozess auf, dessen eigentümlichkeiten auf die spezifische konsistenz der maloberfläche zurückgeführt werden können. So hat etwa der „streifige“ auftrag der imprimitur die gleiche optische Funktion wie die Quarz- und kalzitkristalle und die einschlüsse von erde und grobkörnigen Silikaten, die cara-vaggio der grundierung beizumengen pflegte, um die glätte der gemäldeoberfläche zu modifizieren und ihre diffuse reflexion (scattering) zu erhöhen. gleichzeitig ruft die streifige imprimitur ein optisches Flimmern hervor, durch das die gezeichneten umrisse „ausgefranst“ wirken und weicher erscheinen. das Verfahren dient auf diese Weise auch dazu, die Volumina hervortreten zu lassen und sie von ihrer umgebung abzusetzen – ein effekt, den der maler gewöhnlich durch randaussparungen erreichte, d. h. durch die in Form von Streifen längs der Figurenumrisse teilweise sicht-bar belassene grundierung.

chronologische indizien: unterzeichnung und Proportions-veränderungen in der Rosenkranzmadonna

eine ebenso große herausforderung für die technische analyse der malweise caravaggios stellt die Rosenkranzmadonna dar28. durch die Quellen sind bekanntlich nur die eigenhändigkeit des Bildes sowie ort und Jahr des Verkaufs – neapel, 1607 – gesichert, während über das datum der entstehung und die identität des dargestellten auftraggebers bis heute diskutiert wird. anhand des dokumentes, welches das gemälde in neapel nachweist, hat der großteil der Forscher es in die Produktion während caravaggios erstem neapel-aufenthalt eingeordnet, doch ist eine derartige datierung mit den ergebnissen einer analyse der komposition und der eigenschaften der grundierung ebenso schwer zu vereinen wie mit denjenigen einer untersuchung der technik des Farbauftrags.Was die grundierung anbelangt, so lassen der vorherrschende Farb-ton, die typologie und die granulometrie der einschlüsse keine analogie zu den Werken der ersten neapolitanischen Periode erken-nen. Vielmehr weisen sie interessante Übereinstimmungen mit

einigen eigenheiten auf, die bei Judith und Holofernes (rom, galle-ria nazionale di arte antica, Palazzo Barberini) festgestellt werden können. das Vorhandensein von Spuren eines grünen Pigments auf kupferbasis wurde auch in der Judith und in der Pilgermadonna (rom, Sant’agostino) nachgewiesen, nicht aber bei den spätesten Werken der römischen Periode wie der Madonna dei Palafrenieri und dem Hl. Hieronymus (rom, galleria Borghese) (Abb. 5 a und b).der unterschied zur nach-römischen Periode caravaggios wird deutlich, wenn wir die oberflächen aus der nähe betrachten; bei einer untersuchung verdeckter malschichten mittels röntgen- und infrarotstrahlen wird er vollends evident.die technik des auftrags der inkarnate ist raffiniert und besteht aus Überlagerungen und lasuren, welche die Stellen heller Beleuchtung und stärkster Schatten sanft modifizieren. damit wird eine kom-pakte oberflächenwirkung erzielt, der eindruck einer dichten und glatten materie, die keine Spuren des Pinselstrichs erkennen lässt; sie ist denkbar weit vom summarischen Farbauftrag des neapolita-nischen caravaggio mit seinen nebeneinander gesetzten Pinselstri-chen ohne lasuren, den starken farblichen und beleuchtungsmä-ßigen kontrasten sowie der sprunghaft variierenden dicke der auf-getragenen Farben entfernt. die Pilgermadonna scheint eine Zwi-schenstufe in der entwicklung seines Stiles hin zum abgekürzten und „impressionistischen“ duktus der Spätwerke zu sein, während sich in der Rosenkranzmadonna anklänge an das späte cinquecento und dessen preziöse momente verdichten, was im Schaffen des künstlers ungewöhnlich ist (Abb. 6 und 7) – man vergleiche etwa die röntgenbilder und die oberflächentextur der beiden gemälde. Bei dem Bild in Sant’agostino wird anhand der röntgenuntersu-chung eine rasche und ökonomische Pinselführung sichtbar, in den verschatteten Partien der Volumina sind keine lesbaren markierun-gen zu finden (siehe z. B. das Jesuskind; Abb. 7). details der ober-

27 Falcucci 2008.28 Vgl. S. XX in diesem Band.

abb. 5 a: caravaggio, Judith mit dem haupt des holofernes. Querschliff. rom, galleria nazionale d’arte antica di Palazzo Barberini. ©: ebenda.

abb. 5 b: caravaggio, rosenkranzmadonna. Querschliff. Wien, khm. ©: ebenda.

fläche in beiden gemälden, wie z. B. die schmutzigen Füße des Pilgers (Abb. 8), wirken beim römischen Bild großzügiger und „fleckig“ (a macchia). gerade dieses Beispiel zeigt, wie sich cara-vaggios Pinselführung bei der Behandlung der gleichen formalen elemente fortwährend weiterentwickelt, weshalb das Vorhanden-sein solcher details an sich nicht als kriterium für datierungsvor-schläge herangezogen werden kann, ganz im gegenteil: es ist ge-rade die ständige Verwendung der gleichen motive – erinnerter modelle, vielleicht aber auch graphischer Vorlagen –, die die rasche maltechnische entwicklung deutlich erkennbar werden lässt und es gestattet, eine entwicklung zu beschreiben, die zwar unter-brechungen aufweist, aber dennoch kohärent ist. das gemälde, das die größten Übereinstimmungen mit der Rosenkranzmadonna auf weist, ist in diesem Zusammenhang sicherlich die Kreuzigung

abb. 6 a: caravaggio, rosenkranz-madonna. makroaufnahme.Wien, khm. ©: ebenda.

abb. 6 b: caravaggio, die Sieben Werke der Barmherzigkeit. neapel, Pio monte della misericordia. makro-aufnahme. ©: ebenda.

abb. 7 a und b (oben): caravaggio, rosenkranzma-donna. makro- und röntgen-aufnahme. Wien, khm. ©: ebenda.

abb. 7 c und d (mitte): caravaggio, Pilgermadonna. makro- und röntgenaufnahme. rom, Sant’agostino. ©: ebenda.

abb. 7 e und f (unten): caravaggio, die Sieben Werke der Barmherzigkeit. makro- und röntgenaufnahme. neapel, Pio monte della misericordia. ©: ebenda.

abb. 8 a bis c: caravaggio, rosenkranzmadonna. makroaufnahme. Wien, khm. ©: ebenda. – caravaggio, Pilgermadonna. makroaufnahme. rom, Sant’agostino. ©: ebenda.– caravaggio, kreuzigung des hl. Petrus. makroaufnahme. rom, S. maria del Popolo. ©: ebenda.

caravaggios maltechnik

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des hl. Petrus in der capella cerasi in Santa maria del Popolo (Abb. 9). die röntgenaufnahmen dieses Bildes sehen ähnlich aus wie dieje-nigen der Rosenkranzmadonna: die konturen der Formen treten auch im halbschatten deutlich hervor, und der einsatz von Blei-weiß bei der Farbgebung für die inkarnate wurde in einer sehr differenzierten art und Weise vorgenommen. dadurch kommen jene im röntgenbild erkennbaren, auf der dichte von Bleiweiß beruhenden starken helligkeitskontraste nicht zustande, welche die Spätwerke charakterisieren werden.

die röntgenaufnahme der Rosenkranzmadonna wurde 1980 zum gegenstand einer sehr genauen – man könnte sagen: bahn-brechenden – untersuchung, zu einem Zeitpunkt, als sich die erforschung der Werke caravaggios auf naturwissenschaftlicher Basis erst in den anfängen befand und man großteils auf die Studien zurückgriff, die der im Jahr 1966 erfolgten restaurierung der contarelli-gemälde durch das istituto centrale per il restauro vorausgegangen waren oder sie begleiteten29. als eine der wichtigs-ten entdeckungen dieser röntgenuntersuchung wurde zu recht

die Änderung der Proportionen der darunterliegenden Version im Vergleich zur endfassung angesehen. es zeigte sich, dass das gesicht der madonna ursprünglich kleiner war und dass seine Form durch die ausführung des inkarnats des kindes, und zwar im Bereich von dessen Brust, teilweise verdeckt wurde. Von geringerer größe waren auch die Beine des kindes, das weiter unten und in sitzender haltung skizziert war, sowie die gesichter von zwei Figuren neben dem antlitz mariens im rechten teil der komposition – motive, die schon angelegt waren, später aber aufgegeben wurden. abgesehen von der anderen kompositorischen gewichtung, die in der endfassung der Jungfrau mit dem kinde zukommt – sie wurde in eine gegenüber den anderen Figuren erhöhte und isolierte Position gerückt –, muss also insbesondere auf die im Verlauf der ausführung vollzogene starke Veränderung der Proportionen hin-gewiesen werden. Schließlich kann man beobachten, dass sich im Schaffen caravaggios schon früh die Wiedergabe der Figuren in natürlicher größe durchsetzt. nur selten gibt es Werke mit „kleinen Figuren“ wie die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten, und sie sind alle dem Frühwerk zuzuordnen. und nicht nur das: Für ein Bild vom Format der Rosenkranzmadonna musste das zuvor gemalte Martyrium des hl. Matthäus einen Bezugspunkt von besonderer Bedeutung darstellen: auch im gemälde der contarelli-kapelle hatte caravaggio bekanntlich zunächst eine komposition mit klei-nen Figuren angelegt, und wie bei der Rosenkranzmadonna sind die darunterliegenden Figuren auch in diesem Fall um ein drittel kleiner als diejenigen der endfassung30 (Abb. 9 a und b).Solche Überlegungen sprechen dafür, dass das Wiener gemälde zeitlich wohl am besten in die reihe der ersten öffentlichen aufträge caravaggios eingeordnet werden sollte, d. h. die ersten Jahre des 17. Jahrhunderts. diese annahme wurde auch durch die jüngste untersuchung mittels infrarotreflektographie bekräftigt.der Beitrag der infrarotanalyse betrifft nicht so sehr die komposito-rischen Änderungen. im allgemeinen sind die Pentimente unter einem dicken oder stark deckenden auftrag verborgen. Schlussfol-gerungen in Bezug auf darunter liegende Fassungen sind hier weder beim inkarnat des Jesuskindes möglich, das (wie das rönt-genbild zeigt) die erste Version des antlitzes mariens überlagert, noch auch bei dem roten Vorhang, der ein im Profil gegebenes gesicht verdeckt (im röntgen ist dieses Profil in der diagonale zwi-schen der madonna und dem hl. dominik zu sehen, wahrscheinlich handelt es sich um eine vorhergehende Fassung des heiligen). Was sich in der röntgenaufnahme im allgemeinen relativ deutlich zeigt, tritt im infrarot nicht oder nur schwach in erscheinung, wie bei der hellen Stelle zu bemerken ist, die die abgewinkelten Beine und den oberkörper der erstfassung des Jesuskindes markiert. dennoch zeigt das infrarot reflektogramm ein wichtiges Pentiment, das im röntgen fast nicht auszunehmen ist: der rechte Fuß der madonna war zunächst als sichtbares element angelegt, wurde dann jedoch, wahrscheinlich aufgrund der allzu großen nähe zum gesicht eines der gläubigen, vom gewand überdeckt (Abb. 10). ein ähnliches

Pentiment sollte auch in caravaggios späterem Werk wieder auf-treten: in der Madonna dei Palafrenieri wird er zunächst den rech-ten Fuß der hl. anna sichtbar anlegen, ihn dann aber unter ihrem kleid ver stecken.Was anhand der jüngsten infrarotreflektographien jedoch vor allem diskutiert werden kann, ist – ein weiteres mal – die rolle der Zeichnung und der graphisch eingesetzten Pinselstriche im arbeits-prozess des malers, und zwar gleichgültig, ob es sich um verdeckte oder um an der oberfläche liegende markierungen handelt. die gute auflösung der aufnahmen gestattet es, zahlreiche feine kon-turen unter der endfassung festzustellen, z. B. entlang der rechten hand des hl. dominikus, des halses der madonna oder des gesichtes des auftraggebers (Abb. 11 und 12). es ist interessant festzustellen, dass das gesicht des letzteren – in dem allein gleichzeitig Zeich-nung und einritzungen vorhanden sind – zugleich das einzige ist, das zweifelsfrei nach der natur gemalt wurde. Bei caravaggio besteht demnach zwischen dem einsatz von eingeritzten Bezugs-punkten und der abbildung eines modells nach der natur ein enger Zusammenhang. Somit ergibt sich die Schlussfolgerung, dass die konturzeichnung entlang der Figurenränder vielfach vor-kommt, aber teilweise durch die häufig vorgenommenen dunklen Überarbeitungen der körperumrisse verdeckt wird, welche die reliefwirkung der Figuren stärken und ihre Volumina kräftiger her-vortreten lassen sollen, wie dies z. B. entlang des nackten arms des knienden knaben im Vordergrund oder bei dem mit grünem tuch

29 Prohaska 1980.30 diesbezüglich ist anzumerken,

dass Versionen caravaggios mit unterlebensgroßen Figuren stets eine landschaft oder einen archi-tektonischen hintergrund auf-weisen. diese Überlegungen könnten somit einen anstoß für die interpretation der röntgen-aufnahme der Rosenkranzma­donna bieten, und zwar speziell in hinblick auf die oberhalb des kopfes des hl. Petrus martyr fest-gestellte deutlich hellere Stelle sowie die verbreitet höhere

Strahlenundurchlässigkeit im oberen teil des gemäldes, der von einer horizontal geführten dunklen linie auf höhe des knies des Jesuskindes begrenzt wird. die Querschliff-untersuchungen am architektonischen hinter-grund rechts im Bild, oberhalb der Figur des hl. Petrus, zeigen die Präsenz einer dicken hellgel-ben Farbschicht (Bleiweiß und Bleizinngelb des typs ii), für die es als Basis der braun-grünen oberflächenendbearbeitung kei-ne erklärung gibt. diese Schicht,

die nach den röntgenfluores-zenz-analysen voraussichtlich in der gesamten grundierung vor-handen ist, darf nicht als malauf-trag verstanden werden, der die darunter liegenden gesichter überdecken sollte. tatsächlich haben die beim inkarnat eines dieser gesichter entnommenen Querschliffe keinerlei derartige Spur ergeben. es folgt daraus, dass der maler zuerst an einen hellen grund gedacht haben könnte, der allerdings bei seinen Spätwerken ungewöhnlich war.

unklar bleibt, ob es sich um ei-nen homogenen, architektonisch geschlossenen oder um einen of-fenen hintergrund handelt: ein Stück landschaft – ähnlich viel-leicht den weiß-gelblichen Strei-fen am himmel bei der Bekeh­rung des hl. Paulus der Samm-lung odescalchi –, das es gestat-ten würde, die grenzlinie zu dem in der röntgenuntersu-chung festgestellten hellen teil der oberen hälfte des gemäldes, der andernfalls nicht erklärbar wäre, als horizont aufzufassen.

abb. 9 a: caravaggio, rosenkranzmadonna. röntgenaufnahme. Wien, khm. ©: ebenda.

abb. 10: caravaggio, rosenkranzmadonna. infrarotreflektogramm. Wien, khm. ©: ebenda.

caravaggios maltechnik

abb. 9 b: caravaggio, martyrium des hl. matthäus. röntgenaufnahme. rom, San luigi dei Francesi. ©: ebenda.

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bekleideten arm des mannes in der mitte (Abb. 13) der Fall ist. Bei der interpretation der unter der gemäldeoberfläche verborgenen dunklen markierun-gen wird man sich im Übrigen nicht streng an die Vorstellung von einer der malerischen ausführung vorangehenden unterzeichnung halten dürfen. Zwar sind durch die infrarotuntersuchung Spuren einer umrisszeichnung dokumentiert, doch lassen sich ebenso auch markierungen unterschiedlicher Breite feststellen, welche gewandfalten und physiogno-mische details dunkel umreißen und wahrscheinlich mit der malerischen ausführung verwoben sind. Beim gesicht der madonna wirken die Brauenbögen wie mit dem Pinsel „gezeichnet“ und der dunkle ton scheint durch die malschicht des inkarnats durch (Abb. 14). tatsächlich handelt es sich um – helle und dunkle – Pinselstriche, die wechselweise der skizzie-renden anlage und der definition von Formen dienen, wobei in caravaggios malerei die heraus-arbeitung der Volumina und die Steigerung der relief-wirkung gegenüber der graphischen Festlegung von umrissen überwiegt; im Spätwerk wird letztere fast gar nicht mehr vorkommen.die kunsthistorischen auseinandersetzungen rund um das Wiener Bild scheinen uns schlussendlich be-zeichnend für eine falsche Vorgangsweise, die für viele untersuchungen gewählt wird: man versucht,

das gemälde auf möglichst plausible Weise mit überlieferten schrift-lichen Quellen in einklang zu bringen, statt sich zu bemühen, die untersuchung auf grundlage der im materiellen dokument, d. h. im gemälde selbst, enthaltenen technisch-stilistischen eigenheiten durchzuführen.

„mit dem licht komponieren“: Zur analyse der Dornenkrönung

Von den untersuchten Werken des kunsthistorischen museums scheint die Dornenkrönung insofern am aufschlussreichsten zu sein, als caravaggio bei ihr ein kompositorisches Verfahren zur anwendung brachte, über dessen eigenart in der jüngsten For-schung wieder viel diskutiert wurde, wobei man zu den ver-schiedenartigsten und manchmal auch schwer begründbaren hypothesen gelangte31. die einrichtung von caravaggios atelier und seine Beleuchtung galten allerdings – wir haben es schon ge-sagt – bereits in den zeitgenössischen Quellen als der eigentliche Brennpunkt seiner neuartigen malweise. in der chronologie der Werke caravaggios, die sich in der Forschung etabliert hat, wird die Dornenkrönung allgemein in die Jahre zwischen 1598 und 1603 eingereiht. Sie repräsentiert dem-nach einen seiner ersten Versuche, eine komplexe handlung wieder-zugeben, an der mehrere, von einer hoch gelegenen lichtquelle schräg beleuchtete Personen beteiligt sind, wobei es starke hell-dunkel-kontraste, Schlagschatten und Schlaglichter gibt. die art, wie caravaggio die Szene beleuchtet hat, und das Verhältnis dieser technik zum kompositionsprozess waren gegenstand einer reihe von Simulationen. derartige rekonstruktionen können jedoch dann, wenn es innerhalb der gemalten Szene keine linearperspektivi-schen anhaltspunkte gibt, grundsätzlich nur als annäherungen angesehen werden. Festzustellen war, ob zwischen einer tatsächlich eingerichteten bzw. virtuell rekonstruierten Beleuchtungssituation einerseits und der im gemälde wiedergegebenen Situation ande-rerseits Übereinstimmung besteht oder nicht. das vorgeschlagene rendering zeigt, dass die simulierte Situation dann am ehesten der gemalten Szene entspricht, wenn der Blick-winkel in Schulterhöhe der christusfigur angenommen wird. in einem weiteren Schritt wurde in die Simulation (wie erwähnt) die Beleuchtung durch eine hoch gelegene lichtquelle eingeführt. die ergebnisse ließen auf ein Fenster oder eine andere Öffnung schließen, durch die das gebündelte licht in einem Winkel von ca. 45° zum Fußboden eingefallen wäre. Variiert man den Winkel des lichtes, kann in der Simulation beobachtet werden, wie sich die geometrie der eigenschatten der körper und der Schlagschat-ten verändert. Während der einfallswinkel zum Boden – hier geht es darum, wie steil das licht einfällt, also um den Winkel zwischen

abb. 11 a und b: caravaggio, rosenkranzmadonna. infrarot-reflektogramm (oben) und auflichtaufnahme (unten). Wien, khm. ©: ebenda.

abb. 12 a und b: caravaggio, rosenkranzmadonna. infrarotreflektogramm (links) und auflichtaufnahme (rechts). Wien, khm. ©: ebenda.

abb. 13: caravaggio, rosenkranzmadonna. infrarotreflektogramm. Wien, khm. ©: ebenda.

abb. 14 a und b: caravaggio, rosenkranzmadonna. infrarotreflekto-gramm (oben) und makroaufnahme (unten). Wien, khm. ©: ebenda. 31 Vgl. S. XX in diesem Band.

caravaggios maltechnik

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vertikaler und horizontaler Beleuchtung – bei der Simulation durchgehend beibehalten werden konnte (45°), erwies sich der Winkel im Verhältnis zur Projektionsebene des Bildes oder einer zu ihr parallelen abschließenden Wandfläche – hier geht es darum, wie stark das licht streift, also um den Spielraum zwischen fronta-ler und seitlicher Beleuchtung – als variabel: eine annähernd zufrie-den stellende Übereinstimmung mit dem gemälde erhält man hier bei einem zwischen 25° und 35° liegenden Winkel zur Projektions-ebene (Abb. 15). aber auch die beste annäherung weist in diesem Fall einige bedeutsame abweichungen auf. der rechte arm des bärtigen Folterknechts – er ist im gemälde dunkel – bleibt bei jedem der verschiedenen in Betracht gezogenen Winkel ständig beleuchtet, während sich der linke, hell gemalte oberarm Jesu ent-weder gar nicht im licht oder bestenfalls in einem stärker frontal einfallenden licht befinden kann (Abb. 16). in diesem Fall wäre jedoch notwendigerweise auch der unterarm beleuchtet, der im gemälde verschattet ist. hier kann uns ein röntgenblick in die tiefe der malschichten des Bildes weiterhelfen: die aufnahme zeigt den linken arm in einer zwar nicht intensiven, aber vollständigen Beleuchtung durch ein stärker frontal einfallendes licht. diese Beobachtungen lassen an die möglichkeit denken, dass die modelle bei unterschiedlichem lichteinfall studiert wurden und dass bei der entscheidung über das helldunkel kompositorische Überlegungen letztlich wichtiger waren als naturalistische Bestre-bungen: Wäre der rechte arm des bärtigen Schergen hell gemalt worden, hätte der horizontale „Schwerthieb“ des lichtes zwischen der Schulter und dem hals Jesu an dramatik verloren. die intensive helligkeit auf dem oberarm christi – die, wie im röntgen fest-gestellt werden konnte, auf oberflächlich aufgetragene lasuren zurückzuführen ist – hat hingegen die aufgabe, das durch die drei akteure des dramas gebildete dreieck aus licht abzuschließen.

abb. 15 a bis d: caravaggio, dornenkrönung. Rendering der modelle in hinblick auf die Beleuchtungsrichtung. Wien, khm. ©: ebenda.

abb. 16 a bis d: caravaggio, dornenkrönung. Rendering der modelle in hinblick auf die Beleuchtungsrichtung. Wien, khm. ©: ebenda.

abb. 17 a und b: caravaggio, dornenkrönung. infrarotreflektogramm und graphisches Schema der einritzungen. Wien, khm. ©: ebenda.

auch die materiellen Spuren, die in den unter der oberfläche liegenden malschichten entdeckt wurden, geben in hinblick auf den genauen ablauf des kompositorischen Prozesses zu denken. das infrarotreflektogramm zeigt eine ungewöhnliche dunkle unter-zeichnung rund um die Figuren. ihr wesentlichstes merkmal, ein breiter und vereinheitlichender duktus, der die rechten drei Figuren äußerlich umschreibt, lässt eher an eine Funktion bei der entwick-lung des kompositorischen Schemas denken als an eine unterzeich-nung im engeren Sinn des Wortes. es ist jedoch interessant zu beob-achten, wie diese summarische, der Vorbereitung dienende Zeich-nung oftmals durch einritzungen verstärkt wird (Abb. 17). das infrarotreflektogramm hält auch einen seltsamen kurvigen „Schatten“ hinter der Figur des Soldaten fest. Schon in einer früheren Publikation haben wir vorgeschlagen, dass es sich dabei um die summarische angabe des vom hut des Soldaten auf die Wand pro-jizierten Schattens handeln könnte (Abb. 18)32. diese annahme scheint durch die Simulation einer lichtquelle bekräftigt zu werden, die sich im inneren des raumes befindet, wie es z. B. bei einem das Sonnenlicht reflektierenden und lenkenden Spiegel der Fall sein könnte (Abb. 19). die aufschlussreichste entdeckung im Zusammen-hang mit dieser Simulation ist jedoch der anblick der verschieden großen Schattensilhouetten, welche die anderen körper an die Wand oder auf dahinter befindliche Figuren werfen (man beachte den Schatten, den die Schulter christi in der Simulation auf den Folterknecht wirft). Wenn man Verschiebungen dieser lichtquelle simuliert, ist es möglich, die größe dieser „Zeichnung“ der gruppe zu variieren – bis sie mit jenen dunklen Bereichen übereinstimmt, welche die infrarotreflektographie, aber auch ein Studium des

abb. 18 a und b: caravaggio, dornenkrönung. infrarotreflektogramm und auflichtaufnahme. Wien, khm. ©: ebenda.

abb. 19 a bis d: caravaggio, dornenkrönung. Rendering der modelle in hinblick auf die Beleuch-tungsrichtung. Wien, khm. ©: ebenda.

32 cardinali – de ruggieri – Falcucci 2005 b.

caravaggios maltechnik

Punto di ViSta

Vista dall‘alto

Punto di ViStaPunto di ViSta

Vista laterale Vista laterale

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leinwand projiziert und die konturen jedes einzelnen modells auf der leinwand markiert hat. der gebrauch eines Plan spiegels erlaubt es in der tat, parallel einfallende lichtstrahlen unter Wahrung ihrer Parallelität weiterzuleiten und nach Wunsch aus-zurichten – als eine Beleuchtung, die im gegensatz zu einer punkt-förmigen lichtquelle die Proportionen einer Figur in dem von ihr geworfenen Schatten zu bewahren vermag33. in einem zweiten arbeitsgang wurde – so die hypothese weiter – die graphische Zeichnung durch einritzungen verstärkt, welche ihrerseits dazu dienten, die arbeit weiterzuführen und sich dieselbe Szene in seit-licher Beleuchtung noch einmal vorzunehmen (Abb. 20). die einritzungen halten auch verschattete Formgrenzen beinahe voll-ständig fest: So sind bei dem Folterknecht rechts die im Schatten liegenden konturen des kopfes und der linken hand mit einritzun-gen versehen, in eingeschränkter Weise gilt dies ferner für die einzige nicht beleuchtete Stelle des ganzen armes. dasselbe kann vom linken henker gesagt werden – mit ausnahme seines rechten arms, dessen Verschattung allerdings, wie wir gesehen haben, mit der beobachteten Beleuchtung nicht übereinstimmt und vom maler aus anderen gründen hinzugefügt wurde. im gegensatz zur frontalen Beleuchtung werden in der Beobachtung der modelle bei seitlichem lichteinfall zahlreiche der bereits auf der leinwand skizzierten umrisse von der dunkelheit verschluckt. das unter-streichen dieser umrisse mittels ritzungen mag es dem künstler ermöglicht haben, die verschatteten Volumina zu malen: er wusste über die „unsichtbaren“ ränder Bescheid, die durch die malerei nur angedeutet werden sollten.caravaggio benützte das licht also für sein Studium der modelle. manchmal verwendete er es dazu, sie zu zeichnen, wie im vor-liegenden Fall, bei dem die entwicklung eines noch nicht ganz ausgereiften Verfahrens dazu führte, dass der maler einen „Zwi-schenschritt“ für notwendig hielt, ehe er sich an die Wiedergabe jener fragmentierten Formen machte, die sich bei einem stark seitlich einfallenden licht ergeben. das licht, das dann im voll-endeten gemälde erscheint, stellt eine Synthese verschiedener momente dar, fängt einzelne ausschnitte der realität ein, die in zeitlicher abfolge wahrgenommen und im hinblick auf ein a priori festgelegtes kompositorisches gleichgewicht ausgewählt wurden. Selbst die mehrfach in caravaggios gemälden bemerkten Wider-sprüche – im maßstab und in der Beleuchtung – fügen sich in den dynamischen Bildaufbau ein. der maler hat seine verschiedenen Wahrnehmungen also auf eine solche art und Weise miteinander verbunden und ins Bild gesetzt, dass sie sich bei dessen Betrach-tung auflösen wie Salzkristalle in einem Wasserglas der Zeit. Wenn caravaggio unser auge mit hilfe des lichts auf einzelne details lenkt, so tut er dies im rahmen einer streng konzipierten kom-position, womit er alles andere als eine fotografisch getreue re-produktion erzeugt. Vielmehr entsteht eine neue, sorgfältig aus-gewogene und komponierte realität.

abb. 20: caravaggio, dornenkrönung. makroaufnahme. Wien, khm. ©: ebenda.

33 Wir danken Filippo camerota für den wertvollen gedanken-aus tausch.

Wie wir gesehen haben, liegt den von caravaggio eingeführten neuerungen auch ein bemerkenswertes experimentieren mit den technischen mitteln zugrunde. die diesbezüglichen kunsthistori-schen erkenntnisse sind die Frucht ausführlicher naturwissen-schaftlicher untersuchungen, die seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts durchgeführt werden. Sie verdanken sich vor allem dem Bewusstsein, dass das Studium der künstlerischen techniken die rolle einer vollgültigen methode der kunstgeschichte zu über-nehmen vermag. allerdings wurde bislang noch kein Versuch unter-nommen, auf zusammenhängende Weise jene Bezüge zu erforschen, die zwischen den maltechniken caravaggios und denjenigen seiner nachfolger bestehen. Vielmehr haben sich die techni schen untersuchungen in diesem Bereich in der regel auf einzelne Werke oder auf gruppen von gemälden eines einzelnen meisters konzen-triert. die aus naturwissenschaftlichen untersuchungen hervorge-gangenen daten sind, zumindest wenn man sie mit der beträcht-lichen Zahl von malern und Werken vergleicht, noch spärlich34. die definition der caravaggio-Schule ist von anfang an ein Prüfstein der modernen kunstgeschichte gewesen. Bereits roberto longhi (1943) führte die Schwierigkeit, den caravaggismus sinnvoll ein-zugrenzen, auf ein methodologisches Problem zurück: er hielt es für unmöglich, die morellianische methode der wissenschaftlichen Zuschreibung auf „eine malerei“ anzuwenden, „die deshalb in so offensichtlicher Weise frei von Schemata ist, weil es sich zum ersten mal um eine unvermittelte, ,direkte malerei’ handelt“35. Während für longhi die Considerazioni sopra la pittura giulio mancinis den wesentlichen Bezugspunkt darstellten, um die Schule caravaggios (manfredi, ribera, cecco del caravaggio, Spadarino, zum teil Saraceni) zu definieren, wurden die grenzen des caravaggismus im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts auf unterschiedliche Weise gezogen, sei es mit Bezug auf hinweise in den Quellen oder im hinblick auf chronologische erwägungen und generationsfragen oder auch nach maßgabe stilistischer und kompositorischer merkmale. die entwicklung gipfelte in der klassifikation Benedict nicolsons, welcher der Bewegung caravaggios mehr als 1500 gemälde zurechnet und in seine Sammlung einen großteil der maler der ersten hälfte des 17. Jahrhunderts einbezieht36. indem sie sich gegen diese „pancaravaggeske“ tendenz auflehnten, haben andere gelehrte, wie richard Spear, das Feld dieser maler hingegen wiederum rigoros verkleinert. die kriterien – eine natu-ralistische grundhaltung, der entschiedene einsatz des hell dunkels sowie Ähnlichkeiten in stilistischer hinsicht – reichen demnach nicht aus, um die tätigkeit eines malers des frühen Seicento in das umfeld caravaggios einzuordnen. Spear zufolge gibt es weder eine richtige Schule caravaggios noch eine caravaggeske Be-wegung, und zwar vor allem deshalb nicht, weil direkte lehrer-Schüler-Beziehungen fehlen. der caravaggismus sei viel eher als „a collective product of an artistic alternative“ zu verstehen, „one

among many present in italy from ca. 1600 to ca. 1630. […] any artist could choose to imitate caravaggio’s paintings whenever and however he preferred“37.auch unserer ansicht nach liegt der ursprung des Problems in dem Versuch, etwas einer Schule zuzuordnen, die es so nicht gegeben hat, da caravaggio nicht an der Spitze einer Werkstatt stand, in der erfahrungen, Vorgangsweisen, der umgang mit materialien und bestimmte stilistische eigenheiten weitergegeben worden wären. Wir stehen jetzt vor drei grundfragen: Zunächst wird es darum gehen, die in einer gewissen Periode oder in einem bestimmten geographischen raum gängige technische Praxis zu erforschen und mit den eigenheiten der einzelnen in Frage stehenden maler zu vergleichen. in einem zweiten Schritt muss berücksichtigt werden, dass – innerhalb eines gemäldes oder eines malerischen Œuvres – zwischen der grundsätzlichen herangehensweise, der technischen ausführung und der gestalt des endprodukts kom-plexe Beziehungen bestehen, die von Fall zu Fall anders aussehen können. Wenn beispielsweise zwei maler insofern in ihrer Praxis übereinstimmen, als beide nach dem modell malen, kann es dennoch nicht als selbstverständlich angesehen werden, dass sie die am modell studierten Posen mit den gleichen mitteln auf die leinwand übertragen. man wird sehen, dass dies etwa beim Vergleich von gentileschi mit caravaggio berücksichtig werden muss. ebenso kann sich ein gemälde, dessen finales erscheinungs-bild aufgrund der komposition, der helldunkel-kontraste und der Farbgebung caravaggesk ist, in technischer Beziehung von der malerei merisis unterscheiden, wie dies bei manfredi zu beobachten sein wird. Schließlich ist drittens die Frage nach einer möglichen direkten Bekanntschaft mit caravaggio zu stellen und diese Be-kannt schaft mit der sonstigen malerischen ausbildung des jeweils untersuchten künstlers in Verbindung zu bringen, wobei diese ausbildung vor der Begegnung mit der malerei merisis, gleich-zeitig mit ihr oder danach erfolgt sein kann.die in diesem Sinne vorangetriebenen untersuchungen stehen noch an ihren anfängen; es ist unerlässlich, neue analysen vorzu-nehmen und daten zu sammeln, die jedoch häufig nicht leicht zugänglich sind. das Forschungsprojekt des kunsthistorischen museums hat es glücklicherweise ermöglicht, eine beträchtliche Zahl von gemälden verschiedener italienischer und ausländischer künstler zu studieren und so einen Überblick über die von diesen malern verwendeten technischen Verfahren und materialien zu

34 Siehe ak thessaloniki 1997; ak cremona 1987; cardinali – de ruggieri 2009.

35 longhi 1943, 6.

36 nicolson 1979; – Vertora 1990.

37 Spear 1971 (1975), 29; Zuccari 2010 unterscheidet – entspre-chend der unterschiedlichen an-eignung von caravaggios Bilder-findungen – drei verschiedene Stufen des caravaggismus.

die „schola“ caravaggios

gemäldes aus nächster nähe aufzudecken vermag. diese Über-einstimmung schließt, wie im erwähnten detail des Schattenwurfs der Schulter christi, auch die zwischen den Figuren vermittelnden markierungen ein. es ist daher möglich, dass caravaggio seine modelle bei frontaler Beleuchtung studierte, wobei er ihre Schatten auf die präparierte

ii: von Caravaggio zu den Caravaggisten (maria Beatrice de ruggieri)